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Über den Autor
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Helme Heine, 1941 in Berlin geboren, zählt zu den großen Bilderbuchkünstlern der Gegenwart. Seine Bücher werden in 35 Sprachen veröffentlicht und erhielten zahlreiche Preise und Auszeichnungen. 12 Jahre lebte Heine in Südafrika, wo er ein politisch-literarisches Kabarett gründete, eine satirische Zeitschrift herausgab und Theater spielte. Heute lebt er in Neuseeland, schreibt Hör- und Drehbücher für Funk, Film und Fernsehen, schafft Skulpturen und Möbel, führt Regie und hofft, lange genug zu leben, um all seine Pläne und Projekte zu verwirklichen.
Bei Beltz & Gelberg erschienen zahlreiche Bilderbücher von Helme Heine, darunter Zum Glück gibt’s Freunde, Freunde wie du und ich, Na warte, sagte Schwarte, Die Perle, Toto der Schatzsucher, Der Superhase, Das schönste Ei der Welt, Die Schöpfung. Eine musikalische Erzählung und der Bildband Traum und Wirklichkeit. Helme Heine – ein Portrait.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74589-7)
www.beltz.de
© 2014, 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstr. 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Einband- und Innenillustrationen: Helme Heine
Einbandgestaltung: Jasmin Kerstner, Elisabeth Werner
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74554-5
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Piraten
Zu dritt fuhren die Freunde auf ihrem Fahrrad in den Tag hinein, denn richtige Freunde radeln immer gemeinsam. Franz von Hahn krallte sich an den Lenker. Das beherrschte er wie im Schlaf, denn so verbrachte er jede Nacht auf der Hühnerstange. Jetzt folgte er seiner Schnabelspitze und sein Regenbogenschwanz knatterte im Fahrtwind wie eine Fahne im Sturm.
Der dicke Waldemar war der Motor. Mit beiden Füßen stand er auf dem rechten Pedal, das er mühelos durch sein Körpergewicht hinunterdrückte. Unten angekommen, machte er sich etwas leichter, streckte sich aus der Kniebeuge in die Höhe, zog seinen Bauch ein und schon war er wieder oben und konnte von vorn beginnen.
Johnny Mauser stand auf der gegenüberliegenden Seite.
Er hielt das Gleichgewicht. Breitbeinig thronte er mit ausgebreiteten Armen auf dem gegenüberliegenden Pedal. In den Rechtskurven, wenn die Reifen quietschten, lehnte er sich weit hinaus. Bogen sie nach links ab, ging er in die Hocke und schmiegte seine Arme eng an den Körper. So radelten sie über Wiesen und Felder. Kein Weg war ihnen zu steinig, keine Abfahrt zu steil, keine Pfütze zu tief, keine Kurve zu scharf.
Verschwitzt erreichten sie den Dorfteich und sprangen in ihr Piratenschiff Ahoi. Johnny war der Kapitän, er kannte jeden Felsen im Wasser, der ihnen gefährlich werden konnte. Franz war das Segel. Er stellte sich auf den abgebrochenen Mast in der Mitte des Bootes, öffnete seine Flügel und nutzte jedes Lüftchen. Der dicke Waldemar war das Kielschwein. Er machte es sich auf den Schiffsplanken bequem, lehnte den Kopf an die Ruderbank und hängte einen Arm lässig über die Reling ins Wasser. Man konnte glauben, dass er sich von der anstrengenden Fahrradfahrt ausruhen musste. Aber das täuschte. Er verstopfte mit seinem dicken Schinken ein Leck im Rumpf. Er war der Stöpsel.
Mit rauschender Bugwelle durchpflügten sie den Dorfteich. Sie jubelten, wenn die Schwäne aufflogen, wenn die Blesshühner abtauchten und die Frösche sich mit einem Kopfsprung von den Seerosenblättern ins tiefe Wasser retteten. Eines Tages, so schworen sie einander, würden sie mit dem Boot den Fluss hinunterfahren bis ins große Meer. Sie würden die Welt erobern und die Abenteuer erleben, die man nur aus Büchern kennt. Sie malten sich aus, wie es sein würde, dort, in der fernsten Ferne.
