Friedhelm Hengsbach SJ, Jahrgang 1937, ist Deutschlands führender Sozialethiker; bis 2006 war er Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er lebt und arbeitet in der Katholischen Akademie Rhein-Neckar in Ludwigshafen (Rhein). 2012 erschien von ihm im Westend Verlag Die Zeit gehört uns: Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung.

Friedhelm Hengsbach

Teilen, nicht töten

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ISBN 978-3-86489-559-3
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014
Umschlaggestaltung: Max David, Westend Verlag
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

1 Die Auslöser

Papst Franziskus

Thomas Piketty

Im Vorkrieg

2 Panorama sozialer Ungleichheit

Ungleiche Arbeit, Löhne, Einkommen, Vermögen

Ungleiche Chancen für Männer und Frauen

Ungleiche Bildungszugänge

Zunehmende Polarisierung

Europas Grenze

3 Isoliert und frei

Distinktion

Leistungsmythen

Marktlogik

Kapitalistische Dynamik

4 Gerecht und solidarisch

Biblische Orientierung

Kirchliche Sozialverkündigung

Ethische Reflexion

5 Teilen – was sonst

Tarifverträge

Mitbestimmung

Vermögensteuer

Öffentliche Güter

Zeitautonomie

Ein anderes Europa

Nachwort

Anmerkungen

Vorwort

»Die Wolken am Himmel und die Richtung des Windes könnt ihr deuten. Warum nicht die Zeichen dieser Zeit?« Ein Satz aus dem Lukas-Evangelium hat mich angeregt, dieses Buch zu schreiben, um für das Teilen zu werben. Denn ein Zeichen der gegenwärtigen Zeit sehe ich in dem verweigerten Teilen: An der Peripherie einer Welt des Wohlstands entlädt sich eine Gewalt, die mit Waffen wütet, die im Zentrum hergestellt und für das Töten geliefert werden. Sie treibt zahllose Menschen in eine ausweglose Flucht vor Verfolgung und Entbehrung bis an die Grenzen und in die Vorhöfe des Zentrums.

Ein weiteres Zeichen der gegenwärtigen Zeit erkenne ich in der Wiederentdeckung des Teilens: Während die weiter schwelende Bankenkrise in eine reale Wachstumsschwäche mutiert, kündigen sich ein mentaler Wechsel und ein Umdenken an. Immer mehr Menschen zweifeln an der Überzeugungskraft jener Denkströmung, in der es angeblich nur darauf ankomme, dass die einzelnen im Wettbewerb gegeneinander den eigenen Vorteil suchen, während der Markt es schon richten werde, dass der erzeugte Wohlstand auf alle verteilt wird.

Aufgeschlossene Ökonomen stellen zudem fest: Die herkömmliche Wirtschaftstheorie ist wirklichkeitsfremd und irrt, wenn sie ein Menschenbild unterstellt, in dem soziale Beziehungen und solidarisches Empfinden ausgeschlossen sind. Sie beobachten: Die gesamtwirtschaftliche Leistung wächst, gleichzeitig wächst die soziale Ungleichheit. Die kapitalistische Dynamik vertieft die gesellschaftliche Spaltung zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen. Sie zersetzt die Solidarität der Länder mit den Kommunen in Deutschland, in der Europäischen Union und an deren Grenzen. Sie untergräbt die Zustimmung breiter Bevölkerungsgruppen zur Demokratie.

Welche Entscheidungs- und Handlungsimpulse sollten diese Zeichen auslösen? Mich bewegt ein Wechsel folgender Prioritäten: Menschen, die bisher um sich selbst kreisen und in sich selbst verschlossen sind, öffnen nun ihren Mitmenschen den gleichen Raum, den sie für sich beanspruchen. Die Jagd nach einem ziellosen Wachstum, das erst die Voraussetzung für eine nachrangige Verteilung der Güter bildet, wird als dumm und schädlich verurteilt. Individuelle Begabungen und Leistungen gelten als geringfügig im Vergleich zu der Überzeugung, dass die Menschen als Gleiche geboren werden und gleiche Rechte haben. Die Umverteilung eines bereits privat angeeigneten Reichtums kommt immer zu spät. Deshalb sollte die Entscheidung über das Niveau und die Richtung der Güterproduktion sowie über ihre Verteilung bereits an der Quelle erfolgen, wenn die Güter entstehen. Eine Gesellschaft mit einer eher ausgewogenen Verteilung der Einkommen und Vermögen hat eine größere Chance, nach innen und außen Wohlstand und Frieden zu schaffen – ohne Waffen. Deshalb scheint mir die eindringliche Bitte gerechtfertigt: »Teilen, nicht töten!«

