Über Ulrike Renk

Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld.

Bei Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Die Frau des Seidenwebers«, »Die Heilerin«, »Die Seidenmagd« sowie der Bestseller »Die Australierin« lieferbar. »Die australischen Schwestern« erscheint im Sommer 2015.

Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Informationen zum Buch

Die Wege der Liebe

Australien, 1891. Das Leben von Carola, Mina und Elsa verändert sich schlagartig, als ihre Mutter kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes stirbt. Während Carola, die Älteste, ins ferne Deutschland geschickt wird, bleiben Mina und Elsa in Australien. So unterschiedlich sich die Lebenswege der drei jungen Frauen auch entwickeln, eines haben sie jedoch gemeinsam: Sie geben nicht auf, wenn es darum geht, für ihre Träume zu kämpfen.

Eine hochemotionale Saga um das Leben dreier außergewöhnlicher Schwestern – nach einer wahren Geschichte.

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Ulrike Renk

Die Australischen Schwestern

Roman

Inhaltsübersicht

Über Ulrike Renk

Informationen zum Buch

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Carola – 1891

Auf dem Weg nach Europa

Währenddessen in Sydney

Warten auf Harry

An Bord der Centennial

Auf hoher See

Am Äquator

Durch den Sueskanal

Mina – 1900

Sydney

In den Blue Mountains

Darri

Der Pfad der Ahnen

Die drei Schwestern

Wentworth Falls

Zurück in Glebe

Carola – 1901

Besuch in Krefeld

Andere Sitten

Das Festmahl

Rückkehr nach Hamburg

Besuch in Berlin

Die Lessings

Elsa – 1904

An Bord unterwegs nach Cairns

Auf dem Weg zu den Atherton Tablelands

Millers Sheep Station

Bei Lily

Elsa und Otto

Weihnachten

Der erste Feiertag

Ein Tag in Cairns

Silvester

Ein neues Jahr

Zurück nach Sydney

Wieder zu Hause

Mina – 1905/1906

Der Laienprediger

William Cleugh Black

Wege des Schicksals

Ein neuer Anfang

Erwartungen

Erfüllungen

Carola – 1909

Die Botin

Das große Glück

Enttäuschung und Hoffnung

Epilog

Nachwort

Danksagung

Impressum

Leseprobe aus: Ulrike Renk – Die Australierin

In Memoriam

Don Jessiman

Blue is the sky,

Still free of clouds

And carefree one passes the bustle of the world

And carefree one passes the bustle of the world

Still protect by your mother’s dear hand

Showing you the right way

Follow the directed path with confidence

Do not let anything divert you from it

And this will make you happy too:

When you peacefully go home one day

No repentance will distress you then

Carl Gotthold Lessing 1902 an seine Enkelinnen

Die Australischen Schwestern

Carola
1891

Auf dem Weg nach Europa

Carola hatte gedacht, dass der 26. September 1890 der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen wäre. Nun wusste sie, dass sie sich getäuscht hatte.

An dem Tag war ihre Mutter Minnie nach der Geburt des fünften Kindes gestorben. Ein halbes Jahr war das nun her. In der Zeit und auch in den Monaten zuvor, in der die stetig wachsende Familie von Liverpool nach Sydney gezogen war, hatte sich Carola immer zurück nach »Crefeld«, so hieß die Farm ihrer Eltern in Liverpool, New South Wales, gesehnt.

Crefeld, dort war sie geboren worden und hatte die ersten, unbeschwerten Lebensjahre verbracht. Das Haus auf der Farm war schlicht, aber geräumig gewesen. Ihre Mutter Minnie hatte die Zimmer liebevoll eingerichtet. Hinter dem Haus war der große Gemüsegarten, der die Familie ernährte und dessen Überschüsse sie auf dem Markt verkauften.

Carola hatte ihrer Mutter immer gern beim Säen und Jäten, beim Pflanzen und Ernten im Garten geholfen. Doch das war nun endgültig vorbei.

Und Crefeld war nun auch keine Zuflucht mehr, nicht der Ort, zu dem sie wollte.

Krefeld war eine Stadt in Deutschland, Tausende von Kilometern entfernt von Sydney. Ihr Vater Rudolph war dort geboren und aufgewachsen. Deshalb hatte er seine Farm in Australien so genannt, den Namen in den riesigen Findling, der an der Einfahrt zum Hof stand, gemeißelt.

In Krefeld, der Stadt in Deutschland, lebte Carolas Tante Mathilde, die das Mädchen noch nie gesehen hatte. Und nach Krefeld musste Carola nun ziehen.

Das achtjährige Mädchen stand an der Reling der Centennial, des Dampfers ihres Großvaters, und starrte in das graublaue Wasser des Indischen Ozeans. Vor drei Tagen hatten sie Sydney verlassen, waren in See gestochen zu der langen Reise nach Europa. Das war der schlimmste Tag in Carolas Leben.

»Nun mach nicht so ein Gesicht«, sagte Tante Lily, die unbemerkt von Carola an Deck gekommen war. Doch dann stellte sie sich neben das Mädchen und schaute traurig auf die Wellen.

Vorsichtig schob Carola ihre Hand in die der Tante.

»Sollen wir hineingehen?«, fragte Tante Lily. »Otto schläft noch, aber wer weiß, wie lange. Außerdem wird der Steward gleich den Tee servieren.« Sie lächelte Carola an und fasste die Hand des Mädchens fester.

Essen, dachte Carola und schluckte. Wie konnte Tante Lily immer nur ans Essen denken? Und nicht nur denken, sie verputzte bei jeder Mahlzeit mehr als eine Portion. Dennoch war Tante Lily schlank, auch wenn ihre Figur seit der Geburt ihres Sohnes vor knapp einem Jahr weiblicher und weicher geworden war. Auch schien sie mit dem ständigen Schaukeln des Schiffes keine Probleme zu haben. Sicher wie die Bordkatze ging Lily über das Deck, während Carola immer noch breitbeinig ein Bein neben das andere setzen musste, um nicht zu stolpern oder zu fallen.

Wieder hob sich der Bug aus den Wellen. Carola umklammerte die Hand ihrer Tante und die Reling. Gleich würde es emporgehen, würde sich das Schiff heben, um nur kurze Zeit später in das Wellental zu tauchen.

»Ach Kind.« Tante Lily lachte. »Es ist doch kaum Seegang. Schau doch, die See ist fast flach wie ein Spiegel. Wie soll das nur mit dir werden, wenn wir wirklich schwere See bekommen? Du musst etwas essen, dann geht es dir besser. Du hast seit Beginn der Fahrt kaum etwas zu dir genommen. Dir ist nur schlecht, weil du Hunger hast.« Dann zog sie Carola mit sich mit in den Salon. Der Steward brachte Tee und Sandwichs, frische Früchte und Limonade. Angewidert schaute Carola auf das Tablett. Hunger hatte sie nicht, eher ekelte sie sich vor dem Essen. Die anderen Passagiere kamen nach und nach. Nur wenige Passagiere hatte das Schiff, in dessen Bauch die Fracht, schwer wie nasse Wäsche auf der Leine, lag. Und dann kam auch Allunga, das Mädchen, das Lily für Otto mitgenommen hatte, in den Salon. Sie war ein Mischling – ihr Vater war Weißer, ihre Mutter eine Aborigine. Vor einigen Monaten hatte Großmutter das Mädchen aus der Mission geholt, damit sie sich um die kleinen Kinder kümmerte.