»Da muss keiner Betten machen und sein Zimmer aufräumen«, sagte Waldemar.
»Piraten putzen keine Zähne und keine Fensterscheiben. Sie kämmen sich nicht und verstecken ihre Haare unter einem Kopftuch. Und sie besitzen richtige Säbel«, seufzte Johnny sehnsüchtig.
»Dort hinter dem Horizont können sie tun und lassen, was sie wollen. Sie können die ganze Nacht aufbleiben. Niemand teilt Befehle aus. Sie müssen keinen Salat essen, nur weil er gesund ist. Sie können so laut und so lange schreien, bis ihre Kehle wund ist«, sagte Franz.
Selten waren sich die drei Freunde so einig wie heute. Als gefeierte Helden würden sie irgendwann nach Hause zurückkehren und ihren wohlverdienten Ruhestand im Kreise der Mullewapper verbringen. Denn was nutzten ihnen die aufregendsten, unglaublichsten Geschichten und spannendsten Abenteuer, wenn niemand davon erführe? Helden sind erst Helden, wenn sie in einer Heldengeschichte mitspielen.
In der Mittagssonne hatte sich der Wind gelegt und auch die Freunde waren schläfrig geworden. Die Segelflügel von Franz hingen schlaff herab. Johnny zog das Steuerruder ein und gönnte sich ein Nickerchen. Nur der dicke Waldemar war hellwach, genauer gesagt sein Magen. Wenn du mich liebst, meldete der Bauch dem Kopf, dann gönnst du mir jetzt die Melone, die ihr mitgenommen habt. Doch die lag im hinteren Teil des Bootes unter der Ruderbank. Waldemar hätte aufstehen müssen, um sie zu holen, aber ohne Stöpsel würde das Boot untergehen. Franz und Johnny wollte er nicht wecken, schließlich waren sie Freunde, und richtige Freunde reißt man nicht mir nichts, dir nichts aus dem Schlaf.
Tief unter dem Kiel des Bootes, auf dem Grund des Dorfteiches, lag ein riesiger Hecht auf der Lauer. Die Strahlen der Sonne überwinden mühelos Millionen von Kilometern bis zur Erde, aber im Wasser geht ihnen schon nach wenigen Metern das Licht aus. So herrscht dort unten ewige Finsternis. Diese Tatsache kam dem räuberischen Hecht zugute. Bewegungslos lag er da wie ein toter Ast und wartete auf ein Opfer, das dicht an seiner Nase vorbeischwimmen würde.
Heute schien er Glück zu haben. Er spürte, dass ein großer Fisch sich näherte. Er konnte ihn nicht sehen, aber an der Art, wie er an den Algen herummümmelte, erkannte der Hecht, dass es ein Karpfen war. Eine Forelle oder ein Zander würde zuschnappen, würde sein Mahl so hastig herunterschlucken, wie jeder Raubfisch es tat. Ein Karpfen aber nimmt sich Zeit beim Essen wie alle Vegetarier. Er kostet hier und da, spuckt es wieder aus, nascht erneut.
Schrecklich, dachte der Hecht, wenn ich so wäre wie der, wäre ich schon längst verhungert. Sein Festmahl kam langsam näher. Es war ein großer Spiegelkarpfen. Spiegelkarpfen schmecken ein wenig nach Schlamm, aber wer seit zwei Wochen nichts gegessen hat, ist nicht wählerisch.
Endlich war das Opfer in Reichweite. Mit einem gewaltigen Schwanzschlag schoss der Hecht aus der Deckung und riss das Maul weit auf, um seine nadelspitzen Zähne in das bemooste Schuppenkleid des Karpfens zu schlagen. Doch eine Plastiktüte, die zwischen ihnen im Wasser schwebte, verhinderte den Mordanschlag. Eine wilde Verfolgungsjagd begann.
