Über das Buch:
Schweden, um 1900.
Nach dem Tod ihrer Eltern scheint den drei Schwestern Elin, Kirsten und Sofia das Leben auf ihrem Hof trist und grau. Elin, die ein dunkles Geheimnis in ihrem Herzen bewahrt, setzt all ihre Hoffnung auf einen Neuanfang bei Verwandten in Amerika. Zusammen mit ihren Schwestern macht sie sich auf den gefährlichen Weg in die „neue Welt“.
Doch Amerika empfängt sie nicht mit offenen Armen und der Neubeginn wird schwerer als erwartet. Jede der Schwestern sieht sich vor große innere und äußere Herausforderungen gestellt. Wird es den jungen Frauen gelingen, endlich ihr Glück und ein neues Zuhause zu finden? Werden sich ihre Träume erfüllen?

Über die Autorin:
Lynn Austin hat für ihre historischen Romane Die Apfelpflückerin, Die Tochter des Baumwollbarons und Schwestern der Freiheit jeweils den Christy Award erhalten, den wichtigsten amerikanischen Buchpreis für christliche Literatur. Neben ihrer Autorentätigkeit ist Lynn Austin als Referentin bei Tagungen, Seminaren und verschiedenen kirchlichen und schulischen Ereignissen aktiv. Sie und ihr Mann haben drei Kinder und leben in Illinois.

Kapitel 7

Elin war vor Erschöpfung ganz benommen. Sie waren erst seit drei Tagen unterwegs, doch es fühlte sich an, als wären es schon drei Jahre. Die Last der Verantwortung gab ihr das Gefühl, als hätte sie ihre Schwestern den ganzen Weg über auf dem Rücken getragen. Aber so ähnlich war es ja auch gewesen. Hatte sie Sofia nicht die ganze Zeit gegen deren Willen hinter sich her gezerrt? Und Kirsten war auch nicht gerade kooperativ gewesen. Beide schliefen neben ihr auf der langen Bank, aber Elin hatte Angst, die Augen zuzumachen. Auf dem riesigen Bahnhof waren sie von Fremden umgeben, und es musste jedem aufmerksamen Beobachter klar sein, dass sie und ihre Schwestern allein reisten.

Sie blickte auf Sofia hinunter und strich die feinen goldenen Haarsträhnen zur Seite, die über ihre Wange fielen. Elins früheste Kindheitserinnerung war der Tag, an dem Sofia geboren worden war. Elin war damals beinahe vier Jahre alt gewesen. Als sie gehört hatte, wie ihre Mutter bei der Geburt litt, war sie wütend auf das neue Baby geworden, weil es ihrer Mama solche Schmerzen bereitete. Anschließend hatte Mama Elin ins Zimmer gerufen. Die winzige Sofia lag schlafend in Mamas Armen, und der liebevolle Blick, mit dem Mama das Baby angesehen hatte, ließ Elin vor Eifersucht brennen. Sie wollte Sofia auf den Boden schubsen und ihren Platz einnehmen. Dann blickte Mama zu Elin auf.

„Möchtest du deine kleine Schwester halten?“, fragte sie.

Mama hatte Elins Antwort gar nicht abgewartet, sondern ihr schnell einen Platz neben sich hergerichtet, wo Elin an ein Kissen gelehnt sitzen konnte. Elin erinnerte sich noch immer an das warme Gewicht ihrer winzigen Schwester und an das Gefühl, Sofias Körper dicht an ihrem eigenen zu spüren, lebendig und zappelig. Elin streichelte den blassblonden Flaum, der Sofias Köpfchen bedeckte. Sie sah so verletzlich und zerbrechlich aus.

„Du bist ihre große Schwester, Elin“, sagte Mama. „Du musst auf sie aufpassen. Sofia und Kirsten brauchen dich beide.“

Sofort fühlte Elin sich stark. Sie wollte Mama nicht enttäuschen. Elin und ihre Schwestern waren in diesem Augenblick durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden worden, das wie neuer Baumwollstoff im Laufe der Jahre eingelaufen war und sie nun noch dichter zusammenhielt. Selbst wenn Elin dieses Band hätte zerreißen wollen, konnte sie sich doch ein Leben ohne Sofia und Kirsten nicht mehr vorstellen. Sie waren ein Teil von ihr, ein Teil von Mama und Papa, und sie musste um ihretwillen stark sein. Sie würde sie beschützen, auf sie achtgeben und für sie alle ein sicheres Zuhause in Amerika schaffen.

Im Bahnhofsgebäude wurde es düster, als die Nacht sich dahinschleppte, und Elin war versucht einzuschlafen. Stattdessen kramte sie in ihren Erinnerungen, um wach zu bleiben. Sie dachte an glückliche Zeiten auf dem Hof zurück, als sie alle noch zusammen gewesen waren. Aber in den dunkelsten Nachtstunden wanderten Elins Gedanken zu Onkel Sven. Was er getan hatte, gehörte in das Reich der Finsternis und der Geheimnisse. Scham erfüllte sie. Sie stieß alle Gedanken an ihn von sich – so wie sie Onkel Sven von Anfang an hätte wegstoßen sollen. Sie hätte nicht Trost bei ihm suchen dürfen. Sie hätte es besser wissen müssen.

Sobald die Sonne aufging, begann der Bahnhof sich mit Menschen zu füllen, die wie Ameisen auf verschüttetem Zucker hin und her eilten, um ihre Züge zu bekommen. Als ihre Schwestern aufwachten, wechselten sie sich damit ab, auf den Koffer aufzupassen und in den Waschraum zu gehen, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann holte Elin das Knäckebrot und den Käse und etwas von der Kartoffelwurst heraus, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, und machte ihnen ein schnelles Frühstück zurecht. Sofia kamen die Tränen, als sie das Essen ansah.

„Ist dir wieder schlecht?“, fragte Elin.

„Nein … Diese Wurst hat Papa immer so gerne gegessen, und … und … Oh, können wir bitte wieder nach Hause fahren?“

Sofia hatte diese Frage so oft gestellt, dass Elin sie nicht mehr hören konnte. Am liebsten hätte sie „Nein!“ gebrüllt und den Schrei durch das Gewölbe des Bahnhofs hallen lassen. Wenn sie Sofia und Kirsten doch nur die Wahrheit sagen könnte, warum ihr Zuhause in den vergangenen drei Jahren für Elin zur Hölle geworden war. Die Wahrheit darüber, dass sie ihre Schwestern davor bewahrt hatte, durch dieselbe Hölle zu gehen. Aber natürlich würde Elin niemals an einem öffentlichen Ort schreien. Und sie würde ihnen auch niemals die Wahrheit sagen. Sie holte tief Luft und atmete langsam aus, bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Nein. Wir können nicht nach Schweden zurück, Sofia. Am besten, du entschließt dich, nach vorne zu blicken, anstatt dich an die Vergangenheit zu klammern. Ich weiß, dass wir im Augenblick kein Zuhause haben, aber wir werden eins finden, das verspreche ich. Wir verlassen nicht unser Zuhause, wir reisen nach Hause. Zu Hause sind wir, wo man uns liebt und wertschätzt. Wo wir lachen können, während wir jeden Abend am Feuer sitzen, und singen, während wir tagsüber unsere Arbeit machen. So ein Zuhause werden wir wieder haben, das schwöre ich.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