»Otto! Mein Otto!« Tante Lily nahm Allunga das Kind ab und nahm es auf den Schoß. »Hast du schön geschlafen?«, fragte sie leise.

»Otto war schon wach und vergnügt«, erzählte Allunga und grinste breit. Ihre weißen, ebenmäßigen Zähne leuchteten in dem dunklen Gesicht. »Ihm macht das Schifffahren gar nichts aus. Aber dir, nicht wahr, Herzchen?« Sie strich Carola über den Kopf.

»Stören dich das Schaukeln und Schlingern gar nicht?«, fragte Carola sie verwundert.

Allunga lachte. »Aber nein. Meine Mutter ist aus dem Stamm der Mallagongan, wir sind auf dem Wasser und auf dem Land zu Hause.«

»Lass den Unfug«, sagte Tante Lily streng. »Du bist aus keinem Stamm, du bist aus der Mission. Sieh lieber zu, dass Otto seinen Brei bekommt.«

Carola schaute Tante Lily verwundert an. Selten war sie streng zu dem Mädchen. Allunga seufzte, strich ihren Rock glatt und machte einen Knicks – etwas, was sie für gewöhnlich nicht tat.

»Natürlich Ma’am.« Dann drehte sie sich um und ging.

»Was sind Malla … mallagoes?«, wollte Carola wissen.

»Diese dummen Geschichten brauchen dich nicht zu interessieren. Ich hatte so gehofft, dass die beiden Mädchen nicht mit diesem Traumzeitunfug infiziert wären. Aber anscheinend haben wir uns da getäuscht. Ich muss Mama dringend schreiben, sie soll mit der Mission sprechen.« Tante Lily schüttelte verärgert den Kopf. Dann aber lächelte sie wieder, ein gezwungenes Lächeln. »Du wirst mit solchen Sachen nichts mehr zu tun haben. In Deutschland gibt es keine Traumzeiten und auch keine Schwarzen.«

»Gibt es dort keine Mädchen und keine Knechte, die helfen?«

»Nun sei nicht dumm, Carola. Natürlich gibt es die. Es gibt aber auch bei uns in Sydney Bedienstete weißer Hautfarbe. Unsere Köchin ist aus Deutschland, die Näherin auf der Evanstreet ist aus Irland, und die Knechte in der Molkerei sind aus Schottland, hast du das vergessen?« Wieder lachte Tante Lily. »Aber in Deutschland und bei deiner Tante Mathilda geht es ganz anders zu als bei uns zu Hause. Deine Tante und ihr Mann haben Geld, viel Geld. Du wirst es dort gut haben.«

Sie setzte Otto auf den Boden, und der kleine Kerl krabbelte fröhlich über den Teppich. Carola sah ihm zu, hockte sich schließlich zu ihm und spielte mit ihm. Hunger hatte sie nicht, ihr Magen war immer noch flau.

Otto war nur wenige Monate älter als ihr kleiner Bruder Billy, der nun im Haus der Großmutter in der Wiege lag. Warum konnte sie nicht dort sein? Dort, bei ihren Geschwistern und ihrer Großmutter? Warum musste sie auf diesem Schiff sein und nach Europa fahren? Sie wollte zurück. Tränen schossen ihr in die Augen, und verzweifelt versuchte Carola, sie wegzublinzeln.

Wenn ich an etwas anderes denke, dann wird es besser, dachte sie und kitzelte Otto am Bauch. Er gluckste und jauchzte, so wie es ihre kleine Schwester Elsa auch immer tat. Otto wusste noch nicht, dass er ohne Vater aufwachsen würde. Vielleicht würde er es auch gar nicht vermissen, schließlich hatte er seinen Vater gar nicht wirklich kennengelernt. Würden ihre Geschwister die Mutter vermissen, so wie es Carola tat? Würden sie sich an Mutters Lachen, ihre Fröhlichkeit, ihre Wärme und ihren Geruch erinnern? Doch die Geschwister waren viel jünger als sie. Carola beneidete sie, sie durften bei Großmutter in Sydney bleiben.

»Nun komm, mein kleiner Wombat«, sagte Allunga. »Ich habe leckeres Essen für dich.« Sie nahm Otto hoch und setzte sich mit ihm auf dem Schoss an den Tisch, band ihm eine Serviette um und begann ihn zu füttern.

»Willst du nichts essen, Tutt?«, fragte Tante Lily.

Tutt, so hatten ihre Mutter und auch die Großmutter Carola immer genannt. Die Tränen brannten in ihren Augen, sie schüttelte stumm den Kopf, stand auf und ging wieder an Deck. Einige der Passagiere flanierten dort, vertraten sich die Beine. Sie lächelten Carola zu, aber das Mädchen hatte kein Interesse an Konversation. Sie floh auf das Oberdeck und verkroch sich in eine Ecke. Dort erst weinte sie bittere, heiße Tränen.

»Tutt?« Der Großvater hockte sich neben Carola und sah sie erstaunt an. »Was machst du denn hier?« Er nahm das Taschentuch hervor und tupfte ihr vorsichtig die Tränen von den Wangen. Carola schloss die Augen. Sie sog den Geruch von Lavendel und der grünen Seife, mit der ihre Großmutter immer die Wäsche wusch, tief ein. Es duftete nach zu Hause.

Carola schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Sie wollte nicht, dass jemand sie so sah, noch nicht einmal der Großvater.

»Nun komm, Tutt«, sagte er und zog sie hoch. »Du kannst hier nicht sitzen bleiben. Wo ist denn Lily? Solltest du nicht bei ihr im Salon sein? Der Smutje hat extra für dich Omelette gemacht. Die isst du doch so gern.« Er plauderte weiter, mit seiner warmen, tiefen Stimme, und allmählich beruhigte Carola sich. Vor der Kajüte blieb Großvater stehen und schaute das Mädchen an.

»Nein«, sagte er. »So kannst du nicht in den Salon gehen. Was sollen denn alle denken. Meine Tutt ist doch kein Trauerkloß, oder? Geh in die Kabine und wasch dir das Gesicht.« Er stieß sie sanft in Richtung der Kabinen.

