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Titelseite

 

 

 

 

 

Mein Dank an Odile, Karlotta, Maxima, Lennard und Björk für viele Gespräche über Borderline.
 
Alles Liebe euch fünfen!

„… ist sie – tot?“

„Ist sie …?“

„Um Gottes willen …“

Sie liegt ganz still.

Ihr Gesicht ist schneeweiß. Regen tropft auf ihre Stirn wie kalte Tränen.

Über ihr steht das Fenster im ersten Stock offen. Die rosa Gardine weht im Wind.

Von ganz weit her kommt ein Gedanke. Es sollte jemand bei ihr sein in diesem Moment.

Sie liegt sehr still. Reglos. – Wer sollte bei ihr sein?

Luuk …? – Nein, er nicht!

Oskar? Vielleicht.

Oder Selma, ihre einzige Freundin.

Stattdessen ist Herr Petry da. Herr Petry aus dem Nachbarhaus. Er und Olga, seine russische Freundin. Die beiden riechen nach Zigaretten und dem Mief von ungelüfteten Zimmern.

„Gott sei's gedankt – sie atmet“, sagt Herr Petry. Er klingt erleichtert und so, als würde er gerade überall lieber sein als hier im verregneten Nachbarsgarten. Seine kalten Finger tasten schon die ganze Zeit an ihrem Hals herum und suchen nach Lebenszeichen. Er kniet ungelenk neben ihr im Gras. Seine Finger fühlen sich rau und wulstig und unangenehm an. Als würden dicke kleine Tiere über sie krabbeln.

„Der Krankenwage ist auf Weg, sie haben gesagt. Dauert paar Minute. Wir soll'n sie auf kein' Fall bewegen.“

Olga spricht nur gebrochen Deutsch. In Kiew war sie mal eine bekannte Pianistin, heißt es in der Nachbarschaft. Hier ist sie nur eine arbeitslose Kettenraucherin, die selten das Haus verlässt.

„Warum zum Teufel hat sie das nur getan?“

Herrn Petrys Stimme klingt fast ärgerlich. „Steht erst endlos am Fenster rum wie nich' ganz bei Trost. Und lässt sich dann …“

Er sucht nach den richtigen Worten. „… fallen. Einfach so. Kopfüber … Von einer Sekunde zur nächsten. Es sah grässlich aus. Was für ein verdammter Schreck! Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Sei froh, dass du's nicht gesehen hast.“

„Ein dünnes Ding“, ist Olgas unzusammenhängende Antwort. „Nix dran an der Kleine. Wie alt sie ist?“

Herr Petry, der es eigentlich wissen könnte, zuckt nur mit den Schultern.

Sie ist sechzehn. Und schon immer lief alles verquer. Fast von Anfang an.

* * *

1

Herbst 1998

Hallo Welt, da bin ich. Wahnsinn, ich bin.

Ihre Eltern waren bei ihrer Geburt schon Uhus. Noch nie von Uhus und Bivies gehört? Uhus sind schlicht Leute unter hundert, Bivies solche bis vierzig.

Das musste man sich mal vorstellen, ihre Mutter war am Tag ihrer Geburt bereits dreiundvierzig Jahre alt und Papp, ihr Vater, der damals noch bei ihnen wohnte, sogar schon fünfzig. Hatten sie nichts anderes zu tun? Warum sie sich noch mal ein Baby zulegten? In ihrem Alter? Und wo sie sich doch nicht mal mehr gut verstanden? Das weiß keiner. Sie taten es eben. Dabei gab es damals schon Papps Affären und Mas Depressionen, und ihre ältere Schwester – Amara – war schon halb erwachsen. Sechzehn, oder so.

Sie, Elina, war jetzt auch sechzehn Jahre alt, hatte grüngraue Augen und dunkelbraune Haare.

Bei ihrer Geburt mittelwillkommen – heute mittelgroß, mitteldünn, mittelhübsch, mittelfroh und mittelgut in der Schule. Mittel, mittel, mittel.

Davon, dass meine Mutter später immerzu klagen würde, über den Stress, den sie seit dem Augenblick meiner Geburt mit mir hatte, und welch ein nervenaufreibender Säugling ich war, ahnte ich in der Nacht meiner Geburt zum Glück noch nichts.

