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  Manfred Siebald– Und wir in seinen Händen | Ein Jahr und ein Tag mit Matthias Claudius– SCM Hänssler

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ISBN 978-3-7751-7250-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5580-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG ∙ 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de ∙ E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Illustrationen im Innenteil: Anna Ulrich
Umschlaggestaltung: Benjamin Siebald, www.jung-und-juenger.de
Titelbild: Zweihundert deutsche Männer, hg. Ludwig Bechstein (Leipzig, 1854), http://portrait.kaar.at
Autorenbild: Stephan Vogel, www.vogelsfotos.com
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Ein erster Brief

An wen schreibe ich hier eigentlich?

Ein Jahr mit Matthias Claudius

Neujahr und Winter

Mein Neujahrslied

No. 4. Billet doux von Görgel an seinen Herrn, den 10. Jan.

Ein Lied

Frühling

Osterlied

Der Frühling. Am ersten Maimorgen

Frau Rebekka mit den Kindern

Im Junius

Sommer

An eine Quelle

Der Philosoph und die Sonne

Ein Lied um Regen

Herbst

Das Bauernlied

Ein Lied vom Reifen

Winter

Neue Erfindung

Ein Dito

Weihnacht-Kantilene

Ein Tag mit Matthias Claudius

Morgen

Die Sternseherin Lise

Morgenlied eines Bauersmanns

Der glückliche Bauer

In der Allee zu Pyrmont

Mittag

Täglich zu singen

Abend

Abendlied eines Bauersmanns

Ein Wiegenlied bei Mondschein zu singen

Abendlied

Ein letzter Brief

Quellen

Anmerkungen

Der Mensch lebt und bestehet

Nur eine kleine Zeit;

Und alle Welt vergehet

Mit ihrer Herrlichkeit.

Es ist nur Einer ewig und an allen Enden,

Und wir in seinen Händen.1

Ein erster Brief

Sehr geehrter Herr Claudius,

Sie haben in Ihrem Leben so viele Briefe an wirkliche und erdachte Personen geschrieben, dass ich mir einfach erlaube, Ihnen heute selbst einen Brief zu schreiben. Nicht, dass ich diesem Brief eine begründete Chance geben würde, von Ihnen wahrgenommen zu werden – Ihr irdisches Leben ging ja schon vor zweihundert Jahren zu Ende. Aber manches, was Sie in Ihren Gedichten und Texten gesagt haben, lässt sich vermutlich besser verstehen, wenn man über diese Gedanken nicht nur redet oder schreibt, sondern sie mit dem Menschen selbst bespricht, aus dessen Leben sie stammen.

Am besten erkläre ich Ihnen zunächst einmal, warum ich mir vorgenommen habe, ein Jahr lang Gedichte und Prosa von Ihnen zu lesen, die den Rhythmus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter behandeln. Und dann auch Texte, in denen Sie für mich einen Tag lang, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, Blicke in die Welt und in Ihre eigene Seele werfen.

Lese ich Matthias Claudius, weil Sie mit »Der Mond ist aufgegangen« eines der beliebtesten deutschen Abendlieder geschrieben haben? Nein, das genügt mir nicht als Begründung. Was sagen Hitlisten und Verkaufszahlen schon über Inhalte und über Qualität und Wahrheit aus? Ein bisschen tiefer als die Bestsellertabellen möchte ich schon schürfen.

Lese ich Matthias Claudius, weil Sie schon in vielen Literaturgeschichten behandelt worden sind und weil es zur Allgemeinbildung gehört, Ihren Namen zu kennen? Mag sein, aber eigentlich interessiert mich heute weniger, was Spezialisten in der Vergangenheit über Sie, Ihre Werke und Ihre Motivation geschrieben haben – nach dem alten Deutschlehrer-Motto: »Was wollte uns der Dichter damit sagen?« Was der Autor schreiben wollte und was dabei herausgekommen ist, ist das eine; was der Leser davon wahrnimmt und wie er es für seinen Horizont passend macht, kann etwas ganz anderes sein. Gedichte und Geschichten werden ja – so wissen wir heute – erst im Kopf jedes einzelnen Lesers vollendet. Und so hat jede Epoche bisher etwas anderes an Ihren Texten geschätzt oder verworfen und ihr eigenes Bild von Ihnen entworfen. Diese vielen Matthias-Claudius-Bilder sind für mich aber nicht so wichtig wie Ihre Texte selbst.

