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Any Cherubim

YOU & ME - Der Zauber am Ende des Tages

Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

YOU & ME

 

 

 

 

 

Der Zauber am Ende des Tages

 

 

 

 

 

 

Any Cherubim

 

 

 

 

Es ist schwierig, mit Lu befreundet zu sein. Sie ist wie eine Rebellion, stürzt sich in mein Leben und wirbelt alles durcheinander - bringt mich um den Verstand.

 

Matt fällt aus allen Wolken - ausgerechnet er muss Lucinda Godluc, die verrückte Pummelelfe heiraten.

Was sie verbindet – die Hoffnung, was sie trennt – die Vergangenheit.

Ist ihre Hoffnung stark genug, um die Vergangenheit zu vergessen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog Lu

 

Mein Herz rast, während ich das Gelächter höre und die vielen Blicke auf mir spüre. Ich bin nackt, stehe mitten in der Umkleide unserer Schwimmhalle und versuche verzweifelt, meine Brüste und Scham mit den Händen zu bedecken. Leise weine ich, während ich in die Gesichter blicke, die mir wie Fratzen von Monstern erscheinen. Tränen strömen mir übers Gesicht, meine Hände zittern und sind zu klein, um alles zu schützen. Verzweifelt drehe ich mich im Kreis und bemerke, wie das Lachen noch lauter wird. Ich will hier weg – so schnell wie möglich. Je mehr ich versuche, mich zu schützen, desto mehr lachen sie, spotten, zeigen mit dem Finger auf mich. Fies waren sie schon immer. Aber dies hier übertrifft alles, was ich bisher aushalten musste. Die Jungs aus meiner Klasse krümmen sich vor Lachen. Die Mädchen, die nie wirklich meine Freundinnen waren, kichern und Lynn, die Beliebteste, verschränkt ihre Arme und sieht mich herablassend an.

Ich will sterben – am liebsten hier und jetzt. Dann wäre alles vorbei und ich würde endlich fort sein – fort von diesem Ort, an dem ich sowieso nie sein wollte. Ich bin ihnen völlig ausgeliefert. Verzweifelt suche ich nach einem Kleidungsstück, mit dem ich mich bedecken kann – einem Handtuch oder einem Fetzen Stoff, irgendwas - doch hier ist nichts. Es ist hoffnungslos, die Tür ist versperrt.

Direkt davor steht der Junge, dem ich das alles zu verdanken habe - in den ich bis vor ein paar Minuten noch so verknallt gewesen bin. Oh Gott! Mein Herz rast so wild, als würde es gleich zerspringen. Ich schaffe es nicht, ihm in die Augen zu schauen.

»Lucinda, weißt du eigentlich, wie fett du bist?«, fragt Lynn und lacht hämisch dabei. Ich kann nichts erwidern, weil mein Mund zu trocken ist. Ich schluchze. Sie hat ja Recht. Ich bin dick, klein und hässlich. Ich habe rotes, kurzes Haar, Sommersprossen und eine Zahnspange. Und weil irgendjemand dort oben dachte, dass ich noch nicht hässlich genug war, hat man mich fast blind wie einen Maulwurf gemacht. Deshalb trage ich eine Brille mit dicken Gläsern und einem breiten Gestell.

Lynn ist der Mittelpunkt unserer Klasse. Hübsch, frech und Lieblingsschülerin der Lehrer. Wo sind die eigentlich, wenn man sie mal braucht?

»Lasst mich gehen«, flehe ich. Doch das scheint sie alle nicht zu interessieren. Sie lachen weiter und spotten über mich. Ich höre ein Klicken. Oh nein! Wann ist dieser Albtraum zu Ende?

Eine Kamera ist auf mich gerichtet. Jemand fotografierte mich. Ich spüre, wie die Kraft in meinen Beinen nachlässt - drohe, zusammenzubrechen.