Der Hecht war ein geborener Sprinter, er war schnell, sehr schnell. Aber der alte Karpfen, der sich eher für den Marathon eignete, wich ihm immer wieder so geschickt aus, dass der Hecht weit übers Ziel hinausschoss, und ehe er beidrehen konnte, hatte der Karpfen etliche Meter Vorsprung gewonnen.
Das ging eine Zeit lang gut, doch dann hatte er keine Puste mehr. Mit einem Verzweiflungssprung katapultierte er sich durch die Wasseroberfläche und plumpste in das Segelboot der Freunde, wo er erschöpft liegen blieb.
»Wir haben Besuch«, staunte der dicke Waldemar und weckte nun doch seine beiden Freunde. »Gibt das ’ne Mahlzeit!«
Der Karpfen protestierte, aber niemand schien ihn zu hören. Unter Wasser hatte ihn jeder verstanden, aber hier oben war er stumm wie ein Fisch. Was er ja auch war.
»Ist der schön!«, bewunderte Johnny den Gast und fuhr andächtig mit seinen Fingerspitzen über die goldenen Schuppen.
»Danke«, japste der Karpfen. »Danke, danke!«
»Er atmet noch«, stellte Franz ernüchtert fest. »Den kann man doch nicht essen!«
»Du bist ein unverbesserlicher Körnerfresser«, raunzte ihn Waldemar an. »Fisch ist gesund.«
Dem alten Karpfen ging die Luft aus. Er nahm die drei Fremden nur noch als Schatten wahr. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, bis er ohnmächtig werden und sein Leben aushauchen würde.
Doch plötzlich fühlte er sich in die Höhe gehoben. Er schien zu schweben. War er auf dem Weg in den Himmel? In großem Bogen landete er wieder im Dorfteich.
»Leb wohl, mein schöner Braten«, seufzte Waldemar. »Ich wurde überstimmt.«
Der alte Karpfen umkreiste das Boot so lange, bis er seine Stimme wiederfand.
»Das werde ich euch nie vergessen«, blubberte er dankbar. Er riss sein Maul auf, spuckte eine Flasche aus und verschwand in der Tiefe.
»Eine Limo«, jubelte Waldemar, »der Kerl hat Geschmack.« Er machte einen langen Arm und fischte sie aus dem Wasser.
»Zeig mal her.« Franz versuchte, sie ihm wegzunehmen.
»Die ist für mich«, protestierte Waldemar. »Schließlich habe ich dem Fisch das Leben gerettet.«
Johnny warf einen kurzen Blick auf die Flasche und machte eine sensationelle Entdeckung.
»Das ist keine Limo«, verkündete er. »Freunde, das ist eine Flaschenpost.«
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Der Untergang
Neugierig rückten die drei Freunde zusammen. Die Flaschenpost wanderte von Hand zu Hand, wurde auf den Kopf gestellt, geschüttelt und gegen die Sonne gehalten, um das geheimnisvolle Papier im Inneren genau zu betrachten.
»Ich kann nix erkennen«, grunzte der dicke Waldemar enttäuscht.
»Kein Wunder«, ereiferte sich Franz von Hahn, »du kannst ja auch nicht lesen.«
»Dafür hast du keine Muckis.«
»Aber ich kann bis hundert zählen.«
»Hört auf zu streiten«, bat Johnny Mauser, »helft mir lieber, die Flasche zu öffnen. Der Korken sitzt fest.«
»Gib mal her.« Franz nahm den Korken, der ein wenig herausstand, in den Schnabel, packte die Flasche mit beiden Händen und versuchte, sie zu drehen. Dabei kniff er vor Anstrengung die Augen zusammen und ächzte, aber der Korken bewegte sich keinen Millimeter.
Waldemar grapschte nach der Flasche, klemmte sie sich zwischen die Knie und zerrte so fest am Korken, bis er abbrach.