Ich war einfach nur ich.

„Warum hast du mich überhaupt bekommen?“, habe ich meine Mutter – Maria Lawall, Besitzerin des Café Zucker, ein alter Familienbesitz, den sie nicht gern am Hals hat – mal gefragt, als ich noch etwas jünger war. Dreizehn, oder so. Wir waren im Bad, ich saß in der schaumigen Wanne und meine Ma räumte einen halben Meter weiter einen Stapel gewaschener, getrockneter und zusammengelegter Handtücher in die Kommode. Sie war gerade erst von einem ihrer vielen Kuraufenthalte zurückgekommen. Sie leidet unter Depressionen und solchen Sachen. Weinen, Trübsal, Wut, Schimpfen, Schreien, ins Leere starren. Alles immerzu durcheinander und von Jahr zu Jahr wird es schlimmer.

Nach meiner Frage drehte sie sich um und sah mich einen Moment lang perplex an.

„Wie meinst du das denn, Eli?“

Ich ließ mich am Wannenrand hinabgleiten, tauchte unter und wieder auf.

„Ich meine … du hättest mich doch auch einfach – abtreiben können. Oskars Mutter hat auch abgetrieben, als sie mit vierzig noch mal schwanger geworden ist. Mit einem Tropikind …“

Oskar war mein Kumpel aus Kindergartentagen. Er wohnte damals wie heute nur zwei Häuser weiter. Und ein Tropikind ist ein Trotz-Pille-Kind, aber meine Mutter fragte gar nicht nach. Vielleicht hatte sie meine Abtreibungsfrage so erschreckt, aber sie fragt oft nicht wirklich nach, wenn ich etwas erzähle.

„Elina, was …? Dich abtreiben? Einfach … abtreiben? – Nein, also … wir … wir wollten dich doch, wir … haben uns doch gefreut, Papp und ich.“

Das war eine zum Himmel schreiende Lüge, so viel stand fest. So viel stand hundertprozentig fest. Auf alten Fotos aus meiner Babyzeit sieht meine Mutter nie froh aus. Nur gehetzt und gereizt und müde und – irgendwie immer wie kurz vor dem Zusammenbruch. Als sei ausgerechnet ich schuld, dass ihr Leben absolut falsch verliefe.

An diesem Abend im Badezimmer wischte sie sich eine hellgraue, leicht feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Dazu lachte sie ein sehr dünnes Lachen und hörte sofort wieder damit auf. Draußen schrillte das Telefon.

„Oh, das könnte …?“

Sie drehte sich abrupt von mir weg und eilte aus dem Zimmer. Sie nahm sich nicht mal Zeit, die Handtücherschublade zuzuschieben.

„Amara sein“, beendete ich den hoffnungsvoll begonnenen Satz meiner Mutter gereizt. Ich versank wieder im türkisfarbenen Wasser. Irgendwie war mir nach Weinen zumute, aber ich tat es nicht. Erstens kann man unter Wasser schlecht weinen und zweitens weinte ich so gut wie nie.

„Warum weinst du nie?“, fragte Oskar mich manchmal. Oskar fragte immer und alles. Es gab einfach nichts, für das er sich nicht interessierte.

Und ich war die Meisterin der bescheuerten Antworten.

„Vielleicht, weil ich zum Weinen zu traurig bin“, sagte ich einmal.

* * *

„Sie hat sich einfach so fallen lassen“, erklärt Herr Petry dem Notarztteam im regennassen Garten. „Es war ein schlimmer Anblick. Mit so was rechnet man schließlich nicht, verdammt noch mal. Und das bei meinem Bluthochdruck.“

„Gut, dass Sie so schnell zur Stelle waren“, sagt die Sanitäterin, während Elina in den Rettungswagen gebettet wird. Herr Petry bekommt ein paar Tropfen Beruhigungsmittel. Schwer atmend läuft er in kleinen Kreisen durch das glitschige, zerwühlte Gras.

„Wird sie überleben?“, erkundigt sich Olga unterdessen mit rauer Stimme und zieht mit zittrigen Fingern an einer Zigarette.