»Das glaubt uns sonst keiner. Lucinda nackt! Die dicke Sau von Hinsdale! Hey, findet ihr nicht auch, dass sie aussieht wie ihr Hausschwein? Wie heißt dieses Vieh noch gleich?«, fragt Lynn und sieht zu dem Jungen, der als Einziger nicht lacht.

»Bertha«, murmelt er und grinst sie an. Das gleiche Grinsen, welches er auch mir schon geschenkt hat. Jetzt finde ich es nicht mehr süß. Es wirkt schmutzig und böse. Hasserfüllt blicke ich ihm entgegen. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen? Wochenlang hat er mir Freundschaft vorgespielt und ich bin darauf hereingefallen!

Er sollte mich toll finden und witzig. Ich wollte so sein wie Lynn. Ich wollte sogar meine Haare wachsen lassen, damit er mich trotz meiner Extrakilos hübsch fand. Ich dachte, er spielt nur in der Schule den coolen Typen und ist privat ein wirklicher Freund. Doch da habe ich mich getäuscht. Jetzt hasse ich ihn dafür, fühle den Schmerz, der sich tief in mich hineinfrisst.

Mit aller Kraft versuche ich, mich auf den Beinen zu halten, und gerade als ich glaube, am Ende zu sein, wird die Tür von außen geöffnet und eine erwachsene Stimme scheucht meine Mitschüler aus der Umkleide. Jemand spricht mit mir und ich spüre warme Hände auf meinem Arm. Das Gelächter verstummt schließlich. Es ist jetzt still und ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich alleine bin. Zögerlich rapple ich mich auf, sehe mich um und öffne ein Schließfach nach dem anderen. Verdammter Mist! Wo sind nur meine Sachen?

»Lucinda?«

Ich blicke auf und sehe in das Gesicht von Mrs. Miller, meiner Sportlehrerin. Sie mag mich nicht sonderlich, aber jetzt erhoffe ich mir, dass sie mir helfen wird. Sie sieht an mir herunter und da bemerke ich ihren abwertenden Blick. Ihre Mundwinkel zucken, als würde sie sich ein Grinsen verkneifen.

»Ich suche meine Kleider. Mrs. Miller, bitte helfen Sie mir!« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. Ihre Blicke sind wie kleine Nadeln auf meiner Haut und zeigen mir deutlich, wie erschrocken sie über meinen Anblick ist. Sie stiert auf meinen Bauch.

»Wo hast du denn deine Kleider?«, will sie wissen, ohne sich zu rühren. Ein kleines Grinsen huscht über ihre Lippen.

Gerade möchte ich etwas sagen, als die Tür erneut aufgeht und weitere Lehrer die Umkleide betreten. Verzweifelt suche ich nach einem Versteck.

»Ich kann es nicht glauben, Camile. Wir haben alle gedacht, es sei nur ein Scherz, dass Lucinda nackt ist«, sagt einer der Lehrer.

Mein Schluchzen wird lauter und ich spüre, wie erneut Panik über mich hereinbricht, als sämtliche Lehrer sensationslüstern die Umkleide betreten und mich anstarren. Einige kichern hinter vorgehaltener Hand. Mein Geschichtslehrer reißt entsetzt die Augen auf - der Ekel steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Nein! Ich will, dass es aufhört. Ich kann nicht mehr. Immer mehr Lehrer stehen jetzt in der Umkleide und niemand hilft mir. Ihre Gesichter verschwimmen vor meinen Augen und ich muss die Erniedrigung ertragen.

Rückwärts stolpere ich gegen die Wand, die ich kalt an meinem nackten Rücken spüre.

Jetzt treten die Lehrer näher und ich bekomme noch mehr Angst. Das Lachen wird noch lauter und plötzlich stehen nicht nur die Lehrer in der Kabine, sondern ganz Hinsdale! Sogar meine Eltern und Mrs. Reabut, die Verkäuferin aus unserer Bäckerei. Die Wände verschwinden und aus der Umkleide wird der große Platz vor dem Rathaus. Alle lachen laut, kommen langsam auf mich zu. Ihre Stimmen hallen plötzlich in meinen Ohren und sie strecken ihre Hände nach mir aus, als wollten sie nach mir greifen. Oh Gott!

