Adrian Plass

Im Nebel auf dem
Wasser gehen

Aus dem Englischen

von Christian Rendel

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-729-6

© 2005 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

First published under the title „Jesus Tender, Safe and Extreme”

in Great Britain

Copyright © 2005 by Adrian Plass

Einbandgestaltung: Georg Design, Münster

Titelfoto: Getty Images/​Image Bank

Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

WIDMUNG

Dieses Buch ist der Mutter meiner Frau, Kathleen Rosa Ormerod, gewidmet. Ihr Leben war ein Geschenk für andere.
Alles, was sie dafür haben wollte, waren ein paar Blumen und die Liebe ihrer Familie und ihrer Freunde.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Einleitung

Teil I: JESUS SICHER

Gedanken und Reflexionen über den sicheren Jesus

Kapitel 1:
Sicher in der Liebe Jesu, sicher im Leib Christi

Kapitel 2:
Freiheit, Sicherheit und der Wert der Wahrheit

Kapitel 3:
Die Wahrheit sagen, Teil zwei

Meine Begegnungen mit dem sicheren Jesus

Schlaflähmung

Ein Zwanzig-Pfund-Schein

Reisesegen

Zurück ins Gleichgewicht

Hinter den leeren Blicken

Zuhause oder Festung?

Teil II: JESUS ZÄRTLICH

Gedanken und Reflexionen über den zärtlichen Jesus

Kapitel 4:
Die Welt auf den Kopf stellen

Kapitel 5:
Barmherzigkeit – Gottes Standardeinstellung

Meine Begegnungen mit dem zärtlichen Jesus

Ein anderer Ort

Was hältst du von dem, was ich mache?

Jesus in Tränen

Der dunkle Ort in der Tiefe

Geschlossene Wunden

Teil III: JESUS EXTREM

Gedanken und Reflexionen über den extremen Jesus

Kapitel 6:
Mit Jesus an den äußersten Grenzen?

Kapitel 7:
Auf festen Boden fallen

Kapitel 8:
Mit Jesus ins Getümmel

Meine Begegnungen mit dem extremen Jesus

Angemessene Schritte

Was rede ich da?

Verpasste Gelegenheit

Empfangsstörungen

Den Schaden bezahlen

Strom der Herrlichkeit

Epilog: Offenbarung

Gebete für unterwegs

Einleitung

Es war ein seltsames, intensives Erlebnis, dieses Buch zu schreiben. Mit den Worten eines Gärtners ausgedrückt, war meine Absicht, einen ordentlichen kleinen Busch mit einigen sittsam verteilten Blüten und einem allgemeinen Erscheinungsbild würdevoller Symmetrie anzupflanzen. Doch das ging von Anfang an daneben. Die Wurzeln dieses Projekts gruben sich tiefer in die dunkle Erde, als ich je erwartet hatte, während Blätter, Zweige und Ranken unbezähmbar und wild in alle Richtungen wucherten und nach Licht suchten.

Das Licht ist Jesus. So viel zumindest war mir in jeder Phase des Schreibens klar. Ich wollte der Tatsache nachspüren, dass er letzte Sicherheit, Zärtlichkeit und eine unbändige Abenteuerlichkeit in mein Leben hineingebracht hat. Das habe ich, glaube ich, auch getan, und wie jeder gute Forscher bestätigen kann, ist der beste Ausgang jeder Expedition der, dass man nach Hause kommt. Wir fangen bei Jesus an, und wenn wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, werden wir gewiss auch bei ihm enden.

Ein Memoire ist dies sicherlich nicht. Wie Sie wissen, sind zeugnishafte Taschenbücher abgeschlossene Geschichten, meist den Lesern zuliebe so ordentlich und zusammenhängend wie möglich erzählt. Sie haben ihre Daseinsberechtigung, aber sie treffen nicht das Bedürfnis gewöhnlicher, beladener Christen, zu verstehen, dass sie Anteil an der Herrlichkeit des Wirkens Gottes in dieser Welt haben können, auch wenn ihr Glaube und ihre Gefühle unsortiert und unbeständig sind und es wohl auch bis zum Grabe bleiben werden. Nachdem ich kürzlich einige Wochen lang von zu Hause weg war, musste ich mich hinsetzen und fast zweihundert E-Mails aus allen Teilen der Welt beantworten. Die überwiegende Mehrzahl dieser Nachrichten kam von Leuten, die es schaffen, weiterzumachen, zu Christus zurückzukehren, zum ersten Mal zu Christus zu kommen oder einfach nur ein bisschen Licht am Ende des Tunnels zu sehen, weil Gott durch Berichte über persönliche Verwundbarkeit zu ihnen gesprochen hat. Das ist genau das, was ich mache. Das scheint mein Job zu sein. Ich bin kein Lehrer im orthodoxen Sinne. Ich bin kein Theologe. Ich bin kein Prediger. Ich könnte nicht predigen, wenn mein Leben davon abhinge. Ich darf lediglich ein Mann mit einem Besen sein, der den Unrat wegkehrt, der andere daran hindert, weiter hinein und weiter hinauf zu gehen, und meistens tue ich das, indem ich darüber rede, was Jesus in meinem Leben tut und nicht tut. Er ist sicher, er ist zärtlich und er ist extrem. Von solchen Dingen ist dieses Buch durchtränkt.

Ein einzigartiges Problem bei der Zusammenstellung dieses Buches, wenn es denn wirklich ein Problem war, ergab sich aus unserer unmittelbaren familiären Situation. Kurz bevor ich mit dem Schreiben beginnen wollte, wurde die Mutter meiner Frau mit der Diagnose einer aggressiven, unheilbaren Krebserkrankung aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht. Jeden Tag, wenn ich mich zum Arbeiten hinsetzte, hatte das Bewusstsein, dass sie sich in unserem umfunktionierten Esszimmer befand und litt, eine tiefgreifende Wirkung auf meine Gedanken und Gefühle. Alles in mir und besonders in meinem Glauben wurde gleichsam ausgegraben und bloßgelegt durch die unmittelbare Gegenwart eines Menschen, der bald herausfinden würde, was genau eigentlich hinter all diesen geistlichen Begriffen steckt, die uns so leicht über die Lippen gehen. Das machte mich entschlossen, bei allem, was ich sagte, Himmel und Erde unauflöslich zusammenzuhalten. Es gab mir den Willen, ohne Umschweife die schonungslose Wahrheit zu sagen. Eine Menge Wahrheit. Wahrheit über all die guten, schlechten, wunderbaren, blöden, furchtbaren, verwirrenden, enttäuschenden, herzerwärmenden Dinge, die passieren, wenn gewöhnliche Christen wie Sie und ich uns ernsthaft vornehmen, Jesus in der realen Welt nachzufolgen. Jedenfalls hatte ich kein Interesse daran, eine jener unerbittlich positiven Abhandlungen zu schreiben, in denen das Leben so, wie es wirklich gelebt wird, überhaupt nicht vorkommt. Das Ergebnis ist vielleicht weniger klar gegliedert, als ich es geplant hatte, aber dafür hoffentlich viel authentischer. Jesus ist nicht sicher am Montag, zärtlich am Dienstag und extrem am Mittwoch. Was täten wir auch sonst während der übrigen Woche?

