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Anne Borel

Ruf mich an,

wenn du tot bist!

 

Roman

 

Aus dem Französischen

von Steffen Radlmaier

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2011)

 

© 2011 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Ulrike Jochum

Umschlag: Kathrin Steigerwald unter Verwendung

einer Fotografie von Riazorenho/Getty Images

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-333-1

 

Für meine Eltern

 

1

Anouk schaltete ihren Computer aus. »Schönen Abend, bis morgen.« Ihr Kollege sparte sich eine Antwort. Blödmann!, dachte sie. Warum verabschiede ich mich überhaupt noch von dem? Jeden Abend treibt er dasselbe Spielchen mit mir. Wahrscheinlich aus Prinzip …

Sie musste daran denken, wie er vor zwei Jahren hier angefangen hatte. Er war neu und suchte ihre Hilfe. Jetzt, da er eingearbeitet war, konnte ihm Anouk nichts mehr nützen. Im Gegenteil, sie störte, denn sie galt als kompetent und man arbeitete gerne mit ihr zusammen. Trotz seiner gespielten Herzlichkeit und seines aufgesetzten Lächelns hatte Anouk die wachsende Rivalität gespürt und war misstrauisch geworden.

Beim Hinausgehen sagte sie dem Mann vom Sicherheitsdienst Auf Wiedersehen, während sie der Drehtür mit der Hüfte einen Schubs gab.

19.30 Uhr. Sie würde schon wieder zu spät zum Abendessen mit ihrem Vater kommen. Seitdem sie eine eigene Wohnung hatte, trafen sie sich jeden zweiten Mittwoch zum Essen. Nur selten kam es vor, dass sie die Vereinbarung platzen ließen. Sie verabredeten sich nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie Lust dazu hatten. Das unsichtbare Band, das sie zusammenhielt, war nach dem Tod ihrer Mutter noch fester geworden. Sie war damals erst acht Jahre alt gewesen.

Sobald sie im Auto saß, nahm sie ihr Handy und drückte auf die Telefonbuch-Taste.

»Ja? Hallo?«

»Ich bin’s, Papa. Ich bin in 20 Minuten in Granville.«

»In einer guten halben Stunde also? Kommst du gerade aus dem Büro?«

»Ja, in diesem Augenblick.«

»Du arbeitest zu viel, Anouk.«

»Ich weiß.«

»Also gut, ich will nicht wieder damit anfangen. Treffen wir uns direkt im Restaurant?«

»Ja, bis gleich.« Sie gab Gas.

An der Stadtgrenze von Granville blickte sie in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass die Polizei nicht hinter ihr herfuhr. Dann wählte sie erneut eine Handynummer. Dabei ärgerte sie sich, dass sie immer noch keine Freisprechanlage hatte. Morgen würde sie eine kaufen! Unbedingt!

»Claire? Ich bin’s … Na ja, es geht so, nur der eine Kollege nervt mich, wie immer. Aber was soll’s! Und bei dir? Gut, aber ich muss jetzt Schluss machen. Sehen wir uns morgen Abend? Ja, das müsste klappen.«

Anouk hielt das Telefon noch in der Hand, als sie vor sich in einiger Entfernung ein paar Polizeiautos stehen sah. Die vom Regen verzerrten Blaulichter versetzten sie in Alarmbereitschaft. Reflexartig hatte sie das Telefongespräch beendet, man wusste bei denen ja nie. Diese Typen warteten nur darauf, jemandem einen Strafzettel zu verpassen. Sie fuhr langsamer. Da sie gar nicht damit rechnete, einen Parkplatz zu finden, rollte sie gleich in ein unterirdisches Parkdeck in der Nähe des Restaurants. Bevor sie ausstieg, fuhr sie mit den Händen durch ihr blondes Haar, um es in Form zu bringen, korrigierte mit den Fingerspitzen den Lippenstift und brachte den Kragen ihrer weißen Bluse in Ordnung. Papa wird sich freuen. Er mag diese Bluse, dachte sie. Es war so einfach, ihm eine Freude zu machen. Sie brauchte sich nur gut anzuziehen, und schon hellte sich bei ihrem Anblick seine Miene auf. Das funktionierte jedes Mal. Sie kam, und – schwups! – schon lächelte er wie ein kleiner Junge. Er wollte immer, dass sie schön aussah. Sie war ein paar Mal in Jeans oder nachlässig gekleidet aufgetaucht. Dabei hatte sie nicht nur die Enttäuschung in seinem Blick gespürt, sondern war auf einmal selbst ein bisschen enttäuscht gewesen. Seitdem achtete sie immer auf ihr Äußeres.