 

***

 

Schweißgebadet schrecke ich hoch. Mein Atem geht schnell und ich brauche ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es wieder nur der Traum war. Es ist schon ein paar Monate her, dass ich diesen blöden Traum das letzte Mal hatte. Nur sehr langsam verblassen die Bilder in meinem Kopf und zurück bleiben ein brummender Schmerz und die Erleichterung, endlich aufgewacht zu sein. Ich verdränge die Bilder schnell und versuche, nicht mehr daran zu denken.

Neben mir vernehme ich ein leises Schnarchen. Wo bin ich? Und wer zur Hölle ist dieser Typ?! Ich sitze nackt in einem fremden Bett, neben mir liegt ein Kerl und ich muss mich anstrengen, um mich zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen ist.

Ich blicke ihn an. Sein Gesicht hat er tief in die Kissen vergraben und sein Haar ist verstrubbelt. Eigentlich total niedlich. Er hat mir gefallen und er wirkte irgendwie verloren, wie er so einsam an der Bar saß. Ich habe eine Schwäche für einsame, schräge Kerle. Und dieser hier ist ein ganz besonderes Exemplar - typischer Anzugträger, aber irgendwie völlig deplatziert.

Sein Oberkörper hebt und senkt sich gleichmäßig. Plötzlich spüre ich wieder seine heißen Küsse auf meiner Haut, seine Berührungen an meiner empfindlichsten Stelle. Mannomann! Die letzte Nacht war wirklich ... heiß! Es kribbelt verräterisch in meinem Schoß und eine Welle der Lust erfasst mich. Kurz überlege ich, ob heute Morgen eine zweite Runde möglich wäre. »Reiß dich zusammen, Lu!«, ermahne ich mich im Stillen. »Du wirst dich jetzt brav anziehen und dann verschwinden.« Es muss noch ganz früh sein.

Erinnerungsfetzen von der Auseinandersetzung, die ich mit meinen Eltern hatte, bevor ich einfach abgehauen bin und in dieser Bar landete, blitzen auf. Meine Kopfschmerzen werden schlimmer, je mehr ich darüber nachdenke.

Leise stehe ich auf, sammle meine Klamotten ein, die verstreut überall auf dem Boden liegen, und schließe die Badezimmertür hinter mir.

Ich werfe einen Blick in den Spiegel und erschrecke. Mein Gott! Die Reste der Wimperntusche haben sich wie dunkle Schatten um meine Augen gelegt und meine Haare stehen wild vom Kopf ab. Ich wasche und kämme mich und finde sogar noch eine verpackte Einweg-Zahnbürste. Als ich angezogen und einigermaßen wach bin, riskiere ich einen Blick zu dem Typen. Ob er noch schläft? Eine Gänsehaut bildet sich, wenn ich nur daran denke, wie er mich heute Nacht genommen hat. Ich schmunzle, weil er sich als Leo vorgestellt hat. Er hat mich gestern angeschwindelt, da bin ich mir sicher. Aber jetzt will ich wissen, wie er wirklich heißt.

Kurzerhand beschließe ich, seine Sachen nach einer Visitenkarte zu durchsuchen. Meistens haben die Anzugträger welche in ihrer Brieftasche.

Ich schleiche zu seiner Hose, die neben dem Bett auf dem Boden liegt, und durchsuche sie. Mir klopft ein wenig das Herz. Wenn er jetzt aufwachen würde, würde er mich für eine Diebin halten.

Er bewegt sich, ich halte in meiner Bewegung inne. Im Schlaf legt er seine Hand auf meine Bettseite, ich hoffe inständig, dass er durch die Leere neben sich nicht wach wird. Aber er schläft weiter. Ich beeile mich, nehme seine Brieftasche und öffne sie. »Wollen wir mal sehen, ob Leo wirklich Leo ist«, flüstere ich und starre auf seinen Ausweis. Ich bin wie erstarrt und kann nicht atmen. Ich traue zuerst meinen Augen nicht, halte die Buchstaben für eine Sinnestäuschung.