Es gibt eine Menge Geschichten auf diesen Seiten. Nach meiner Erfahrung lernen die Leute aus Geschichten über das, was tatsächlich passiert, viel mehr über dieses merkwürdige Unternehmen namens „Jesus nachfolgen”, als sie je aus der Theorie lernen könnten. Damit versuche ich, wenn auch unzulänglich, dem Beispiel Jesu zu folgen. Die Berichte aus meinem eigenen Leben mit ihm, die ich hier aufgezeichnet habe, handeln nicht nur von dem, was mir passiert, sondern von dem, was uns passiert. Mal machen wir Dinge falsch, mal richtig. Mal lernen wir schnell, mal sehr langsam. Mal schöpfen wir großen Mut, mal versinken wir in dem tiefsten Sumpf, den es geben kann. Mal scheint Gott weit weg, mal scheint er mit seiner ganzen Herrlichkeit anwesend zu sein. Mal löst der Nebel sich auf, mal bildet er sich. Mal glauben wir von ganzem Herzen, mal zweifeln wir an allem. Mal bringt er uns zum Lachen, mal zum Weinen. Mal fordert er uns zu unserem Schrecken auf, Leute in der Schlange im Supermarkt anzusprechen, mal weist er uns zu unserer Enttäuschung an, in einem Dorfcaf den Mund zu halten. Mal spendiert er uns kleine Belohnungen, mal weist er uns streng zurecht. In den schlimmsten Momenten flüstert er uns liebevolle Worte zu. Das sind nur einige der Dinge, die das Herzblut des Lebens mit Jesus ausmachen. Ich wünsche mir, dass meine Leser beruhigt und getröstet, herausgefordert und aufgeschreckt, belehrt und aufgewühlt, überführt und belustigt und aufgeregt werden durch die breite, handfeste Wirklichkeit dessen, was Christen passiert, die mit ihrem Meister zu leben versuchen – nicht durch das, was ihnen angeblich passieren soll.

Die längeren Abschnitte dieses Buches verbinden Erfahrungen und Gedanken über jene christlichen Themen, die mir heute, an der Schwelle meines zwanzigsten Jahres als einer, der über Jesus redet und schreibt, immer wichtiger erscheinen. In gewissem Sinne verschwende ich wahrscheinlich meine Zeit, denn ich bin wie einer, der durch ein Labyrinth läuft und immer wieder zu dessen Mittelpunkt zurückkehrt. Jeder Weg, den ich je in meinem Denken und Schreiben eingeschlagen habe, scheint mich zurück zu einem Ort zu führen, an dem ich daran erinnert werde, dass die totale Hingabe an Jesus der einzige Weg ist, um wahrhaft sicher und wirklich brauchbar zu sein. Habe ich das geschafft? Nein, habe ich nicht, aber ich möchte gern, und ich versuche es weiter.

Am Ende jedes Abschnitts finden Sie verbale Schnappschüsse von Meilensteinen und Ereignissen aus meinem Leben mit Jesus. Sie sind im Präsens geschrieben und berichten von Dingen, die wirklich passiert sind. Sie sind wahr. Manche stammen aus der Vergangenheit, während andere, wie Sie sehen werden, passierten, während ich mitten in der Arbeit an diesem Buch steckte. Unter diesen Schnappschüssen werden Sie vom Jubel bis zur Verzweiflung, vom inneren Frieden bis zur Panik, vom Gehorsam bis zur Rebellion, vom Humor bis zur Tragik alles finden. Bitte begleiten Sie mich durch diese Momente und denken Sie dabei an die Geschichte Ihrer eigenen Reise mit dem Sohn Gottes. Wir sitzen alle im selben Boot, und ich weiß, dass manchmal ziemlich heftige Stürme aufkommen, aber das ist in Ordnung so. Der, der die Macht hat, die Stürme zu beruhigen, ist immer noch bei uns und wird es immer sein.

Am Ende des Buches habe ich einen Abschnitt mit Gebeten angefügt. Sprechen Sie sie mit mir, wenn Sie meinen, dass sie Ihnen auf Ihrem Weg weiterhelfen können.

Sicher, zärtlich und extrem. Das sind die Aspekte an Jesus, die mir schon immer lieb waren. Ich hoffe und bete, dass Sie diese Eigenschaften an ihm entdecken, während Sie sich Ihren Weg durch das verworrene Gestrüpp bahnen, das ich Ihnen hier zumute. Gott segne Sie, alle, die Sie lieben, und natürlich jeden Einzelnen Ihrer Feinde.

Teil I

Jesus sicher

Gedanken und Reflexionen über
den sicheren Jesus

 

Kapitel 1

Sicher in der Liebe Jesu,
sicher im Leib Christi

In diesem Moment, während ich schreibe, liegt im Zimmer am Ende des Flurs gegenüber von meinem Arbeitszimmer jemand im Sterben.

Kathleen Rosa Ormerod ist die Mutter meiner Frau und meine gute Freundin. Sie ist achtundachtzig Jahre alt und leidet unheilbar an Krebs. Vor drei Wochen, eine Woche vor Weihnachten, haben wir entschieden, Kathleen aus dem Krankenhaus zu holen, damit sie ihre letzten Tage, Wochen oder Monate bei uns zu Hause verbringt. Sie ist ans Bett gefesselt – und was für ein Bett! Eines von diesen elektrisch gesteuerten Spezialbetten, denen man sogar zutrauen würde, einen Purzelbaum rückwärts zu schlagen, wenn man nur in der richtigen Reihenfolge auf die unzähligen Knöpfe drückt. Dieses Superbett steht in dem Zimmer, das bisher als unser Esszimmer fungierte.