Elin zögerte den Bruchteil einer Sekunde, als ihr bewusst wurde, wie verloren und heimatlos sie in diesem Augenblick wirklich waren. „Weil ich dafür sorgen werde. Genau genommen ist dieser Bahnhof hier und jetzt unser Zuhause, weil wir einander haben.“

Sie aßen schweigend, während die Züge ein- und abfuhren und den Boden und die Bänke unter ihnen erbeben ließen. Das Gemurmel von Stimmen und die eiligen Schritte um sie herum schwollen an und ab wie Gezeiten. Weil es so viele Züge gab, begann Elin sich Sorgen zu machen, dass sie ihren eigenen Zug in dem Durcheinander verpassen könnten. Sie wollte gerade zum Schalter zurückgehen, um nähere Informationen zu erfragen, als einer der beiden jungen Schweden, mit denen Kirsten am Tag zuvor gesprochen hatte, auf sie zukam und lächelnd ein Blatt Papier durch die Luft schwenkte.

„Sehen Sie mal, meine Damen. Der Engländer hat mir den Fahrplan mit diesen Bildern erklärt.“ Er zeigte ihnen zwei gezeichnete Zifferblätter. „Sehen Sie? Unser Zug trifft um 11.15 Uhr hier ein und fährt um 11.45 Uhr. Wir müssen nur auf die Bahnhofsuhr achten.“ Er zeigte auf die riesige Uhr über dem Fahrkartenschalter.

Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis der Zug ankam. Elin war so erschöpft, weil sie die ganze Nacht wach geblieben war, dass sie beschloss, die Augen für eine Minute zuzumachen. Als sie sie wieder öffnete, waren zwei Stunden vergangen. Sie hatte im Sitzen geschlafen, mitten auf dem lauten Bahnhof. Kirsten hatte sich auf die Bank ihr gegenüber gesetzt und redete und lachte mit Eric, dem jungen Schweden, der ihnen die Zeichnungen gezeigt hatte.

Elin verstand, warum er sich zu Kirsten hingezogen fühlte. Sie hatte ein fröhliches, unbeschwertes Wesen, das andere Menschen anzog wie Honig die Bienen. Sie lachte und neckte den jungen Mann, so wie sie es mit Nils und Tor immer getan hatte. Kirsten wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sie flirtete, aber Eric würde ihre verspielte Art so deuten.

Kirstens goldenes Haar war dick und schön. In den Sommermonaten war sie so viel draußen, dass die Sonne ihr Haar fast weiß blich. Sie leuchtete vor Gesundheit und Vitalität. Wenn Kirsten sich ein elegantes Kleid statt einfacher Arbeitskleidung leisten könnte, dann würde sie selbst der Sonne Konkurenz machen. Sie war größer und hatte eine bessere Figur als Elin, mit hübschen weiblichen Rundungen – obwohl sie in vielerlei Hinsicht noch immer ein Kind war. Sie und Kirsten waren nur elf Monate auseinander und dennoch kam Elin sich furchtbar alt vor. Wann immer sie in einen Spiegel blickte, sah sie eine müde alte Frau, gebeugt unter der Last der Schande. Deshalb vermied sie Spiegel ganz.

Wenn sie Kirsten doch nur erklären könnte, was Mädchen zustieß, die zu vertrauensvoll waren. Aber selbst wenn Elin den Mut aufbrächte, über Onkel Sven zu sprechen, würde Kirsten ihr niemals glauben.

Als Kirsten herübersah, winkte Elin sie zu sich. Sie stand auf und kam herüber, und der Junge folgte ihr. „Vielen Dank, dass Sie uns heute Morgen geholfen haben“, sagte Elin zu ihm, „aber kann ich bitte unter vier Augen mit Kirsten sprechen?“

„Äh … ja … bis später, Kirsten.“ Er trottete davon.

Kirsten sah sie wütend an. „Wieso hast du das gemacht?“

„Du bist jung und naiv und viel zu vertrauensselig. Die einzigen Jungen, die du kennst, sind die aus unserem Dorf. Du verstehst nicht, was passieren kann, wenn eine Frau zu gutgläubig ist – und ich weiß nicht, wie ich dir diese Dinge erklären soll.“

„Es ist nicht deine Aufgabe, mein Wachhund zu sein, Elin. Du bist nicht meine Mutter.“

„Ich weiß“, seufzte sie. „Glaub mir, ich wünschte, Mama wäre noch am Leben und ich müsste dir nicht sagen, was du tun sollst. Aber sie hat mich gebeten, auf dich und Sofia aufzupassen, und ich habe es ihr versprochen.“

„Du willst mir nur den Spaß verderben.“

„Hör zu, diese Männer haben ihr eigenes Leben und wir haben unseres. Amerika ist riesig, weißt du. Es ist zehn Mal so groß wie Schweden. Wir werden sie wahrscheinlich nie wiedersehen, wenn wir dort ankommen.“

„Wir könnten sie fragen, wohin sie fahren, oder nicht? Vielleicht –“

„Nein, Kirsten. Mir wäre es lieber, wenn du nicht mehr mit ihnen sprichst.“

Kirsten stampfte mit dem Fuß auf. „Warum? Sag mir, warum ich das nicht tun soll!“

„Ich habe dir meine Gründe genannt“, sagte Elin ruhig. Aber sie merkte, dass Kirsten ihr gar nicht zuhörte.

„Du bist nur eifersüchtig!“ Kirsten versetzte dem Überseekoffer einen Tritt.

Elin versuchte ruhig zu bleiben. „Diese Schuhe sind aus zweiter Hand, Kirsten, und ohnehin schon fast aufgetragen. Wenn du sie weiter abstößt und schlecht behandelst, werden sie auseinanderfallen und du kommst barfuß in Amerika an.“

„Das ist mir egal!“

„Komm, lass uns an unserer Stickerei arbeiten. Dann vergeht die Zeit schneller.“ Elin griff in ihre Tasche, um den Nähkasten ihrer Mutter herauszuholen, in der Hoffnung, Kirsten würde sich ablenken lassen. Sie würde ihre Schwester sogar Mamas kostbaren silbernen Fingerhut benutzen lassen. Aber Kirsten zog eine Grimasse.