 

Matt Baldwin

 

steht in großen Buchstaben auf seinem Ausweis. Sein wahrer Name hallt in mir nach, reißt meine alten Wunden auf, die sich wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut anfühlen. Augenblicklich verkrampfe ich. Wut und Trauer, gemischt mit Hass lodern in mir auf. Matt Baldwin - jetzt verstehe ich auch, warum ich in dieser Nacht von meiner Vergangenheit geträumt habe. Wie schön, dass mein Unterbewusstsein noch funktioniert. Ich wünschte mir, dass meine Alarmglocken früher geläutet hätten.

Matt Baldwin. Ich starre ihn an. Natürlich! Wieso ist mir das gestern Abend nicht schon aufgefallen?

Er hat sich verändert, ist erwachsen geworden. Ich habe mir damals geschworen, ihn für alle Zeiten zu hassen. Sämtliche Sympathie, die ich gestern - und auch heute Morgen noch - für ihn empfunden habe, ist mit einem Mal vernichtet.

Er hat mich zum Gespött von ganz Hinsdale gemacht. Nach dieser Sache weigerte ich mich, in die Schule zu gehen, und als meine Eltern mich schließlich zwingen wollten, habe ich einfach geschwänzt. Das hatte natürlich Konsequenzen, aber ich war mehr als einverstanden, als man mich in ein Internat steckte. Dass dieses Internat weit weg von Hinsdale war, war mir nur recht. Je weiter, desto besser.

Ich wurde so von ihm erniedrigt, dass ich von da an beschloss, niemals mehr einem Jungen hinterherzulaufen. Nie wieder wollte ich mich so fühlen!

Die Erinnerungen und der Schmerz von damals brechen erneut in mir auf und ich kämpfe verzweifelt mit den Tränen. Ich muss hier weg - sofort! Ich schnappe meine Tasche und verlasse leise das Zimmer, in der Hoffnung, ihn nie wiederzusehen.

Kapitel 1

Matt

 

Seit Stunden saß ich in der vollen, verrauchten Bar in Hinsdale und genehmigte mir bereits den dritten Drink. Warm rann die goldene Flüssigkeit meine Kehle hinab. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Es schwächte den Schmerz, meinen verletzten Stolz und das Gefühl, versagt zu haben. Niemand achtete auf mich. Nur der Barkeeper polierte seine Gläser und blickte mich fragend an. Bestimmt wartete er darauf, dass ich anfangen würde, zu erzählen. Aber darauf konnte er lange warten. Mit niemandem wollte ich sprechen. Man sollte mich einfach in Ruhe lassen. Ich hatte die Schnauze voll von den gutgemeinten Ratschlägen und den Vorwürfen. Der schrille Ton meiner Mutter hallte noch in meinem Kopf, als ich ihr sagte, dass Hannah die Hochzeit abgesagt hatte. Danach herrschte Chaos.

Zwei Barhocker weiter setzte sich jemand neben mich.

»Einen Martini, bitte.« Die Stimme klang fast noch zu jung für Alkohol. Kurz linste ich zu ihr rüber, erhaschte einen Blick auf ihre Hände. Dann sah ich wieder in mein Glas. Ihr Nagellack war grün und ihre Nägel kurz - was kümmert´s mich!

Hannah trug selten Farbe auf ihren Nägeln. Sie war ein sehr natürlicher Typ – schön und ein kleines bisschen langweilig.

Hannahs Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Verdammt! Wie konnte sie mir das nur antun? Und dann noch mit so einem Kerl?! Ich begriff es immer noch nicht. Nach allem, was ich für sie getan hatte, hat sie mich tatsächlich für so einen Stricher verlassen. Ekel überkam mich. Ich war so ein verdammter Idiot, war auf ihr unschuldiges Gesicht hereingefallen. Wie lange hatte sie mich schon mit ihm betrogen? Tage? Wochen? Monate? Ich sollte dem Kerl noch einmal ordentlich die Fresse polieren. Sein dämliches Gesicht hatte ich genau vor mir, wie es grün und blau von mir bearbeitet wurde, damals auf der Vernissage. Ich grinste zufrieden und leerte mein Glas.