Wir möchten gerne, dass sie dort einen Platz zum Wohnen hat, nicht nur das Äquivalent eines Krankenhauszimmers. Zum Glück ist das Zimmer hervorragend dafür geeignet -hell, gemütlich und abgeschlossen, erweckt es dennoch den Eindruck, mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Für diese Wirkung sind die Fenster und die Glastüren verantwortlich. Es gibt drei Fenster, zwei große, die auf den Bereich an der Vorderseite des Hauses hinausblicken, und ein kleineres mit Blick nach hinten in den Garten. Dazu gibt es zwei Türen mit Glaseinsatz, eine direkt vor ihr, die ihr den Blick in den Flur und auf die Treppe ermöglicht, und die andere schräg rechts von ihr mit Blick in die Küche, wo sich bei uns zu Hause schon immer alles wirklich Wichtige abgespielt hat – Reden, Essen, Zusammensitzen, all diese wesentlichen Dinge. Somit steckt sie genau in der Mitte unserer Familienaktivitäten. Sie kann sehen, wie die Leute kommen und gehen, von einem Zimmer ins andere wandern, in der Küche arbeiten und die Treppe hinauf- und hinuntersteigen. Ihr Zimmer ist ein Meer von Blumen, geschickt oder abgegeben von Freunden und Verwandten, die wissen, wie sehr Bridgets Mutter schon immer alles geliebt hat, was wächst. So stoisch sie alles nimmt, eine Sache, die Kathleen sehr traurig macht, ist, dass sie dieses Frühjahr nicht die Blumen im Garten ihres eigenen Hauses wachsen sehen kann. Was für ein trauriges Gefühl muss es sein, zu wissen, dass man wahrscheinlich seinen letzten Frühling erlebt hat.

Allerdings ist es noch nicht der schlimmste Winkel, in den das Leben einen verschlagen kann, wenn man keine Wahl hat, als zu sterben, und sein Bett nicht verlassen kann. Das ist die Ansicht, die Kathleen immer wieder äußert, und ich stimme ihr zu. Sie verdient diesen Trost und diese Rücksicht. Sie ist eine Schafferin der alten Schule, ein Mensch, der sich sein Leben lang für andere eingesetzt hat. Als hart arbeitende, beständig gehorsame Dienerin des Herrn seit mehr als acht Jahrzehnten hat sie jede Annehmlichkeit und Hilfe verdient, die man ihr geben kann.

Freilich zahlen wir alle einen Preis. Für Kathleen ist es das frustrierende Gefühl, in dieser letzten Phase ihres Lebens ständig auf andere angewiesen zu sein. An dem Tag, als sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei uns eintraf, sagte sie, sie wolle mich etwas fragen.

„Adrian”, sagte sie, „ich möchte, dass du mir die absolute Wahrheit sagst. Wird mein Hiersein eure Familienfeier stören oder eurem Alltag in die Quere kommen? Sei ehrlich zu mir.”

„Meine Güte, nein”, erwiderte ich. „Wir haben es immer gern, wenn zur Weihnachtszeit jemand in einem Krankenhausbett in unserem Esszimmer schläft. Alles andere würde uns geradezu merkwürdig vorkommen.”

Kathleen lachte herzhaft darüber, aber es war zugleich ein Schritt auf dem Weg dahin, sich mit der Tatsache abzufinden, dass die Unabhängigkeit, die ihr so viel bedeutet, jetzt nicht mehr möglich ist. Es ist nicht ihre Art, etwas zu nehmen, ohne etwas dafür zu geben. Doch jetzt hat sie keine andere Wahl.

Für meine Frau sind manche Dinge sehr schmerzlich zu sehen. Erst vor einigen Monaten saß Bridget am Bett ihres demenzkranken Vaters, als er starb, und seither ist ihr kaum Zeit oder Raum geblieben, um über seinen Tod zu trauern. Kathleen war noch nie besonders stämmig, doch jetzt ist sie sehr dünn – entsetzlich, beängstigend dünn. Uns beiden fällt es sehr schwer, ihren ausgestreckten, fleischlosen Arm anzuschauen, zu sehen, wie die Haut an jenen brüchigen Knochen herabgleitet, wie Seide über eine Vorhangstange aus poliertem Holz. Daran ist der Krebs schuld. Auch wenn sie mehr essen würde, würde das nichts ändern. Wie ein gieriges, pilzartiges Monster frisst der hungrige Killer in ihr alles Gute und Nahrhafte auf, was ihrem Körper zugeführt wird, nährt sich davon und wird mit jedem Tag größer und breitet sich blindlings in alle Richtungen aus. Es ist seltsam für uns, sie anzusehen, so zierlich, so zerbrechlich und unanstößig, und zu wissen, dass dieses hässliche Ding sie Zoll um Zoll umbringt.

Am Ende des Tages schläft sie, unterstützt von Medikamenten, wie eine Tote, die Haut weiß wie Porzellan, der Unterkiefer auf die Brust gesunken, der Kopf zur Seite geneigt. Als wir kürzlich unsere Eindrücke austauschten, entdeckten wir, dass wir uns beide angewöhnt haben, nachdem sie abends das Licht ausgemacht hat, ängstlich durch die Glastür zwischen ihrem Zimmer und dem Flur zu spähen und sie mit weit aufgerissenen Augen eingehend zu beobachten, in der Hoffnung, an dem Auf und Ab der ausgemergelten Brust unter dem Nachthemd zu sehen, dass sie noch bei uns ist. So schwer es ist, das zuzugeben, es gibt auch Momente, besonders, wenn sie einen niederschmetternd schweren, unangenehmen Tag hinter sich hat, wo wir halb hoffen, ihr flaches Atmen würde aufhören. Dann fragen wir uns, ob Gott ihr vielleicht erlaubt, sich leise davonzustehlen zu ihrem geliebten George, der schon an einem Ort ist, wo es für ihn keine panische Verwirrung mehr und für sie keine Nachtstühle und Katheter und wund gelegenen Stellen und all die anderen Arten persönlicher Demütigung mehr gibt, die wohlerzogenen und gesitteten Menschen so zuwider sind.