„Ich bin es leid, herumkommandiert zu werden. Und das ewige Sitzen bin ich auch leid. Ich laufe herum und vertrete mir die Beine.“

„Warte!“ Elin packte ihren Rock, um sie am Gehen zu hindern. „Du kannst nicht allein herumlaufen.“

Kirsten entfernte ihre Finger, als wären sie Kletten. „Ich kann tun und lassen, was ich will, Elin.“

„Aber … aber wir müssen zusammenbleiben. Sofia schläft und wir können unsere Sachen nicht hier –“

„Eric und Hjelmer können mich begleiten.“ Die Jungen saßen auf einer Bank ein Stück entfernt. Als Kirsten anfing, ihnen zuzuwinken, packte Elin ihre Hand und zog sie herunter.

„Sei vernünftig, Kirsten.“

„Warum sollte ich? Du kannst den ganzen Vormittag hier sitzen, wenn du willst, aber ich gehe spazieren.“ Sie riss ihre Hand los und schritt davon.

Elin wollte sie nicht anbrüllen und eine Szene machen, aber sie konnte Sofia auch nicht alleine lassen, um Kirsten nachzugehen. Frustriert beobachtete sie, wie Kirsten mit ausladenden, wütenden Männerschritten durch das ganze Bahnhofsgebäude lief. Sie hatte einen so zornigen Ausdruck im Gesicht, dass Elin sie in Sicherheit wähnte – kein Fremder würde es wagen, sie anzusprechen.

Elin behielt ihre Schwester im Auge und zugleich die Bahnhofsuhr, bis eine halbe Stunde vergangen war. Kirsten würde ihre Schuhe ruinieren, wenn sie weiter so in dem Gebäude herumstapfte. Sie musste die Uhr auch beachtet haben, denn einige Minuten bevor der Zug einfahren sollte, kam sie endlich zurück und sank beleidigt auf die Sitzbank neben Elin. Elin wollte Frieden schließen.

„Es tut mir leid, Kirsten. Ich will dich nicht herumkommandieren. Aber manchmal willst du, dass ich dich bemuttere, und ein andermal bist du beleidigt, wenn ich es tue. Wie soll ich wissen, was richtig ist?“

„Das klingt so, als würde ich dir nur Schwierigkeiten machen“, sagte Kirsten mürrisch. „Ich glaube, du machst dir nur selbst das Herz schwer, weil du dich ständig um uns sorgst. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Und es wird auch Zeit, dass du Sofia ernst nimmst und aufhörst, sie wie ein Baby zu behandeln.“

Sofia war einige Minuten zuvor aufgewacht, und Elin wartete darauf, dass sie sich verteidigen würde. Sie hasste es, wenn man sie ein Baby nannte. Aber Sofia starrte wortlos auf den Boden. Eigentlich hatte sie den ganzen Morgen über kaum ein Wort gesagt.

„Bitte lass uns nicht streiten“, sagte Elin. Sie nahm Kirstens Hand und zu ihrer Überraschung brach Kirsten in Tränen aus. „Was hast du?“

„Ich vermisse Mama und Papa und … und Nils. Wenn sie uns doch nur nicht verlassen hätten, dann wären wir nicht auf diesem hässlichen Bahnhof und … und …“

Elin stand auf und zog sie in ihre Arme. Kirsten hatte ihrem Bruder Nils und seinen Freunden immer nahegestanden und ihre ganze Freizeit mit ihnen verbracht. Kein Wunder, dass sie mit diesen neuen Jungen flirten musste, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich vermisse sie auch alle“, sagte Elin und drückte Kirsten fest an sich. „Ich würde Nils am liebsten wie einem Huhn den Hals umdrehen, weil er weggelaufen ist. Er hätte wenigstens schreiben und uns sagen können, wo er sich aufhält.“

Kirsten lachte ein wenig, als sie sich aus ihrer Umarmung löste und ihre Tränen trocknete. „Ich würde dir gerne helfen, ihn umzubringen.“

Endlich fuhr ihr Zug in den Bahnhof ein, pünktlich nach Fahrplan. Sie fanden Sitze in einem der Waggons und die beiden jungen Schweden nahmen auf der anderen Seite des Ganges Platz.

Elin versuchte, ihre Schwestern in Gespräche zu verwickeln, als der Zug seine langsame Reise durch die englische Landschaft antrat. Doch Sofia kehrte ihr den Rücken zu und starrte griesgrämig aus dem Fenster. Kirsten war viel mehr daran interessiert, sich mit den schwedischen Jungen zu unterhalten, und so gerne Elin sie auch daran gehindert hätte, wusste sie doch, dass sie es nicht konnte. So holte sie ihr Tagebuch heraus und begann zu schreiben:

Wir sitzen wieder im Zug, einen Tag später als geplant. Das ländliche England ist wunderschön, viel hübscher als die Stadt, die wir gerade verlassen haben, aber ich fürchte, die Monotonie der Zugfahrt wird mich müde machen. Und ich wage nicht, die Augen zu schließen.
Kirstens neuer Freund Eric probiert seinen Charme an ihr aus und sie fällt darauf herein und wird immer zutraulicher. Sie erzählt ihm alles über ihr Leben, das ihn nichts gar nichts angeht. Ich weiß nicht, an welchen Ort in Amerika diese Jungen wollen, aber ich hoffe, es ist weit von Chicago entfernt. Ich habe unser Leben nicht auf den Kopf gestellt und die Heimat verlassen, damit Kirsten im Zug einem Fremden in die Hände fällt. Ich bin gegangen, damit sie in Sicherheit ist – damit wir alle in Sicherheit sind.
Es kommt mir vor, als würde diese Reise ewig dauern. Jedes Mal, wenn die Lokomotive Fahrt aufnimmt und schneller wird, muss sie kurz danach wieder langsamer werden, weil der nächste Bahnhof kommt. Wir halten und fahren weiter, halten und fahren weiter. Leute steigen ein und aus, und ich frage mich, wohin sie alle wollen. Einige der Menschen haben diesen fröhlichen, hoffnungsvollen Blick, der mir sagt, dass sie nach Hause fahren. Ich kann beinahe sehen, wie ihr Herz aus lauter Vorfreude schneller schlägt, wenn sie ihre Sachen zusammenpacken und sich in die Gänge drängen, um an einer der Haltestellen auszusteigen. Sobald die Passagiere aus dem Zug steigen, eilen Leute herbei, um sie zu begrüßen, und ich höre Freudenschreie, bevor das Pfeifen des Zuges alles andere übertönt und wir wieder unter Dampf den Bahnhof verlassen.
Ich versuche mir vorzustellen, dass Onkel Lars und Tante Hilma uns so begrüßen werden, wenn wir endlich in Chicago ankommen. Sie werden herzlich lächeln und zu Hause ein großes Essen für uns vorbereitet haben.
„Välkommen“, wird Tante Hilma sagen, während sie die Arme ausbreitet. „Willkommen zu Hause.“ All unser Kummer und unsere Not werden vergessen sein.
Bitte, Gott, mach, dass es so kommt.
Ich bin gerade etwas müde, deshalb werde ich mich ein wenig ausruhen. Wir müssen noch viele Stunden fahren, bevor wir in Liverpool ankommen. Im Zug kann meinen Schwestern doch nichts passieren – oder?

