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Vorwort

Autsch! Es passierte, als mein Vater und ich vor einigen Jahren im Garten das Herbstlaub sammelten: Beim Versuch, einen Laubhaufen in die Schubkarre zu befördern, »schoss die Hexe«. Mein Vater hatte Tränen in den Augen vor Schmerzen. Beim Laubsammeln konnte er mir an diesem Tag nicht mehr helfen, und auch in den folgenden Tagen lag er vor allem auf der Couch. Nur ganz langsam schlichen sich die Schmerzen wieder aus seinem Leben heraus.

Was hat es eigentlich auf sich mit all den Mythen um den Rückenschmerz? Wussten Sie zum Beispiel, dass Bandscheiben gar nicht verrutschen können und dass sie sogar heilen? Ist Ihnen klar, dass fast 50 kleine Gelenke an der Wirbelsäule Ihre Beweglichkeit unterstützen, aber auch Arthrose bekommen können? Dass die sichernden Bänder voller empfindlicher Gefahrenmelder sind? Dass Rückenmuskeln gar nicht besonders stark sein müssen, sondern dass es vielmehr auf das richtige Training der richtigen Muskeln ankommt?

Immer wenn ich nach meinen Vorträgen Gelegenheit hatte, mit Betroffenen zu sprechen, keimten in mir Zweifel auf, ob wir in der Behandlung von Rückenschmerzen auf einem guten Weg sind. Die bekannten australischen Schmerzforscher David Buttler aus Adelaide und Lorimer Mosley aus Sydney brachten mich auf die richtige Spur: Mit ihrer etwas anderen Sicht auf den Schmerz eröffneten sie mir einen neuen Weg, und zahlreiche Forschungsarbeiten später wusste ich es: Wir müssen mit dem Rückenschmerz vollkommen anders umgehen. Ich entwickelte das Rücken-Akut-Training als Weg aus dem Teufelskreis in ein aktives, schmerzfreies Leben.

Mit Schmerzen will Ihr Körper Sie immer vor einer größeren Gefahr warnen. Der Schmerz schützt Sie davor, dass eine gravierende Schädigung eintritt! Wenn Sie Ihren Schmerz verstehen, können Sie etwas dagegen unternehmen. Gehen Sie mit mir den Weg zu einem gesunden und leistungsstarken Rücken. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Rücken-Akut-Training – und auch viel Spaß, der sich spätestens bei den ersten kleinen Fortschritten einstellt!

Ihr

Prof. Dr. Ingo Froböse

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Schmerzen
Ein Hilferuf des Körpers

Wollen Sie wissen, was in Ihrem Körper eigentlich abläuft, wenn Sie Schmerzen empfinden? Das erfahren Sie hier – und auch, wie Rückenschmerzen entstehen, was sie auslösen kann und was Ihnen hilft, wieder beweglich und schmerzfrei zu werden.

Frühwarnsystem Schmerz

Schmerzen können grausam sein. Sie fordern unsere ganze Aufmerksamkeit, sodass es unmöglich wird, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Im Extremfall sind wir von einem Moment auf den anderen wie ausgewechselt: Wir können nicht mehr klar denken, und was wir gerade noch mühelos tun konnten, geht jetzt nicht mehr. Der Körper weigert sich und streikt, indem er mit einem höllischen Schmerz reagiert. So etwas Unangenehmes hat natürlich einen Sinn. Der Schmerz signalisiert uns, unser Verhalten zu ändern – lange bevor es überhaupt zu einer schwerer wiegenden Schädigung oder Erkrankung kommt. So betrachtet ist der Schmerz eine tolle Einrichtung der Natur! Er will Sie schützen und Ihnen frühzeitig mitteilen, dass Sie einfach nicht genügend auf Ihren Körper hören. Er fordert Sie auf, sich endlich so zu verhalten, wie Ihr Körper es sich schon lange gewünscht hat: sensibel, aufmerksam und rücksichtsvoll!

Besonders der Rückenschmerz ist so ein Hilferuf des Körpers: In über 90 Prozent aller Fälle gibt es keine klare Diagnose und keine Schädigung des Rückens. Ärzte nennen das den »diffusen Rückenschmerz«. Hier sind die Heilungschancen ideal, denn Ihr Rücken will Sie mit den Beschwerden warnen und Ihnen sagen: »Wenn du so weitermachst, werde ich krank!«

Bei Schmerzen geben Sie Ihrem Rücken, der sonst nur auf der »Rückseite Ihres Lebens« ist, viel mehr Zuwendung. Sie bewegen sich anders, achten auf Ihre Haltung und suchen Entspannung – so weckt Sie der Schmerz aus dem täglichen Trott auf.