»Was?«, fragte die Frau neben mir. Offensichtlich redete sie mit mir, aber ich war mir nicht sicher und so schaute ich mich um, ob sie auch wirklich mich angesprochen hatte.

»Meinen Sie mich?«, fragte ich und sah sie zum ersten Mal genauer an.

»Ja genau, Sie! Was gibt es zu grinsen?«, wollte sie in einem gereizten Ton wissen.

»Ich habe nicht wegen Ihnen gegrinst!«

Sie war hübsch, hatte lebendige braune Augen und kurzes dunkles Haar. Eine pink gefärbte Haarsträhne fiel ihr in die Augen. Obwohl ich Frauen mit langem Haar bevorzugte, gefiel sie mir. Mein Blick wanderte über ihren Körper.

Sie war schlank, trug Jeans, Stiefel und ein T-Shirt, das ihr auf einer Seite von der Schulter gerutscht war.

Auch sie musterte mich. Dabei kniff sie ihre Augen zusammen und sah mich fragend an. »Liebeskummer?«

Ich antwortete nicht auf ihre Frage, was sie als Zustimmung aufnahm. Sah man mir das etwa an?

»Ich kenne das«, sagte sie jetzt versöhnlicher. »Das ist immer Scheiße! … Hat sie dich beschissen?«

Sollte ich darauf antworten? Schließlich ging sie das einen feuchten Dreck an. Ich entschied mich, nichts darauf zu erwidern.

»Tut weh, oder?«, bohrte sie weiter.

Sie erinnerte mich wieder an dieses leere und schmerzhafte Gefühl, welches ich durch die Drinks betäuben wollte und Ärger stieg in mir auf. Mürrisch orderte ich mir einen weiteren.

»Dann war sie es bestimmt nicht wert!«, sagte sie, sprang von ihrem Hocker und setzte sich direkt neben mich.

»Mach dir nichts draus! Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«

Genervt wischte ich mir über das Gesicht.

»Weinen hilft da nichts, das kann ich dir sagen«, meinte sie und legte ihre Hand tröstend auf meine Schulter.

Mitten in meiner Bewegung hielt ich inne und sah sie verwundert an. »Ich heule nicht!« Wie konnte sie nur glauben, dass ich weinte?! Ich war schließlich ein Mann! Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint. Obwohl Hannah mich schon sehr verletzt hatte.

»Ach so, ich dachte …!«, kicherte sie jetzt. »Nichts für ungut. Obwohl ich finde, euch Kerlen würde es mal guttun. Weinen kann sehr befreiend sein.«

Eigentlich wollte ich hier in Ruhe meinen Kummer ertränken, für ein paar Stunden meine Wunden lecken und jetzt saß eine nervige und plapperwütige junge Göre neben mir!

»Mir ist gerade auch zum Heulen zumute.«

Wollte ich das wissen? Ich schloss meine Augen, in der Hoffnung, dass sie sich in Luft auflöste und ich meine Ruhe haben würde. Leider war das nur eine Wunschvorstellung!

Sie wartete darauf, dass ich nach dem Grund fragte. Doch das tat ich nicht und blickte nur kurz zu ihr rüber.

»Mein Vater will mich zwingen, für ein Jahr mein Leben aufzugeben. Kannst du dir das vorstellen? Ich soll für sein Geschäft ein ganzes Jahr meines Lebens opfern und das, obwohl ich gerade dabei bin, eine Surfschule zu eröffnen.« In einem Zug trank sie ihren Drink aus und bestellte beim Barmann gleich den nächsten.

»Ich liebe meinen Vater, aber das ist einfach zu viel verlangt.«

Ja, das konnte ich verstehen. Aber das Leben war schließlich kein Ponyhof. Wir alle hatten unsere Probleme.