Kapitel 8

Der Versuch, Tor Magnusson zu vergessen, erwies sich als erfolglos. An manchen Tagen fiel es Kirsten leichter als an anderen, aber heute war einer der schwierigen Tage. Eric und Hjelmer hatten sich auf der anderen Seite des Ganges niedergelassen und Eric erinnerte sie an Tor. Er hatte die gleiche hohe, breite Stirn wie Tor, das gleiche rötlich blonde Haar und die gleichen blassen Augenbrauen. Aber Tor war größer und dünner … und er hatte ihr das Herz gebrochen.

Kirsten konnte nicht verstehen, warum Elin jedes Mal wütend wurde, wenn sie mit diesen Jungen redete und lachte. Wie konnte sie Elin erklären, dass sie die ganze Zeit weinen würde, wenn diese Jungs nicht wären? Elin war noch nie verliebt gewesen.

Wenn Tor doch nur sehen könnte, wie sie sich mit diesen beiden gut aussehenden Männern unterhielt. Ob er dann eifersüchtig wäre? Wieder kamen ihr die Tränen, als sie daran dachte, dass Tor sie nicht genug geliebt hatte, um sie zum Bleiben zu bewegen.

Kirsten richtete ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart und merkte, dass Eric ihr eine Frage gestellt hatte. „Tut mir leid … was hast du gesagt?“

„Ich habe mich gefragt, womit wir uns in den nächsten zwei Wochen wohl beschäftigen können. Wahrscheinlich sind wir doch auf demselben Schiff.“

„Oh … ich bin sicher, wir finden etwas Unterhaltsames. Wenigstens werden wir auf dem Schiff mehr Platz haben, uns zu bewegen, als in diesem Zug.“

Eric stützte den Ellbogen auf die Armlehne, legte das Kinn auf seine Hand und sah Kirsten an, wie Tor es immer getan hatte. „Und wohin geht eure Reise in Amerika?“

„Wir haben einen Onkel, der in Chicago lebt. Bei ihm können wir wohnen.“

„Ich habe gehört, dass Chicago eine riesige Stadt ist – noch größer und moderner als Göteborg, mit vielen Fabriken und so. Ich persönlich möchte nicht dort leben. Mir ist das Land lieber. Deshalb fahren wir auch nach Minnesota.“

„Ist das auch eine große Stadt?“

„Nein“, sagte er und lachte, „Minnesota ist ein Bundesstaat, keine Stadt. In diesem Winter werden wir uns Arbeit als Holzfäller suchen, damit wir Geld verdienen können. Dann lassen wir uns irgendwo nieder und jeder von uns kauft sich eine eigene Farm. Es heißt, man kann ein Stück Land spottbillig erwerben – fünfzig oder hundert oder sogar hundertfünfzig Morgen, wenn man will. Und es ist sogar gutes Farmland.“

„Warum sollten sie so viel Land so billig weggeben? Wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen Haken. Amerika ist ein riesiges Land und sie brauchen viele Leute, um es zu bevölkern.“

Wieder dachte Kirsten an Tor. Vielleicht sollte sie ihm schreiben und ihm die Sache mit dem Land erklären. Wenn er kein Farmer sein wollte, könnte er in Amerika vielleicht sein eigenes Geschäft aufmachen und … aber nein. Sie würde ihm nicht schreiben. Sie würde sich nicht noch mehr demütigen, als sie es bereits getan hatte.

„Wenn dir Chicago nicht gefällt“, sagte Eric, „kannst du gerne mit mir nach Minnesota ziehen.“

Kirsten lehnte den Kopf zurück und blickte zur Decke hinauf, um ihre Tränen am Fließen zu hindern. „Ich weiß nicht, ob ich noch einmal auf einem Hof leben möchte“, sagte sie. „Es gibt zu viel Arbeit auf einer Farm. Meine Schwestern und ich werden in Chicago reich sein und Personal haben, das uns bedient.“

„Personal? Und was willst du dann den ganzen Tag machen?“

„Alles, was ich will – oder überhaupt nichts.“ Aber Kirsten konnte sich nicht vorstellen, nichts zu tun. Im Zug hatte sie nichts zu tun, außer sich die Landschaft anzusehen oder an ihrer dämlichen Stickerei zu arbeiten, und die Untätigkeit langweilte sie. Mit Nils war sie immer gerne durch den Wald gestreift – und mit Tor. Wieder musste sie gegen die Tränen ankämpfen.

„Hast du Angst?“, fragte Eric. „Ich meine, in ein Land zu ziehen, das so weit von zu Hause weg ist und das du noch nie gesehen hast?“

„Nein, ich finde es aufregend. Dort, wo wir hingehen, gibt es schon mehrere Familien aus unserem Dorf in Schweden, deshalb werden wir nicht nur von Fremden umgeben sein. Wir haben da Freunde und Verwandte. Die sagen alle, dass es genau wie daheim ist, nur besser, denn jeder von uns bekommt ein eigenes Stück Land – nicht nur die ältesten Söhne.“

„Das klingt gut ... Hör mal, ich meinte das ernst, als ich gesagt habe, du sollst mit uns nach Minnesota kommen. Wenn ich mein eigenes Haus fertig gebaut habe, möchte ich ein hübsches Mädchen wie dich zur Frau nehmen.“

Kirsten wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wünschte, Tor könnte hören, wie Eric ihr einen Heiratsantrag machte. Bei dem Gedanken an Tor und daran, wie glücklich sie einmal gewesen war, drehte sich ihr der Magen um.

Eric lehnte sich vertraulich zu ihr. „Ich wette, du hattest zu Hause Dutzende Verehrer, die an eure Tür geklopft haben. Dein Vater muss sie mit dem Besen verjagt haben.“

Der Schmerz in Kirstens Magen brannte wie heiße Kohlen, als sie den Kopf schüttelte. „Nein, ich hatte keine Verehrer.“

„Das kann ich kaum glauben. Ein hübsches Mädchen wie du?“

Sie tat Erics Worte mit einem Achselzucken ab – so, als wäre es ihr gleichgültig. Tor hatte ihr immer wieder gesagt, wie schön sie sei, als sie sich im Wald geküsst hatten.

„Erzähl mir alles von Amerika, was du weißt“, sagte sie in dem verzweifelten Bestreben, das Thema zu wechseln. Sie sprachen den ganzen Nachmittag über Amerika – wie es dort sein würde, wie groß das Land war, wie es sich von zu Hause unterschied.