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Der Körper sendet Alarmsignale: Schmerzen wollen uns vor Schaden schützen.

Rezeptoren – die Informationsexperten

Überall im Körper sind Rezeptoren verteilt, winzige Organe, die wie fleißige »Journalisten« Informationen über körperliche Empfindungen empfangen und an die Zentrale, das Gehirn, senden. Sie sitzen an den Wänden und Enden der Neuronen – den Fasern von Nerven, die Informationen weiterleiten und an die »Redaktion«, das Rückenmark, senden. Als Zwischeninstanz entscheidet dieses, was an den »Chef«, das Gehirn, weitergeschickt wird. Bei überaus wichtigen Neuigkeiten kann es auch eine sofortige Reaktion anordnen: einen Reflex. Im Normalfall aber bestimmt das Gehirn, was mit den Informationen passiert: Manche landen direkt »im Müll« und lösen keine Reaktion aus. Andere kommen »in die Ablage«: Der Chef gibt die Anweisung zu reagieren erst, wenn weitere passende Informationen dazugekommen sind. Und bei einigen wird ohne Umschweife gehandelt. Bei einer Gefahrenmeldung werden übrigens verschiedene Areale im Gehirn aktiviert, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Akute Schmerzen »leihen« sich einen Hirnabschnitt für eine gewisse Zeit nur aus, um von dort aus einzugreifen.

Besonders wichtig für die innere Wahrnehmung sind die sogenannten Propriozeptoren. Sie sind für die Tiefensensibilität, die Wahrnehmung von Reizen aus dem Körperinneren, verantwortlich.

Die Propriozeptoren lassen sich unterteilen in Rezeptoren für den Stellungssinn (Stellung der Gelenke), Bewegungssinn (Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung) und Kraftsinn (Ausmaß der Muskelkraft).

Pacini-Körperchen

Die Pacini-Körperchen, auch Vater-Pacini-Lamellenkörperchen, kontrollieren den Körper besonders bei Bewegungen. Sie reagieren auf Druckänderungen wie Deformierung von Gewebe äußerst sensibel, weil sie eine sehr niedrige Reizschwelle besitzen. Die Pacini-Körperchen sind etwa vier Millimeter lang und finden sich besonders in Knochenhaut, Sehnen und Fasern, Gelenkkapseln und Bändern sowie an den Übergängen von Knochen zu Sehnen.

Ruffini-Endorgane

Die Ruffini-Endorgane kontrollieren Bewegungen und informieren das Gehirn über die Stellung der Gelenke. Sie bestehen aus einem Knäuel von Nervenendigungen, die von Bindegewebe ummantelt sind. Meist treten sie in kleinen Gruppen auf und liegen gleichmäßig verteilt in Gelenkkapseln, in den Bändern, den Hüllen der inneren Organe und den großen Blutgefäßen. Sie reagieren auf Zug- und Druckbelastungen und besitzen eine sehr niedrige Reizschwelle.

Golgi-Sehnenorgane

Die Golgi-Sehnenorgane reagieren auf Druck und Zug, wobei ihre Antwort von der Intensität des Reizes abhängt. Sie können als einzige Rezeptoren ihre Reflexantwort variieren. Dabei kontrollieren sie die Kraft und Spannung des Muskels und schützen ihn, indem sie ihn bei zu hoher Spannung wieder entspannen. Darüber hinaus geben sie Informationen zur Stellung des Gelenks und der Bewegungsrichtung. Die Golgi-Organe mit einem winzigen Durchmesser bis zu 600 µm findet man speziell am Übergang zwischen Sehne und Muskel, in den Gelenkkapseln und Bändern. Sie sind spindelförmig aufgebaut und bestehen aus einer Gruppe kollagener Fasern, die von dünnen Bindegewebshüllen umgeben ist.

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_Es gibt keine Schmerzrezeptoren

Die meisten Rezeptoren sind Spezialisten: Die einen reagieren auf mechanischen Reiz, andere auf Temperaturänderung oder chemische Änderungen im Gewebe. Es gibt aber überall im Körper auch Rezeptoren und Neuronen, die als »Allrounder« auf alle Arten von Reizen reagieren können. Sie merken, wenn sich Temperatur, Widerstand oder chemische Prozesse ändern. Sie antworten aber nicht auf jede kleine Veränderung, sondern leiten die Information nur dann weiter, wenn der Reiz so stark ist, dass er das Gewebe schädigen kann. »Richtige« Schmerzrezeptoren in dem Sinne, dass sie bei zu starken Reizen direkt Schmerzgefühle auslösen, haben wir dagegen nicht, ebenso wenig wie Schmerznerven oder -bahnen. Das liegt daran, dass abgesehen von den Rückenmarksreflexen allein das Gehirn darüber entscheidet, ob wir Schmerz empfinden.