»Ein Jahr kann schnell vorbeigehen«, war das Einzige, was ich dazu sagte.

»Spinnst du?! Das Angebot für die Surfschule bekomme ich nur jetzt. Ein Freund von mir will das Geschäft aufgeben und bietet es mir für einen Spottpreis an. So ein Angebot bekomme ich nie wieder!«

»Tja, ich würde sagen, das nennt man dann Pech!«

»Und wenn ich mich weigere und dieses Jahr nicht durchziehe, dann dreht mein Dad mir den Geldhahn zu«, sagte sie und ignorierte meinen Kommentar. »Was ist mit dir? … Wirst du sie zurückholen - ich meine deine Freundin?«

Zurückholen? Ehrlich gesagt hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Obwohl ich mir insgeheim wünschte, dass Hannah mich um Verzeihung bitten würde - auf den Knien natürlich!

»Nein, sie hat sich entschieden!«, murrte ich.

Sie schwieg endlich - Gott sei Dank. Nach einer Weile sah ich zu ihr rüber. Diese lebendige und fröhliche Art war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie sah jetzt wirklich traurig aus und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Etwas regte sich in mir und wollte sie am liebsten trösten. Doch ich hielt mich zurück.

Jemand warf ein paar Münzen in eine Musikbox und kurz darauf erklang ein Countrysong aus dem Lautsprecher.

»Hey, hast du Lust zu tanzen?«, fragte sie plötzlich, begeistert von ihrer Idee.

»Tanzen?«

»Ja, warum nicht? Komm schon …!«

Gut gelaunt hüpfte sie vom Barhocker und zog an meinem Ärmel.

»Nein, ich kann nicht tanzen«, versuchte ich, mich zu wehren.

»So ein Quatsch! Jeder kann tanzen. Ich werde es dir zeigen, du wirst sehen. Es hilft dir, wieder fröhlich zu werden.«

Obwohl ich mich erst weigerte, schaffte es die Kleine, mich vom Hocker zu ziehen. Sie legte einen Arm um meine Mitte und hielt meine Hand. Sie fing an, ihre Hüften im Takt der Musik zu bewegen.

»Du musst unbedingt lockerer werden! So aus den Knien heraus, siehst du?«

Die Drinks machten sich bemerkbar – gut.

Die junge Frau war einen ganzen Kopf kleiner als ich. Wie alt sie wohl sein mochte? Ich schätzte, noch jung, vielleicht anfang zwanzig.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich, während ich anfing, mich nach ihren Anweisungen zu bewegen.

»Lu.«

»Lu? Was ist denn das für ein Name? … Ich bin Leo«, log ich.

Sie lachte laut. »Leo?«

»Was ist so lustig daran?«

»Nichts! Leo ist total süß! Passt aber überhaupt nicht zu dir«, meinte sie und zog mich enger zu sich. Ihr süßer Duft stieg mir dabei in die Nase. Sie roch gut, anders als Hannah.

Wir tanzten weiter, und als die Musik endete, musste ich zugeben, dass ich mich tatsächlich besser fühlte. Die Kleine gefiel mir. Ich fand sie sogar ausgesprochen sexy, mit ihrer pinkfarbenen Haarsträhne und dem grünen Nagellack.

Zwei Stunden später saßen wir beide mehr als angeheitert an der Bar. Wir kicherten und blödelten, bis der Barkeeper schließlich die letzte Runde einläutete.

»Sollen wir gehen?«, fragte Lu.

»Und wohin?«

Ihr Lächeln verschwand und ihre Augen nahmen einen verruchten Ausdruck an. »Ich glaube, ich will mit dir schlafen.«

Mit allem hatte ich gerechnet, aber niemals mit so einer direkten Antwort. Sofort wurde ich hart.

Was war schon dabei? Ich war schließlich ein freier Mann und konnte tun und lassen, was ich wollte.