»Kunststück!«, lästerte Franz. »Das hätte ich auch gekonnt.«
»Ohne Korkenzieher geht es nicht«, entschied Johnny. »Wir nehmen die Flasche mit nach Mullewapp.«
»So lange willst du uns auf die Folter spannen?«
Geduld gehörte nicht zu Waldemars Stärken. Aber auch Franz wollte nicht warten. »Vielleicht steht da drin, dass jemand in Not ist. Vielleicht hat jemand Schiffbruch erlitten und braucht sofort unsere Hilfe!«
»Das glaube ich nicht. Dieser Korken ist total aufgequollen, der sitzt schon lange auf der Flasche. Ein Notruf kann das nicht sein.«
»Was dann?«
Waldemar grübelte. Plötzlich erhellte sich seine Miene und es platzte aus ihm heraus: »Dann ist da eine Schatzkarte drin! Sie wird uns zu einer Höhle führen, die versteckt hinter einem Wasserfall liegt. An der Decke hängen tausend Fledermäuse, alles ist voller Spinnweben und mitten in der Grotte steht eine große Kiste voller Gold und Edelsteine. Und bewacht wird der Schatz von einem gefährlichen Drachen, der besiegt werden muss.«
Die Freunde lächelten mitleidig. »Du hast wohl zu viele Märchen gehört!«
Aber Waldemar ließ sich nicht abbringen und fuhr unbeirrt fort: »So geht es in allen Geschichten! Wir werden diesen Goldschatz finden und brüderlich aufteilen«, jubelte er. »Freunde, wir werden reich!«
In Gedanken sah er Schubkarren voller Gummibärchen, Schokolade und Eiscreme vor sich. Nie mehr müsste er hungern und könnte sich alle Wünsche selbst erfüllen.
»Langsam, langsam!«, unterbrach Johnny. »Vielleicht ist in der Flasche nur ein Liebesbrief oder ein Wunschzettel an den Weihnachtsmann.«
Waldemar schüttelte den Kopf. So ein Quatsch kann auch nur Johnny Mauser einfallen, dachte er und sagte laut: »Wer glaubt denn noch an den Weihnachtsmann? Los! Ich will wissen, was damit ist. Jetzt, hier an Ort und Stelle, sofort.«
Er packte die Flasche, holte aus und zerschmetterte sie an der Reling.
»Bist du verrückt geworden!«, brüllte Johnny, dem die Glasscherben um die Ohren flogen.
»’tschuldigung, ich wollte dir nicht wehtun«, sagte Waldemar zerknirscht und hielt Johnny das gefaltete Stück Papier entgegen, das aus der Flasche gefallen war. »Hier, lies vor.«
Johnny nahm das Blatt, glättete es behutsam und begann zu lesen. Waldemar und Franz platzten fast vor Neugier:
»Was steht drin? Komm, sag schon. Mach es nicht so spannend.«
Johnny räusperte sich und las mit leiser Stimme:
Mein Name ist Pablo.
Ich bin alt und werde bald sterben. Ich habe keine Nachkommen, denen ich meinen Schatz vererben kann, deshalb verstecke ich das Kostbarste, was ich besitze, an einem geheimen Ort. Wer diesen Schatz findet, dem wird die Welt zu Füßen liegen.
»Eine Schatzkarte!«, jubelte Waldemar und trommelte vor Begeisterung mit beiden Fäusten auf seine Wampe. »Auf mein Bauchgefühl ist Verlass.«
»Ein Glück, dass wir den Fisch zurück ins Wasser geworfen haben«, sagte Franz nachdenklich, »sonst hätten wir die Flaschenpost nicht …«
»Wir?«, protestierte Waldemar. »Ich habe den Karpfen zurückgeworfen, wenn ich dich daran erinnern darf. Den Schatz verdankst du mir
»Wenn wir ihn aufgegessen hätten, hätten wir die Flaschenpost sowieso entdeckt«, sagte Johnny. »Aber seid nicht so voreilig. Noch ist nichts erreicht. Wir müssen den Schatz erst noch finden.«
»Ist da kein Plan drauf?«, fragte Waldemar. »Auf einer Schatzkarte muss doch ein Plan sein!«
»Ja, schon, aber die Gegend, die da beschrieben ist, kenne ich nicht. Da waren wir noch nie. Ich weiß nur, dass wir immer dem Fluss folgen müssen, rauf bis zu der Quelle in den Bergen.«
»Zeig mal her.«
»Du kriegst ihn gleich. Bloß nicht so ungeduldig!«
Aber Geduld war eben nicht Waldemars Stärke. Er stand auf und hangelte sich über die wackeligen Schiffsplanken auf Johnny zu. Sofort schoss eine Fontäne durch das Loch im Rumpf und füllte das Boot in wenigen Sekunden kniehoch mit Wasser. Panik brach aus. Franz flüchtete auf den abgebrochenen Schiffsmast, Johnny klammerte sich an das Ruderblatt und Waldemar versuchte verzweifelt, das Leck wieder zu verstopfen. Zu spät. Das Bootsheck sackte ab. Das Wasser strömte über die Reling ins Innere und drückte den Kahn immer tiefer.