Muskelspindeln

Die etwa 10 Millimeter langen Muskelspindeln lösen bei übermäßiger Längenänderung einen Reflex aus, der den zugehörigen Muskel kontrahieren lässt. Sie messen ansonsten die Dehnung des Muskels. Die Muskelspindeln liegen in den Muskeln parallel zu den Muskelfasern und bestehen aus jeweils fünf bis zehn dünnen, quergestreiften Fasern, die von einer flüssigkeitsgefüllten, bindegewebigen Kapsel umgeben sind.

Freie Nervenendigungen

Diese nur 0,5–1,5 Tausendstel Millimeter (µm) großen Rezeptoren erscheinen meist in Netzwerken von Nervenendigungen. In fast jedem Gewebetypus des Körpers finden sich diese Sensibelchen, und sie können fast alles registrieren: Sie reagieren sowohl auf mechanische, chemische und thermische Reize und informieren dazu über Geschwindigkeit einer Bewegung, einwirkende Kräfte, Bewegungsrichtung und Gelenkpositionen. Zu ihnen zählen auch die sogenannten Nozizeptoren, die »Gefahrenmelder« des Körpers: Ist ein Reiz gefährlich hoch, werden spezielle Neurone mit ihren Rezeptoren aktiviert. Das »Blaulicht« wird entzündet, und per Eilbote wird die außerordentlich wichtige Botschaft auf der Überholspur an allen anderen Informationen vorbei an das Rückenmark geschickt. Dort wird dann entschieden, ob das Signal auch an unser Gehirn weitergeleitet wird und wir dann den Reiz als Schmerz verspüren.

Diese Reaktion auf einen zu hohen Reiz nennt die Wissenschaft Nozizeption, was auch oft als Schmerzsinn bezeichnet wird. Dies ist jedoch ein wenig irreführend, denn die Nozizeptoren melden immer nur Gefahren, aber keinen Schmerz! Erst Rückenmark oder Gehirn machen aus der Information eine Schmerzempfindung, indem sie die Gefahrenmeldung als Schmerz interpretieren. Nur wenn das Gehirn also entschieden hat, dass der Reiz eine übergroße Warnmeldung beinhaltet, ordnet es an, etwas zu unternehmen. Dann produziert es Schmerzen und aktiviert die Heilung – oder verlangt von Ihnen eine Änderung Ihres Verhaltens.

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Freie Nervenendigungen befinden sich überall im Körper. Sie entspringen aus einem Nerv und verzweigen sich in alle Richtungen. Drohende Gefahren werden eingestuft, die Information ans Gehirn weitergeleitet.

Die Typen des Schmerzes

Wie auf den vorhergehenden Seiten beschrieben, entscheidet Ihr Gehirn darüber, ob eine Gefahr groß genug ist, um ein Schmerzgefühl auszulösen. Dafür müssen im Gehirn nicht nur die Informationen aus dem Körper analysiert werden, sondern es werden auch vielfältige Daten aus der Umwelt sowie Ihre bisherigen Erfahrungen mit einbezogen. Schmerz ist zwar zunächst immer unangenehm, er dient aber dazu, dass etwas Gutes passiert: dass Sie gewarnt sind und Ihr Verhalten ändern oder dass die biologischen »Reparaturprozesse« eingeleitet werden. Deswegen unterscheiden wir drei Arten beziehungsweise Typen von Schmerz.

Noch nicht so schlimm – der Überlastungsschmerz

Der Überlastungsschmerz ist eine Art Blaulichtreaktion des Organismus, um uns vor einer drohenden Gefahr oder einem Problem zu warnen. Er ist nahezu immer muskulär bedingt, denn die zu schwach ausgeprägte Muskulatur ist die erste Anlaufstelle des Gehirns, wenn es eine drohende Überforderung signalisieren will. Meist handelt es sich dabei um einen leichten Schmerz, der sich schnell wieder gibt, wenn die Belastung behoben und die Gefahr gebannt ist. Ein typischer Vertreter ist beispielsweise der Schulter-Nacken-Schmerz: Wenn Sie Ihren Muskeln regelmäßig eine Pause und Entspannung gönnen und vor allem darauf achten, die Schultern nicht ständig hochzuziehen, ist der Schmerz schnell wieder verschwunden. Doch wenn Sie nichts ändern, folgt irgendwann ein intensiverer Hilferuf – der Alarmschmerz.