„In Amerika gibt es Orte, an denen es immer warm ist“, erklärte ihr Eric, „und wo es nie schneit, nicht einmal im Januar.“

Kirsten konnte sich das nicht vorstellen. Doch je mehr Eric ihr über die neue Heimat erzählte, desto mehr freute sie sich darauf, sie ließ sich von seinem Traum mitreißen wie von einem Fieber. Seine Hoffnung für die Zukunft wirkte ansteckend. Kirsten wusste, dass sie vor ihrem alten Leben davongelaufen war, anstatt zu einem neuen Leben aufzubrechen, so wie Eric und sein Cousin es taten. Wenn doch nur Tor sich nicht mehr alle paar Minuten in ihre Gedanken einschleichen und ihr das Gefühl geben würde, als hätte er sie in den Magen getreten!

Später am Nachmittag packte Hjelmer seine Ziehharmonika aus und spielte Volkslieder, um sich und den anderen die Zeit zu vertreiben. Er war ein recht guter Musiker, und Kirsten und Eric fingen an, zur Melodie zu singen. Elin arbeitete an ihrer Stickerei und blickte kaum einmal auf, während sie sich kalt und steif gab wie ein Eisenpfosten im Januar. Sofia badete in stummem Selbstmitleid – was erstaunlich war, da sie diejenige war, die zu Hause immer so gerne gesungen hatte.

Kirsten ignorierte sie beide, während sie im Gang neben Eric stand und im Takt der Musik klatschte. Die Zeit auf der endlosen Zugfahrt verstrich schneller, während sie diese alten, vertrauten Lieder sangen. Kirsten vergaß beinahe, dass sie nicht mit Tor zu Hause in Schweden war.

„Morgen fangen wir an, den Ozean zu überqueren“, sagte Eric, als der Abend hereinbrach und Hjelmer seine Ziehharmonika einpackte.

„Ja. Ich bin schon sehr gespannt.“

„Da wir auf demselben Schiff sein werden“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „könnten wir da nicht ein bisschen mehr Zeit zusammen verbringen? Vielleicht können wir uns ein wenig umschauen – ohne deine Schwestern?“

„Hm …“ Kirsten zögerte und warf einen Blick zu Elin hinüber.

„Wie es aussieht, mag mich deine Schwester nicht“, flüsterte Eric. „Ich glaube, du musst dich von ihr wegschleichen.“

Die Vorstellung, etwas Verbotenes zu tun, gefiel Kirsten. Und die Gelegenheit, das Schiff zu erkunden, gefiel ihr auch. Außerdem war Elin nicht ihre Herrin. „Ich werde tun, was ich kann, um mich loszueisen“, sagte sie zu ihm. „Aber wenn der Ozeandampfer so riesig ist, wie du sagst, und so viele Menschen an Bord sind, wie sollen wir uns dann jemals finden?“

„Keine Sorge“, sagte er mit einem Grinsen. „Ich finde dich schon.“

Sie kamen nach Einbruch der Dunkelheit in Liverpool an. Wieder hatte die Fährgesellschaft Kutschen und eine Unterkunft für die Nacht bereitgestellt; Männer und Frauen wurden in unterschiedliche Pensionen gebracht. Kirsten wünschte Eric und seinem Cousin eine gute Nacht und stieg mit ihren Schwestern in die Kutsche. Es war zu dunkel, als dass sie etwas von Liverpool hätte sehen können, aber es roch sogar noch schlimmer als in der vorigen Stadt.

„Ich hoffe, Chicago stinkt nicht so wie die Städte in England“, sagte Kirsten, als die Pferde die enge Straße hinuntertrotteten. „Und ich hoffe, es gibt viele Bäume dort. Ich vermisse den Wald und die riesigen Kiefern zu Hause, ihr nicht auch?“

Zu spät wurde ihr bewusst, dass die Erwähnung ihrer Heimat eine neuerliche Tränenflut bei Sofia auslösen könnte. Sie blickte zu ihrer Schwester hinüber und sah, dass diese unverwandt in die Dunkelheit hinausstarrte. Sofia hatte den ganzen Tag über kaum ein Wort gesprochen. Kirsten stieß sie mit dem Ellbogen an.

„Hey, ist alles in Ordnung? Dir ist doch nicht schlecht, oder?“ Sofia schüttelte den Kopf.

Ihr winziges Zimmer in der Pension hatte nur ein Bett. Deshalb bot die Vermieterin ihnen ein weiteres Zimmer direkt gegenüber an, aber weder Kirsten noch ihre Schwestern wollten sich aufteilen und die Nacht allein verbringen. Sie beschlossen, dass sie sich zu dritt in ein Zimmer zwängen würden. Sofia kleidete sich schnell aus und kletterte ins Bett, ohne gute Nacht zu sagen.

„Du kannst doch unmöglich müde sein“, sagte Kirsten zu ihr. „Du hast einen Großteil des Tages im Zug verschlafen.“

„Bin ich aber“, erwiderte sie.

Kirsten sah, wie sie sich die Bettdecke über den Kopf zog, und verspürte ein dumpfes Gefühl der Angst. Ihr Vater hatte zum Schluss auch die ganze Zeit geschlafen. Und auch er hatte aufgehört zu reden. „Meinst du, sie ist in Ordnung?“, flüsterte sie Elin zu.

Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. Elin hatte an diesem Tag auch nicht viel gesprochen. Mochte sie sich auch immer wieder über ihre Schwestern ärgern – dennoch waren sie ihre ganze Familie. Sie sollten nicht schlafen gehen, wenn sie noch wütend aufeinander waren. Das war immer eine von Mamas Regeln gewesen.

„Bist du böse auf mich, weil ich mit Eric und Hjelmer geredet habe?“, fragte Kirsten, während sie ihre Schuhe auszog.

„Natürlich bin ich dir nicht böse.“

„Wenn du nur auch einmal mit Eric sprechen würdest, dann würdest du merken, wie nett er ist. Die beiden verlassen ihre Heimat, so wie wir es auch tun. Sie könnten uns helfen.“

Elin fingerte an der Tür herum, während sie sich unterhielten, öffnete und schloss sie und rüttelte an dem Türknauf. „Weißt du, was ich merkwürdig finde, Kirsten? Dass du diesen Fremden vertraust, aber deiner eigenen Schwester nicht zutraust, dass sie nur das Beste für dich im Sinn hat. Ich versuche lediglich, auf dich aufzupassen.“

„Ich weiß, ich weiß …“ Elins Fürsorge ärgerte Kirsten. „Was machst du da eigentlich mit dem Türgriff?“

„Ich möchte herausfinden, wie man diese Tür verschließt. Die Vermieterin hat uns keinen Schlüssel gegeben.“

„Lass mich mal sehen.“ Kirsten ging um das Bett herum und begutachtete den Türknauf. „Ich glaube, sie hat kein Schloss. Aber es wird bestimmt nichts passieren.“

„Aber … aber es ist gefährlich, zu Bett zu gehen, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist. Jeder könnte hereinkommen, während wir schlafen. Wie sollen wir dann Hilfe holen? Ich weiß noch nicht einmal, wie man Hilfe auf Englisch sagt.“

Kirsten unterdrückte einen Seufzer und wandte sich ab, damit Elin nicht sah, wie sie die Augen verdrehte. „Vielleicht sollte Hilfe das erste Wort sein, das du auf Englisch lernst, wenn es dir so wichtig ist.“

Kirsten zog sich weiter aus, faltete ihre Kleider ordentlich zusammen und legte sie über die von Sofia auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Elin war immer noch mit der Tür beschäftigt. „Warum schiebst du nicht das Bett vor die Tür, wenn du dir solche Sorgen machst?“, sagte Kirsten schließlich.