Langsam trottete Carola zu ihrer Kabine, die sie sich mit Otto und Allunga teilte. Nebenan, verbunden durch eine Tür, war Tante Lilys Kabine. Carola goss etwas Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel, tauchte den Waschlappen ein, ließ ihn dann aber in die Schüssel gleiten. Sie setzte sich auf ihr Bett und nahm ihre Puppe fest in den Arm. Großmutter hatte Frieda vor der Reise neu eingekleidet, genau wie Carola auch. Aber jetzt zog sie ihr die Kleider aus und holte die alten aus ihrem Koffer. Sorgfältig zog sie der Puppe die langen Unterhosen, die ihre Mutter mit Resten von Spitze verziert hatte, und das Kleid, das schon so oft geflickt worden war, an. Sie drückte ihre Nase in die Stofffalten und meinte den leichten Duft von Ringelblüten und Eukalyptus riechen zu können.

Leise öffnete sich die Tür, und Allunga schlich sich in die Kabine. Sie setzte sich neben Carola auf das Bett. Carola hob die Schultern und spannte die Muskeln an, sie wollte nicht in den Arm genommen und getröstet werden. Sie wollte weinen, und Trost gab es sowieso nicht. Doch Allunga machte keine Anstalten, sie zu berühren, auch sagte sie nichts.

Nach einer Weile hob Carola den Kopf, blinzelte die Tränen weg, zog die Nase hoch und schaute das Kindermädchen verstohlen an. Allunga hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah durch das Fenster nach draußen. Dort war außer dem weiten Himmel, über den Schäfchenwolken trieben, nichts zu sehen. Wieder zog Carola die Nase hoch, lauter diesmal. Immer noch reagierte Allunga nicht. Schließlich legte Carola Frieda vorsichtig auf das Bett, stand auf und ging zur Waschschüssel. Ihr Gesicht fühlte sich heiß und klebrig an, als wären ihre Tränen aus Sirup gewesen. Sie wusch sich das Gesicht, schaute in den Spiegel über der Schüssel. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht aufgequollen.

»Geht es dir besser?«, fragte Allunga nun endlich leise. »Hat es geholfen? Manchmal muss ich auch weinen. Dann ist das Wasser in mir zu viel und muss überfließen, wie ein Bachlauf nach dem Regen. Der Kummer wird mit nach draußen gespült.«

»Du musst weinen?« Carola verzog das Gesicht. »Aber du darfst doch wieder zurück. Für dich ist das nur eine Reise.«

»Jetzt doch nicht, Tutt. Jetzt muss ich nicht weinen.« Allunga lächelte, und ihre weißen Zähne blitzten zwischen den dunklen Lippen. »Ich darf nicht zurück in die Mission, Kind. Ich darf nicht zu meiner Familie.«

Darüber musste Carola nachdenken. »Aber du wohnst doch bei uns. Bei Großmutter. Da ist dein zu Hause.«

»Es ist nur ein Ort, Tutt. Ein Ort, wo man Sachen aufbewahrt und Dinge tut. Mein zu Hause ist woanders, und ich habe es noch nicht gefunden.«

»Ist dein zu Hause dort, wo dein Stamm wohnt?«, flüsterte Carola. Sie wusste, es war verboten über das wilde Leben der Aborigines zu sprechen. Etwas Geheimnisvolles lag über ihnen, etwas, was vielen Leuten Angst machte. Großmutter jedoch hatte nie Angst vor ihnen gehabt. Immer wieder nahm sie Mädchen auf, auch wenn diese nach einiger Zeit den Haushalt verließen. Manche, so wie Darri, kamen und gingen. Und doch gehörte Darri inzwischen zur Familie, fand Carola.

»Nein, meinen Stamm gibt es nicht mehr«, sagte Allunga leise. »Es gibt kaum noch Stämme. Aber unser zu Hause ist nicht aus Stein, auch nicht aus Holz oder Lehm. Es ist in uns drin.« Sie pochte auf ihre Brust. »Aber erst dann, wenn wir es finden. Dazu müssen wir Pfaden folgen.«

»Ich verstehe das nicht.« Carola runzelte die Stirn. »Wohin musst du gehen, um dein zu Hause zu finden?«

»Das weiß ich noch nicht, Tutt. Aber irgendwann werde ich es wissen.«

»Mein Zuhause ist in Sydney. In der Glebe. Da bin ich zu Hause.« In Carolas Magen ballte sich die Trauer zusammen. Schnell nahm sie Frieda, drückte die Puppe an sich. »Ich muss nirgendwohin gehen, um das zu wissen.«

»Ach Tutt. Vielleicht musst du doch diesen Weg gehen. Vielleicht musst du nach Deutschland, weil es wichtig für dich ist. Dein Stamm kommt von dort. Vielleicht rufen dich deine Ahnen zurück nach Deutschland, damit du eine wichtige Aufgabe übernimmst.«

»Meine Ahnen? Großvater ist oben auf der Brücke, und Großmutter ist in Sydney.«

»Tutt, die Ahnen sind viel älter. Sie haben vor langer, langer Zeit gelebt. Aber ihre Gedanken sind noch da. Sie leiten uns immer noch. Das glauben wir zumindest. Und jeder von uns muss seinen Weg gehen.«

»Ist das der Grund, warum Darri immer wieder weggeht?«, wollte Carola verwirrt wissen.

»Darri hat ihren eigenen Weg. Aber sie ist mit deiner Familie verbunden, und deshalb kommt sie immer wieder zurück zu euch.«

»Wirst du auch irgendwann weggehen?«

Doch darauf antwortete Allunga nicht.

»Wird dich Darri irgendwann mitnehmen?«, fragte Carola noch einmal nach.

Allunga schüttelte den Kopf. »Darri ist von einem anderen Stamm. Ihre Pfade sind andere als meine.«

Der Wind war aufgefrischt, und die Wellen klatschten nun gegen den Schiffsrumpf. Kapitän Lessing ließ die Segel hissen, um noch schneller voranzukommen. Carola wurde wieder übel.

»Hier, kau das«, sagte Allunga und gab ihr etwas, was aussah wie eine verschrumpelte Möhre. »Das ist Ingwer und wird dir gegen die Seekrankheit helfen.«

»Kaust du das? Ist dir deshalb nicht schlecht?« Vorsichtig biss Carola ein Stück der Wurzel ab. Es schmeckte erst süßlich, dann scharf, aber nicht unangenehm.