Es wird ernst – der Alarmschmerz

Der Alarmschmerz ist ein nachdrücklicher Hilferuf des Körpers, um eine drohende Schädigung zu vermeiden. Zahlreiche Überlastungen mit den entsprechenden leichten Schmerzen gingen bereits voraus, ohne dass das Verhalten geändert wurde. Typisch dafür ist der Hexenschuss, der uns plötzlich vollkommen »lahmlegt«, weil es dem Körper und speziell dem Gehirn reicht.

90 Prozent der Alarmschmerzen sind muskulär bedingt. Die Muskeln agieren also als Sprecher des Gehirns und sagen: »Jetzt ist Schluss. Wenn du so weitermachst, dann geht irgendetwas kaputt.« Die Muskeln bauen eine Art schmerzende Schutzspannung auf und bringen uns dazu, anders mit dem Rücken umzugehen und ihm endlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Drei Viertel aller Fälle von Rückenschmerz sind Alarmschmerzen. Diese Schmerzen sind meist intensiv, verschwinden jedoch bei richtigem Verhalten nach vier bis sechs Wochen wieder. Wenn Sie allerdings einfach abwarten – in der Hoffnung, dass es schon gut gehen wird –, dann sind Sie auf einem Irrweg. Denn irgendwann wird diese Missachtung Ihrer körperlichen Bedürfnisse Sie einholen, und dann folgt die dritte Schmerzstufe – der Schädigungsschmerz.

Fast zu spät – der Schädigungsschmerz

Dies ist der wohl gravierendste Schmerz, aber zum Glück auch der seltenste, denn so weit lassen es die meisten dann doch nicht kommen. Schädigungsschmerzen entstehen, wenn eine Struktur des Rückens nachhaltig verletzt oder verändert ist, weil alle vorherigen Warnungen missachtet wurden. Instabile Strukturen wie schwache Muskeln und ausgeleierte Bänder sowie ausgetrocknete Bandscheiben ziehen eine dauerhafte Überlastung der Knorpelstrukturen der wichtigen Gelenke nach sich. Und irgendwann ist der Knorpel nicht mehr zu retten und vielleicht sogar vollständig »aufgebraucht«. Das Facettensyndrom ist entstanden, eine Arthrose an den kleinen Wirbelgelenken. Die Belastung trifft nun ungeschützt auf den Knochen, und der wehrt sich mit einer meist intensiven und sehr zähen, weil hartnäckigen Entzündung. Ähnliches passiert bei einem Bandscheibenvorfall, bei dem es zu einer Schädigung der Bandscheibe mit einer Entzündung kommt. Auch hier bewertet zunächst das Gehirn, ob der Vorfall wirklich problematisch ist. So wird verständlich, warum es auch schmerzfrei verlaufende Bandscheibenvorfälle gibt (siehe auch >).

tipp

_Wie stark ist Ihr Schmerz?

Jeder empfindet und bewertet Schmerzen anders, und sicher gibt es in Ihrem Alltag Situationen und Zeiten, in denen Sie Schmerzen mehr oder weniger stark empfinden – kein Wunder, da beim Schmerz das Gehirn eine wichtige Rolle spielt. Versuchen Sie doch einmal, den Schmerz, den Sie genau jetzt empfinden, in die Skala einzutragen:

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Da sich Schmerzen nicht objektiv messen lassen, gehen wir diesen individuellen Weg. So können Sie auch ein Tagesprotokoll Ihres Schmerzes anfertigen und Veränderungen leicht und schnell erkennen. Die visuelle Skala kann Ihnen auch im Laufe des Übens mit dem Rücken-Akut-Training immer wieder einzuschätzen helfen, wie Sie sich fühlen: Ist der Schmerz seit Trainingsbeginn mehr oder weniger geworden, oder hat er sich in einem bestimmten Bereich eingependelt? Suchen Sie außerdem nach allen schmerzverändernden Signalen, die Ihnen positive oder negative Empfindungen bescheren – also zum Beispiel Bewegung, Ruhe, Stress, Essen und vieles mehr. Wenn Sie die Skala für so ein Langzeitprotokoll nutzen, dann am besten immer zur gleichen Tageszeit.

Die vielfältigen Ursachen von Rückenschmerzen

Die Wissenschaftler sind sich einmal fast einig: Die Hauptverursacher von Rückenschmerzen sind Bewegungsmangel und die daraus resultierende Unterversorgung von Muskeln, Bändern, Sehnen und Knochen. Daraus resultiert auch eine Unterernährung der Bandscheiben und der Gelenkknorpel. Die Top Ten der Risiken lauten wie folgt:

1 Muskeln schrumpfen durch Unterforderung. Sie brauchen Belastung, sonst baut der Körper sie ab. In einer Woche Bettlägerigkeit werden 35 Prozent der Muskelmasse und damit der Kraft abgebaut!