„Das ist eine gute Idee. Hilfst du mir?“

„Das war ein Scherz, Elin! Aber wenn du dann endlich aufhörst, an der Tür herumzufingern, ist es die Mühe wert.“ Sofia rührte sich nicht, als Kirsten und Elin das Bett über den Fußboden schoben, bis die Tür verbarrikadiert war. Da das Möbelstück zum Hochheben zu schwer war, schabten seine Füße laut über den hölzernen Boden.

„Bestimmt steht gleich die Vermieterin vor der Tür“, kicherte Kirsten. „Weißt du noch, wie Onkel Sven immer die Leiter hinaufgeklettert ist, wenn wir auch nur das leiseste Geräusch gemacht haben?“ Elin lächelte nicht, als sie daran dachte. Sie starrte Kirsten mit vor Angst weit aufgerissenen Augen an.

„Glaubst du, das Bett wird jemanden daran hindern, hereinzukommen?“

„Das müsste es eigentlich – es sei denn, dieser Jemand ist extrem dünn. Da die Tür nach innen aufgeht, versperrt das Kopfteil den Weg wie ein Tor.“

Aber selbst nachdem die Tür gesichert war, ging Elin nicht zu Bett. Sie zündete eine Kerze an und setzte sich auf den Boden in die Nähe des Fensters, um in ihr Tagebuch zu schreiben.

„Macht es dir etwas aus?“, fragte sie. „Ist die Kerze zu hell zum Schlafen?“

„Nein, ich bin ziemlich müde“, sagte Kirsten gähnend. Sie kletterte neben Sofia ins Bett und ließ für Elin etwas Platz am Rand. Aber sie brauchte lange, um einzuschlafen. Sie vermisste Tor. Und in dem dunklen Raum gab es nichts, was sie von den Gedanken an ihn ablenken konnte. Sie lag in dem unbequemen Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie lauschte den ungewohnten Stadtgeräuschen draußen und hörte, wie Elins Bleistift wie das Getrippel von Mäusefüßchen über die Seiten ihres Tagebuches kratzte.

Kapitel 9

Sofia hatte noch nie etwas so Riesiges wie den Ozeandampfer gesehen, der im Hafen von Liverpool angelegt hatte. Wie konnte dieses Ding überhaupt schwimmen? Ihr ganzes Dorf mit all seinen Geschäften und Häusern und Kirchen hätte auf dieses Schiff gepasst. Und die Leute! Es schien ihr, als drängten sich auf dem Pier mehr Menschen, als es in ganz Schweden gab. Sie trugen schäbige Kleider und abgewetzte Bündel und Taschen und unterhielten sich in einer aufregenden Mischung verschiedener Sprachen.

Je weiter Sofia sich von zu Hause entfernte, desto unmöglicher schien es, dass sie jemals würde zurückkehren können. Sie waren kurz davor, einen Ozean zu überqueren, der so riesig war, dass es zwei Wochen dauern würde, das andere Ufer zu erreichen. Ihr Magen schmerzte schon bei dem Gedanken daran. Sie hatte sich nie eine Welt vorgestellt, die so groß war wie diese – und sie waren noch nicht einmal in Amerika. Elin hatte versprochen, dass sie irgendwann wieder ein Zuhause haben würde. Bitte, Jesus, mach, dass es wahr ist.

Mit der einen Hand umklammerte Sofia ihre Tasche und mit der anderen hielt sie einen der Griffe ihres gemeinsamen Überseekoffers fest. So schoben sich die Schwestern Zentimeter für Zentimeter durch die Menschenmenge, um an Bord zu gehen. Wie immer war bereits Kirsten vorausgestürmt und ihren eigenen Weg gegangen.

„Kirsten, komm zurück! Warte auf uns“, rief Elin hinter ihr her. „Wir verlieren dich sonst.“

„Hör auf, dir so viele Sorgen zu machen“, rief Kirsten zurück. „Wie kann ich denn hier verloren gehen?“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ ihren Blick über die Menschentraube schweifen, als suche sie jemanden.

„Ich glaube, sie hält nach diesen Jungen Ausschau, die sie kennengelernt hat“, sagte Elin. „Sie ist wild entschlossen, sich vor ihnen zum Narren zu machen.“

„Bestimmt vermisst sie Nils und seinen Freund Tor“, sagte Sofia. „Sie war immer mit ihnen zusammen, erinnerst du dich?“

„Da hast du wohl recht“, sagte Elin und seufzte. „Aber es macht ihr auch Spaß, mich zu ärgern. Sie flirtet nur mit ihnen, um mir eins auszuwischen.“

„Vielleicht ist sie einsam.“

„Sie könnte mit uns reden, Sofia. Und sie könnte uns auch mit diesem Koffer helfen.“

Alle schoben sich ein paar Meter weiter. Sie waren schon fast an der Landungsbrücke. Sofia hasste es, mit so vielen fremden Menschen zusammengepfercht zu sein. Sie rempelten sie von allen Seiten an und drängten sich so dicht um sie herum, dass Sofia kaum atmen konnte. Sie hörte niemanden Schwedisch sprechen. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie das Ende des Piers erreicht hatte. Gleich würden sie die Planke zum Dampfer hinaufsteigen. Sofia stellte ihre Seite des Koffers ab und ließ den Griff los.

„Was ist?“, fragte Elin.

„Ich hoffe, diese Überfahrt wird nicht so schlimm wie die mit der Fähre.“

„Keine Sorge!“, beruhigte sie Elin. „Sieh dir nur diesen schönen Himmel an. Siehst du? Kein Unwetter diesmal. Es ist kaum eine Wolke zu sehen.“

Sofia nahm ihren Griff wieder in die Hand und begann, die Rampe hinaufzugehen. Sie war froh, dass sie diesmal nicht diese furchtbare, schlingernde Bewegung spürte, als sie das Schiff betrat. Die Passagiere schoben sich über ein schmales Deck und dann durch eine Tür ins Innere des Schiffes. Unter Deck wurde das Gedränge um sie herum noch schlimmer. Draußen hatten sie wenigstens den weiten Himmel und den nach Fisch riechenden Wind gehabt, aber in den engen, niedrigen Korridoren bekam Sofia Platzangst. Sie folgte den anderen über endlose Gänge und steile Metalltreppen ins Innere des Schiffes.