»Du musst es lange kauen, bevor du es runterschluckst. Man kann daraus auch einen Aufguss herstellen. Ich brauche es nicht, weiß aber, dass es hilft. Meine Ahnen waren sowohl auf dem Wasser als auf dem Land zu Hause, deshalb werde ich nicht seekrank. Meine Ahnen sind Mallagongan.«

»Was ist das?«

»Das sind Schnabeltiere.« Allunga lachte. »Und nun solltest du dir noch mal das Gesicht abwaschen, dann kämme ich dir deine Haare. Tante Lily wird sich sicher inzwischen Sorgen machen, und ich sollte ihr auch Otto abnehmen.«

»Ich will nicht in den Salon.«

Nachdenklich sah Allunga Carola an. »Gut«, sagte sie schließlich. »Ich bringe dir gleich etwas Suppe und Brot. Tante Lily wird verstehen, dass es dir nicht gutgeht. Doch du musst dich dieser Reise stellen. Je länger du dich dagegen wehrst, umso schlimmer wird es für dich sein.«

»Ja, ich weiß«, sagte Carola leise. »Aber ich will doch nicht. Ich will lieber wieder zu Großmutter zurück.«

»Meine süße Tutt. Ich versteh dich. Besser, als du denkst.« Mit diesen Worten ließ das Kindermädchen Carola zurück.

War die Reise eine Aufgabe, die sie erfüllen musste?, überlegte Carola. Vielleicht, wenn sie es gut machte, vielleicht dürfte sie ja dann zurückkehren nach Sydney. Sie müsste sich nur sehr bemühen und alles richtig machen. Dazu gehörte sicher auch, dass sie an den Mahlzeiten im Salon teilnahm. Morgen, dachte sie und kaute das Stückchen Ingwer, morgen werde ich im Salon essen. Was mochte es mit den Pfaden der Aborigines auf sich haben?, fragte sie sich müde, und drückte Frieda an sich. Aber vielleicht würde ihr Allunga ihre Fragen mit der Zeit beantworten. Dann kuschelte sie sich in ihr Kissen und träumte von Zuhause, von Sydney und von Großmutter.

Währenddessen in Sydney

»Ein Brief von Vater!« Lina stürmte durch die Küche in das Wohnzimmer und schwenkte die Post, die sie am Hafen abgeholt hatte. Sie schüttelte ihr langes, dunkles Haar, das sie offen trug. »Papa hat geschrieben, Lily auch. Und es ist sogar eine Karte von Tutt dabei!«

»Pssst! Wie kannst du nur so laut sein.« Großmutter Emilia nahm ihrer Tochter die Post ab, lauschte in Richtung des Kinderzimmers, wo zwei ihrer Enkel schliefen. »Binde dir die Haare zusammen«, sagte sie und verkniff sich ein Lachen. »Du bist doch kein kleines Mädchen mehr.« Dann sortierte Großmutter die Post nach privaten Briefen, legte die Rechnungen seufzend auf die Anrichte. Darum würde sie sich später kümmern. Ein weiterer privater Brief war in der Post, er war von ihrem Schwiegersohn Rudolph. Seinen warf sie zu den anderen, unangenehmen auf das Buffet. Doch dann besann sie sich, nahm ihn wieder an sich und ging langsam in die Küche. »Hörst du bitte nach den Kleinen, Lina? Billy wird gleich seine Flasche brauchen.«

»Darum kann sich doch Darri kümmern.« Lina verdrehte die Augen. »Wo ist überhaupt Hannah?«

»Hannah ruht sich aus, Kind. Deshalb ist sie doch hier. Und May habe ich zur Molkerei geschickt. Wir brauchen Milch. Wenn sie wieder da ist, kannst du Alinga helfen, Butter zu machen.« Großmutter sortierte die Briefe, öffnete zuerst den ihres Mannes.

»Ich? Wieso soll ich Butter machen?«, beschwerte sich Lina.

»Soll ich es etwa?« Emilia warf ihrer jüngsten Tochter einen strengen Blick zu. »Darri hat uns mal wieder verlassen und ist auf Wanderschaft gegangen. Alinga hilft mir mit den Kleinen. Sie ist mit Arthur, Mina und Elsa im Park. Also stell dich nicht so an.«

»Darri ist schon wieder fort?« Lina schnaubte, dabei war es nicht ungewöhnlich, dass die Aborigine kam und ging, wie sie wollte.Großmutter hatte Darri in ihr Herz geschlossen und nahm die Gepflogenheiten hin, da nützte kein Protest, wusste Lina.

Großmutter zog sich den Stuhl an den schrundigen Küchentisch, der sie seit Jahren begleitete. Sacht legte sie die Briefe auf die Holzplatte, strich den Bogen glatt und setzte die Brille auf.

»Liebste Emma«, begann der Brief ihres Mannes. Seit fünfunddreißig Jahren war sie mit dem Kapitän verheiratet, zahllose Briefe hatten sie sich während dieser Zeit geschrieben, aber immer noch klopfte ihr Herz, wenn sie seine Zeilen las. Er schrieb über die Fahrt und das Wetter. Es war ein wenig so, als müsse er sich erst warm schreiben, bevor er ihr das mitteilte, was ihn wirklich bewegte. Das kannte sie schon von ihm. Vor einem Jahr hatte er einen schrecklichen Unfall gehabt. Ein anderes Schiff hatte in der Hafenausfahrt die Signale missachtet und war mit der Centennial, dem Dampfsegler der Familie, zusammengestoßen. Es hatte einen Toten und einen Schwerverletzten gegeben. Obwohl Kapitän Lessing nicht schuld war, lastete dieser Unfall doch schwer auf ihm. Nie wieder hatte er zur See fahren wollen. Doch als ihr Schwiegersohn Rudolph Carola unbedingt nach Deutschland schicken wollte, hatte Lessing beschlossen, eine letzte Fahrt auf sich zu nehmen.

Großmutter wusste, wie schwer es ihrem Mann gefallen war, wieder das Deck des Dampfseglers zu betreten. Zudem fielen die Wollpreise, und die Fahrt nach Europa war nur mäßig rentabel. Zum Glück hatte er einige Routen der Postfrachtlinie übernehmen können, doch dadurch wurde die Reise auch länger. Sie überflog die ersten Zeilen, die vom Wetter, Seegang und anderen Dingen berichteten. Später würde sie den Brief noch einmal in aller Ruhe lesen, die Augen schließen und sich vorstellen, so wie früher gemeinsam mit ihm auf der Brücke zu stehen. Sie konnte das Kreischen der Möwen, das Klatschen der Wellen hören, roch den salzig-würzigen Geruch des Südpazifiks. Viele Reisen hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann Carl Gotthold unternommen, viele Jahre hatte sie an Bord gelebt. Es waren aufregende, aber auch schöne Zeiten gewesen.

Billys Jammern riss Großmutter aus ihren Gedanken. Schnell las sie weiter. Wie es wohl Carola und Lily ginge?

Lily, so schrieb Carl, hatte sich trefflich auf dem Schiff eingelebt. Wind und Wellen machten ihr nichts aus. Sie war förmlich aufgeblüht, nachdem sie in den letzten Monaten, seit dem Tod ihres Mannes, schier in sich zusammengefallen war.

Doch Carola machte ihm Sorgen. Das Mädchen wurde immer verschlossener, wie eine Muschel, die man aus dem Wasser gezogen hatte und die nun ihre Schalen fest zusammenpresste, um am Leben zu bleiben.