2 Jede Drehbewegung des Körpers wird bei andauernder Unterforderung zu einem Balanceakt für die Wirbelkörper. Irgendwann geht das schief, weil die Muskeln an der Wirbelsäule nicht mehr führen. Besonders die kleinen, tiefen Muskeln schrumpfen bei Unterversorgung schnell: Genetisch bedingt nehmen sie deutlich schneller als andere Muskeln an Masse und Kraft ab.

3 Die Bänder werden durch Unterforderung und Unterversorgung locker. Bänder, die Ihren Rücken sichern sollen, verlieren an Elastizität und können damit nicht mehr für Stabilität sorgen.

4 Bandscheiben schrumpfen, wenn sie nicht durch genug Be- und Entlastung einer Pumpbewegung unterzogen werden. Dieser Wasseraustausch sorgt für eine ausreichende Nährstoffversorgung. Bei Unterversorgung trocknen Bandscheiben regelrecht aus.

5 Das Bindegewebe kann bei einer Unterversorgung seine wichtigen Aufgaben nicht mehr erfüllen: Es schützt die Hüllen von Muskeln, hält die Bänder flexibel und die Sehnen federnd und belastbar.

6 Unterversorgte oder durch verhärtetes Gewebe eingeschränkte Nerven werden unbeweglich und können Bewegungen des Körpers nicht mehr folgen. Nerven müssen aber beweglich bleiben, denn sie bewegen sich schließlich immer mit.

7 Unsere fast 50 kleinen Wirbelgelenke leiden bei dauernder Inaktivität unter Knorpelabbau. Wie ihre großen Brüder, zum Beispiel die Knie, leiden die kleinen Facettengelenke dann unter Arthrose.

8 Zu wenig Bewegung lässt Knochen brüchig werden, denn dann fehlt den Knochenaufbauzellen (Osteoblasten) der Reiz, aktiv zu werden. Die Abbauzellen (Osteoklasten) gewinnen die Oberhand und höhlen die Knochen nach und nach aus.

9 Durch zu wenig Aktivität unbeweglich gewordene Schultern und Hüftgelenke stellen eine Belastung für die Wirbelsäule dar, weil sie die fehlende Mobilität dieser großen Nachbargelenke ausgleichen muss. Und das klappt normalerweise nicht lange.

10 Inaktivität, Unterforderung und Unterversorgung verzögern die Genesung von geschädigtem Gewebe. Heilungsprozesse dauern viel länger oder werden nur unzureichend abgeschlossen, weil die Durchblutung zu gering ist oder fehlt.

Die jahrelang propagierten Strategien der Schonung des Rückens haben uns immer tiefer in den Schlamassel geführt. Denn Schonung bedeutet Unterforderung, und weniger Aktivität ist der direkte Weg in die Sackgasse Rückenschmerz. Werden Sie deshalb möglichst bald aktiv!

Wie entstehen Rückenschmerzen?

Bei starken Rückenschmerzen würden auch Sie wahrscheinlich zum Arzt gehen. Jedoch findet man in mehr als 90 Prozent der Fälle keine eindeutige Ursache für die Schmerzen, weil dynamische Prozesse wie Stoffwechselvorgänge und schleichende Entzündungen meist nicht in Betracht gezogen werden. Rückenschmerz ist viel komplexer, als oft behauptet wird.

Forscher gehen davon aus, dass Rückenschmerzen in über 80 Prozent aller Fälle auf muskuläre Ursachen zurückzuführen sind. Das lässt hoffen, denn die Muskeln können schließlich trainiert werden!

Übersäuerung: nicht nur bei Sportlern

Sportler kennen das nur zu gut: Wenn die Muskeln richtig »blau« sind, wie sie das nennen, befindet sich zu viel Milchsäure (Laktat) in den Muskeln. Es ist ein Abfallprodukt des Energiestoffwechsels und tritt vermehrt nach intensiven Belastungen auf, bei denen zu wenig Sauerstoff zur Verfügung steht, um die Muskelzellen ausreichend zu versorgen. Das Gehirn registriert dies und sendet Schmerzsignale aus.

Das passiert aber nicht nur Sportlern: Auch wenn wir stundenlang am Computer sitzen, übersäuern die Muskeln! Durch die Daueranspannung im Bereich von Schultern und Nacken werden die Muskelzellen zu wenig mit Sauerstoff versorgt und übersäuern. Chemische Rezeptoren werden dann aktiviert und senden Gefahrenmeldungen an das Gehirn.