Nachts nehmen wir Kathleens Atmung mit ins Bett. Bridget hat ein Babyphon gekauft, damit ihre Mutter nachts nach ihr rufen kann, wenn sie dringend Hilfe braucht. Der Sender steht unten neben Kathleen und der Empfänger oben in unserem Schlafzimmer. Mir kam das anfangs sehr seltsam vor und richtig gewöhnen werde ich mich wohl nie daran. Es ist, als wäre die Seele eines anderen Menschen in der kleinen Vorrichtung aus weißem Plastik mit dem roten Lämpchen gefangen, die auf einem Regal in der Ecke unseres Schlafzimmers steht. Jetzt sind jeden Abend, wenn ich meine Nachttischlampe ausgeschaltet habe, enervierenderweise zweierlei menschliche Geräusche neben meinen eigenen zu hören, und dazu das nicht ganz taktgleiche Ticken zweier Uhren, von denen eine an unserer Wand hängt und die andere auf dem kleinen Tischchen neben der schlafenden Kathleen steht. Das Ticken ihres kleinen, quadratischen Weckers läuft weiter wie das Schlagen eines gesunden Herzens, doch es gibt Momente, in denen Kathleens Atemgeräusche ganz aufzuhören scheinen. Wenn das passiert, setzt sich Bridget manchmal im Bett kerzengerade auf und lauscht angespannt auf das kleinste Anzeichen eines Atemzuges. Mehr als einmal hat sie mich gebeten, nach unten zu gehen und durch die Glastür zu schauen, um zu sehen, ob ihre Mutter noch lebt. Die Nächte sind zurzeit alles andere als einfach. Liebe und Tod und Furcht höhlen die Seele aus und produzieren seltsame, verworrene Träume und Stunden unruhigen Wachliegens.

Wenn Angehörige von weiter her angereist kommen, um Kathleen zu besuchen, beobachte ich eine tiefe Traurigkeit bei ihr, nachdem sie sich wieder verabschiedet haben. Wie sie sagt, ist ihr jedes Mal bewusst, dass dies vielleicht das letzte Mal ist, dass sie den Besucher in dieser Welt sieht. Manchmal weint sie ein wenig, besonders über ihre nachlassenden Kräfte, ihr allgemeines Gefühl, nichts Nützliches oder Praktisches mehr zu der Welt um sie her beitragen zu können. Natürlich versuchen wir ihr das auszureden, aber sie ist ja nicht dumm. Genau dasselbe würde sie auch zu uns sagen, wenn wir in ihrer Situation wären.

All das ist zutiefst beunruhigend. Bridget weint viel. Mir liegt das nicht, das heißt, wenn ich weine, tue ich es meist allein, aber ich bin angefüllt mit Gefühlen. Wir brauchen einander sehr im Moment. Zwei Dinge sind es vor allem, die uns als Ehepaar helfen. Das eine ist die Tatsache, dass wir – Gott sei Dank – sehr gute Freunde sind, seit wir vor dreiunddreißig Jahren geheiratet haben. Das andere ist, dass wir immer den Wunsch hatten, dass Jesus im Mittelpunkt unseres Alltags steht. Ich glaube, die meiste Zeit war er auch da, obwohl ich der Aufrichtigkeit halber zugeben muss, dass er an manchen Punkten unseres Lebens vielleicht seinen Platz räumen musste. Wem mache ich etwas vor? Ich weiß genau, dass es so war. Aber das macht nichts. Gott ist mindestens so vergebungsbereit, wie es meine eigene Mutter war, und sie war ein Mensch, der mit diesem kostbaren Gut um sich warf, als stünde ihr ein unerschöpflicher Vorrat davon zur Verfügung.

Heute sind wir froh, dass die beiden erwähnten Dinge zutreffen. Es ist eine schwierige Zeit. Wir müssen uns umeinander kümmern. Das gelingt uns nicht allzu schlecht. Ein paar Mal, wenn die Anspannung unerträglich wurde, haben wir dumme, sinnlose kleine Streitereien miteinander angefangen und uns wegen nichts und wieder nichts gegenseitig angegiftet. Aber sie dauern nicht lange. Wir sind wie Kinder. Gott ist unser Vater. Mit uns wird alles gut werden.

Da stehen wir also. Oder besser, da sitze ich vor meinem Computer und versuche, ein Buch über die Nachfolge Jesu zu schreiben, während im Zimmer am anderen Ende des Flurs jemand im Sterben liegt. Die Anwesenheit von Bridgets Mutter und ihr bevorstehender Aufbruch zu dem Ort, wo, wie wir hoffen, alle Fragen beantwortet und alle Probleme gelöst werden, hat eine Wirkung auf alles, was ich denke und schreibe, die ich nur als zutiefst „lektorierend“ bezeichnen kann.

Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?

Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.

Diese aufrüttelnden Worte aus dem elften Kapitel des Johannesevangeliums müssen einfach wahr sein, oder? Um Kathleens willen, meine ich. Wenn man sicher weiß, dass seine Tage auf dieser Erde gezählt sind, dann muss es einfach irgendeine positive Aussicht geben, um einen über das unvermeidliche letzte Hindernis des Sterbens hinwegzuheben und zu ziehen. Neulich habe ich sie danach gefragt.

„Machst du dir Sorgen wegen des Sterbens?”

Sie antwortete ohne jedes merkliche Zögern.

„Oh nein, um das Totsein mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Ich weiß, was ich glaube. Mir geht es gut, ich bin gut versorgt und habe im Moment keine Schmerzen.“ Dann hielt sie einen Moment lang inne und fuhr dann mit leiserer Stimme fort: „Aber es gefällt mir gar nicht, euch alle zurückzulassen.”

Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt, werde ich mir meines Glaubens so sicher sein, wie Kathleen es zu sein scheint. Sie fühlt sich völlig sicher in ihrem Glauben. Kein Wunder, dass Jesus sagte, dass wir werden müssen wie die Kinder. Manche Dinge lassen sich viel müheloser glauben, wenn man noch klein ist. Als zum Beispiel die Mutter meiner Mutter starb, war ich am Boden zerstört. Ich vermisste sie schrecklich, aber als meine Mama mir sagte, Oma sei jetzt im Himmel und eines Tages würde ich sie wiedersehen, da war ich zutiefst getröstet und vertraute fest darauf, dass es so war. Habe ich immer noch dieses feste Vertrauen, auf dieselbe naiv optimistische Weise? Nein. Ja. Manchmal. Absolut, ohne jede Frage. Nicht im Mindesten. Nur donnerstags.

Ich arbeite daran, Kind zu sein, wie Jesus es möchte, und er hilft mir dabei. Ich hebe meine Arme zu meinem Vater im Himmel hinauf und bitte ihn, seine Arme um mich zu legen, so wie ich bin, nicht so, wie ich eigentlich sein sollte. Was bleibt mir anderes übrig?