Er zeigte sich gerne mit seiner Tochter. Oh ja, das mochte er. Am liebsten wäre er mit einem auf sie gerichteten Scheinwerfer herumgelaufen, damit keiner den entzückenden Anblick verpasste. Es kam sogar vor, dass man sie beide für ein Liebespaar hielt. Wenn sie Arm in Arm ein Restaurant betraten, wandten sich die Blicke zuerst ihr und dann ihm zu. Weil er in seiner Naivität immer davon ausging, dass jeder sie als Vater und Tochter wahrnahm, hielt er diese Blicke für einen Ausdruck der Bewunderung. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, sie als Missfallen über ihren Altersunterschied zu interpretieren. Dabei war es offensichtlich, dass einige dachten: Er könnte ja ihr Vater sein! Immer schon war er stolz auf seine Tochter gewesen, und das sah man auch.

Man hörte draußen den Regen prasseln. Sie nahm ihren Regenschirm und lief zum Ausgang. Die Polizei war immer noch da, und ein paar Gaffer standen um ein Auto herum. Anouk begriff, dass da gerade ein Unfall passiert war, und obwohl sie Mitleid mit dem armen Opfer verspürte, war ihre Neugier stärker. Sie wechselte den Gehsteig. Auch sie wollte sehen, was los war, aber nur so, ganz schnell im Vorbeigehen. Irgendwie legte sie großen Wert darauf, nicht wie all diese sensationslüsternen Leute zu sein. Deshalb versuchte sie, sich selbst einzureden, dass ein flüchtiger Blick auf das Unglück anderer weniger niederträchtig sei, als stehen zu bleiben und schamlos zu glotzen. Als ob irgendwo geschrieben stünde, dass man von Taktlosigkeit nur ab einer gewissen Zeitdauer reden könne.

Vor einem Krankenwagen liefen Sanitäter und Ärzte in weißen Jacken hektisch umher. Beim Überqueren der Straße reckte sie ihren Hals, um besser sehen zu können. Und dann sah sie einen Mann. Er lag da im Regen auf dem Boden. Im selben Augenblick stockte ihr der Atem, ihr Herz krampfte sich zusammen und begann, im Takt ihrer Schritte zu klopfen, erst langsam und dann immer schneller. Der Mantel, das weiße Haar, der Schal. Er war rot. Rot wie seiner. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis loszuschreien.

»Papa! Lassen Sie mich durch! Papa!«

Sie bemerkte, dass er sie nicht hörte. Seine Augen waren geschlossen, und man hatte ihm eine Atemmaske aufgesetzt. Ein Rinnsal aus Blut tropfte aus seinem rechten Ohr.

»Gehen Sie weiter, Madame.«

»Er ist mein Vater.«

»Wir bringen ihn zur Notaufnahme. Es muss schnell gehen. Wenn Sie wollen, können Sie vorne im Rettungswagen mitfahren.«