Das betrifft natürlich nicht nur die Schulter-Nacken-Muskulatur. Der gesamte Rücken und alle unsere 60 Billionen Körperzellen leiden unter Atemnot, wenn wir uns nicht rückenfreundlich verhalten. Ein typisches Beispiel: Nach vier Stunden Autofahrt steigen Sie an der Raststätte ganz steif und mit Schmerzen im unteren Rücken fast schleichend aus dem Auto. Durch das lange, unbewegte Sitzen fallen alle Zellen ins Koma. Der Rücken bekommt keinen Sauerstoff, die Muskeln sind atemlos, nur der »Chef«, das Gehirn, schafft es gerade noch, einen Sauerstoffrest zu bekommen.

Körperzellen brauchen Sauerstoff – sonst gehen sie zugrunde, weil der Organismus die Baustoffe der Zellen zum Abbau der Übersäuerung nutzt. Ständiges Sitzen und Verharren in einer Position zieht Sauerstoffmangel nach sich. Darunter leidet der ganze Rücken – besonders auch der untere Rücken, weil er sowieso aufgrund seiner anatomischen Gegebenheiten die geringsten Bewegungsmöglichkeiten besitzt. Das Gehirn weiß sich nicht mehr zu helfen und reagiert mit Schmerzen, um Gefahr für Muskeln, Bänder und Gelenke abzuwenden.

Verstopftes Bindegewebe

In seinem bekannten Werk »Das System der Grundregulation« von 1975 beschreibt der Autor Professor Alfred Pischinger die besondere Bedeutung des Bindegewebes als Grundlage für alle biologischen Funktionen und Prozesse. In Kombination mit den Gefäßen (Blutbahnen und Lymphbahnen) sowie der Verschaltung und Verbindung der Nerven sorgt dieses größte den gesamten Organismus durchziehende System für die Ernährung und Versorgung aller Körperzellen. Damit ist es zuständig für alle Lebensfunktionen unseres Körpers. Es tauscht seine Informationen über die außerhalb der Körperzelle gespeicherte Flüssigkeit aus und verbindet darüber sämtliche Informationen überall aus dem Körper.

Viele Prozesse im Körper laufen aus dem Ruder, wenn das Bindegewebe, die Basis unserer körpereigenen Grundregulation, verstopft oder anderweitig Schaden nimmt. Trotzdem wird es in der medizinischen Lehre oft vernachlässigt. Speziell für den Rückenschmerz ist die Bedeutung dieser Grundsubstanz bisher viel zu wenig erschlossen. Das Netzwerk des Bindegewebes besitzt direkte Bahnen zum Zentralnervensystem, und so münden Veränderungen oft in schmerzhafte Prozesse.

Warnsignale des Bindegewebes

Wenn wir einen »schlappen« Stoffwechsel haben und zu wenig trinken, lagern sich Giftstoffe aus Nahrung und Umwelt im Bindegewebe ab. Das belastete Gewebe meldet dem Gehirn eine Notlage: Vergiftete Bindegewebsregionen reagieren mit kleinsten Entzündungen – die normale Reaktion des Körpers auf ein Problem –, und über eine Entzündung wird das Gehirn sofort informiert. Die Folge ist Schmerz! Sowohl Muskeln als auch Nerven sind von einer bindegewebigen Hülle umzogen. So ist es kein Wunder, wenn auch sie bei verstopftem Bindegewebe schmerzhaft reagieren. Denn die sensorischen Warnsignale strömen auch von dort direkt zum Gehirn.

Reizung der Muskelhüllen

Die bindegewebige Muskelhülle (Faszie) geht am Muskelende in die Sehne über, die anschließend am Knochen ansetzt. Faszien sorgen dafür, dass der Muskel in Ruhe und Anspannung seine anatomische Form behält – dafür müssen die Faszien flexibel und elastisch sein. Blutgefäße und Nerven wachsen in die Faszien ein, so können diese schnell und effektiv auf Gefahren reagieren. Ist das Bindegewebe der Faszie verstopft oder ist sie durch ständige Inaktivität ausgetrocknet, funktioniert das Zusammenspiel von Muskel und Hülle nicht mehr. Nach einer langen Autofahrt etwa behindern die Faszien und weiteres Bindegewebe die Bauchmuskeln in ihrer Bewegungsfreiheit; die Folge sind reflektorische Schmerzen im unteren Rückenbereich.

Auch die kleinen Muskeleinheiten der tiefen Rückenmuskulatur werden durch die Faszienhülle zur großen Einheit. Verkanten sich Wirbelgelenke, verrutschen Wirbelkörper oder lockern sich die Bänder, werden die Faszien der tiefen Muskeln gereizt. Gefahrenmeldungen an das Gehirn (Schmerzen) sind die Folge.

