CHRISTIAN GOTTSCHALK:
„Vereinigung der Freunde des Münzfernglases“

1. Auflage, November 2014, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

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Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Cover: Marion A. Müller & Thomas Manegold
Satz & Layout: Thomas Manegold
VdFdM-Logo: Matthias Niklas
Lektorat & Projektleitung: Matthias Niklas

print ISBN: 978-3-943876-77-2
epub ISBN: 978-3-943876-50-5
E-Book-Version: 1.2


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Christian Gottschalk


Vereinigung der Freunde
des Münzfernglases


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WAS?

Was für Geschichten will man denn hören?

Die von dem Mann, der so einsam ist, dass er sich, um sich etwas menschliche Wärme zu ergaunern, in der Bahn auf Plätze setzt, von denen kurz zuvor jemand aufgestanden ist.

Die von dem Mann, der den Kölner Dom in jahrelanger Arbeit aus 4,5 Millionen Streichhölzern nachbaut und ihn dann anzündet, ohne ihn jemandem zu zeigen.

Die von dem Sportass, das die Klassenblondine kriegt, weil das eben so ist und immer so sein wird.

Oder lieber Hollywood: Läuterung, immer wieder Läuterung.

Was für Meinungen will man denn hören?

Ich gucke Schmidt nicht mehr, wegen Pocher. Also, der hat so einen Humor, das geht ja schon oft unter die Gürtellinie.

Ich finde so eine trockene Kälte eigentlich ganz angenehm.

Ich denke schon, dass es hier in Brühl für die Kinder besser ist.

Oder lieber: Korn ist der neue Wodka. Der Megatrend in den angesagten Szene-Läden: Herrengedeck!

Was für Gründe will man denn hören?

Wir hatten uns irgendwie auseinandergelebt.

Betriebsbedingt.

Das kommt vom Rauchen, in erster Linie.

Oder lieber: keine Ahnung, irgendwie so.

Also ich finde die Geschichte von dem Mann, der so einsam ist, dass er sich, um sich etwas menschliche Wärme zu ergaunern, in der Bahn auf Plätze setzt, von denen kurz zuvor jemand aufgestanden ist, ganz interessant.

Aber im Prinzip ist sie in einem Satz erzählt.

Freunde des Münzfernglases

Jochen Heinsberg und ich hatten unsere Fahrräder frisiert. Wir fuhren Räder mit Torpedo-Dreigang-Nabenschaltung und hatten kleinere Ritzel eingebaut und die Kette etwas verkürzt. Hannover ist ja sehr flach, da konnte der erste Gang eine etwas größere Übersetzung gut vertragen. Bernie Klapprodt fuhr eine Honda CB 50, weil sein großer Bruder sie ihm vererbt hatte und eine Kreidler zu teuer gewesen wäre. Er aber behauptete, er schätze die Laufruhe des Viertaktmotors. Er wäre somit der erste Jugendliche der Welt gewesen, der einen leiseren einem lauten Motor vorzog. Wenn wir zusammen unterwegs waren, nahm Bernie sein Peugeot-10-Gang-Rad mit „Gesundheitslenker“, einem umgedrehten Rennradlenker.

An der Schule gehörten wir nirgendwo so richtig dazu. Vielleicht lag es daran, dass wir zu Blueskonzerten gingen und Altbierbowle tranken. Es ist nicht schwer zu erraten: Niemand von uns hatte eine Freundin. Bernie pflegte zwar immer Andeutungen zu machen, doch komischerweise durfte er nie Namen nennen. Ich weiß nicht, ob er Affären mit Lehrerinnen, untreuen Ehefrauen, Müttern von Mitschülern womöglich oder russischen Geheimagentinnen hatte. Wahrscheinlich hat er uns einfach belogen. Jochen sagte gerne, er habe gerade „zwei Eisen im Feuer“, und als Galan alter Schule ließ er ab und zu mal einen Krokantbecher springen. Es nütze ihm aber nichts. Ich pflegte zu behaupten, ich sei „wählerisch“, in Wirklichkeit war ich ein Trottel und litt still vor mich hin. Jochen und Bernie waren nicht gerade der Freundeskreis meiner Träume, aber die beiden waren freundlich, sie waren loyal, sie hörten auch Blues, sie waren in etwa so merkwürdig wie ich und sie standen eben zur Verfügung.