Geschockt, wie sie war, brachte sie kein Wort heraus. Ein Sanitäter nahm sie beim Arm und bat sie, in den Rettungswagen zu steigen. Hinten im Wagen bemühten sich die Ärzte um ihren Vater. Alles war voller Blut. Vor Entsetzen wurde sie ganz bleich. Sie hielt den Atem an, um sich nicht völlig in ihre Einzelteile aufzulösen. Beim Gedanken an den Tod wurde ihr übel. Sie öffnete das Fenster und hielt ihr Gesicht in den Regen. Die feuchte Luft kühlte ihre Wangen, sie schloss die Augen und atmete den Fahrtwind tief ein, als könnte er sie von ihrer Angst befreien. Sie hoffte, er würde gleich ihren Schmerz wegwehen. Und was wäre, wenn das Schlimmste wirklich passierte? Sie wusste seit ihrem achten Lebensjahr, dass das Leben unberechenbar ist. Und schlimmer noch: dass das Unvorhersehbare oft nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Doch diesmal würde alles gut gehen. Ja, alles würde gut gehen. Diese Männer, die Engel des Straßenverkehrs, kümmerten sich um ihn. Sie waren zu dritt, sie halfen sich gegenseitig und passten auf, damit auch nicht der geringste Fehler gemacht wurde. Ihre Handgriffe waren schnell und präzise, es waren die Handgriffe von Experten, die das schon Hunderte Male getan hatten. Außerdem schienen sie nicht übermäßig beunruhigt zu sein. Sie hatten nichts gesagt. Keine Aufregung, nur Eile. Es handelte sich um einen Notfall, aber der Notfall war nichts Besonderes. Selbst wenn es nicht lebensgefährlich war, blieb Eile geboten. Es war ja auch kein Zufall, dass man sie Notärzte nannte. Eile gehörte zu ihrem Beruf. Sie machten schnell aus Prinzip, aus Vorsicht, ganz klar. Ja, alles würde gut gehen. Tatsächlich war sie die Einzige, die sich aufregte. Kein Wunder, sie hatte keinen blassen Schimmer von Medizin. Wenn der eigene Vater betroffen ist, regt sich jeder auf. Aber objektiv betrachtet, wie diese vielbeschäftigten Ärzte sagen würden, objektiv betrachtet, handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Unfall ohne schwerwiegende Komplikationen. Alles würde gut werden!

Aber warum hatte sie dann solche Angst? Sie konnte sich einreden, was sie wollte, sie zitterte an allen Gliedern. Und wenn er jetzt auf der Stelle sterben würde? Ihr Herz raste. Sie spürte es in der Brust und in den Adern. Das war schon das zweite Mal innerhalb der letzten drei Monate. Jetzt fühlte sie ihren Pulsschlag sogar in den Ohren. Gleich würde ihr Trommelfell platzen. Dieser plötzliche Aufruhr in ihrem Körper erschreckte sie. Seit Jahren hatte sie ihr Herz nicht mehr wahrgenommen. Das letzte Zucken hatte sie beim Tod ihrer Mutter bemerkt. Ein heftiges Stechen in der Seite – und seitdem nichts mehr. Sie wusste nicht, ob es verstummt oder ob sie einfach taub geworden war. Seitdem besaß sie eine schallgedämpfte Brust, wie mit Styropor verkleidet, undurchlässig für jede Art von Gefühlen.

Nur beim Arzt konnte sie sich vergewissern, dass sie ein solches Organ hatte und dass es vollkommen gesund war. Ihr Puls war für gewöhnlich normal. Jetzt aber hörte sie ihn in ihrem Kopf hämmern. Sie schloss das Fenster, trocknete sich langsam das Gesicht ab und vergrub es in ihren Händen. Ihr Vater hinten im Wagen – das war kein böser Traum.

Sie hatte sich an dieses Taubheitsgefühl gewöhnt, bis sich eines Tages etwas unerwartet in ihrer Brust regte. Das war vor drei Monaten. Anfangs glaubte sie an einen Magenkrampf, der eine plötzliche Übelkeit ankündigte, aber es war ihr Herz, das wie ein Frosch zu hüpfen anfing. Ihr Blick hatte den eines Mannes gekreuzt. Das war auf der Jahresabschlussfeier im Betrieb ihres Vaters gewesen. »Sind Sie Arzt?«, hatte sie ihn aus Neugier gefragt. »Nein, warum …?« Sie hatte natürlich wirken wollen und hätte am liebsten ganz spontan geantwortet: »Weil ich nur beim Doktor mein Herz schlagen fühle …« Aber sie hatte sich nicht getraut. Wie bei einem Verhör schaute er ihr direkt in die Augen. Da keine Antwort kam, lächelte er sie an. Da hüpfte der Frosch zum zweiten Mal. »Nur so«, sagte sie. Verwirrt hatte sie sich umgedreht und war zum Tisch gelaufen, an dem ihr Vater mit seinen Angestellten beim Essen saß.