Der Notarzt nickt. „Ganz sicher. Machen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr. Was wissen Sie über das Mädchen?“

Elinas Augen sind während der Fahrt zur Klinik geschlossen. Sie denkt an ihre Familie, ihre Freunde – alte und neue. Ihre Ma. Ihr ferner Papp, der schon so lange nicht mehr zu ihrer Familie gehören will. Ihre weißhaarige Großmutter Signe. Ihre Schwester Amara, die ihr eigenes Leben führt. Und dann Selma. Und Oskar. Und – Luuk.

Jemand hat ihr eine Spritze gegeben. Sie lebt. Sie friert. Man hat sie festgebunden und jemand hält ihre eisige Hand. Elina ist einfach wahnsinnig müde.

Was ist nur geschehen? Warum hat sie das getan? Warum hat sie sich mit diesem Luuk eingelassen? Wie hätte sie ahnen können, dass es so sein würde? Wie hat überhaupt alles angefangen?

Doch, sie weiß, wie es angefangen hatte. Mit diesem verrückten Casting.

2

JANUAR 2014

Ich hatte nicht viele Freunde.

„Dein Zweitname ist Einsiedlerkrebs, Eli, echt“, sagte Selma manchmal. Selma war tatsächlich so gut wie meine einzige Freundin. Sie selbst hatte einen erschreckend großen Freundeskreis. Aber hin und wieder nahm sie sich menschenfrei, wie sie es nannte, besucht stattdessen mich und übernachtet bei mir. In diesen Nächten reden wir so lange, bis wir irgendwann mitten im Gespräch einschlafen.

„Darf ich vorstellen?“ Sie grinste mir zu und deutete auf mich und mein stilles Zimmer. „Elina Einsiedlerkrebs Lawall in ihrer Enklave.“

Ich widersprach nicht, denn sie hatte recht. Tatsächlich würde ich nur sie und Oskar als Freunde bezeichnen.

Und Signe, meine weißhaarige Oma.

„He, kein normaler Mensch hat seine Oma zum Freund, Eli!“, sagte Selma entschieden. „Auch wenn sie noch so hip ist.“

Und das war Signe auf jeden Fall. Sie war die Mutter von Bernhard, meinem weggegangenen Vater, und schon fünfundachtzig.

„Eigentlich wollte ich immer eine Tochter, verstehst du?“, hatte sie mir mal anvertraut, das war schon Jahre her. „Ich hatte immerhin ein Frauenhaus mitgegründet, ich bin seit gefühlten hundert Jahren mit Alice Schwarzer befreundet, und ich habe 1968 öffentlich meinen einzigen Büstenhalter, der ein teures Ding war, verbrannt, um ein Zeichen für die Frauenbewegung zu setzen. – War sowieso gemütlicher ohne BH …“

Sie hatte gegrinst, während sie mir davon erzählte.

„Und dann bekam ich, welch Schmach, einen Sohn. Und auch noch so einen gottverdammten Spießer! Wurde Polizist, pfui Teufel! Zwei Jahre Therapie musste ich machen, um das zu verarbeiten!“

Signe trug ausschließlich weiße Sachen und hatte inzwischen auch, zu ihrer Freude, fast völlig weiße Haare. Sogar ihre Fingernägel lackierte sie sich weiß. Außerdem fuhr sie, um ihrem Spleen die Krone aufzusetzen, eine schneeweiße Ente, so einen alten Citroën 2CV, den sie hegte und pflegte wie ein Kind.

Selma unterbrach meine Gedanken.

„He, Eli, sie kommen … – Nun beeil dich doch mal!“, rief sie und öffnete hastig mein wunderbar großes, schräges Dachfenster. Ein Schwall kalte Luft wirbelte herein. Der Himmel war von einem ungemütlichen Wintergrau, wie so oft im Januar.

Aber mitten in all dem Grau tauchte plötzlich eine grüne Wolke auf, wie jedes Mal, wenn sie kamen.

„Wahnsinn, der absolute Wahnsinn“, murmelte Selma beeindruckt und lehnte sich weit hinaus, möglichst nah an dieses wilde Spektakel heran. Mit dem Handy versuchte sie, wie immer, einige Aufnahmen zu schießen, aber sie wurden – ebenfalls wie immer – nicht halb so beeindruckend wie die Sache wirkte, wenn man sie miterlebte.