»Liebste Emma«, schrieb er. »Ich habe Rudolph verziehen, dass unsere Tochter Minnie so kläglich und krank ihr Leben beenden musste. Er hatte keine Schuld. Oder doch? Darüber zu diskutieren ist müßig. Was ich ihm jedoch nicht verzeihe, ist, dass er unsere arme Tutt auf diese Reise schickt. Warum muss sie gehen? Uns verlassen? Warum hat er Tutt nicht, so wie die anderen vier, in unserer Obhut gelassen? Nicht nur ich stelle mir diese Fragen, das Mädchen tut es auch, und sie droht daran zu zerbrechen. Wieder und wieder denke ich darüber nach, mich über Rudolphs Wunsch und Willen hinwegzusetzen. Was soll Tutt in Deutschland bei einer Tante, die sie nicht kennt? Die keiner von uns kennt? Sollte ich nicht umkehren, zurück nach Sydney? Meine Liebste, zu gern würde ich dies mit dir diskutieren, obwohl ich befürchte, deine Meinung schon zu kennen. Ja, Rudolph ist ihr Vater, und es ist seine Entscheidung, das Mädchen zu seiner kinderlosen Schwester zu geben. Tausende von Meilen von uns entfernt soll sie aufwachsen. Was denkt sich der Mann nur dabei?«

Großmutter seufzte. Sie kannte die Gedanken ihres Mannes. Gerade du, hatte er zu ihr gesagt, müsstest doch wissen, wie es Carola ergehen wird. Gerade du.

Großmutter Emilia war acht Jahre alt gewesen, als sie bei ihrer Tante und ihrem Onkel einziehen musste. Zwar waren Emilias Eltern nicht verstorben, sondern nur nach England gegangen, aber dennoch hatte sich ihr Leben dadurch radikal verändert. Dabei hatte sie Onkel und Tante schon ihr Leben lang gekannt, es waren keine Fremden für sie gewesen, so wie es die Tante für Carola sein würde. Ja, sie wusste, was das für Carola bedeuten könnte. Aber Rudolph hatte entschieden. Und egal, was sie über ihn dachte, er war und blieb der Vater der Kinder.

Es könnte auch eine große Chance für Tutt sein. Großmutter nahm die Brille ab, rieb sich über die müden Augen. Neun Kinder hatte sie zur Welt gebracht, zwei Töchter bisher beerdigt, einen Schwiegersohn ebenfalls.

Noch lebten die jüngsten Töchter May und Lina bei ihnen, Lily war mit Otto wieder eingezogen, nachdem ihr Mann gestorben war, und nun waren auch noch die vier Kinder von Minnie dazugekommen. Billy, der jüngste Enkel, war gerade erst ein paar Monate alt. Aber sie hatte sich geschworen, auch diese Kinder mit aller Liebe großzuziehen.

Vielleicht würde es Carola bei der Tante in Deutschland besser haben? Die Familie Ansing war sehr wohlhabend. Pfeffersäcke aus Hamburg nannte man sie. Und Großmutter schien es fast ein Wink des Schicksals zu sein, dass die Schwester ihres Schwiegersohns in diese Familie eingeheiratet hatte. Denn vor fast einem Leben, als Großmutter noch in Hamburg wohnte, hatte einer der Ansings um sie gefreit. Doch sie hatte sich für den armen Kapitän Carl Gotthold entschieden und es nie bereut.

Carola war Großmutter Emilias erstes Enkelkind. Sie hatte bei der Geburt geholfen, hatte Carola als Erste in den Armen gehalten. Eine besondere Verbindung hatten die beiden von jeher gehabt. Und nun war sie von ihrer Tutt getrennt worden.

Billy weinte lauter. Großmutter konnte Linas »Shsh« hören, doch die Stimme des Mädchens klang genervt. Emilia stand auf, ging durch das Wohnzimmer in das Kinderzimmer, nahm den Säugling aus den Armen ihrer jüngsten Tochter.

»Wo bleibt May bloß mit der Milch? Der Kleine hat Hunger.« Doch May ließ auf sich warten. Auch Eric, Hannahs Sohn, war wach geworden und krähte nach seiner Mutter. Hannah kam herunter, nahm ihren Sohn lachend auf den Arm.

Schließlich brachte May die Milch. Der Tag nahm seinen Lauf. Hektisch und unruhig war es in der Küche und in dem kleinen Hof. Das Haus schien aus allen Nähten zu platzen. Großmutter kümmerte sich um die Kinder und Enkel, das Essen, überwachte Lina und Alinga beim Buttern, May bei ihren Hausaufgaben und gab Hannah Ratschläge, denn Eric zahnte. Die Briefe blieben ungelesen auf der Anrichte liegen. Erst spät am Abend, als die Kleinen im Bett waren, Lina und May sich kichernd und flüsternd in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, konnte sich Großmutter ins Wohnzimmer setzen. Im Kamin knisterte ein lustiges Feuer, die Eukalyptuszweige knallten hin und wieder, wenn das duftende Harz explodierte. Hannah saß schon im Sessel und strickte.

»Mama, ich bin so froh, dass wir uns eine Weile bei dir erholen dürfen. Es gibt doch nichts Schöneres, als zu Hause zu sein«, sagte sie lächelnd. »Wie du das immer alles schaffst. Und wie leicht dir alles von der Hand geht.«

Emilia lachte auf. »Ach, Kind. Das ist einfach jahrelange Übung. Und zum Glück haben wir ja auch Alinga. Sie ist fleißig und geschickt, hat ein Herz für die Kleinen.«

»Dass du es immer wieder probierst. Nur Darri ist bisher unserer Familie treu geblieben. Alle anderen sind nach einer Weile fortgegangen und nie wiedergekommen.« Hannah strich sich eine Locke, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, hinter das Ohr, schaute in das flackernde Feuer. »Harry möchte nicht, dass wir Aborigines als Hilfen nehmen. Er sucht jetzt nach einem fleißigen Einwanderermädchen.«

»Die wollen doch nicht arbeiten, Hannah.« Emilia lachte leise. »Sie wollen einen reichen Mann heiraten. Jemanden mit einer Goldmine oder einer riesigen Rinder- oder Schafstation.«

»Die Aborigines sind aber nicht zuverlässig, sagt Harry.« Hannah hob lauschend den Kopf, sah in Richtung Kinderzimmer, nahm dann ihre Strickarbeit wieder auf.

»Ihre Kultur ist eine andere als unsere. Ihnen hat das Land gehört, aber bald wird es sie nicht mehr geben.«

Nachdenklich schwieg Emilia, nahm dann den Stapel Briefe und setzte die Brille auf. Noch einmal las sie den Brief ihres Mannes, dann legte sie ihn zur Seite.

»Lily hat geschrieben. Sie fragt, wie es dir und Eric geht«, sagte sie und schaute ihre Tochter lächelnd an.