Sie wollte sich jetzt nicht umdrehen und die Bemühungen der Ärzte sehen. »Ich bin hier bei dir, Papa. Halte durch, halte durch«, sagte sie, die Augen voller Tränen. Ein stummer und undefinierbarer Schmerz erfüllte ihren Körper. Der Mann am Steuer sprach kein Wort. Er war konzentriert und fuhr schnell. Die Sirene lärmte wie verrückt, doch Anouk glitt in einen Dämmerzustand und hörte sie nicht mehr. Sie hallte nur noch von ferne, wie in einem Albtraum.

 

2

»Sie sollten nach Hause fahren und sich ein bisschen ausruhen. Sie haben die ganze Nacht kein Auge zugemacht.« Der Arzt ging so auf die 50 zu. Seine Stimme klang beruhigend, aber Anouk hatte begriffen, dass der Zustand ihres Vaters besorgniserregend war. Tief im Inneren hatte sie das von Anfang an gewusst. Der Wagen hatte ihn mit voller Wucht erwischt. Autoblech gegen Menschenkörper … Die Vorstellung von dem gewaltigen Zusammenprall war nicht auszuhalten. Und nicht auszuhalten waren auch die Gedanken an seine Verletzungen. Er lag jetzt im Koma. Die Ärzte erklärten ihr, dass sie zuerst eine Gehirnerschütterung vermutet hätten, aber ein Schädel-Scan hatte tiefe Blessuren sichtbar gemacht. Im Klartext und mit ihren eigenen Worten: Sein Kopf war innen drin völlig zersprungen, und er schwebte jetzt nah am Abgrund.

Erschöpft verließ sie das Krankenhaus mit einem unangenehmen, steifen Gefühl im Körper, so angespannt waren ihre Nerven. Klaviersaiten waren nichts dagegen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und zwang sich, im Büro anzurufen. Sie musste erklären, warum sie heute nicht zur Arbeit kommen konnte. Ihr alter neuer Kollege war am Telefon. Sie erzählte ihm widerstrebend von dem Unfall und vom Gesundheitszustand ihres Vaters. Er gab sich redlich Mühe und spielte den Mitfühlenden. Wahrscheinlich freute er sich insgeheim über die exklusive Neuigkeit, die er dem Rest der Abteilung mit dem ernsten Blick desjenigen erzählen würde, der wichtige Dinge zu verkünden hat.

»Ich weiß noch nicht, wann ich wieder anrufe, aber sag Daniel, dass ich frühestens in zehn Tagen wieder arbeiten werde.«

Mit zusammengeschnürter Kehle hörte sie danach ihre Mailbox ab. Claire hatte sich gemeldet und Catherine auch. Sie musste weinen, als sie die Stimmen ihrer Freundinnen hörte. Anouk wählte eine Nummer.

»Claire, ich möchte nicht allein sein … Kann ich heute Nacht bei dir übernachten? … Ich komme am späten Nachmittag vorbei. Jetzt gehe ich erst einmal nach Hause. Ich versuche, etwas zu schlafen, und fahre dann wieder ins Krankenhaus … Ja, es ist ernst.«

 

Sobald sie in ihrer Wohnung war, legte sie sich auf die Couch. Sie nickte ein und schlief drei Stunden.

 

3

Noch nie war das vorgekommen. Selbst wenn sie krank war, konnte ihr Magen etwas vertragen. Aber an diesem Abend rührte Anouk das Essen auf ihrem Teller nicht an; sie begnügte sich mit einer Tasse Kakao, die sie schweigend austrank. Claire, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Anouk von ihrem Vater abzulenken, redete ganz allein. Sie gab sich alle Mühe, um ihre Freundin aufzumuntern und die vergangenen 24 Stunden vergessen zu lassen. Sie erzählte pausenlos. Irgendetwas. Egal was. Sobald sie merkte, dass Anouk nicht mehr zuhörte, wechselte sie das Thema. Ihr fielen sogar alte Anekdoten aus dem Büro ein, weil die neuen nicht mehr ausreichten. Dabei übertrieb sie ein bisschen. Teilweise sogar sehr. Aber was soll’s! Die Geschichten sollten nicht auf Teufel
komm raus authentisch sein, sondern nur spannend klingen. Es war jedoch vergebliche Liebesmüh. Anouks tränengeschwollene und müde Augen verrieten, dass sie den tragischen Anblick ihres Vaters nicht loswurde. Auf einmal war es still, und in diesem Moment bemerkte Anouk die Verwirrung ihrer Freundin, die nun auch nicht mehr weiterwusste.