Es war der berühmt gewordene Schwarm aus grünen Papageien, die über den winterlichen Himmel jagten und hin und wieder in die Bäume einfielen, als seien sie am Verhungern. Vor allen Dingen im Winter, wo die Bäume kahl und deprimierend aussahen und unwirtlich waren, räuberten sie aber nahezu überall. In den ewig vollgestopften Mülleimern der Parks, sobald sich ihnen ab dem Frühjahr die Möglichkeit bot, auch von gedeckten Kaffeetischen in Gärten, ebenso wie auf den Wochenmärkten oder in den Auslagen von Geschäften. Der Lärm, den sie dabei machten, war ohrenbetäubend und großartig.

Die Geschichte dieser Vögel war so einfach wie beeindruckend: Früher einmal hatten sie ganz normalen Menschen, ihres Zeichens Papageienliebhaber, gehört. Aber eines Tages vor vielen Jahren, keiner wusste genau, wie es passiert war, hatten sie sich miteinander verständigt und waren in einer legendär gewordenen Nacht allesamt während eines Ausstellungswochenendes aus ihren Käfigen entflohen und hatten sich zu einem wilden, grünen Vogelvolk aus Freiheitskämpfern zusammengeschlossen. Seitdem hatten sie allen Gefahren und Widrigkeiten getrotzt und sich dabei in geradezu beängstigender Weise vermehrt. Selma, die die Geschichte schon zigmal zum Besten gegeben hatte und sie sehr liebte, reimte es sich in etwa so zusammen wie in Walt Disneys berühmtem Dalmatinerfilm, in dem die Hunde sich mittels eines „Bellophons“ – Bellen von Hof zu Hof, kilometerweit – verständigten und so die niedlichen, entführten Hundewelpen suchten. Nur dass es in diesem Fall so etwas wie ein Freiheitskrächzophon gewesen sein musste.

Und nun krächzten sie praktisch pausenlos – stolz auf ihre Revolution und ihre Freiheit! Und während eine Menge Menschen sie als Plage empfanden, waren Selma und ich solidarisch mit ihnen und konnten uns für sie begeistern.

„Und schon sind sie wieder weg, die Guten“, sagte Selma und sah der grünen Wolke mit zusammengekniffenen Augen hinterher. „Viva la revolución!“, rief sie in ihre Richtung und lachte, aber dann verzog sie das Gesicht und schloss so schnell und leise wie möglich das Fenster. „Dafür naht dein komischer Nerd, Eli, was nicht halb so ergreifend ist. Verdammt, ist man vor dem denn niemals sicher?“

Da klingelte es auch schon.

„Machen wir einfach nicht auf“, schlug ich zögernd vor und schämte mich innerlich für diesen verbalen Verrat an meinem besten Freund.

Aber Oskar war eben Oskar. Schon im nächsten Moment hörten wir ihn in den hinteren Garten gehen und die Tür des Geräteschuppens aufschieben. Sie knarrte vernehmlich.

„Er holt sich tatsächlich einfach so euren Mist-ich-hab-mich-ausgeschlossen-Schlüssel!“, zischte Selma brüskiert. „Mann, der kennt echt keine Skrupel. Will er etwa hier einbrechen?“

Wie es schien, wollte Oskar genau das.

Gleich darauf waren jedenfalls drei Paar Füße auf der Treppe zu hören, die sich rasch näherten.

„Und dann hat er auch noch dauernd seinen haarigen Uraltköter dabei“, murmelte Selma wenig begeistert, gerade als die Tür aufging.

„Oh, unerwarteter und hoher Besuch aus dem Morgenland“, sagte Oskar und lachte sein polterndes Lachen. Nur ich wusste, dass er nicht halb so cool war, wie er sich gab, und dass er es hasste wie die Pest, wenn etwas sich anders entwickelte, als er es erwartet hatte.

„Merhaba, Frau Akgül!“

Ich wusste, dass sein Grinsen die pure Show war. Aber auch er wusste Dinge über mich, die sonst keiner wusste, und beide zusammen wussten wir, dass es besser war, wenn manche Dinge ungesagt blieben. Ich versuchte, ihn anzulächeln, war mir aber nicht sicher, ob es gelang.

Selma verzog unterdessen keine Miene, während Chapeau Claque hechelnd in mein Zimmer stürzte und es haarenderweise in Beschlag nahm.