»Gefällt es ihr auf dem Schiff?«

»Sie hat Meerwasser im Blut, meint Papa. Sie ist schließlich damals auf der Lessing geboren worden.«

»Hoffentlich kommt sie dort auf andere Gedanken«, meinte Hannah sorgenvoll.

Emilia nickte nur und vertiefte sich wieder in die Post. Die Karte von Carola war nur ein kurzer Gruß. Sie schrieb nichts davon, wie ihr das Leben an Deck gefiel, was sie alles schon gesehen hatte und wie sie mit dem Seegang zurechtkam. Zum Glück hatten sowohl Carl als auch Lily ausführlich darüber und über Carola geschrieben, so dass sich Emilia ein Bild machen konnte. Das Kind litt. Würde sie darüber hinwegkommen, dass sie die Familie verlassen musste? Ganz so war es nicht, sie kam ja zu einem anderen Teil ihrer Familie. Und es gab Briefe und Telegrafen, so konnten sie in Kontakt bleiben. Doch Emilia erinnerte sich noch gut daran, wie verzweifelt sie auf Post von ihren Eltern gewartet hatte, auf den Brief, der sie endlich zu ihnen rief. Dieser Brief war nie gekommen, und so wurden die Nachrichten, die sie sich schickten, immer distanzierter und förmlicher. Schon jetzt klang Carolas Karte, als hätte sie mit ihrer australischen Vergangenheit abgeschlossen.

Sollte sie Carl doch recht geben? Sollte er besser wieder mit dem Enkelkind zurückkehren? Darüber dachte Emilia nach, als sie endlich im Bett lag. Vielleicht bin ich unfair Carola gegenüber. Erwarte ich von ihr, dass sie dasselbe durchsteht, was ich ertragen musste? Sie wusste es nicht und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Tag hatte sie immer noch keinen Entschluss gefasst. Carola ging ihr nicht aus dem Kopf. Aber es blieb keine Zeit der Muße und des Nachdenkens. Wäsche musste gewaschen, die Kinder versorgt und das Essen gekocht werden. May und Lina waren in der Schule, denn auf eine gute Ausbildung der Kinder legten sie großen Wert. Arthur, Mina und Elsa spielten im Hof mit den kleinen Kätzchen. Immer wieder schaute Emilia durch das Fenster nach draußen, während sie das Gemüse putzte und die Kartoffeln schälte. Auch wenn sie eine Haushaltshilfe hatte, das meiste musste sie doch allein bewältigen.

Emilia hatte Hannah lange schlafen lassen, denn es war ihr letzter Tag im Haus ihrer Eltern. Morgen würde Harry, Hannahs Mann, kommen, um sie und Eric abzuholen. Drei Wochen hatten die beiden bei Emilia verbracht. Bei der Geburt Carolas, ihres ersten Enkelkinds, war Emilia noch häufig zu ihrer Tochter Minnie nach Liverpool gefahren, um sie zu unterstützen. Ihre Tochter Lina, die damals selbst noch klein war, hatte sie entweder mitgenommen oder in der Obhut ihrer großen Schwestern gelassen.

Doch Hannah hatte Harry Bannister geheiratet, einen Geschäftsmann aus Geelong, einer Stadt siebzig Kilometer südwestlich von Melbourne und somit drei Tagesreisen von Sydney entfernt. Emilia litt darunter, dass sie nicht mal eben zu ihr fahren konnte, vor allem jetzt, da die Kinder von Minnie bei ihnen lebten. Deshalb war sie auch überglücklich gewesen, dass Hannah ihr Angebot, für eine Zeit in ihr Elternhaus zurückzukehren, dankend angenommen hatte. Mutter und Tochter hatten die gemeinsamen Wochen genossen, die nur von Carolas Abschied überschattet waren. Auch Lily, die ja wieder zu Hause wohnte, hatte sich über die gemeinsame Zeit mit ihrer Schwester gefreut. Ihre Söhne waren fast gleich alt, und es gab eine Menge, worüber sie sich austauschen konnten.

Emilia hatte das mit Freude beobachtet, denn als Kinder hatten sich die beiden Mädchen mehr gestritten als vertragen. Emilia musste schmunzeln. Im Haushalt der Lessings war es schon immer hoch hergegangen. Nach den ersten, aufregenden Jahren auf See hatte Emilia sich schließlich in Sydney niedergelassen. Vier ihrer Kinder waren auf Reisen zur Welt gekommen – nur Minnie nicht, sie war in Hamburg geboren. Als das sechste Kind unterwegs war, hatte Emilia beschlossen, endlich sesshaft zu werden. Auch wenn das bedeutete, dass sie monatelang von ihrem Mann getrennt war und fast alles allein regeln musste.

Zum Glück hatte Carl kaum noch Hochseetouren angenommen, auch wenn dadurch das Geld immer knapp war. Aber so konnte er immerhin alle paar Wochen einige Tage mit der Familie verbringen.

Und obwohl ihr Alltag immer noch turbulent war, hatte Emilia, nachdem Minnie gestorben war, keine Sekunde gezögert, sondern sofort beschlossen, ihre Enkel bei sich großzuziehen. Nur bei Carola hatte ihr Schwiegersohn Rudolph ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei dem Gedanken an seine ihr völlig unverständliche Entscheidung haute sie den Brotteig, den sie gerade knetete, mit voller Wucht auf den Küchentisch.

»Mami?« Hannah hatte Eric aus dem Kinderzimmer geholt und stand nun an der Küchentür. »Ist was passiert?«, fragte sie leise.

Emilia wischte sich die mehligen Hände an der Schürze ab und zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, Hannah. Ich habe bloß an Tutt denken müssen …«

»Du warst genauso alt, wie Tutt jetzt ist, als deine Eltern nach England gingen. Das ist es, nicht wahr?«

Emilia nickte. »Ich weiß, wie sie sich fühlt, und ich wünschte, ich könnte es ändern. Aber Rudolph … er ist nun mal ihr Vater, und er hat so entschieden.«

»Was, wenn ihr euch geweigert hättet?«

»Ich hatte Angst, dass er mir dann alle Kinder wegnimmt und nach Europa schickt. Oder zu einer Haushälterin irgendwo weit weg. Es sind doch Minnies Kinder. Manchmal habe ich das Gefühl, Tutt geopfert zu haben, um die anderen vier behalten zu können …« Vergeblich versuchte sie die Tränen wegzublinzeln, die ihr in die Augen getreten waren.