»Zerbrich dir nicht den Kopf, Claire. Bei meinem Zustand ist es schon mutig von dir, mich überhaupt einzuladen. Mach mir den Fernseher an. Schalte irgendwas ein, alles ist mir heute Abend recht.«

Claire gab auf und sah Anouk etwas resigniert an, ein Gefühl der Zärtlichkeit erfüllte sie. Trotz ihres Kummers hatte diese die richtigen Worte gefunden, damit sie sich wegen ihres ungeschickten Tröstungsversuches nicht lächerlich vorkam. Sie standen beide auf und machten es sich auf dem Sofa bequem.

»Ich habe gesehen, dass auf Arte ein ganz guter Film läuft, aber das ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll für heute Abend. Im Zweiten kommt Green Card, der ist leichter verdaulich …«

»Ach ja. Ich kenne den Film zwar schon, aber es wird mir guttun, zu sehen, wie Depardieu in New York versucht, Andie MacDowell aufzureißen.« Anouk gelang sogar ein Lächeln.

Claire schaltete den Fernseher ein und nahm Anouks rechte Hand in ihre. Sie streichelte sie zärtlich und gab ihr einen Kuss, wie es sonst nur Mütter tun. Der Film mit dem Happy End hatte kaum begonnen, als Anouk anfing zu reden.

»Wenn er stirbt, bin ich verloren. Ohne ihn verliere ich den Boden unter den Füßen. Ich klappe zusammen.«

»Er wird nicht sterben. Er kann nicht sterben. Er ist viel zu zäh. Außerdem sind wir auch noch da. Morgen begleite ich dich ins Krankenhaus. Deinem Vater wird’s besser gehen, du wirst schon sehen.«

Claire bemühte sich sehr, ihre aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Bloß nicht schwach werden … Um die Fassung nicht zu verlieren, küsste sie Anouks Hand noch einmal. Währenddessen musste sich Depardieu von Andie MacDowell anmaulen lassen, weil er wie ein Schwein fraß; aber jeder hatte längst kapiert, dass sich die Amerikanerin früher oder später in den französischen Nationalhelden verknallen würde. Alles in diesem Film drehte sich um Sticheleien, und die beiden keiften sich nach allen Regeln der Kunst an, so ausgiebig und gekonnt, dass Anouk für einen Augenblick sogar das Krankenhaus vergaß. Wie schon viele Zuschauer vor ihr fragte sie sich, ob sich eine Frau wie Andie MacDowell im wirklichen Leben in Depardieu verlieben könnte.

»Na klar«, bemerkte Claire. »Depardieu war doch mal mit Carole Bouquet zusammen. Sie ist vom gleichen Kaliber wie MacDowell, oder?«

Sie lächelten sich an und versanken dann wieder in Schweigen. Anouk war in Gedanken erneut bei ihrem Vater.

 

4

»Ich kann nur eine Stunde bleiben. Um zehn Uhr muss ich im Büro sein«, sagte Claire, als sie im Auto saßen.

Es war früh am Morgen. Anouk und Claire fuhren zum Krankenhaus.

»Ich weiß, dass du eigentlich überhaupt keine Zeit hast. Es ist nett, dass du mich begleitest.«

Anouk hatte den Kopf abgewandt und tat so, als schaute sie interessiert auf die Straße, die sie in- und auswendig kannte. Sie wollte nicht, dass Claire ihre Tränen sah und ihretwegen einen Termin absagte. Außerdem wäre sie gerne etwas stärker gewesen. Ihr Vater war ja noch nicht tot! Mensch, hör auf, so zu flennen! Bitte, hör auf!, sagte sie zu sich.

»Hast du im Büro Bescheid gesagt?«

»Ja, gestern, der alte neue Kollege war am Telefon. Es war mir unangenehm, mit ihm über meinen Vater zu sprechen.«

Der Kollege … Mister Blödmann … Der kam ausnahmsweise genau richtig. Dieses Mal würde er sich zumindest nützlich machen: Er würde Anouk auf andere Gedanken bringen. Garantiert! Ich hätte gleich von ihm sprechen sollen, dachte Claire. Sie wollte gerade schamlos über den bekannten Unbekannten herziehen, als Anouk weiterredete.