Für einen Augenblick richtete sich das Piratenschiff der Freunde noch einmal zu voller Schönheit und Größe auf, verharrte aufrecht für eine kurze Ewigkeit, um dann wie in Zeitlupe in der Tiefe zu versinken.
Wenn kein Wunder geschah, würden sie ihrem Piratenschiff Ahoi folgen. Franz stand das Wasser bereits bis zum Hals. Sein Federkleid saugte sich schnell voll und zog ihn tiefer und tiefer. Johnny strampelte verzweifelt mit allen vieren und schluckte große Mengen Wasser. Lange würde er das nicht mehr durchhalten können.
Der dicke Waldemar trieb regungslos und mit geschlossenen Augen auf dem Teich. So viel Wasser an seinem Körper war für ihn schwer zu ertragen. Wasser war zum Trinken da, aber das auch nur im Notfall, wenn es keine Limo gab. Und jetzt sollte sein Leben in einem nassen Grab enden?
Plötzlich spürte er, wie Johnny sich an seinen Ringelschwanz klammerte und von dort auf seinen dicken Bauch krabbelte, der wie eine Insel aus dem Wasser ragte. In seinem Schlepptau zog er mit letzter Kraft den völlig erschöpften Franz hinter sich her.
»Ich kann doch selbst nicht schwimmen«, jammerte Waldemar.
»Richtige Freunde gehen zusammen unter«, schluchzte Franz.
»Fett schwimmt oben«, sagte Johnny.
»Dann bin ich unser Rettungsboot?«
Johnny nickte.
Franz öffnete die Flügel, die schnell in der Sonne trockneten. Eine frische Brise griff hinein und blies die drei Freunde dem Ufer entgegen.
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Die Schatzkarte
Ohne noch einmal nasse Füße zu bekommen, sprangen Franz von Hahn und Johnny Mauser vom Bauch des dicken Waldemar direkt an Land, umarmten sich, führten Indianertänze auf und jubelten: »Geschafft! Dem Himmel sei Dank!«
Waldemar kroch auf allen vieren die Böschung hinauf, sank erschöpft ins Gras und grummelte: »Was heißt hier Himmel!? Ich war euer Schutzengel! Wahrscheinlich hole ich mir eine Lungenentzündung. Schon jetzt habe ich eine Schrumpelhaut von dem vielen Wasser. Ich sehe aus wie mein Urgroßvater.«
»Kopf hoch, Waldemar«, munterte Johnny ihn auf. »Die Falten in deinem Bauch kriegen wir wieder glatt. Ich verzichte heute Abend auf mein Essen. Alles für dich.«
»Meins kannst du auch haben«, bot Franz an und freute sich, dass Waldemar wieder gute Laune hatte.
»Ihr seid wirklich gute Freunde, Franz und Johnny, das werde ich euch nie verge…«
Er brach mitten im Satz ab und fragte mit zitternder Stimme: »Johnny, hast du die Schatzkarte …?«
Johnny wurde blass. Dann überlegte er kurz, griff in seine Hosentasche und fischte ein total durchnässtes Papier hervor.
»Gott sei Dank!« Franz atmete auf, als er die Karte sah.