„Siehst du Kirsten irgendwo?“, fragte Elin.

„Sie ist da oben. Ich sehe ihre rote Jacke.“

„Ich wünschte, sie würde auf uns warten.“

Sofia hatte den Überblick verloren, wie viele Treppen sie schon hinabgestiegen war, aber sie wusste, dass sie sich inzwischen ein ganzes Stück unter der Wasseroberfläche befinden musste. „Sind wir schon unter Wasser?“, fragte sie. Die Vorstellung, dass die dunkle, eisige See sie umgab und von allen Seiten auf sie eindrängte, gefiel ihr überhaupt nicht.

„Ich weiß nicht … ich glaube nicht“, sagte Elin.

„Du lügst.“

Sie gingen durch viele weitere Korridore, bis Sofia fürchtete, sie hätten sich verlaufen und würden in irgendeinem rattenverseuchten Lagerraum enden. Sie wäre am liebsten zurück nach draußen, ins Licht und an die frische Luft gerannt, aber die Gänge waren viel zu voll mit Menschen. Sie konnte sich kaum bewegen, geschweige denn sich umdrehen. Die anderen Passagiere waren laut und schmutzig, und bei dem Gestank verschwitzter Körper und ungewaschener Haare hätte Sofia sich liebend gerne die Nase zugehalten. Wenn Kirsten meinte, die Leute auf den Bahnhöfen wären Trolle, was waren diese Leute dann?

Endlich ergoss der Menschenstrom sich in einen riesigen, offenen Schlafsaal, der mit Hunderten von Etagenbetten gefüllt war. Sofia hätte heulen können, als ihr bewusst wurde, dass sie die nächsten zwei Wochen an diesem schrecklichen Ort zubringen musste. Ordner dirigierten die Männer auf eine Seite und Frauen und Kinder auf die andere. Es schien Sofia, als gäbe es zu viele Menschen und zu wenig Platz – mindestens tausend in einem Raum, der eigentlich nur halb so viele beherbergen sollte. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken.

„Ich kann hier nicht zwei Wochen lang leben“, sagte sie zu Elin. „Es gibt keine Fenster … Ich ... ich kann nicht atmen.“

„Ich bin sicher, wir können wieder an Deck gehen und herumlaufen, wenn wir erst einmal unsere Betten haben. Wir müssen nicht die ganze Zeit hier unten bleiben.“ Aber selbst Elin wirkte angesichts des riesigen Raumes erschrocken, trotz ihrer Beteuerungen.

Kirsten war vorausgelaufen, um drei Betten zu belegen. Sie hatte ihre Tasche und ihr Tuch auf ein oberes und ein unteres Bett geworfen und sich auf die untere Matratze eines anderen Etagenbettes gesetzt, das daneben stand. Eine kleine Frau mit olivfarbenem Teint und einem bestickten Kopftuch ließ ihre Sachen neben Kirsten fallen. Eine Traube kleiner Kinder umschwärmte die Frau, die verärgert die Stirn runzelte, während sie ihnen eine Reihe von Befehlen zubrüllte. Die Kinder ignorierten die Worte ihrer Mutter, als verstünden sie sie nicht besser, als Sofia es tat. Die Frau wandte sich an Kirsten, und in ihrer Stimme und ihrem Blick lag eine Frage, als sie gestikulierte und plapperte und auf die Betten zeigte. Kirsten konnte zur Antwort nur den Kopf schütteln und eindeutig zeigen, welche drei Betten zu ihr gehörten.

„Kommt, beeilt euch“, rief Kirsten und winkte Sofia und Elin zu sich. „Setzt euch und belegt eure Betten, bevor es jemand anders tut.“

„Wir hätten deine Hilfe mit dem Koffer gebrauchen können“, sagte Elin. „Willst du das untere oder das obere Bett?“, fragte sie Sofia.

„Das untere, glaube ich.“

„Gut, ich wollte sowie das obere“, sagte Kirsten. Sie kletterte hinauf, als würde sie an einem Baumstamm hochklettern, während Sofia und Elin sich auf die beiden unteren Betten setzten und ihre Taschen festhielten.

Kinder rannten überall in dem überfüllten Raum herum, sprangen auf die Betten, um die Matratzen zu testen, und schubsten und ärgerten sich gegenseitig. Sofia versuchte zu zählen, wie viele davon zu der Frau mit dem Kopftuch gehörten – mindestens fünf oder sechs – aber es war so, als wolle man kleine Fische in einem Fluss zählen. Einer der kleinsten Jungen versuchte, zusammen mit seinen Brüdern auf ein Bett zu klettern. Dabei verlor er das Gleichgewicht und landete mit einem Plumps auf dem Boden. Sofia streckte unwillkürlich die Arme aus, um ihn zu trösten, aber die Frau hob ihn schnell hoch.

Ein anderes Kind, ein Mädchen von etwa vier Jahren, begann auf Sofias Bett zu klettern, aber Sofia scheuchte es fort. „Nein, geh weg. Das hier ist mein Bett. Such dir selbst eins.“

Das Mädchen hüpfte noch ein paar Sekunden auf Sofias Matratze herum und sprang dann auf ein anderes Bett. Außer dem ältesten Jungen turnten alle Kinder über die Betten und beachteten ihre Mutter gar nicht. Der Junge, den Sofia ungefähr auf acht Jahre schätzte, hatte einen hartnäckigen Husten und schien krank zu sein. Anstatt mit den anderen Kindern herumzuspringen, legte er sich auf das untere Bett neben dem von Elin. Er bedeckte sein Gesicht mit den dünnen Ärmchen, um seine Augen abzuschirmen. Sofia bedeckte instinktiv Nase und Mund. Sie fragte sich, wie sie in diesen engen Wohnverhältnissen eine Ansteckung vermeiden könnte, egal welche Krankheit der Junge auch immer hatte.

„Das ist ein schrecklicher Ort“, sagte Sofia. „Diese Leute sind so dreckig! Baden sie denn nie?“

„Sie können nichts dafür, dass sie arm sind“, sagte Elin. „Deshalb fahren sie nach Amerika – um ein besseres Leben zu haben.“

„Wir sind auch nicht reich, aber wir benutzen wenigstens Seife.“

Kirsten beugte sich vom oberen Bett zu Sofia herunter. „Sie wären nicht so arm, wenn sie nicht so viele Kinder hätten. Seht sie euch doch nur an. Sie sind wie ein Wurf Ferkel.“

„Sei nicht garstig, Kirsten“, sagte Elin stirnrunzelnd.

„Warum? Sie verstehen doch kein Wort von dem, was ich sage.“

Die Gerüche schienen immer stärker zu werden, als ständig neue Passagiere in den Raum strömten, herumliefen und ihre Bündel auf die Betten hievten. „Hier riecht es schlimmer als in unserem Stall!“, sagte Sofia. Sie erhob sich und bekämpfte den Drang hinauszurennen.