»Er flirtet mit dem Chef wie eine Frau. Ein echtes Callgirl! Und dabei drücke ich mich noch höflich aus. Er lacht sich jedes Mal über dessen Witze halb tot!«

»Meinst du, dein Kollege schmeckt nach Schuhcreme, wenn er abends seine Frau küsst?«, fragte Claire.

»Keine Ahnung. Warum?«

»Na ja, wenn er dem Chef so eifrig die Stiefel leckt, wird er wohl nach alten Latschen schmecken! Und dabei drücke ich mich noch höflich aus!«

Anouk musste plötzlich lachen. Gewonnen! Erfreut, das Gelächter ihrer Freundin zu hören, lächelte Claire vor sich hin. Anouk hatte seit fast zwei Tagen nicht mehr gelacht. Sie behauptete immer, ein Tag ohne Lächeln sei ein verlorener Tag. Das mochte Claire so an ihr: Anouk hatte die Gabe, noch der plattesten Plattitüde Tiefsinn zu verleihen; aus dem Mund eines anderen hätte diese Erkenntnis wie billige Alltagsphilosophie geklungen, aber Anouk schaffte es stets, einen zum Nachdenken zu bringen. Draußen schien die Sonne. In der Ferne tauchte der Park des Krankenhauses mit seinen großen Bäumen auf. Sie neigten sich leicht nach links, wahrscheinlich wegen der Windböen, die sich an stürmischen Tagen in den Ästen verfingen.

 

»Ich habe versucht, Sie zu erreichen«, sagte der diensthabende Arzt mit ernster Miene. Anouk sagte nichts. Sie bekam weiche Knie. Claire fasste sie am Arm.

»Ihr Vater … ist soeben gestorben. Um fünf Uhr morgens hatte er eine Gehirnblutung. Wir haben alles Menschenmögliche versucht, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun. Seit einer halben Stunde ist er tot. Es tut mir leid.«

Anouk spürte einen überwältigenden Schmerz. Ihr Herz war am Durchdrehen. Dieses unbekannte Gefühl, das sich seit Kurzem bei jeder starken Empfindung meldete. Der Frosch steckte in einem Einmachglas und hüpfte mit aller Wucht gegen die Glaswand. Das arme Ding bekam keine Luft. Anouk schwankte. Sie setzte sich einfach auf den Fußboden und weinte los. Claire blieb bei ihr. Ihren Zehn-Uhr-Termin sagte sie ab.

 

5

Die Kirche war brechend voll. Sie wusste, dass ihr Vater beliebt gewesen war und von seinen Mitarbeitern geschätzt wurde, doch der Anblick der großen Trauergemeinde berührte sie. Sie alle hatten ihn also auch geliebt. Sie hatten ihn geliebt, aber nicht so sehr wie sie. Sie weinten nicht. Weil die Kirche überfüllt war, verfolgten viele Leute den Begräbnisgottesdienst auf dem Vorplatz im Regen. Auf Anouks Bitte hin hatte man den Sarg während der Zeremonie offen gelassen. Dabei musste sie an ihre Mutter denken. Bei ihrer Beerdigung war sie noch ein Kind gewesen und hatte sich besorgt gefragt, ob sie in dieser Kiste, die nicht einmal Luftlöcher hatte, wohl atmen könne.

Sie schaute ihn an, sein Gesicht, das sie so oft gesehen und berührt hatte. Sobald er in ihrem Blickfeld war, fühlte sie sich geborgen. Er schien zu schlafen. Sie bekam fast Lust, ihn zu wecken, damit er all die Leute, die nur seinetwegen gekommen waren, sehen könne. Und du bist nicht da … du bist nicht hier bei mir. Du bist tot, Papa. Dein Körper hat den Geist aufgegeben. Sie sind hier, weil du tot bist. Und wieder erschauerte sie unter einer Welle unsagbaren Kummers. Sie hörte die salbungsvolle Stimme des Priesters, schenkte seiner Trauerrede aber keine Beachtung. Wozu auch? Es war zu spät, ihr Vater war tot, er konnte nichts mehr hören.