„Gemach, mein alter Faltzylinder, gemach“, sagte Oskar streng, zerrte den alten Collie von meinem Bett auf die Holzdielen zurück, und belegte mein Zimmer ebenfalls mit Beschlag, indem er sich auf meiner Fensterbank niederließ und seine langen Beine sortierte. Dort saß er immer, wenn er mich besuchen kam.

„Wir machen hier eigentlich, wie du siehst, einen Frauennachmittag.“

Selmas Stimme klang bedeutungsschwer und sie warf erst Oskar und dann mir einen Blick zu, ihm einen frostigen, mir einen auffordernden. „Oder, Eli? Sag doch auch mal was!“

Ich schwieg nervös. Wie immer fand ich es schade, dass die beiden nicht miteinander auskamen. Oskar fand Selma zickig und Selma Oskar idiotisch. Und das war noch nett ausgedrückt.

„Wieso? Redet ihr über eure Periode? Über ein geplantes Schamlippenpiercing? Über Kerle? Sex? Heiraten? Kinder?“

Oskar lachte wieder und Chapeau Claque hechelte, was ähnlich wie ein Lachen klang.

„Oh, mein Gott“, sagte Selma. „Wie hältst du es mit den beiden nur aus, Eli? Echt, ich versteh's nicht!“

Ich warf Oskar einen flehenden Blick zu. Warum machte er sich immer selbst zum Volltrottel? Mein Kindheitsfreund war nicht nur irgendwie sozial öfter mal inkompetent, sondern zusätzlich sehr, sehr dünn und dabei wahnsinnig groß. Mit seinen Einmetersiebenundneunzig stellten schon ganz normale Türen ein Problem für ihn dar, und er ging immer etwas krumm, vermutlich um nicht überall anzuecken. Dazu kam, dass er unheimlich hellhaarig und lockig und, um allem die Krone aufzusetzen, ziemlich kurzsichtig war. Aus diesem Grund trug er diese schwarze Woody-Allen-Brille, wegen der Selma und andere ihn „Nerd“ nannten. Aber er war in Ordnung, schwer in Ordnung sogar. Er war kein Depp, kein Dummkopf oder Trottel, auch wenn Selma das behauptete und einige andere Leute ebenfalls.

„Der Faltzylinder und ich sind sowieso auf dem Sprung“, sagte Oskar jetzt leicht eingeschnappt. „Wir wollten nur etwas loswerden.“

„Was?“, fragte ich.

„Das“, sagte Oskar und hielt mir ein Blatt Papier hin, das er gerade aus der Hosentasche gezogen und auseinandergefaltet hatte.

„Was ist das?“

„Guckst du …“, sagte Oskar mit einem Seitenblick auf Selma.

Das aufgeklappte Blatt war jetzt in acht Knickrechtecke unterteilt und insgesamt eng bedruckt. Ich strich es glatt und starrte darauf. Einige der Worte, die dort standen, sprangen mich förmlich an.

Zuerst mein Name. Elina Lawall. Dazu mein Geburtstag im September. Dann der in goldenen Lettern geschriebene Briefkopf des Blattes. Sing Factory. WAS? Außerdem die Worte Casting – Show – Anmeldung – Jury – Recall – Musical.

Und zuletzt ein weiteres Datum. Der erste Februar.

„Was zum Teufel ist das?“ Ich hob den Kopf und starrte Oskar verwirrt an.

„Zeig mal her“, sagte Selma und nahm mir das Blatt aus den Fingern.

Oskar wusste ein paar Dinge über mich, die sonst keiner wusste. Höchstens noch meine genervte Mutter – und meine Oma. Aber die zählten ja, wenigstens Selmas Meinung nach, nicht.

Denn ich sang.

Wenn ich alleine war.

Beim Spülen. Beim Duschen. Oder Baden. Beim Baden mit Kopfhörern auf dem Kopf wie Julia Roberts in Pretty Woman. Tausendmal hatte ich diese Szene auf meinem DVD-Spieler gesehen.