»Bist du immer so direkt?«

Ein diabolisches Grinsen lag auf ihren Lippen. Lu war eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Das imponierte mir. Sie war anders als Hannah – fröhlich, lustig und ein wenig verrückt.

 

***

 

Was für ein grauenhafter Morgen! Mein Kopf dröhnte, als wäre ein Panzer drübergefahren, und ein fieser Muskelkater machte sich in meinen Beinen bemerkbar. Das Tageslicht fiel hell und erbarmungslos ins Zimmer, weshalb ich eine Weile brauchte, bevor ich meine Augen öffnen konnte.

Ich blinzelte, sah mich um und jetzt fiel mir ein, warum meine Muskeln schmerzten. Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen. Was für eine Nacht! Ich starrte zur Decke. Die Kleine von gestern hatte sich schon aus dem Staub gemacht - schade, ich hätte sie gern wiedergesehen.

Ein leises Summen ertönte. Ich richtete mich auf und suchte mein Handy. Ein kleines bisschen wünschte ich mir, dass Lu mich anrufen würde, aber da machte ich mir etwas vor. Ich wusste, dass sie meine Nummer nicht hatte - zu blöd!

Das Handy zeigte unzählige Nachrichten an, fast alle von meiner Mutter. Ich löschte alle bis auf zwei Nachrichten, die mich stutzen ließen.

 

Es ist merkwürdig, Bruderherz.

Mum plant irgendwas. Wenn ich du wäre,

würde ich nach Hause kommen. Sandy

 

Beweg deinen Hintern hier her, und

zwar flott! Ich glaube, es ist ernst. Sandy

 

Schon hatte mich der Alltag wieder. Durch Lu hatte ich alles vergessen - zumindest für ein paar Stunden. Mir fielen meine Probleme wieder ein und am liebsten wäre ich jetzt in diesem Bett geblieben und würde nie wieder daran denken. Verdammt!

Automatisch musste ich an Hannah denken, die mich für diesen Idioten verlassen hatte. Sie hatte mich eiskalt abserviert und sich für diesen Arsch entschieden. Damit war unsere Hochzeit abgesagt.

Als ich endlich den Mut aufgebracht und meine Eltern darüber informiert hatte, war meine Mutter ausgerastet. Schließlich hatte sie Monate damit zugebracht, die Hochzeit zu planen. Es sollte das Ereignis des Jahres werden.

Außerdem hatte ich ziemlichen Mist gebaut. Ich hatte den wichtigen Auftrag für unsere Firma in den Sand gesetzt und mich auf der letzten Vernissage echt danebenbenommen. Nach all diesen Ereignissen der letzten Tage fühlte ich mich ausgebrannt und zum ersten Mal richtig rat- und lustlos. Am liebsten hätte ich mich verkrochen und einfach alles vergessen. Ich seufzte tief - es half alles nichts, ich musste mich meinen Problemen stellen.

Bevor ich zum Duschen ins Badezimmer ging, streckte ich mich noch einmal im Bett aus.

Das warme Wasser lief über meinen Körper und ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten. Und während ich mit geschlossenen Augen mein Gesicht unter den Wasserstrahl hielt, dachte ich an Lu. An diese kleine, wenn auch etwas durchgeknallte, junge Frau. Sie war vorlaut, frech und ungehemmt - aber irgendwie süß. Was sie dann mit mir in diesem Motelzimmer angestellt hatte, brachte meine Lenden zum Kochen.

Mist! Ich war erregt, dabei wollte ich eigentlich die Dusche beenden.

 

***

 

Je näher ich unserem Grundstück kam, desto unwohler fühlte ich mich. Mein Magen rebellierte, mein Kopf hämmerte, mir war schlecht und ich hatte das Gefühl, dass meine Beine taub wurden. Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der die Zeit absichtlich vertrödelte.

Auf unserem Grundstück angekommen, fuhr ich über den Kiesweg. Mehrere weiße Lieferwagen versperrten die Zufahrt zu meinem Parkplatz. Bestimmt ließ meine Mutter gerade das große Zelt im Garten abbauen und die Blumenarrangements wieder abholen.