Der Reihe nach gingen die Verwandten am Sarg vorbei. Vor dem Leichnam stehend, nahmen sie all ihre Kräfte zusammen, um ihre Verbundenheit mit dem Verblichenen auszudrücken. Vielleicht nutzte es ja doch etwas.

Am Ende der Zeremonie, als alle zum Ausgang drängten, forderte der Priester Anouk mit einem Zeichen auf, näherzukommen.

»Gleich schließen wir den Sarg. Wollen Sie sich einige Augenblicke bei Ihrem Vater sammeln?«

Anouk nickte und ging auf den Sarg zu. Sie betrachtete ihren Vater und küsste ihn. Sie versuchte gar nicht erst, die Tränen zu stoppen, die ihr in Strömen über die Wangen liefen. Dann suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Dabei fiel ihr Blick auf das Handy ihres Vaters, das man ihr im Krankenhaus gegeben hatte. Sie starrte es einige Sekunden lang an, wobei sie ihre Wangen mit dem Handrücken abwischte. Reflexartig schaltete sie das Gerät an. Ein Pieps signalisierte, dass das Handy funktionierte. Der Akku war aufgeladen. Sie sah zum Priester, der sie anschaute, und blickte dann erneut zu ihrem Vater. Vorsichtig legte sie das Handy neben seine linke Hand in den Sarg. Er war Linkshänder gewesen.

»Ruf mich an, Papa. Ruf mich an, wenn’s was gibt.«

Sie küsste ihn ein letztes Mal, strich über sein Haar und zog sich dann zurück. Sie blickte dem Pfarrer direkt in die Augen. Der Gottesdiener blinzelte ihr beruhigend zu und gab den Helfern im schwarzen Anzug ein Zeichen, dass sie den Sarg jetzt schließen konnten. Die Prozession bewegte sich zum Friedhof, wo Anouks Mutter ruhte.

 

6

Der Schmerz hatte sie todmüde gemacht. Anouk schlief zehn Stunden an einem Stück. Nach der Beerdigung hatten sich Freunde und Familie in einem Lokal neben der Kirche getroffen. Sie hatten schon so manchen nahestehenden Menschen beerdigen müssen und kannten das Ritual auswendig. Jemand stellte Kaffee und Kuchen auf die Tische. Anouk hatte nichts organisiert, nicht einmal Todesanzeigen verschickt oder in der Lokalzeitung aufgegeben. Jean Martinée, ein enger Freund ihres Vaters, hatte sich um alles gekümmert. Sie war untröstlich. Sie hatte einigermaßen die Fassung vor denjenigen bewahrt, die ihr Beileid ausdrücken wollten, war dabei aber immer tiefer in ihrem Kummer versunken. Claire sah, dass Anouk am Ende war, und hatte sie vorsorglich zu sich nach Hause mitgenommen.

Eigentlich hätte sie nicht aufstehen müssen, aber sie tat es trotzdem. Das Erwachen würde niemals mehr so sein wie vorher. Jetzt begann ein dritter Abschnitt in ihrem Leben – ohne Vater und Mutter. Ein vierter schien undenkbar. Als Nächstes wäre sie selbst mit Sterben an der Reihe. Ihr einziger Trost war, dass sie sich schon auf dem Gipfel ihres Unglücks wähnte, schlimmer konnte es nicht kommen. In der Wohnung war es still, mit leerem Herzen landete sie wie von selbst in der Küche. Auf dem Tisch hatte Claire einen kleinen Zettel hinterlassen, gut sichtbar in einer Tasse. Sie würde nicht spät nach Hause kommen und im Laufe des Tages anrufen. Sie hatte daran gedacht, Brot zu kaufen; dieses Detail berührte Anouk: Die Arme hat sich beeilen müssen. Sie ist wie ich morgens immer zu spät dran. Es gab keine Instruktionen, Claire wusste, dass sich Anouk in der Küche bestens auskannte.