Was will ich denn dann? Ein umfassendes oder wenigstens ausgewogenes Bild Ihrer Epoche und Ihrer Persönlichkeit zeichnen, weil man vieles in Ihren Gedichten nur verstehen kann, wenn man Ihr Leben und Ihre Zeit möglichst objektiv erforscht hat? Das haben viele andere Bücher versucht und einige davon mit vorzüglichem Erfolg.2 Der geschichtliche Blick ist sicher wichtig, aber manchmal ist Geschichte nicht nur Vergangenheit, sondern auch das, was sich unbemerkt wiederholt, wenn man keine Lehren daraus gezogen hat. Und ich glaube, dass wir heute stellenweise noch die gleichen Fehler machen, gegen die Sie sich gestemmt haben.

Auf den ersten Blick sei das, was unsere Zeit noch von Ihnen im Gedächtnis hat, »eigentümlich zeitlos«, sagte eine Biografin vor einiger Zeit.3 Wo Lebensbeschreibungen mit gutem Grund die Verwurzelung von Autoren in ihrer Zeit untersuchen, möchte ich eher das Zeitlose aufspüren. Ich möchte mich einfach von Ihnen durch Jahr und Tag begleiten lassen und Ihre Texte in Ruhe in mich aufnehmen; möchte mich mit Ihnen über zwei Jahrhunderte hinweg unterhalten und möchte wissen, ob Sie mir möglicherweise Dinge zu sagen haben, die mich weiterbringen und mich mehr herausfordern als viele der gedanklichen Luftblasen meiner eigenen Zeit. Auch mein Zeitalter ist im Umbruch, sucht nach Orientierung, verliert den Glauben und könnte ihn wiederfinden – genau wie Ihres damals. Deshalb will ich Ihnen gern zu jedem Ihrer Texte einen Brief schreiben, in dem ich Ihnen erzähle, wie eigentümlich zeitlos Sie mir auch auf den zweiten und dritten Blick vorkommen.

Übrigens fällt es mir beim Schreiben zunehmend schwerer, dieses förmliche »Sie« durchzuhalten. Dazu fühle ich mich Ihnen an vielen Stellen zu sehr verbunden, fühle mich von Ihnen zu sehr verstanden und fürsorglich beraten. Auf der anderen Seite möchte ich Ihnen meine Freundschaft auch nicht nassforsch aufdrängen – Sie haben doch damals in einer Zeit gelebt, in der die Etikette noch sehr viel strikter war als in unserem manchmal sehr distanzlosen 21. Jahrhundert. Sie selbst haben sich ja gelegentlich die neugierig schnüffelnden Besucher in Wandsbek vom Hals gehalten, indem Sie aus dem Haus traten und mit abgenommener Nachtmütze sagten, Herr Claudius sei nicht zu Hause.4

Den Anstandsregeln zufolge müssten Sie mir das »Du« anbieten – Sie sind eindeutig der Ältere, sowohl im Blick auf Ihren Platz in der Geschichte als auch im Blick auf das Lebensalter. Doch da uns die Gelegenheit fehlt, miteinander im Garten Ihres Hauses in Wandsbek oder in unserem Gärtchen in Mainz Brüderschaft zu trinken (vielleicht mit einem Glas des von Ihnen so wunderbar besungenen Rheinweins), nehme ich mir die Freiheit, Ihnen einfach einseitig das »Du« anzutragen. Ich vertraue darauf, dass Sie mir das nicht postum übel nehmen.

Also sage ich jetzt einfach mal: Lieber Matthias, ich betrachte es als ein Vorrecht und eine Ehre, ein Jahr und einen Tag lang Gedichte und Texte von Dir lesen zu dürfen, und Dir dann zu schreiben, wie Du damit unerwartete Lichter in meinem eigenen Alltag angeknipst und meinen Blick für den geweitet hast, in dessen Händen wir alle sind. Was ich Dir bei diesem schamlos subjektiven Unternehmen an Rückmeldung zu geben habe, ist natürlich auch für die Leser dieses Buches gedacht. Ihnen möchte ich damit gern sagen, dass es Deine Gedichte auch noch bis in ein neues Jahrtausend hinein geschafft haben, mein Herz zu bewegen. In diesem Sinne grüße ich Dich als

Dein Dir schon immer geneigter Leser.