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_Mehr als nur Füllmaterial

Bindegewebe ist überall im Körper. Es besteht aus kleinen elastischen Fasern, Wasser, Proteinen und Netzstrukturen, welche die eigentlichen Bindegewebszellen fest umschließen. Das Bindegewebe entscheidet stark über die Formgebung des Körpers. Wird es schlaff, bilden sich Dellen; Bänder und Knochen verlieren an Stabilität.

Vernachlässigte Muskeln

Etwa 150 Muskeln wirken direkt auf die Wirbelsäule ein, geben ihr Stabilität und führen die kleinen Wirbelgelenke bei allen Bewegungen. Sie sind der Motor und gleichzeitig der Airbag für die Wirbelsäule. Bevor bei Bewegungen überhaupt Kräfte auf Wirbelsäule, Bandscheiben oder die Knorpelstrukturen der Gelenke treffen, federn gut trainierte Muskeln diese ab: bis zu 90 Prozent der einwirkenden Kräfte! Über vier Fünftel aller Rückenprobleme entstehen so: Aufgrund von fehlender oder falscher Beanspruchung verspannen und verkrampfen die Muskeln, verkürzen sich und werden steif und unbeweglich, können nicht mehr harmonisch miteinander agieren, die Gelenke nicht mehr sichern und führen. Um die Schmerzen zu lindern, schont man sich meist unbewusst, verändert Haltung und Bewegung und beschränkt damit die natürliche Funktion der Muskeln noch mehr.

Lang anhaltende Verspannungen wirken »ansteckend«: Sie lassen immer mehr andere Muskeln ebenso unter Daueranspannung leiden. Das Muskelgewebe übersäuert, kleine Blutgefäße werden nicht mehr ausreichend versorgt und in der Folge abgebaut. Es sprießen neue, auf Gefahren spezialisierte Nervenzellen in Muskelgewebe und Faszie ein. Die Verspannung breitet sich aus, und bald ist eine ganze Region völlig verhärtet. Dann kann schon eine leichte Berührung Schmerzen auslösen, wie etwa bei Schulter-Nacken-Schmerzen.

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Stabil wird Ihr Rücken nur durch Bewegung.

Drei Muskelschichten

Aufgrund der anatomischen Lage gibt es drei Schichten von Rückenmuskeln:

> Die oberste Schicht wird von den großen Rückenmuskeln gebildet, die direkt unter der Haut liegen. Zu ihnen zählen beispielsweise der M. latissimus oder der M. trapezius. Diese Muskeln entspringen an den knöchernen Vorsprüngen der Wirbelkörper, den Dornfortsätzen. Von dort ziehen sie zu Schultergelenk und Hüfte und verbinden so den gesamten Rumpf vom Becken bis zum Schultergürtel mit der Wirbelsäule. Auf diese Weise werden die Bewegungen der Arme und Beine auf den Rumpf übertragen, und Stabilität und aufrechte Haltung werden gewährleistet. Bei vielen durchtrainierten Menschen sind diese Muskeln sichtbar gut entwickelt – trotzdem sind sie oft verspannt, wenig flexibel und oft sogar sehr schmerzempfindlich, weil beim Training die tiefen Rückenmuskeln vernachlässigt wurden (siehe rechts).

> Die mittlere Schicht liegt direkt unter den großen Rückenmuskeln. Sie besteht aus fünf Muskelgruppen, die einerseits zwischen den Rippen verlaufen, andererseits die gesamte Länge der Wirbelsäule überbrücken. So verbinden sie den Schädelknochen mit dem Knochen des Beckens. Die Muskeln ziehen fächerförmig von Wirbelkörper zu Wirbelkörper und sind an allen Bewegungen des Rumpfes – außer der Vorbeugung – beteiligt. Sie stabilisieren die Wirbelsäule und verbinden sie direkt mit dem Brustkorb. Zu ihnen zählen zum Beispiel der M. longissimus, die Mm. intercostali und splenii. Sind sie zu schwach, können sich Wirbelkörper verschieben und Blockaden verursachen.

> Die tiefe Wirbelsäulenmuskulatur ist die wichtigste Schicht. Sehr oft ist sie verantwortlich für Rückenschmerzen, denn sie ist filigran, sensibel und leidet besonders unter Inaktivität. Dann schrumpft sie noch schneller als die übrigen Muskeln und verursacht so einen großen Stabilitätsverlust der Wirbelkörper untereinander. Die tiefe Schicht besteht aus fünf Muskeln, die zum Teil zu Gruppen zusammengefasst sind. Diese Muskelgruppen verbinden, direkt an der Wirbelsäule liegend, in kurzen und langen Muskelzügen sämtliche Wirbelkörper an den Dorn- und Querfortsätzen miteinander und harmonisieren deren Bewegung. Lange Faserzüge verspannen sogar die ganze Wirbelsäule vom Kreuzbein bis zum Schädelknochen. Sie sind die eigentlichen Garanten für eine stabile Wirbelsäule und schützen sie bei allen Bewegungen. Sie helfen dem Rumpf bei Streckbewegungen, Rotationsbewegungen und Seitneigung. Zu ihnen zählen so wichtige Muskeln wie die Mm. rotatores, Mm. multifidii und spinales.