Ich parkte hinter einem der Lieferwagen und beim Aussteigen hörte ich auch schon ihre Stimme. Innerlich wappnete ich mich für ein Donnerwetter. Wie gewohnt gab sie den Angestellten Anweisungen.

»Die Rosen will ich draußen im Garten haben und die Lilien sollen die Eingangshalle schmücken. Sorgen Sie ja dafür, dass Sie keine Wassertropfen auf dem Marmorboden hinterlassen«, sagte sie mit drohendem Zeigefinger zu einer jungen Frau. Die Angestellte nickte und hatte Schwierigkeiten, das Liliengesteck, das größer als sie selbst war, unbeschadet ins Haus zu tragen.

Verdutzt wunderte ich mich, wieso sie die Blumen ins Haus schaffte. Während ich dem Blumengesteck hinterher schaute, entdeckte sie mich. Sie sah mehr als sauer aus und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Wieso kommst du erst jetzt? Und wieso gehst du nicht an dein verdammtes Handy?« Sie seufzte. »Egal, du wirst es mir wahrscheinlich sowieso nicht erzählen. Komm ins Büro, dein Vater und ich müssen mit dir sprechen«, befahl sie, ließ mich stehen und ging eilig ins Haus zurück.

Mutter duldete keinen Widerspruch, deshalb folgte ich ihr durch die Eingangshalle. Überall waren Angestellte, die beschäftigt durchs Haus liefen. Aus unserer Küche hörte ich Geschirr klappern und es duftete nach Essen. Ein merkwürdiges Gefühl befiel mich. Was war hier los? Die Hochzeit wurde doch abgeblasen!?

»Pssst ... Matt!« Sandy steckte ihren Kopf durch die Tür unserer Bibliothek und winkte mich zu sich.

Meine Schwester Sandy konnte mir bestimmt sagen, was hier vor sich ging.

»Wieso bringen die Leute den ganzen Kram ins Haus, statt ihn wieder mitzunehmen?«, fragte ich und schloss die Tür hinter mir.

Sandy fuhr mit ihrem Rollstuhl ans Fenster und drehte ihn gekonnt in meine Richtung. Mittlerweile hatte sie den Bogen mit dem Ding echt raus.

»Mum und Dad haben echt getobt, weil du sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hast. Und gestern war Godluc da. Sie waren stundenlang im Büro.«

»Godluc? Wieso?« Jetzt hatte sie meine volle Aufmerksamkeit.

»Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass es um dich ging und dass sie irgendwas unterzeichnet und anschließend sogar mit Champagner angestoßen haben.«

»Angestoßen?«

»Ja, ich hab dir doch geschrieben. Wieso bist du nicht nach Hause gekommen?«

Fragend ruhten ihre blauen Augen auf mir. Sie wirkte müde und blass. Bestimmt hatte sie sich wieder mal Sorgen um mich gemacht.

»Ich war unterwegs. Aber ich kümmere mich darum. Danke, dass du mich warnen wolltest. Hast du deine Medikamente schon genommen?«

Sie hasste es, wenn ich sie danach fragte. Sie fühlte sich von uns allen kontrolliert und genau deshalb verdrehte sie die Augen.

»Jetzt geh schon, bevor Mum einen Anfall bekommt ... Und vergiss nicht, mir hinterher alles zu erzählen.« Ich zwinkerte ihr zu und schon war ich aus der Tür.

Mit Millionen Ausreden und Erklärungen stand ich vor der Bürotür meines Vaters. Jetzt würden bestimmt einige unangenehme Szenen auf mich zukommen, auch wenn eine leise Stimme mir zuflüsterte, dass ich es verdient hatte. Trotzdem hoffte ich, dass es nicht so schlimm werden würde.

Ich zupfte meinen verknitterten Anzug zurecht und klopfte schließlich an. Tief durchatmend betrat ich das Büro meines Vaters.