Am Fluss in der Nähe sang ich auch hin und wieder, wenn ich sicher war, alleine zu sein. Und dabei schaute ich ins vorbeiziehende Wasser, weil das hundert Prozent beruhigend wirkte. In der Stadtbahn, wenn ich ein Abteil ganz für mich alleine hatte, überkam es mich auch manchmal – wegen der eigenartigen Akustik, die dort herrscht.

Oskar wusste davon, denn früher, als wir noch klein gewesen waren, hatte ich noch wirklich überall gesungen. Auf dem Weg zum Bäcker. Zum Bioladen. Zum Kindergarten. Zum Spielplatz. Zum Bach.

Ich hatte Kinderlieder gesungen, die ich heute gruselig finde, aber auch Freude, schöner Götterfunken, die Ballade von den Seeräubern, Bella Ciao, Neue Männer braucht das Land. Alle diese Lieder kannte ich von Signe.

„Ein Potpourri aus gesungenem Wahnsinn“, sagte Oskar manchmal.

Inzwischen waren es noch viel mehr Lieder geworden. Ich liebte irische Balladen, die uralten Beatles-Songs, Plain White T's Hey there Delilah und Call me Al von Paul Simon. Außerdem die Sachen der Ärzte und den alten Kram von U2 und Greenday.

„In mir sind – irgendwie … massenhaft Lieder“, hatte ich mal zu Oskar gesagt.

Seine Antwort war eigenartig: „Mir kommt es eher so vor, als bestündest du völlig aus Musik, Elina.“

Oskar nannte mich immer bei meinem vollständigen Namen. Elina. Nicht Eli, wie alle anderen.

„Eine Castingshow? Und wieso, bitte schön, steht da dein Name? Du sollst zu einer Castingshow? Zu dieser superbescheuerten Castingshow?“, rief Selma und starrte dabei wie paralysiert auf das Stück Papier in ihren Händen.

Wir schwiegen alle. Bis auf den alten Collie, der unbeirrt weiterhechelte.

„Warum nicht?“, fragte Oskar schließlich und sah uns abwechselnd an.

Warum nicht?“, wiederholte Selma wie vor den Kopf gestoßen. Sie starrte Oskar an, als sei er eine Erscheinung, eine durch und durch fragwürdige Erscheinung.

Ich schwieg. Mir war schwindelig, einfach so, von einer Sekunde zur nächsten.

Erster Februar? Ich? Singen? Bei einem Casting?

Ich?

Ich?

Ich!?

„Du singst wunderschön“, hatte Oskar mal zu mir gesagt an einem Sommernachmittag. Vor einem Jahr? Vor zwei Jahren? „Hey, deine Stimme haut mir immer vor die Brust wie eine Woge im Meer, verstehst du? So eine, die einen überrollt, dass man nach Luft schnappen muss.“

Auf einmal fühlte ich in mir wieder diese kribbelnde Unruhe, die ich schon seit Jahren kannte, die mich immer wieder überfiel wie ein Raubtier. Ich spürte, wie ich innerlich zu zittern begann. Ich – brauchte – jetzt – dringend – eine – Auszeit.

Verzweifelt biss ich die Zähne zusammen.

„Du hast Eli da angemeldet?“

Selma riss ihren Blick erneut von dem ausgedruckten Formular los und starrte Oskar verärgert an. „Willst du sie wie eine komplette Idiotin dastehen lassen, oder was? Ist es das? Verdammt, diese Shows werden im Fernsehen übertragen. Schon vergessen? Willst du etwa, dass Eli sich bis auf die Knochen blamiert?“

Etwas in Oskars Gesicht verschattete sich, als wären Wolken vor die Sonne geglitten.

„Sorry …“, sagte er leise und räusperte sich. Sein Blick war auf einmal fahrig und flog durch den Raum. „War nur so ein Einfall. Hab's gerade zufällig im Internet entdeckt und … Sie suchen Talente für ein neues Musical … und ich dachte … Elina, ich dachte eben … – War eh nur so eine Voranmeldung. Kann man jederzeit canceln!“

Seine Stimme verebbte, während sein Blick meinen fand und augenblicklich wieder losließ. „Okay, war vielleicht 'ne Scheißidee, ich geb's zu. Vergesst es! Komm, Chapeau, gehen wir besser wieder. Frauennachmittag, also echt!“

Er schlüpfte in seine Jacke und zog Sekunden später die Tür hinter sich und dem Hund zu. Vier Füße tappten fröhlich die alte Holztreppe hinunter, zwei gingen langsam und schwerfällig hinterher.