An einem schönen Tag im Herbst beschlossen wir, mal wieder in den Deister zu fahren. Das lief immer in etwa gleich ab, wir fuhren mit den Rädern hin, im Flachland belgischer Kreisel natürlich, dann kam die mörderische Steigung zum Anna-Turm hoch, wer abstieg, hatte verloren. Oben aßen wir dann immer eine kleine Fritten, stiegen kurz auf den Turm und fuhren wieder zurück, denn eigentlich ging es ums Bergabfahren. Bernies VDO-Tacho hatte schon mal 79 Stundenkilometer angezeigt.

Als wir an diesem Tag den Turm hochstiegen, hörten wir jemanden singen. Oben angekommen sahen wir einen großen, dicken Jugendlichen mit Bartflaum an den geröteten Wangen, der den Jägerchor aus dem Freischütz sang. „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen, wem sprudelt der Becher des Lebens so reich?“ Ein paar Rentner und eine Kleinfamilie hatten einen Halbkreis um ihn gebildet. Beim Refrain („hahahaha, hahahaha“) stimmte ein kleinerer Typ neben ihm ein, der eine Schweizer Armeejacke und Creepers trug. Als das Lied zu Ende war, klatschten alle, ergriffen aber auch schnell die Flucht. Wir blieben mit den beiden Wahnsinnigen zurück. „Malte Hagenbeck“, stellte sich der Dicke vor, „erster Vorsitzender und Zeugwart der Vereinigung der Freunde des Münzfernglases, sehr angenehm.“ Allgemeines Händeschütteln. „Albert Mühle, zweiter Vorsitzender und Kassenwart der Vereinigung der Freunde des Münzfernglases“, stellte der andere sich vor. Vereinsziel der Vereinigung der Freunde des Münzfernglases sei es, Münzferngläser in aller Welt zu besuchen. Sie seien extra aus Stade angereist und wollten heute auch noch den Nordmannturm besteigen. Zunächst müsse man aber ein Zigarettenblättchen fliegen lassen. Der zweite Vorsitzende überreichte dem ersten Vorsitzenden feierlich ein Zigarettenblättchen, und wir alle schauten fasziniert zu, wie es getragen von Aufwinden flog.

Es flog weit.

Kurz darauf saßen wir zu fünft in den Anna-Stuben und hatten alle einen Humpen Bier vor uns. Zunächst trank ich zögerlich, wir hatten ja noch die Rückfahrt vor uns, doch schnell vergaß ich meine Vorsicht. Wir sprachen über Foyer des Arts, Albert referierte über ABC, Malte über Beethoven, wir redeten über Stade und Hannover und Punkrock und Ideen, die wir hatten, Ideen für Lieder, Romane, Aktivitäten. Ich war begeistert von diesen beiden Jungs, und meine alten Kumpels schienen mir auch plötzlich viel interessanter zu sein, jetzt, wo Albert und Malte sie interessant fanden. Mit jedem Bier verdreifachte sich mein Selbstbewusstsein, dieser Tisch wurde mir für den Moment zum Universum. Ich machte einen Witz und alle lachten. Malte machte einen Witz, Mann, konnte der witzig sein, und ich setzte noch einen drauf. Malte begann zu singen: „Freunde, das Leben ist lebenswert“, und wir stimmten ein. Obwohl wir weder den Text noch die Melodie kannten, klang es wundervoll.

Irgendwann mussten wir los, es wurde langsam dunkel, wir stellten alle noch formlose Mitgliedsanträge, verabschiedeten uns wortreich und dann saßen Jochen, Bernie und ich auf unseren Rädern und schossen bergab. Jochen und Bernie brüllten und jauchzten. Ich versuchte es kurz mit dem Jauchzen, aber es klang unecht. Ich war zwar relativ enthemmt, aber das ging dann doch zu weit. Ich grinste. Ich war hochkonzentriert und bremsbereit, schließlich bretterten wir mit 60 Stukis dem Tal entgegen, geboren, um wild zu sein. Jochen und Bernie fuhren Slalom. Ich gab den Pedalen einen kleinen Tritt und zog links an ihnen vorbei. Weil dies eine wahre Geschichte ist, stürzte niemand von uns, wir kamen alle unversehrt zu Hause an. Wer das nicht glaubt, dem zeige ich gerne meinen Mitgliedsausweis der Vereinigung der Freunde des Münzfernglases. Mitgliedsnummer 00004. Und wer mir immer noch nicht glaubt, der lese das Gedicht, das ich ein halbes Jahr später mit Malte verfasste:

Wer steigt auf die Berge,

erklimmet die Türme,

wer trinkt Pils im Ausflugslokal?