Ein heiliges Geheimnis

Wie gesagt, dieses Buch soll von Jesus handeln, und ich habe mich gefragt, wo er denn ist in alledem, was mit meiner Schwiegermutter passiert, und was wir aus dieser Situation über ihn lernen können. Ein paar der Antworten, die ich gefunden habe, finde ich interessant und ermutigend.

Eine davon hat damit zu tun, wie Christen umgehen mit dem Gedanken des Todes und des Abschieds von den Menschen, die sie lieben. Obwohl sie fest an ein Leben nach dem Tod bei Gott glaubt, ist Kathleen die Aussicht zuwider, uns alle zurückzulassen, und sie würde sich bestimmt nicht für den Tod entscheiden, wenn ihr die Möglichkeit geboten würde, ihre Gesundheit zurückzubekommen und noch ein paar Jahre zu bleiben. Aber gibt es nicht in den Evangelien reichlich Hinweise darauf, dass es bei Jesus genauso war? Armer Jesus. Wahrer Mensch und wahrer Gott. Mehr als einmal war er genau aus diesem Grund angefüllt mit Schmerz.

Als Jesus auf das Ende seines Wirkens auf der Erde zuging, weinte er und war tief betrübt, wie wir wissen. Wen überrascht das? Der Schatten des bevorstehenden Auseinanderbrechens von Erde und Himmel verfinsterte sein Herz. Er weinte, weil ihn all die Liebe in ihm in verschiedene Richtungen zerrte und ihn bald in Stücken über das ganze Universum verteilen würde. Schauen Sie sich den folgenden Abschnitt aus dem Johannesevangelium an:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.

Hier, in diesen beiden Absätzen, können wir Göttlichkeit und Menschlichkeit zugleich im Geist Jesu sehen, das eine hart auf den Fersen des anderen. Die Aussage und die Anstrengung, die Predigt und die Pein, die Kraft und das Kreuz. Die Theorie ist richtig, die Theologie unanfechtbar, die Absicht rein, und dennoch schreit das ganz und gar menschliche Herz Jesu wie ein Kind angesichts des Unfassbaren, das vor ihm liegt. Manchmal sage ich mir diese Worte in Gedanken vor, so wie Sie oder ich sie vielleicht sagen würden.

„Das ist zu viel! Ich kann das nicht ertragen. Oh, Vater, ich könnte dich bitten, mich zu retten. Ich könnte dich anflehen, doch diese schreckliche, grausige Aussicht von mir zu nehmen, und du würdest es sogar tun, weil du mich liebst, aber was wäre der Sinn? Dazu bin ich ja gekommen. Das ist der Grund, warum ich hier lebe. Für dich. Okay, es geht schon wieder. Verherrliche deinen Namen.”

Und hier ist Matthäus' Schilderung von Jesus im Garten Gethsemane. Versuchen Sie einmal, so zu tun, als hätten Sie sie noch nie gelesen. Es wird Ihnen nicht gelingen, aber tun Sie Ihr Bestes.

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hier, solange ich dorthin gehe und bete.

Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen.

Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!

Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.

Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!

Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte.

Dann kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

Lukas fügt in einigen Versen, die in manchen alten Manuskripten ausgelassen werden, hinzu, als Jesus in dem Garten gebetet habe, sei „sein Schweiß wie Blut zur Erde“ getropft.

Ein herkulischer Kampf.

Folgende Frage stellt sich mir: Als Jesus sagte, der Geist sei willig, aber das Fleisch sei schwach, von wem, denken Sie, sprach er da? Ich verbringe mein Leben damit, hinter Dinge zu kommen, die andere schon längst wissen, sodass mir eben erst in den Sinn kam, dass Jesus hier ebenso oder sogar noch mehr von sich selbst spricht als von den armen, müden Jüngern, die ja nicht die leiseste Ahnung haben konnten, was da vor sich ging oder was bald geschehen würde. Jesus war ohne Sünde, aber nicht ohne Versuchung. Er hatte wirklich keine Lust, das nächste Stadium seiner Aufgabe auf sich zu nehmen, oder? Wer könnte es ihm verdenken?

Wie für Bridgets Mutter war auch für Jesus die Aussicht, die Menschen, die er liebte, verlassen zu müssen, unaussprechlich traurig, aber natürlich steckte noch unermesslich viel mehr dahinter. Es liegt ein heiliges Geheimnis in dem Leiden, das Jesus bald durchmachen würde. Das Kreuz war ein entsetzliches Folterinstrument, aber in körperlicher Hinsicht haben andere vor und nach ihm ebenso oder sogar noch beträchtlich mehr gelitten. Nein, da war ein Element oder eine Art von Schmerz in der Kreuzigung Jesus, die ich nicht einmal im Entferntesten zu begreifen imstande bin. Wir wissen, dass er die Qual durchlebte, von seinem Vater verlassen zu sein, und dass das vielleicht der finsterste, bitterste Moment von allen war. Ist es möglich, dass in diesem unvorstellbar grauenhaften Augenblick sein schlimmster Albtraum Wirklichkeit zu werden schien?

Vielleicht war er ja, trotz allem, was passiert war, doch nicht der Messias. Vielleicht war seine Göttlichkeit nur eine komplexe Illusion. Vielleicht war er nichts als ein Mensch, der an einem Stück Holz hing. Vielleicht war alles nur ein grausiger Irrtum gewesen und er hätte bleiben und Kompromisse machen und heiraten und Kinder haben und viele, viele Male den Frühling genießen können.

Ich habe keine Ahnung, ob es so war oder nicht. Es ist eine Frage der Interpretation und Spekulation, aber wir dürfen spekulieren. Der Schriftsteller und Rundfunkpublizist Rabbi Lionel Blue bemerkte einmal, das Judentum sei sein Zuhause, nicht sein Gefängnis. Das scheint mir auch für Christen eine gesunde Sichtweise zu sein. Im geistlichen Sinn gibt es im Reich Gottes weder den furchtbaren Zustand der Agoraphobie noch den der Klaustrophobie. Je sicherer und glücklicher wir in unserem Zuhause sind, desto wohler werden wir uns dabei fühlen, hinauszugehen und auszukundschaften, was sonst noch so in der Straße los ist.