„Dieser total bescheuerte Schwachkopf“, sagte Selma kopfschüttelnd. „Aber egal. – Wo waren wir gerade, ehe uns der Bekloppte gestört hat?“

Ich rührte mich nicht.

In diesem Moment war ich nicht voller Musik, sondern voller Unruhe.

Ich.

Singen?

Hm, hm, hm, mm, hm …

Und wieder geschah es.

Dieses Nichtfühlen.

Ich fühlte mich nicht.

Ich fühlte nichts.

Absolut nichts.

Singen?

Am ersten Februar?

Nein.

In mir war Leere. Nichts als Leere.

Wie eine Totenstarre.

Meine andere Oma, nicht Signe, ist schon ziemlich lange tot. Sie war Mas Mutter. Sie wollte, das weiß ich noch, nie von uns besucht werden. Sie hasste unsere Besuche regelrecht. Wenn meine Ma sie anrief und sagte: „Mutti, wir könnten heute endlich mal wieder vorbeikommen.Was meinst du?“, sagte sie jedes Mal entsetzt Nein. „Nein, kommt nicht. Nein, ich bin lieber alleine. Bitte …“

Sie war ein Menschenfeind, sagt Amara immer, und eines Tages war sie tot. Man fand sie erst zwei Wochen später. Da war sie schon ziemlich entstellt. Neben ihr stand ein halb leeres Weinglas und der Raum war voller Fliegen.

Meine Mutter weinte und weinte und weinte tagelang wegen dieses Szenarios. Ich stellte mir damals vor, sie habe ausgesehen wie das Käse-Salami-Sandwich, das wir mal versehentlich auf der Küchenanrichte hatten liegen lassen, als wir für vierzehn Tage nach Mallorca geflogen waren. Als wir nach den zwei Wochen nach Hause kamen, lag das Sandwich immer noch dort, wo es vergessen worden war. Es war verschimmelt und irgendwie explodiert und voller Schleim und Fliegen.

Tot. Vermodert. Reglos. Kalt. Ekelhaft.

Mit den Fingern meiner rechten Hand berührte ich probeweise meinen linken Arm. Nichts. Nichts. Absolut nichts. Es war wieder so weit. Ich hatte mich verloren …

3

„Verflixt, ich hab mal wieder ein akutes Cashflowproblem“, sagte Selma am darauffolgenden Montagmorgen, als wir auf dem Weg zur Schule waren. Wir hatten uns zufällig im Achtuhrbus getroffen und liefen nun von der Haltestelle zum Schultor. Schultechnisch verabredeten wir uns so gut wie nie.

„Weil du keine Verabredungen einhältst, Eli!“, sagte Selma manchmal genervt. „Zumindest ist kein Verlass darauf.“

Jetzt wühlte sie mit trüber Miene in ihrem Portemonnaie. „Da, zwei Euro und, warte … dreiundsiebzig Cent. Verdammte Oberkacke.“

„Bei mir schaut es auch nicht viel besser aus“, sagte ich tröstend und schlang meine Arme gegen die eisige Kälte um mich selbst. Heute früh hatte das Außenthermometer am Eingang des Café Zucker minus elf Grad angezeigt. Ich mochte Kälte. Viel lieber als Hitze. Und ich fühlte mich an diesem klaren, eiskalten Morgen, als wäre ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden weit entfernt und ganz woanders gewesen. Ganz alleine mit mir. In einer fremden Zeit. Auf einem fernen Planeten. Wie in einem Raumschiff, isoliert und eingekapselt. Aber geschützt.

„Bei dir, bei dir“, murmelte Selma ungehalten und war auf einmal gereizt. Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Du hast im Zweifelsfall immer noch Signe, deine wohlhabende, verrückte Oma. Und dann deinen guten alten Papp. In der Not rückt er ja doch immer ein paar Kröten raus, wenn du nur genug rumjammerst.“

Ich schwieg. Ich wollte mir meine gute Laune nicht schon jetzt und hier verderben lassen. Und Selmas chronische Geldknappheit war, das wusste ich aus Erfahrung, ein absoluter Stimmungskiller.

Siemens ich nie