Die Menschen wie Zwerge,

die Schnellbahn Gewürme,

Spielzeugwelt drunten im Tal.

Wer nimmt dann das Geld,

wirft ein die Münze,

reguliert besonnen das Okular?

Betrachtet die Welt,

genau durch die Linse,

die stellt sie vielfach vergrößert dar.

Wer ist zufrieden,

wenn die Zeit dann vorbei ist,

wenn die schwarze Klappe fällt?

Weil was wir lieben,

uns nicht einerlei ist,

halt niemals für ewig hält.

Wer ist so beschaffen, wer ist so zu beneiden?

Ich hörte es und ich las es,

Es ist ein Verein, er nennt sich bescheiden,

Freunde des Münzfernglases.

Poetry Slam

Meistens bin ich ja bei Poetry Slams der Älteste. Und wenn ich dann so Anekdoten aus den achtziger Jahren erzähle, über die Honda CB 50, ein Mokick mit Viertaktmotor war das damals, oder diesen bescheuerten Kuchen namens Hermann, der quasi der freakige Vorläufer der Kettenmail war, und den man von so total sanften Typen mit gebatikten Windeln als Halstuch zum Geburtstag bekam, dann schaltet das junge Publikum gerne mal ab. Das interessiert die einfach nicht. Und ich fliege dann in der Vorrunde raus. Ich nehme das natürlich ganz locker, rufe meine Frau an und sage: „Das verfickte Studentenpack hat mich in der Vorrunde rausgewählt, diese ignoranten Pisaopfer-Komasäufer-Betrunkenen-Dekorierer-Penner haben doch keine Ahnung von Kunst.“

Dann habe ich aber mal nachgedacht, vor allem aber nachgerechnet. Für die meisten von denen sind ja die achtziger Jahre das, was für mich die sechziger Jahre sind: so die letzten Ausläufer der Nachkriegszeit. Mich interessiert ja auch nicht, wer damals die Stones oder die Beatles besser fand, was interessiert die Geha oder Pelikan. Ich meine, das war ja vor der Währung noch. Damals passten alle Neonazis noch in die winzig kleine Wiking-Jugend oder tobten mit der Wehrsportgruppe Hoffmann durch den Wald. Gut: Da stand ja auch der antifaschistische Schutzwall noch.

Wenn damals ein Drucker streikte, wurde er vom Arbeitgeberverband ausgesperrt.

Als Rohling bezeichnete man Typen wie Kai Schneider aus meiner Klasse, der immer Kopfnüsse verteilte.

Ein Menü begann für gewöhnlich mit einem Krabbencocktail.

Bio war ein Schulfach.

Und Singles mit Niveau waren meistens von Reinhard Mey.

Die gute Nachricht für euch junge Leute ist: Älter wird man ganz von allein, wenn es einem nur gelingt, nicht zwischendurch zu sterben.

Egal, ob man arbeitet oder Hartz IV bekommt oder beides. Egal, ob man sich an ein paar Jahre nicht erinnern kann, weil man mit Eimer-Rauchen beschäftigt war, ob man meistens einsam Pläne schmiedend auf dem Sofa lag oder bereits mit 24 den Rekord im Pfahlsitzen gebrochen hat. Egal, ob man eine Karriereleiter hochgestiegen ist oder auf der Suche nach der Abkürzung zum Ruhm die Leiter irgendwie nicht gefunden hat. Egal, ob man den Ulysses gelesen hat oder nur 100 tolle Ideen mit Hackfleisch. Egal, ob man ausgewandert oder eingesessen ist, ob man den Tag nutzt oder nur die Brückentage ausnutzt. Irgendwann guckt man auf den Kalender, rechnet kurz nach und sagt: „Uff, echt jetzt?“

Und dann blickt man zurück. Die schlechte Nachricht ist übrigens, dass man sich an die peinlichen Situationen immer am besten erinnern kann. An schlechten Tagen werde ich rot für Sachen, die habe ich 1989 gesagt.