»Oh, Mami, so darfst du nicht denken. Das darfst du nicht.« Hannah setzte Eric auf den Boden, der sofort fröhlich zum Korb mit dem Feuerholz krabbelte und die Kienspäne herausräumte. Hannah nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie an sich. »Eure Entscheidung war richtig. Auch wenn ich Rudolph nicht ausstehen kann.«

»Keiner von uns kann das«, murmelte Emilia. »Auch deshalb habe ich so ein schlechtes Gewissen. Dein Vater wollte nicht, dass die beiden heiraten.«

»Ja, ich erinnere mich. Jedes Mal, wenn der Name te Kloot fiel, hat er das Gesicht verzogen, so als wollte er ausspucken. Aber du hast ihn überzeugt, es doch zuzulassen. Warum eigentlich?«

»Meine Familie hasste deinen Vater. Ich sah nur, dass sich die Geschichte wiederholte, und das wollte ich nicht. Minnie hat Rudolph immer geliebt, von ganzem Herzen, egal, was war. Und er war ihr kein schlechter Ehemann, er hat nur Pech mit der Farm gehabt. Er hat sie geliebt und liebt sie noch. Das sehe ich an den Blumen, die er immer mal wieder an ihr Grab bringt.«

»Gegen Harry hatte Papa auch was«, sagte Hannah nachdenklich. »Und gegen Lilys Mann Frederick – und das, obwohl der ebenfalls Kapitän war.«

Emilia wischte sich die Tränen von der Wange, ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Dein Vater will euch alle beschützen. Er hat immer Angst, dass es euch nicht gutgehen wird, dass eure Männer nicht gut genug für euch sind und dass sie euch nicht ernähren können.« Dann runzelte sie die Stirn. »Bei Rudolph hatte er in der Hinsicht sogar recht gehabt.«

»Aber bei Harry nicht.« Hannah lächelte, es sah sehr zufrieden aus. »Harrys Geschäfte laufen gut.«

Emilia nickte. »Ich weiß. Und ich bin auch froh darüber, mein Kind. Dennoch dauert es mich, dass ihr so weit weg wohnt und wir uns nur so selten sehen können.«

»Die Eisenbahnstrecke nach Melbourne soll ausgebaut werden. Außerdem soll es demnächst noch mehr Fährverbindungen geben. Die Städte wachsen. Und somit auch Harrys Gewinn. Hier in Sydney könnte er nie so viel Geld mit seiner Handelsgesellschaft verdienen wie bei uns. Hier reisen die ganzen Goldsucher nur durch, aber bei uns kaufen sie ihre Ausrüstung und geben ihre Gewinne aus. Harry sagt immer, eine bessere Goldgrube als das Geschäft könnte es nicht geben. Wir müssen nicht in der Erde nach Metallen wühlen, die Digger legen sie uns auf die Ladentheke. Und noch lässt der Zustrom der Digger nicht nach, auch wenn prophezeit wird, dass die Vorräte bald erschöpft sind.«

Hannah klang plötzlich ganz euphorisch. Sie unterstützte ihren Mann mit allen Kräften, und es zahlte sich aus. Die beiden hatten ein großes Haus und einen schönen Garten mit Zier- statt Gemüsepflanzen.

»Harry hat auch gesagt, dass wir gern eines oder zwei der Kinder nehmen können, Mama«, fügte Hannah nun leise hinzu. »Egal wen, ich würde sie mitnehmen und mich um sie kümmern, als wären es meine eigenen.«

Emilia drückte sie an sich. »Ihr beide seid so gutherzig, das rührt mich sehr. Und es ist ein wundervoller Gedanke, dass du die Kinder zusammen mit ihrem Cousin großziehen willst. Ein großherziger Gedanke. Aber«, sie zwinkerte ihrer Tochter zu, »es wird ganz sicher nicht bei Eric bleiben. Und dann? Würdest du es dann nicht bereuen? Außerdem möchte ich die Kinder nicht noch mehr auseinanderreißen. Ihre Eltern haben sie schon verloren, denn ich glaube nicht, dass sich Rudolph jemals um sie kümmern wird. Er war nur dreimal in dem letzten halben Jahr hier, seit Minnie gestorben ist. Und dann auch nur ganz kurz, um sich von Tutt zu verabschieden. Nun haben die vier Kleinen auch noch die große Schwester verloren. Sie hängen so aneinander, und Minnie hat sich gewünscht, dass sie zusammen aufwachsen. So, wie ihr es seid. Ihr habt euch früher oft gestritten, erinnerst du dich? Aber wenn es wichtig war, habt ihr immer zusammengehalten. Und das tut ihr jetzt auch noch. Ich möchte den vieren die Chance geben, genauso zusammen groß zu werden.«

»Ach, Mama.« Nun kamen Hannah ebenfalls die Tränen. »Aber du weißt, wir sind da, wenn dir alles zu viel wird. Du bist ja schließlich nicht mehr die Jüngste.«

»Also wirklich, Fräulein!«, sagte Emilia gespielt erbost. »Du traust dich ja was. Sieh bloß zu, dass du deine Sachen packst. Nicht mehr die Jüngste, ist es zu fassen? Dich stecke ich immer noch in meine Schürzentasche. Und nun bring Eric nach draußen zu den anderen, bevor er den ganzen Holzvorrat in der Küche verteilt. Und dann lass dir von Warra deine Koffer nach oben bringen. Deine Wäsche ist hinten im Hauswirtschaftsraum. Ich habe sie gewaschen und geplättet, du brauchst sie nur noch einzupacken.«

Hannah fiel ihr um den Hals. »Das musstest du doch nicht, Mama. Wirklich nicht.«

Emilia lachte, schob ihre Tochter von sich und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber ich kann es noch, Kind. Noch kann ich es. Und jetzt lauf!«

Hannah nahm Eric hoch, brachte ihn in den Hof zu den anderen Kindern. Arthur kam ihr lachend entgegen und zeigte ihr einen Regenwurm, den er im Beet gefunden hatte, Mina reichte ihr eines der Babykätzchen und nahm dafür Eric in den Arm.

»Komm, kleiner Eric, wir spielen mit den Katzen«, hörte Emilia Mina mit ernster Stimme sagen. »Du darfst sie streicheln. Aber nur von vorn nach hinten. Das mögen sie. Komm, ich zeige es dir.« Sie nahm seine Hand und drückte sie auf eines der Kätzchen in dem Korb. Und Eric juchzte vor Vergnügen.

Zufrieden lächelnd beobachtete Emilia die Szene, dann beeilte sie sich, den Brotteig noch ein letztes Mal durchzukneten, und stellte ihn schließlich zum Gehen auf den Ofen.

Warten auf Harry

Der Tag verging ohne Ruhepause. Nachmittags kamen May und Lina aus der Schule, und auch sie forderten die Aufmerksamkeit ihrer Mutter.

Es dämmerte bereits. Seit Stunden stand Hannah am Fenster neben der Haustür und schaute auf die Straße.

»Er wird schon kommen«, sagte Emilia amüsiert.

Auch May ging immer wieder in die Diele und spähte über die Schulter ihrer Schwester.