Doch bei allem, was wir nicht genau wissen können, über eines können wir ziemlich sicher sein: Obwohl er die Seligkeit des Himmels kannte, „bevor Abraham war”, sah Jesus dem, was auf ihn zukam, mit Schrecken entgegen. Zugleich wusste er jedoch, dass wahre Sicherheit nur durch Gehorsam zu finden ist. Wie immer sagte er „ja“ zu seinem Vater. Im Herzen all dessen steckt ein faszinierendes Paradox, das sich stets um ein Haar jeder Definition entzieht, zumindest soweit es mich betrifft. Es ist eine Wolke, ein Nebel, gebildet aus einer Vielzahl scheinbarer Widersprüche.

Mensch und Gott. Gehorsam oder Ungehorsam. Erfüllt mit dem Geist und verlassen. Tot und lebendig. Gescheitert und siegreich. Natürlich und übernatürlich. Gewöhnlich und außergewöhnlich. Gesetz und Gnade. Von dieser Welt und nicht von dieser Welt.

Manchmal dreht sich in mir alles mit dem schwindelerregenden Gefühl, ich stünde direkt am Rande einer Offenbarung, die so angefüllt ist mit Licht und Liebe und endgültiger Gewissheit, dass nichts mich je wieder verletzen oder meinen Frieden stören könnte; und so verrückt es sich anhört, im tiefsten Herzen spüre ich, dass das, was offenbart wird, zweifellos und auf geheimnisvolle Weise etwas sein wird, was ich bereits weiß. Vielleicht klingt es, als hätte es keine Bedeutung, aber ich erinnere mich daran, wie C. S. Lewis schildert, dass in uns, wenn wir wahre Schönheit hören oder sehen, ein schmerzliches Gefühl des Heimwehs aufsteigt, des Heimwehs nach etwas (oder jemandem), was wir nie hatten und in dieser Welt nie haben werden. Der instinktive Drang zum Himmel. Er steckt in uns. Wir leben damit, und er ist unser ständiger Begleiter. Freilich kommt er in vielen seltsamen und fast undurchdringlichen Tarnungen daher.

Derselbe Jesus, der in Gethsemane Blut schwitzte, ist hier im Haus bei Kathleen und bei uns. Sie ist vollkommen sicher. Er wird ihre Hand ergreifen, wenn es für sie Zeit ist zu gehen, und ich bete inständig, dass das Gehen nicht zu schwer für sie wird.

Jesus berühren

Während Kathleen im Sterben liegt, ist Jesus auch in Gestalt unserer Gemeinde bei uns. Manchmal machen mir die Leute Vorhaltungen, weil ich die Kirche attackiere, aber ich habe mir nie vorgenommen oder es darauf angelegt, das zu tun. Ich liebe den Leib Christi, also die Kirche, und während der letzten Wochen haben Bridget und Kathleen und ich gesehen, was der Ausdruck „Leib Christi“ bedeuten kann, wenn es hart auf hart kommt. Ja, ich weiß, dass Liebe und Fürsorge auch in weltlichen Gemeinschaften ebenso zu finden sein können, aber das ist in Ordnung so. Schließlich hat Gott sie erfunden. Die Welt, die er gemacht hat, mag gefallen sein, aber man sieht überall in der Schöpfung seine Fingerabdrücke und seine Fußspuren, manchmal auch da, wo man es am wenigsten erwartet.

Wir haben viel Liebe erfahren. Wissen Sie noch, was Paulus über den Leib Christi sagt?

Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen's nicht. Aber Gott hat den Leibzusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.

Der Teil des Körpers, zu dem wir gehören, hat zweifellos mit Kathleen und mit uns mitgelitten. Abgesehen von der Unterstützung im Gebet haben wir Hilfe in vielfältiger Gestalt erfahren. Wir haben eine junge, unbändig energiegeladene Welsh-Border-Collie-Hündin namens Lucy, die etliche Male zu den Spaziergängen abgeholt wurde, die sie so sehr liebt. Leute haben für uns gekocht und für uns gesorgt, damit wir eine Pause einlegen konnten. Sie haben uns besucht und Blumen und Briefe geschickt. Unser umgewandeltes Esszimmer wird in Duft und Aussehen einem Blumengeschäft immer ähnlicher. Der Vikar, der für unsere Gemeinde verantwortlich ist, ist zweimal gekommen, um mit Kathleen die Kommunion zu feiern. Sie liebt das und wir ebenso. Bridget und Kathleen und ich machen dann ja drei Viertel der Gemeinde aus. Es ist ein ganz besonderes Vorrecht, das Geheimnis und die kosmische Bedeutung des Brotes und des Weins hier in diesem kleinen Zimmer zu haben, nur für uns drei. Gott hat hervorragende Ideen, finden Sie nicht auch? Dies ist eine der besten. Die gewaltige Wirklichkeit des geistlichen Lebens und des Heils in so eindrücklichen, erdverbundenen Symbolen wie Brot und Wein wurzeln zu lassen, ist ein unübertreffliches Meisterwerk.

Ja, der Leib Christi hat uns gestärkt und aufrecht gehalten und geschützt. Man vergisst leicht, dass diese Begegnungen mit Jesus durch die Hände und Herzen unserer Brüder und Schwestern geistliche Erfahrungen sind, die den abstrakteren, mehr überweltlich numinosen Begegnungen, die sich in formell religiösen Situationen abspielen, keineswegs nachstehen. Warum fällt es uns so schwer, das zu akzeptieren? Jeder, der jemals eine Familie hatte, sollte in der Lage sein, das Prinzip zu verstehen. Bridget und ich haben drei Söhne und eine Tochter und es gibt nicht viel, was uns mehr Freude macht, als zu wissen, dass sie sich treffen, sich umeinander kümmern und es genießen, zusammen zu sein. Wenn das geschieht, ist das wie eine Rechtfertigung oder Beglaubigung unserer Elternschaft. Ja, gut, in unserem Fall mag wohl ein ziemlich kindisches Element in dieser Reaktion enthalten sein, aber zumindest hilft es uns zu verstehen, wie unser himmlischer Vater es empfindet, wenn die Mitglieder seiner Familie einander lieben und sich umeinander kümmern. Am Ende des Johannesevangeliums spricht Jesus über eben dieses Thema:

Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.

Bei allem angebrachten Respekt – ist da nicht der Anflug des Tonfalls einer besorgten Mutter herauszuhören?

„Ich muss weg, und ihr müsst mir versprechen, gut aufeinander aufzupassen. Ihr vergesst es doch nicht, oder? Liebt einander. Das ist mir sehr wichtig. Versprecht es mir.”