Die tiefen Rückenmuskeln bestehen im Unterschied zu anderen Muskeln zu beinahe 50 Prozent aus Bindegewebe, das nicht aktiv kontrahiert werden kann. Sie bieten deshalb nur passiven Schutz für die Wirbelsäule. Aus diesem Grund sind die anderen 50 Prozent dieser Muskeln auch so enorm wichtig, die aktiv an der gesunden Wirbelsäulenbewegung beteiligt sind. Sie bestehen aus ungewöhnlich großen Muskelfasern – Fast-Twitch-Fasern oder auch »schnelle« Muskelfasern genannt. Diese können rasch große Kräfte entfalten, ermüden jedoch auch schnell, weil sie ohne Sauerstoff sehr bald an ihre Leistungsreserven kommen.

Die tiefen Rückenmuskeln sind ein ideales Sicherungssystem: Der bindegewebige Anteil kann in normalen Situationen die Aufgaben allein bewältigen. Erst bei größeren Belastungen müssen sich die schnellen Fasern aktiv beteiligen. Diese aktiven Teile werden bei den gängigen Übungen kaum mittrainiert. Deswegen legt das Rücken-Akut-Training den Schwerpunkt auf die tiefen Rückenmuskeln. Denn die brauchen eine besondere Behandlung, um fit zu bleiben.

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_Nicht zu ersetzen

Muskeln sind Teamplayer und übernehmen auch mal die Funktionen eines geschwächten Nachbarn. Doch was bei den großen und seitlichen Rückenmuskeln funktioniert, klappt nicht bei den tiefen Rückenmuskeln: Die anderen Muskeln liegen nicht so nah an der Wirbelsäule und sind nicht so angeordnet, dass sie die Funktion der tiefen Schicht übernehmen könnten.

Wie Blockaden entstehen

Bei einer Blockade verliert das harmonisch aufgebaute System der Wirbelkörper an Stabilität. Ausgangspunkt dafür ist fast immer eine zu schwache und überforderte tiefe Rückenmuskulatur! Normalerweise führt und stabilisiert diese die kleinen Gelenke. Die Wirbelkörper werden dadurch immer in der richtigen Position gehalten, egal ob Sie sich beugen, strecken oder drehen.

Meist passiert es plötzlich, bei einer abrupten Bewegung, dass schwache Muskeln ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können, etwa wenn Sie ausrutschen, einen Ball fangen oder werfen oder eine Getränkekiste anheben. Dann verschieben sich die betroffenen Wirbelkörper, die Gelenkflächen der kleinen Wirbelgelenke nähern sich einander an. Bewegung ist fast unmöglich, die kleinen Gelenke entzünden sich, und die Nerven werden völlig irritiert. Extreme Schmerzen sind die Folge. Diese strahlen dann oft bis in die Beine oder Arme aus, Finger und Zehen werden taub. Langfristig können sich sogar die Bandscheibenkerne verlagern. Halten die Taubheitsgefühle länger als drei Tage an, sollte man unbedingt einen Arzt aufsuchen.

Meist kündigen sich Blockaden an. Falls Sie sich beispielsweise in eine Richtung nicht mehr so gut bewegen können und es bei diesen Bewegungen leicht schmerzt, sind das erste Anzeichen. Wirbelkörper sind dann nicht mehr ausreichend stabilisiert, und Blockaden können die Folge sein. Wenn Sie solche Zeichen wahrnehmen, dann fangen Sie sofort mit dem Lebenslang-Fit-Programm ab > an.

Ist jedoch bereits eine Blockade eingetreten, hilft meist eine intensive Dehnung und Entspannung der Muskeln. Wärme und Partnermassage können dies unterstützen, ebenso die Druckpunktmassage aus dem Anti-Schmerz-Programm. Damit der Wirbel später aber auch erfolgreich in seiner angestammten Position bleiben kann, müssen die Rückenmuskeln langfristig gekräftigt werden. Lässt sich der Wirbelkörper nicht wieder in die korrekte Position bringen, kann ein erfahrener Osteopath helfen.

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_Wenn die Hexe schießt

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