1 Die Auslöser

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatte Wolfgang Thierse behauptet: »Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zurückgekehrt.«1 Mehr als zehn Jahre danach stellte der Leiter des Instituts für Weltwirtschaft, Dennis Snower, fest, dass die Wirtschaftswissenschaft sich von einem Menschenbild verabschiede, das moralische Werte, soziale Normen und menschliche Beziehungen ausklammert. Das Kieler Institut habe »seinen Bereich von der traditionellen Konzentration auf Effizienzprobleme hin zu Gerechtigkeitsproblemen erweitert«.2 Eine breite Öffentlichkeit kritisiert bereits seit Jahren die zunehmend ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Erleben wir einen Gezeitenwechsel im Urteil darüber, was der Wirtschaft und dem Staat zu tun geboten ist?

Ich bin beim Schreiben dieser Schrift von zwei Autoren inspiriert worden, die im vergangenen Jahr die soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Polarisation thematisiert und eine ungewöhnliche Resonanz gefunden haben. Es handelt sich um Papst Franziskus und den französischen Ökonomen Thomas Piketty.

Papst Franziskus

»Diese Wirtschaft tötet.«3 So urteilt der Papst über die sozioökonomischen Verhältnisse, denen sich die Mehrheit der Menschen und auch viele Christen wie einem unabwendbaren Schicksal ausgeliefert sehen.

Prophetische Kritik

Den anonymen Mechanismen setzt der Papst ein vierfaches radikales »Nein« entgegen. Er sieht ganze Gruppen der Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, wie Müll und Abfall behandelt. Er wehrt sich dagegen, dem Fetischismus des Geldes und der Logik des Marktes eine religiöse Weihe zu verleihen und sie anzuhimmeln. Er verurteilt die Vorherrschaft der Finanzmärkte, die der Realwirtschaft nicht dienen. Und er warnt vor der wachsenden sozialen Ungleichheit, aus der gesellschaftliche Konflikte und Kriege hervorgehen. Die politischen und wirtschaftlichen Führungseliten sollten die Worte eines Bischofs aus der frühen Kirche beherzigen: »Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.«4

Über diese Aussagen des Papstes, die er einer programmatischen Schrift zu Beginn seiner Amtszeit eingefügt hatte, sind deutsche Wirtschaftsjournalisten hergefallen: Der Papst irrt, er urteilt pauschal und wenig differenziert, er versteht nicht, wie die Wirtschaft funktioniert, er ist auf seine Erfahrungen in Argentinien fixiert und kennt die segensreichen Wirkungen der sozialen Marktwirtschaft nicht, die erfolgreicher als Almosen den Wohlstand vermehrt.

Den Armen der erste Platz

Seltsam, dass die Wirtschaftsjournalisten von den 270 Seiten des päpstlichen Schreibens neun Seiten herausgegriffen und das Hauptanliegen überlesen haben: Die Menschen in den reichen Ländern und vor allem die Christen sollen den Schrei der Armen hören. Dieser Schrei hat aus biblischer Sicht eine religiöse Dimension, weil der Gott Israels das Schreien seines Volkes im Sklavenhaus Ägypten gehört und es aus diesem Schmelzofen befreit hat. Heute ist es der Schrei derer, denen der gerechte Lohn vorenthalten wird, der Migranten, die illegal in privaten Haushalten Kranke pflegen, der Frauen, die man als Handelsware vermarktet, der Kinder, die zum Betteln vorgeschickt werden. Diesen weggeworfenen Armen sollen die Gesellschaft und die Kirchen einen bevorzugten Platz einräumen und sie in ihrer Würde respektieren. Armut in reichen Ländern ist nämlich ein Indiz dafür, dass die erwirtschaftete Gütermenge, die für alle ausreicht, ungleich verteilt ist. Deshalb klingt das Vertrauen auf die unsichtbare Hand des Marktes oder die automatischen Sickereffekte des Wohlstands naiv. Vielmehr verweist der Grundsatz, dass die Güter der Erde für alle bestimmt sind, die Rolle der Privatwirtschaft und des Privateigentums auf den zweiten Rang. Das Wachstum der Gerechtigkeit habe Vorrang vor einem Wachstum der Wirtschaft, meint der Papst.