Die heilige und geheimnisvolle Wahrheit ist, dass wir als Christen, wenn wir einander berühren, Jesus berühren. Wenn es eine Berührung der Fürsorge und der Liebe ist, lächelt der Himmel auf uns herab, und derselbe Gott, der durch den siebenundzwanzigsten Vers des ersten Kapitels des Jakobusbriefes spricht, sagt mit der Zufriedenheit eines stolzen Vaters: „Schaut euch das an. Das nenne ich wahre Religion!”

Ich danke Gott für Kathleen Rosa Ormerod, für ihre Sturheit, ihre Großzügigkeit, ihre Loyalität, ihre zupackende Fürsorge, ihre unerschütterliche Liebe zu ihren Freunden, ihr prinzipientreues Leben, ihre Tapferkeit und für die Verwundbarkeit, die wir in diesen letzten Wochen an ihr sehen konnten. Ich danke Gott für alles, was sie ist, und alles, was sie getan hat. Am liebsten wäre mir, sie würde weiterleben, aber vor allem will ich Gottes Bestes für sie, was immer das sein mag.

Kapitel 2

Freiheit, Sicherheit und
der Wert der Wahrheit

Ich werde mich in diesem und im nächsten Kapitel an die schwierige Aufgabe wagen, einige Wahrheiten weiterzugeben, nicht, wie ich eilends hinzufüge, um einen Gegensatz zu allen anderen Teilen des Buches zu schaffen, sondern im Zusammenhang mit bestimmten Bereichen, in denen wir in der Gemeinde Jesu ein großes Geschick entwickelt haben, uns selbst in die Tasche zu lügen. Freilich kann es sein, dass meine Wahrheit nicht dieselbe ist wie Ihre, aber nachdem ich zwanzig Jahre lang mit Christen auf der ganzen Welt gesprochen habe, wäre ich doch ziemlich überrascht, wenn die Kluft dazwischen durchgehend sehr groß wäre.

Bevor wir jedoch zu den konkreten Themen kommen -was hat eigentlich Wahrheit mit Sicherheit zu tun und warum ist sie so wichtig? Ganz einfach gesagt: Wenn wir wirklich im tiefsten Sinne sicher sein wollen, haben wir keine andere Wahl, als in der Wahrheit zu wohnen, wie schwierig das auch sein mag. Wenn wir uns oder unseren Glauben, unsere Art zu leben oder das Leben unserer Gemeinde mit etwas anderem als mit der Wahrheit zu verteidigen versuchen, dann haben sich unsere Wege von denen des Geistes der Wahrheit getrennt. Unter solchen Umständen sind wir auf uns allein gestellt und allen möglichen Gefahren schutzlos ausgeliefert.

Die wichtigsten Veränderungen in meinem Leben begannen immer mit dem Wunsch, die Haufen von Blödsinn aus dem Weg zu räumen, die sich in meinem Leben als Christ angesammelt hatten, und geistliche Sicherheit zu finden, indem ich die Wahrheit über mich selbst und meinen Glauben so klar in den Blick nahm, wie Gott sie mir vor meine verschleierten Augen führen konnte. Seit den allerersten Tagen meiner Lebensphase als Schriftsteller und Redner gibt es einen Vers, der meine Bemühungen mehr untermauert und inspiriert hat als jeder andere. Es ist ein Wort Jesu, zu finden im achten Kapitel des Johannesevangeliums. Ich bin sicher, es ist Ihnen sehr vertraut:

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

Die letzten fünf Wörter dieser Passage haben mir schon immer viel bedeutet, aber wie jeder weiß, der sich je vorgenommen hat, die volle Wahrheit zu sagen, ist das keineswegs immer angenehm. Manchmal tut es weh. Manchmal bringt es mich zum Lachen. Manchmal komme ich mir ziemlich blöd dabei vor. Manchmal bringt es mich zum Weinen. Manchmal wird deutlich, dass wie bei Adam und Eva die nackte Wahrheit nicht das Gebot der Stunde ist. Es gibt Momente, wo sie peinlich ist und sittsam bekleidet werden muss.

Die Wahrheit über uns – die Wahrheit über Gott

Eine Sache wird mir immer klarer. Es gibt zwei wesentliche Bereiche der Wahrheit, mit denen wir uns befassen müssen, wenn wir anderen Mut machen wollen, nach Hause zum Vater zu gehen. Der eine ist die Wahrheit über uns, über Sie und mich, wie wir wirklich sind, und der andere ist die ungeschminkte Wahrheit über Gott. Wenn wir in unserem Bestreben, die frohe Botschaft weiterzugeben, versuchen, einen dieser Bereiche mitzuteilen, während wir den anderen ignorieren, vergeuden wir wahrscheinlich bestenfalls unsere Zeit; schlimmstenfalls erzeugen wir eine möglicherweise sehr schädliche Form der Verwirrung.

Die meisten von uns sind noch unvollendete Werke, ob uns das gefällt oder nicht. Gott jedenfalls weiß das. Wir wissen es auch, wenn wir ehrlich sind. Was für einen Sinn hat es, anderen oder uns selbst einreden zu wollen, das wäre nicht so? Am Ende durchschauen die Leute unsere religiösen oder moralischen Fassaden ja doch. Bei mir haben die Leute meine Vortäuschungsmanöver schon oft durchschaut. Ich frage mich, wie viele von Gottes verirrten und geliebten Kindern den Gedanken, Jesus nachzufolgen, enttäuscht aufgegeben haben, weil sie Christen bei Heuchelei ertappten – Leute, von denen sie am Anfang ihrer Beziehung persönlich sehr beeindruckt waren, die dann aber einfach nicht einlösen konnten, was sie vorgaben.

Manchmal wird dieser Gegensatz zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir glauben, geradezu grafisch sichtbar. Es gibt eine Übung, die Bridget und ich bei Gruppen von dreißig bis vierzig Leuten sehr nützlich finden. Probieren Sie sie selbst einmal aus. Die Ergebnisse sind oft interessant. Das Ziel dieser Übung ist zweifach. Das unmittelbare Ziel besteht darin, ein Gruppengedicht zu schreiben. Das macht meistens viel Spaß und ist interessant, aber der wichtigere Aspekt dabei ist, allen Teilnehmern zu zeigen, dass die Wahrheit über den Leib Christi viel rauer, vielfältiger und, wenn ich das sagen darf, nützlicher ist, als wir vielleicht erwarten. Das geht folgendermaßen vor sich.