»Bist du dir sicher, dass er heute kommen wollte?«, fragte May. »Vielleicht will er dich ja gar nicht mehr. Möglichweise hat er festgestellt, dass es ohne dich viel ruhiger und beschaulicher ist.«

Hannah drehte sich wütend zu ihr um. »Du hast doch keine Ahnung. Geh lieber ins Kinderzimmer, da gehörst du nämlich hin.«

»Oh, habe ich etwa einen wunden Punkt getroffen?« May lachte, drehte sich dann aber schnell um und huschte ins Wohnzimmer, bevor ihre Schwester sie erwischen konnte.

»Lass sie«, sagte Emilia. »Du siehst doch, wie nervös sie ist.«

»Sie steht seit mindestens zwei Stunden dort. Herrje, Harry kommt aus Melbourne. Wann war eine Zugverbindung schon mal pünktlich? Und den Rest des Weges muss er mit der Straßenbahn fahren. Um diese Zeit, wenn alle nach Hause wollen. Es ist doch lächerlich, so am Fenster zu stehen. Ich werde nie so auf einen Mann warten, niemals.« May lachte abfällig.

»Warte es ab«, murmelte Emilia und beugte sich wieder über die zu flickende Wäsche.

Es war schon lange dunkel, Emilia hatte die Kleinen gefüttert, aber mit dem Abendessen auf Harry gewartet. Doch gegen acht war er immer noch nicht da.

»Vielleicht ist etwas dazwischengekommen«, versuchte sie Hannah zu trösten. »Vielleicht kommt er später. Sei’s drum, wir können nicht länger mit dem Essen warten. Auch May und Lina müssen ins Bett, sie haben morgen Schule.«

Hannah nickte, Furchen der Sorge hatten sich um ihren Mund eingegraben. Sogar May war jetzt voller Mitleid. »Ihm ist sicher nichts passiert«, sagte sie und legte ihrer Schwester die Hand auf die Schulter.

Unwillig schüttelte Hannah sie ab. »Geh und hilf Mama. Und lass mich in Ruhe.«

»Ist ja schon gut.« Kopfschüttelnd ging ihre jüngere Schwester zurück in die Küche, nahm die Teller aus dem Schrank und deckte den Tisch. »Kannst du das etwa verstehen?«, fragte sie ihre Mutter leise.

Emilia lachte. »Doch, ja, das kann ich. Früher war es oft so, dass ich nur ungefähr wusste, wann Papa von einer Tour zurückkommen würde. Manchmal kannte ich nur den Monat oder die Woche, selten aber einen Tag. Die Tide bestimmte dann auch noch, bis wann Schiffe den Hafen anlaufen konnten. Und natürlich hing damals, als es nur Segelboote gab, alles vom Wind ab. Dennoch bin ich oft jeden Tag zum Hafen gegangen und habe Ausschau gehalten. Natürlich nicht über Stunden, das ging ja nicht, ich hatte ja euch zu Hause. Aber diese Sehnsucht, das Warten und Hoffen, das kenne ich nur zu gut.«

»Durch die Dampfmaschinen hat sich das alles natürlich geändert. Kaum vorstellbar, dass es früher nur Segelschiffe gab«, sagte May nachdenklich.

»Und noch früher gab es auch keine Straßen- und auch keine Eisenbahnen. Melbourne war ausschließlich über den Seeweg zu erreichen. Eine Strecke konnte schon mal einige Tage dauern. Zwei Wochen bis nach Perth waren nichts. Wie gut, dass das ganz anders ist und wir mit der Eisenbahn eine schnelle und sichere Verbindung haben.«

»Keine Eisenbahn.« May schüttelte den Kopf. »Und in Deutschland?«, fragte sie dann. »Wie ist es dort?«

»Deutschland ist ganz anders als hier. In meiner Erinnerung ist dort alles viel enger und kleiner, dabei kann das gar nicht sein. Ich bin in einem Gutshaus in Othmarschen aufgewachsen – mit einem große Park und einem See hinter dem Haus. Ringsherum gab es nur Felder, Wiesen und Wälder. Und natürlich den Deich und dahinter die Elbe.«

»Was ist ein Deich noch mal, Mama?« May setzte sich auf einen Stuhl und faltete die Servietten, die sie aus dem Kasten genommen hatte, zu ordentlichen Dreiecken. Ihre Wangen leuchteten, und ihre Augen blitzten. Nicht oft hatte Emilia Zeit, solche Gespräche mit ihren Kindern zu führen. Und auch jetzt stand sie am Herd und gab den Eierstich in die Brühe.

»Der Deich ist wie ein Wall, ein langgezogener Hügel. Er schützt das Land vor den Gezeiten und Stürmen.«

»Aber Hamburg liegt doch an einem Fluss und nicht am Meer.«

»An der Elbe. Aber die Nordsee ist nicht so wie der Pazifik, Kind. Die Nordsee ist wild und unberechenbar. Es gibt keinen Taifun, aber es gibt Sturmfluten. Und dadurch, dass alles so eng ist, muss man das Land schützen.« Sie schüttelte den Kopf. »Seltsam. Sydney ist viel größer als Hamburg, aber es erscheint mir doch luftiger hier. Dabei täuscht das sicher. Auch hier gibt es Straßen, in denen ein Haus am anderen steht, und die Häuser werden immer höher. Aber doch scheint es mir, als gäbe es hier mehr Raum.«

»Hast du es mal vermisst? Das Leben dort?«

»Nein.« Emilia nahm den Topf vom Herd und prüfte das Fleisch im Ofen. »Nein, das habe ich nicht. Hier bin ich zu Hause. Dennoch hätte ich Carola gern begleitet. Und sei es nur, um ihre Tante Mathilda kennenzulernen, bei der sie nun leben wird.« Sie zögerte kurz, so, als wollte sie noch etwas hinzufügen, schüttelte dann aber den Kopf. »Hol Lina und Hannah, wir können jetzt essen.«

Auch Arthur, der noch nicht schlafen konnte, durfte sich mit an den Tisch setzen. Der Sechsjährige strahlte über das ganze Gesicht. Kaum hatte Emilia das Fleisch aufgetragen, klopfte es an der Haustür, die sofort danach geöffnet wurde.

Harry stapfte in die Diele, ließ eine schwere Tasche auf den Boden gleiten.

Hannah war aufgesprungen und stürmte ihm entgegen. Lina linste um die Ecke und kicherte, als die beiden sich küssten. Emilia stand auf und schloss die Tür zur Diele.

»Gönnen wir ihnen mal ein paar Minuten allein«, sagte sie und schaute ihre Tochter tadelnd an.

»Wahre Liebe«, hauchte May und verdrehte die Augen. Lina sah sie an, und die beiden Mädchen fingen an zu lachen.

»Wartet nur ab«, meinte Emilia und schnitt das noch dampfende Brot ab und bestrich es für Arthur dick mit Butter.

Dann öffnete sich die Tür, und Harry und Hannah traten ein.

»Guten Abend, liebe Schwiegermama.«