„Nein, steh noch nicht auf“, sagte Elin und gab ihr ein Zeichen, sich wieder zu setzen. „Sonst nimmt jemand anders sich dein Bett.“

Sofia setzte sich wieder und hielt eine Ecke ihres Tuches über Nase und Mund, um sich vor dem Gestank zu schützen. Immer noch strömten neue Passagiere in den Raum und blickten sich um, auf der Suche nach freien Betten.

„Hier gibt es überhaupt keine Privatsphäre“, sagte Elin. „Wie sollen wir da schlafen?“

„Privatsphäre hin oder her – es ist viel zu laut zum Schlafen“, sagte Kirsten.

„Ich kann nicht atmen“, sagte Sofia und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich will hier raus! Bitte lasst uns nach Hause fahren.“

Elin streckte die Hand aus und tätschelte Sofias Knie. „Warum machst du nicht etwas, um dich von dem Geruch abzulenken? Was ist mit deiner Stickerei?“

Sofia schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten viel zu sehr, um mit Nadel und Faden umgehen zu können. Sie dachte daran, in Mamas Bibel zu lesen, die sie nach wie vor in ihrer Tasche mit sich trug. Aber als sie das Buch das letzte Mal aufgeschlagen hatte, war sie auf den Text über das Schiffsunglück gestoßen, und da hatte sie sich noch schlechter gefühlt als vorher. Sie wusste, dass es in der Bibel auch eine Geschichte von einem Mann gab, der von einem riesigen Fisch gefressen wurde. Nein, sie würde nicht noch einmal versuchen, darin zu lesen. Sie lauschte den Stimmen der Kinder und dem unaufhörlichen Brüllen ihrer Mutter und fragte sich, in welcher Sprache sie sich unterhielten.

Allmählich ließ der Strom von Passagieren nach und versiegte schließlich ganz. Die Ordner halfen mehreren Familien, ihre Betten dichter zusammenzurücken, bis schließlich jeder sein Bett gefunden und seinen Bereich abgesteckt hatte. Sofia wollte wieder aufstehen, aber ihr Magen schmerzte so sehr, dass sie sich vor Übelkeit kaum rühren konnte.

Die Schiffsmotoren machten ein tiefes, rumpelndes Geräusch, und Sofia fühlte ein beständiges Beben unter ihren Füßen. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich an dieses stetige Pulsieren gewöhnt hatte. Würde es noch schlimmer werden, wenn das Schiff erst einmal in Fahrt war? Elin hatte ihre Handarbeit herausgeholt, aber Sofias Gedanken waren viel zu durcheinander, als dass sie sich hätte konzentrieren können. Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen.

Bitte, Jesus, bitte …

Sie konnte den Satz nicht beenden. Sie hatte keine Ahnung, wofür sie beten sollte. Wenn sie doch nur aufwachen und feststellen könnte, dass dies alles ein furchtbarer Traum gewesen war.

Irgendwann ertönte das Signal.

„Wir legen ab“, sagte Kirsten und rutschte von ihrem Bett herunter. „Kommt, wir gehen an Deck und sehen zu.“

„Warum?“, fragte Elin. „Das hier ist nicht unsere Heimat. Es gibt niemanden, der uns zum Abschied zuwinkt, und außerdem können wir unseren Koffer nicht allein lassen.“

Kirsten stampfte mit dem Fuß auf. „Sag nicht, dass du uns zwingen willst, die nächsten zwei Wochen hier unten zu sitzen und auf unseren blöden Koffer aufzupassen. Dann werde ich wahnsinnig!“

„Du und Sofia, ihr könnt ja hinaufgehen, wenn ihr wollt. Ich bleibe hier.“

So sehr Sofia sich auch nach frischer Luft und Weite sehnte, hatte sie doch Angst, sich von ihrem Bett zu erheben. „W-wie sollen wir denn den Weg zurück finden? Wir verlaufen uns bestimmt!“

Kirsten zog sie an der Hand. „Ach, komm schon. Wie schwierig kann das denn sein? Wir steigen einfach die Treppen hinauf, bis wir oben ankommen, dann drehen wir um und gehen denselben Weg wieder zurück. Dieser Schlafsaal ist so laut, dass wir ihn bestimmt schon von Weitem hören.“

Sofia ließ sich von Kirsten durch das Labyrinth der Gänge führen, bis sie sicher war, dass sie niemals mehr herausfinden würden. Aber irgendwann fühlte sie kühle, salzige Luft die Treppe hinunterwehen und sah den blauen Himmel und den Sonnenschein über sich. Die Passagiere drängten sich an Deck, vor allem entlang der Reling, aber wenigstens konnte Sofia frische Luft atmen und die weißen Schäfchenwolken über ihrem Kopf sehen.

dein

„Ich möchte mich sicher fühlen.“ Elin antwortete so schnell, als hätte sie es vorher einstudiert.

„Dich sicher fühlen?“, wiederholte Kirsten. „Wir sind doch im Moment sicher, oder nicht? Wovor hast du solche Angst?“

„Ich habe keine Angst. So meinte ich das nicht. Ich hätte diese Reise nicht angetreten, wenn ich Angst hätte, oder? Nur ... wir müssen vorsichtig sein, weil wir allein unterwegs sind und unseren gesunden Menschenverstand benutzen, wenn es um Fremde geht.“

Kirsten wandte sich Sofia zu und verdrehte die Augen.

Sie schwiegen eine Weile und blickten in den funkelnden Himmel hinauf. Das Meer darunter schien unermesslich groß und dunkel und endlos. Je länger Sofia es betrachtete, desto mehr fühlte sie sich wie ein winziges Staubkörnchen, verloren und allein in einem unergründlichen Universum. Sie schloss die Augen und wünschte, sie könnte wieder ins Schiff hineingehen.

„Erinnert ihr euch an den Psalm, den Mama uns immer vorgelesen hat?“, fragte Kirsten. „Etwas darüber, dass wir nachts den Himmel ansehen und uns fragen, wie Gott ist und warum er uns geschaffen hat?“

„Ich glaube schon“, sagte Elin. „Wir sollten die Stelle später in Mamas Bibel suchen.“

Sofia erinnerte sich auch. Sie hätte die Stelle gerne gefunden, aber sie hatte Angst, die Bibel noch einmal aufzuschlagen.

Der endlose Himmel und der abgrundtiefe Ozean gaben ihr das Gefühl, unbedeutend zu sein. Es schien ihr so, als ob Gott und alle anderen sie im Stich gelassen hätten – nur ihre Schwestern standen ihr zur Seite. Sofia fasste Elins Hand ein wenig fester und wagte nicht sich auszumalen, was geschehen würde, wenn auch Elin sie im Stich ließe.

„Sag etwas, Sofia“, drängte Elin. „Erzähl uns, was du denkst.“

„Es ist kalt hier draußen“, erwiderte sie. „Ich möchte wieder hineingehen.“