Erstens ist es ratsam, sich vor Augen zu führen, dass viele Leute zu Eis erstarren, wenn sie meinen, irgendein schüchtern grinsender christlicher Sadist wollte sie dazu zwingen, ein Gedicht zu schreiben, und dabei unterschwellig andeuten, dass auf alle, die nicht mitmachen, die Hölle wartet. Deshalb machen wir immer deutlich, dass niemand tatsächlich Verse schmieden muss, sondern dass eine Sammlung kurzer, wahrheitsgemäßer, anonymer Aussagen von Natur aus einen poetischen Klang gewinnt, wenn sie von einer Person im Zusammenhang laut vorgelesen wird. Dann verteilen wir schmale Papierstreifen an jedes Mitglied der Gruppe und kündigen an, dass das erste Gedicht den Titel „Unser Gott ist vielerlei“ tragen wird.

„Bitte schreiben Sie auf Ihr Stück Papier”, sagt dann Bridget oder ich, „was Gott heute, genau in diesem Moment, für Sie ist. Versuchen Sie nicht, bewusst lyrisch zu sein. Machen Sie sich keine Gedanken darum, die richtige Antwort hinzuschreiben. Es gibt keine richtige Antwort außer Ihrer eigenen privaten Wahrheit. Versuchen Sie auch, nicht erst Ihren zweiten, dritten oder vierten Gedanken aufzuschreiben. Versuchen Sie, den ersten zu erwischen, bevor er missbilligt oder zensiert wird oder einfach davonfliegt. Setzen Sie nicht Ihren Namen auf den Zettel. Es spielt eigentlich keine Rolle, was Sie sagen, ob es positiv oder negativ ist, denn niemand außer Gott wird wissen, wer welche Zeile geschrieben hat, wenn wir das Ganze vorlesen. Bitte schreiben Sie deutlich und kurz in Großbuchstaben; und dann falten Sie Ihren Zettel zusammen und geben ihn einem von uns, wenn wir die Zettel einsammeln.”

Manche Leute fühlen sich bei alledem etwas unbehaglich, aber meist hilft es, dass wir ihnen volle Anonymität zusichern. Am Ende haben wir dann einen kleinen Haufen von dreißig oder vierzig Aussagen und Bridget ist sehr geschickt darin, diese sofort vorzulesen, wobei sie wörtliche Wiederholungen vermeidet und den Titel und das Thema des „Gedichts“ hinzufügt, während sie es vorträgt. Die Ergebnisse, zusammengesetzt in nahezu der zufälligen Reihenfolge, in der sie eingesammelt wurden, sind sehr packend und manchmal äußerst bewegend.

Hier ein Beispiel aus einer Gruppe:

Unser Gott ist vielerlei

Er ist ein guter Vater, liebevoll und immer gegenwärtig

Er ist mein Fels

Er ist nie bei mir, wenn ich ihn am meisten brauche

Ein ferner Gott auf der Suche nach Gründen zum Strafen

Mein bester Freund

Das Licht, das meine Finsternis erträglich macht

Unser Gott ist vielerlei

Die Sonne im Winter, die den kommenden Frühling verheißt

Er ist irgendwo im Urlaub

Der Vater, den ich nie hatte

Es ist unmöglich, ihn zu kennen

Das innerste Wesen der Liebe

Er ist ein Rätsel, das der Tod lösen wird

Unser Gott ist vielerlei

Er ist wie das Meer, tief und still

Voller Vergebung

Er liebt jeden – nur nicht mich

Er lebt in uns

Er muss doch meine Qualen sehen,
aber er tut nichts dagegen

Seine Liebe hält die Welt in Gang

Unser Gott ist vielerlei

Furchtbar und gewaltig

Die Rose von Scharon

Unser Gott ist der, der den Regenbogen gemalt hat

Er ist kalt und schweigsam, voller Verheißungen,
die er nie zu erfüllen scheint

Unser Gott ist der Gott der Juden

Er hört und sieht alles, was wir tun

Unser Gott ist vielerlei

Der, den ich mein Leben lang gesucht habe

Ein Fremder hinter einer Maske

Er hilft dem Himmel, das Meer zu küssen

Herrlicher, als sich mit Worten sagen lässt

Der Vater unseres Herrn Jesus Christus

Nicht groß der Rede wert

Unser Gott ist vielerlei

Alles, was ich jemals wollen oder brauchen werde

Ich weiß nicht, was aus mir werden soll,
wenn es nicht bald anders wird

Unser Gott ist derselbe gestern, heute und morgen

Gott ist Liebe

Ich rede mit ihm, aber hört er auch zu?

Unser Gott ist vielerlei

Nicht gerade geeignet für die Aufnahme in Ihr Gemeindeliederbuch, stimmt's? Die Gruppen, die solche Reaktionen hervorbringen, sind oft ganz erschrocken über die Dinge, die zutage treten, wenn ein kleiner Ausschnitt des Leibes Christi die Erlaubnis bekommt, innere Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, ohne gleich mit einem jener schrecklichen Zwillingslümmel namens Verurteilung und Seelsorge bedroht zu werden. In diesem Beispiel eines Aufschreis aus dem Herzen des Leibes steckt so ziemlich alles drin, nicht wahr? Da sind Freude und Traurigkeit, Zweifel und Gleichgültigkeit, Furcht und Schmerz, Lobpreis und Liebe und tiefe Wertschätzung und die bohrenden Fragen, die sich allzu oft auf der dunklen Seite des Herzens verbergen.

Bei den vielen Gelegenheiten, bei denen wir diese Übung durchgeführt haben, ist uns nicht ein einziges Mal ein Ergebnis untergekommen, in dem sich die Gruppe als einmütig positiv und im Frieden gezeigt hat. So ist es nun einmal im Leib Jesu auf Erden, und mir schwant, es wäre gut, wenn wir dieser Tatsache ins Gesicht sehen würden. Wir können der Sache auch nicht ausweichen, indem wir sagen, dass manche der negativeren Aussagen in einem solchen Gedicht von Leuten stammen müssten, die eigentlich keine Christen seien. Das stimmt nicht. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Und Sie wissen es auch. Die meisten von uns gehen im Laufe ihres Lebens als Christen durch viele verschiedene Phasen. Der Charakter dieser Phasen schwankt, wenn es Ihnen so ähnlich geht wie mir, zwischen Verzweiflung und Ekstase, aber egal, wo wir zu einem gegebenen Zeitpunkt gerade stehen, wir bleiben immer Glieder am Leib, wenn nicht etwas einzigartig Drastisches und Schreckliches geschehen ist.