Nach dem Frühstück schlüpfte sie wieder ins Bett und döste erneut ein. Gegen 15 Uhr wachte sie auf, bereitete sich eine heiße Schokolade zu, trank sie, starrte dabei ins Leere und machte es sich anschließend auf dem Sofa bequem. Ganz mechanisch schaltete sie den Fernseher ein, obwohl sie schon im Vorhinein wusste, dass nichts sie interessieren würde. Aber irgendwie musste sie die Zeit totschlagen und sich ablenken, den Todesgedanken und Tränen zum Trotz. Wollte sie sterben oder nur weinen? Sie war sich gar nicht mehr sicher, ob es da einen Unterschied gab. Was bleibt einem übrig, wenn das bisschen Kraft gerade ausreicht, um entweder zu weinen oder zu sterben? Oder um Liebe zu machen. Ja, Liebemachen, das wäre eine Alternative zum Tod. Aber es war einfacher, den Fernseher einzuschalten, dazu musste man nur auf einen Knopf drücken.

Alle paar Sekunden schaltete sie um, und schließlich weckte eine Sendung über den Planeten Erde ihre Aufmerksamkeit. Man zeigte die größten Bäume auf der Welt. Sie wuchsen in Nordamerika, in Kalifornien, und wurden über 100 Meter hoch, das entsprach einem Hochhaus mit 30 Etagen. Anouk konnte sich nicht mehr davon losreißen und stellte sich vor, wie es wäre, am Fuße solch eines majestätischen Baumriesen zu sitzen. Auf einmal wurde ihr etwas klar: Die Natur war wie ein Tempel mit unsterblichen Bäumen als Säulen. Ihre ganze Kraft schöpften sie aus der Stille. Sie bedauerte, dass sie sich nicht vor ihnen verneigen konnte, vor der atemberaubenden Größe dieser Zeugen aus grauer Vorzeit. Verglichen damit waren die Menschen nichts, die Bäume überlebten sie bei Weitem. Ihre Träumerei dauerte nicht lange an, diese Riesenalleen führten sie allzu schnell zu ihrem Vater. Er war auch nur ein Mensch und hatte jene stillen, 1 000 Jahre alten Bäume nicht überlebt. Sie machte den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer zurück und versuchte, etwas zu schlafen.

 

7

»Was hast du gemacht?«, fragte Claire.

»Ich habe das Handy meines Vaters eingeschaltet und in den Sarg gelegt.«

Claire und Catherine starrten Anouk ungläubig an.

Dann schmunzelte Catherine: »Auf diese Idee muss man erst mal kommen! Hast du etwa auch angerufen?«

»Nein, aber ich denke die ganze Zeit daran. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Es klingt vielleicht komisch, aber als ich sein Handy gesehen habe, dachte ich ein paar Sekunden lang, dass ich ihn vielleicht retten könnte. Als ob er gar nicht tot wäre. Und wenn er dann aufwachen würde, könnte er mich anrufen. Seitdem habe ich mir alle möglichen Szenen ausgemalt. Eine morbider als die andere. Das Handy beruhigt mich nicht, wie ich gedacht habe. Es macht mir Angst. Trotzdem hätte ich große Lust, ihn anzurufen. Ich sehe meinen Vater noch lebend vor mir, halb bei Bewusstsein, aber unfähig etwas zu sehen oder das Handy neben seiner linken Hand zu berühren. Wenn ich anrufen würde, wüsste er zumindest, dass da ein Handy ist, und vielleicht könnte er antworten. Andererseits habe ich total Angst davor, seine Stimme zu hören. Es ist so absurd und makaber. Mein Vater ist tot, und ich habe Angst, dass er mir am Telefon antwortet! Als meine Mutter starb, war es genauso. Ich konnte mich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass sie nicht mehr lebte, und hatte Angst, sie könnte ein zweites Mal sterben, weil ihr Sarg kein Luftloch hatte. Nachts im Bett habe ich mir ein ausgetüfteltes System ausgedacht, um sie zu retten. Ich wollte ein Rohr auf ihrem Grab installieren, damit sie Luft bekam. Natürlich habe ich meinen Plan nie in die Tat umgesetzt, aber die Geschichte hat mich lange beschäftigt. Heute noch denke ich jedes Mal daran, wenn ich in einem Baumarkt Rohre sehe. Unbewusst habe ich mir vielleicht gesagt: Diesmal werde ich nicht die Gelegenheit verpassen, meinen Vater zu retten.«

»Wie lange hält denn der Handyakku?«, wollte Claire wissen.