Was sind das nur für Leute, die sagen, sie würden alles noch mal genauso machen? Das würde ich auf gar keinen Fall. Ich hätte da diverse Verbesserungsvorschläge an mich selbst. An mich mit 15 zum Beispiel: „Schreib Anja Schumacher aus dem Sportverein nicht diesen blöden ehrlichen Brief. Es ist egal, dass sie The Teens gut findet. Sie ist sehr hübsch und sie ist nett und vielleicht küsst sie dich. Da kannste sonst ewig drauf warten. Verabrede dich mit ihr. Du arrogantes Arschloch!“ Auch für meine späteren Jahre könnte ich mir mittlerweile viele gute Tipps geben: „Lass das mit den Drehbüchern, das führt zu nichts. Such dir lieber einen vernünftigen Halbtagsjob.“ Zum Beispiel. Oder, oh mein Gott, 1982: „Vergiss Heinz Rudolf Kunze. Er ist ein Blender!“ Oder auch Silvester 1992: „Trink ihn nicht, diesen Tequila Sunrise!!!“ Das wäre echt eine gute Entscheidung gewesen.

Mein Tipp also an euch: Trefft einfach immer die richtige Entscheidung. Und sagt niemals in eurem Leben Sätze wie den, den ich neulich in der TV SPIELFILM gelesen habe, er stammt von der PR-Agentur Megacult: „Wer glaubt, dass Mentos mit dem Vorgängerspot Poolparty das Spaß- und Partyverständnis der Lifestyle Generation neu definiert hat, wird nach High Rider zugeben müssen, dass Funkyness im Kaugummisegment wohl nie cooler inszeniert wurde.“

Egal, wie viel Geld, egal, wie viel Koks sie euch geben, sagt niemals „Funkyness im Kaugummisegment“. Das würde die Welt echt erträglicher machen. Und ihr müsst euch später nicht schämen.

Eins noch: Meldet euch ab bei Xing. Das bringt doch nichts. Wenn ich mir die Profilfotos so anschaue, sehen einige dieser Business-Profis so aus, als ob sie ihre Liebste gerne mal mit einer romantischen Powerpoint-Präsentation überraschen: „Schatz, ich liebe deine Alleinstellungsmerkmale!“ Als Xing-Mitglied wird man zu tollen Veranstaltungen eingeladen, wo man lernt, dass „Erfolg im Kopf beginnt“, der nämlich rund ist, damit man rechtzeitig seine Meinung ändern kann. Nur so erreicht man nämlich seine Ziele mit den zehn einfachen Schritten zu Potentialentfaltung und Motivation! Und samstags geht’s zum „Kompetenz-Brunch“. Kompetenz-Brunch! Kein Witz, das gibt es wirklich. Wer Kompetenz-Brunch sagen kann, ohne zu lachen oder zu hassen, von dem ist kein vernünftiger Gedanke mehr zu erwarten. Nie wieder. Ich sage nur „Funkyness im Kaugummisegment“. Die Steigerung, die vollkommene Auflösung des Selbst im kapitalistischen System, schafft allerdings Kai Pflaume, der einmal von sich sagte: „Die Marke Kai Pflaume ist breit aufgestellt.“ Neulich, als ich breit war, sagte meine Frau übrigens zu mir, ich Pflaume sei schon eine ziemliche Marke. Was der kann, kann ich schon lange.

Blues

Anfang der achtziger Jahre, als jeder vernünftige Mensch Punkbands gründete, gründeten Jochen Heinsberg, Bernie Klapproth und ich eine Bluesband. Wir konnten im Gemeindehaus umsonst proben, nach dem Flötenchor und vor der Friedensbewegung, wenn wir ab und zu auf Gottesdiensten Herr deine Liebe auf der Konzertgitarre zupften. Ein fairer Deal.

And we were so deep in dept, Baby, our Reihenhaus belongs to the Bausparkasse. Oh, yeah! It’s a hard life down in Gladiolenweg.your Baby left you down in Georgia