Thomas Piketty

Ein vergleichbares Aufsehen wie der Papst löste der französische Ökonom Thomas Piketty mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert aus.5 In den USA wurde Piketty als Star einer neuen Weltformel gefeiert, sein Buch als »Wasserscheide« bezeichnet, die unsere Vorstellungen über die Wirtschaft und die Politik verändere.

Was Piketty beunruhigt, ist gerade diese sich öffnende Schere zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen in einer demokratischen Gesellschaft. Was reißt Gesellschaften auseinander, was hält sie zusammen? In seinen Forschungen sucht er nach einer Antwort, die empirische Daten, ökonomische Theorien sowie geschichtliche, politische und soziale Perspektiven miteinander verbindet. Seit der industriellen Revolution hat sich im 19. Jahrhundert die Verteilung der Einkommen von Managern und Arbeitern gespreizt. Aber viel stärker und schneller als das Arbeitseinkommen ist das Kapitaleinkommen gewachsen, weil das Wachstum der Kapitalrendite über das Wachstum des Volkseinkommens hinausgeht. »Kapital« ist bei Piketty ein Sammelbegriff für Grund und Boden, Häuser, Wertpapiere, Geld und Patente. Durch Arbeiten als Arzt oder Rechtsanwalt könne man nicht reich werden, wohl aber dadurch, dass man eine Frau aus begütertem Hause heirate, belehrt ein kriminelles Genie aus dem feudalen Frankreich einen mittellosen Adligen, wie Piketty der zeitgenössischen Literatur entnimmt.

Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt eine historische Ausnahmesituation, die tendenziell Mitte der 1970er Jahre endet. Während der »Trente glorieux« in Frank-reich oder des deutschen »Wirtschaftswunders« sinkt die Wachstumsrate der Kapitaleinkommen unter die der Arbeitseinkommen. Welche Gründe nennt Piketty dafür? Die massive Vernichtung von Kapital während der Kriegszeiten, verschärfte Steuer- und komfortable Sozialgesetze, ein hohes Wirtschaftsund Bevölkerungswachstum, den technischen Fortschritt und die höhere Bildungskompetenz der Beschäftigten. Aber seit den 1980er Jahren verheißen marktradikale Ökonomen in den USA, in Großbritannien und Deutschland einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise, wenn nur die Selbstheilungskräfte des Marktes entfesselt, die Steuern gesenkt, die öffentlichen Ausgaben gekürzt und die Lohnforderungen gezügelt werden. In der Folge sinken die Wachstumsraten, während die Kapitalrenditen steigen.

Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird in den reifen Industrieländern im 21. Jahrhundert das 19. Jahrhundert zurückkehren: Das Gewicht des Kapitals wird zunehmen und sich bei wenigen konzentrieren. Einer kleinen Gruppe wird ein extrem hoher Anteil des Volkseinkommens und vor allem des Volksvermögens gehören, während der größere Teil der Bevölkerung über kaum mehr als das Arbeitsvermögen verfügt. Allerdings wird sich das Gesicht des Kapitalismus ändern: Neben die Klasse der Vermögenseigentümer treten reiche Angestellte, Unternehmensmanager und Finanzinvestoren mit hoher Bildungskompetenz. Sie eignen sich die Produktivitätszuwächse an, weil sie ihre Vergütung selbst festsetzen oder mit dem Aufsichtsrat darüber verhandeln können. In der Folge wächst die Bandbreite der Mittelklasse, indem Vermögen auf nachfolgende Generationen übertragen und damit gestreut wird. Allerdings bleibt es wegen der relativ geringen Kinderzahl der Vermögenseigentümer wohl bei der Konzentration des Kapitals. Die Klassengesellschaft hört mit dem »Erben-Kapitalismus« nicht auf zu existieren. Die Reichen werden reicher, die Armen bleiben arm. Und dies nicht auf Grund persönlicher Leistung, sondern durch glückliche Umstände, vermögende Eltern oder die Inflation. Ausflüge in die Lyrik, dass etwa die Flut alle Boote hebt oder auch die Spatzen zu fressen haben, wenn die Pferde gut genährt sind, verschleiern lediglich ökonomische Legenden.

Als Gegengift gegen die politisch bedrohliche Ungleichheit der Einkommen und Vermögen empfiehlt Piketty eine bis zu 75 Prozent progressive Einkommensteuer und eine globale progressive Vermögensteuer, die bei Millionären bis zu 80 Prozent gehen könnte. Falls diese weltweit nicht durchsetzbar ist, sollten die EU und die USA damit anfangen, sie regional einzuführen.

Im Vorkrieg