An wen schreibe ich hier eigentlich?

Lieber Matthias,

ein wenig muss ich mich natürlich doch mit Dir über Dein Leben unterhalten. Was warst Du für ein Mensch? Völlig unterschiedlich sind die Meinungen, die ich über Deinen Werdegang gelesen habe. Als Kind eines verschlafenen und vergessenen Ortes bist Du bezeichnet worden, als Gescheiterter, als Träumender und als »grämlicher Pietist«.5 Wegen Deiner politischen Überzeugungen, die an der ständischen Ordnung und der Monarchie festhielten, hat man Dich »stockkonservativ« genannt.6 Und dass für Dich im Letzten nicht politische Revolutionen den Menschen verändern, sondern dass »Revolutionen in den Gesinnungen der Menschen« nötig sind, ist Dir als falsche Einschätzung vorgeworfen worden.7 Nun, da kann man durchaus anderer Meinung sein, denn wer nicht an die Allmacht der Waffen glaubt, ist nicht unbedingt dumm. Viele Revolutionen in Deinem und in meinem Jahrhundert haben doch nur an der Oberfläche neue Ordnungen hervorgebracht, und weil sich die Köpfe und die Herzen nicht verändert hatten, waren schon bald wieder neue Tyrannen am Ruder.

Manche Stimmen klingen da ganz anders: Einer Deiner einfühlsamsten Biografen hat seine Beschreibung Deiner vierundsiebzig Jahre mit dem Untertitel Leben als Hauptberuf versehen und Dich als »einfachen und doch außergewöhnlichen Menschen« beschrieben.8 Ein späterer Dichterkollege hat geschwärmt, Du seist ein Christ der Bergpredigt gewesen, »ein Christ, der nicht arbeitete und nicht spann, der nicht die Saat bürgerlicher Tagesfron säte, um bürgerliche Reputation zu ernten, ein Christ des ›Sorget nicht‹, des ›Richtet nicht‹ … ein Christ der linken Hand, die vom Tun der rechten nicht weiß … .«9 Und der ansonsten bissige Karl Kraus nannte Dich einen der »größten deutschen Dichter«.10 Wer warst Du denn nun wirklich?

Du wurdest am 15. August 1740 in dem kleinen Ort Reinfeld im Herzogtum Holstein-Plön geboren. Deine Eltern – ein Pastor und eine Kaufmannstochter – ließen Dich und Deine Brüder in einer ländlichen Idylle aufwachsen, und Deine Schulbildung erhieltst Du zunächst von Deinem Vater und vom Organisten der Gemeinde. Über die Lateinschule in Plön ging es 1759 zusammen mit Deinem Bruder Josias an die Universität von Jena, wo Du Theologie studiertest. Ihr infiziertet Euch beide 1760 mit den Blattern, und Josias starb daran. Statt Dein Theologiestudium fortzusetzen, wendetest Du Dich der Rechtswissenschaft und der Geschichte zu, brachst aber auch diese Fächer ab und kehrtest 1762 zu Deinen Eltern zurück.

Während einiger Berufsjahre als Sekretär des Grafen von Holstein in Kopenhagen lerntest Du den Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock kennen – eine für Deine schriftstellerische Arbeit wichtige Begegnung. Zwischendurch wohntest Du wieder im Haus Deiner Eltern und wurdest dann 1768 Journalist bei den Hamburgischen Addreß-Comptoir-Nachrichten. Hier veröffentlichtest Du neben Rezensionen auch Gedichte, so wie Du es auch ab 1770 bei der neu gegründeten Zeitschrift Der Wandsbecker Bothe tatst. Als diese Zeitschrift 1775 eingestellt wurde, verwendetest Du weiter ihren Titel und nanntest Dich selbst »Der Wandsbecker Bothe«. Neben vielen humoristischen und gefühlsbetonten Texten verfasstest Du durchaus auch Zeitkritisches und kommentiertest lustvoll die Auseinandersetzungen in Philosophie, Religion und Literatur Deiner Tage. Mit literarischen Berühmtheiten wie Klopstock, Johann Gottfried Herder und Gotthold Ephraim Lessing hieltst Du Verbindung und erlangtest im Laufe der Zeit eine gewisse Berühmtheit in Deutschland.

1772 heiratetest Du Deine große Liebe, die Zimmermannstochter Anna Rebecca Behn, der Du viele Deiner Gedichte und Texte widmetest und mit der Du zwölf Kinder hattest. Durch die Vermittlung Herders wurdest Du 1776 Oberlandkommissar in Darmstadt und warst mit der Unterstützung von sozialen und politischen Reformen beauftragt. In der Hessen-Darmstädtischen privilegirten Land-Zeitung versuchtest Du, den Adel zu einer Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen zu bewegen.

Auf Dauer hieltst Du es aber in Darmstadt nicht aus und kehrtest nach Wandsbek zurück. Das war der Beginn einer langen Zeit an ein und demselben Ort. Von 1775 bis 1812 hast Du dort als Übersetzer und Lehrer gearbeitet und acht Teile des Wandsbecker Bothen veröffentlicht, Zusammenstellungen von literarischen, feuilletonistischen, theologischen und politischen Texten, die Du über die Jahre verfasst hattest. Du hast darin Missstände Deiner Zeit kritisiert, aber auch viel Persönliches preisgegeben, und es sind diese Texte, die uns tiefer in Deine Persönlichkeit schauen lassen als Jahreszahlen und Berufsbeschreibungen.

Ab 1788 hattest Du die nicht sehr arbeitsintensive, aber dafür recht lukrative Stelle eines Bankrevisors bei der Altonaer »Schleswig-Holsteinischen Speciesbank« inne, und das hielt Dich und Deine große Familie einigermaßen über Wasser, sodass Ihr das Landleben in Wandsbek genießen und viele Gäste empfangen konntet. Einiges von dem, was Euch in diesen Jahren familiär bewegte, lässt sich in Deinen Gedichten nachverfolgen: vor allem 1796 der Tod Deiner Tochter Christiane und 1797 Deine Silberhochzeit mit Rebecca.

Politisch warfen ab 1789 die Französische Revolution und dann von der Jahrhundertwende an die Feldzüge Napoleons ihre Schatten auf Dein Leben. Du hattest Dich in vielen Texten als Gegner des Krieges und Liebhaber des Friedens zu erkennen gegeben. Nun, in der Zeit der Napoleonischen Kriege, hingst Du irgendwo zwischen den Stühlen. In den 1810er Jahren schlug Dein Herz für die Befreier von der französischen Besatzung, auch wenn Du – wie Du sagtest – es ehrenvoller fandst, die Waffen wieder niederzulegen. Vor den Kriegswirren flohst Du 1813 mit Deiner Familie nach Kiel und dann nach Lübeck, kehrtest aber 1814 nach Wandsbek zurück und zogst dann wegen zunehmender Schwäche nach Hamburg an den Jungfernstieg ins Haus Deines Schwiegersohns, wo Du am 21. Januar 1815 Deine letzten Worte aushauchtest: »Helft mir Gottes Güte preisen. Gott seg …«.11

Dem Chor von grämlichen Stimmen, die mit Dir nichts anfangen konnten und können und Dich sogar eine »völlige Null« nannten, 12 steht ein großer Chor von Lesern entgegen, die Dich einen »Prediger Salomo seiner Zeit« nennen, »der Freude und Trauer, Geborgenheit und Einsamkeit, Lebensmut und Wissen um die Endlichkeit der irdischen Existenz auf seine ganz eigene Weise darzustellen wusste«.13 Eine solche Widersprüchlichkeit der Urteile reizt mich natürlich ungeheuer, mich einfach einmal mit Dir auf eine Reise durch das Jahr zu begeben, um Dich aus der Nähe kennenzulernen. Höchst gespannt widmet sich deshalb jetzt zuerst einmal Deinen Gedichten über den Jahresanfang

Dein neugieriger Leser.

Ein Jahr mit Matthias Claudius

Ein Jahr mit Matthias Claudius