»Behandelt sie wie ein rohes Ei. Wir haben nur die eine«, witzelte Johnny. »Ich leg mich ein wenig in die Sonne, mir ist kalt.«
Vorsichtig entfalteten Franz und Waldemar die Schatzkarte. Sie war ziemlich verklebt und zerknittert, aber zum Glück war sie nicht mit der Ahoi untergegangen. Mithilfe dieser Karte würden die Freunde einen Goldschatz finden und sich ein neues Piratenschiff bauen, größer und schöner als das alte.
»Mit richtigen Segeln«, freute sich Franz. »Mir schlafen nämlich immer die Arme ein, wenn ich die Flügel so lange ausbreiten muss.«
»Und mit einem bequemen Liegestuhl«, meldete sich Waldemar, »und einem vollen Kühlschrank.«
»Dann will ich ein Motorrad«, kicherte Franz.
»Damit du alleine durch die Welt knattern kannst? Ohne uns? Das kannst du vergessen.«
Endlich lag die Schatzkarte ausgebreitet vor ihnen. Aber sie war leer.
»Das ist die Rückseite«, sagte Franz und drehte die Karte um. Doch auch die war blank und schneeweiß.
Verärgert rüttelten sie Johnny wach und warfen ihm die zusammengeknüllte Schatzkarte vor die Füße.
»Du willst uns wohl auf den Arm nehmen und alles für dich allein haben, was? Den Papierwisch kannst du behalten. Los, rück den richtigen Plan raus, sonst kriegst du Ärger!«
Johnny schaute sie verdattert an. »Was soll der Quatsch, Leute? Das ist alles, was ich habe.«
Er stülpte beide Hosentaschen nach außen. Sie waren leer.
»Dann«, ächzte Waldemar, »dann hat das Wasser …, das Wasser …«
»… die Tinte weggewaschen«, ergänzte Johnny.
»So ein Mist, Mist, Mist …«, fluchte Franz.
Wütend stampfte er mit dem Fuß auf und ging auf Waldemar los: »Warum bist du nicht auf deinem Platz im Boot sitzen geblieben? Du warst doch der Stöpsel!«
Waldemar senkte schuldbewusst den Blick.
»Ich, ich …«, stotterte er. »Es tut mir leid. Ich werde das wiedergutmachen, ich …«
»Wie willst du das wiedergutmachen? Unser Traum ist weg. Futsch. Verschwunden. Es hätte so schön sein können.« Franz war außer sich. »Komm, Johnny, sag du doch auch mal was. Schließlich hätte ein Drittel des Schatzes dir gehört. Oder hast du keine Meinung dazu?«
»Beruhige dich doch, Franz«, mahnte Johnny. »Vorwürfe bringen uns jetzt auch nicht weiter.«
»Ich werde doch wohl meinen Standpunkt vertreten dürfen! Richtige Freunde sagen einander die Meinung. Das muss eine Freundschaft aushalten, oder?«
»Schon, schon. Aber jetzt sei mal still. Ich versuche gerade, die Schatzkarte in meinem Kopf zu rekonstruieren.«
»Oh, Johnny, du bist unsere letzte Hoffnung!«, rief Waldemar mit leuchtenden Augen. »Bestimmt findest du die Schatzkarte in irgendeiner Hirnwindung wieder, da, wo kein Wasser hingekommen ist. Oh, Johnnylein, bitte suche die Karte, bitte, bitte.«
Johnny schloss bedeutungsvoll die Augen und zeichnete mit seinem Zeigefinger Linien in die Luft. Immer, wenn er nicht weiterwusste, wurde er langsamer. Atemlos verfolgten Franz und Waldemar die Fahndung, und wenn Johnny zögerte, zitterten sie vor Angst, ballten die Fäuste, bissen sich auf die Lippen, kauten an den Nägeln und hofften inständig, dass ihm alles wieder einfiel. Der Schatz durfte nicht für immer verloren sein! Johnny hatte doch ein ausgezeichnetes Gedächtnis! Das wusste jeder in Mullewapp. Nie vergaß er einen Namen, kannte fünf Gedichte auswendig, erinnerte sich an jeden Geburtstag und konnte so scharf kombinieren wie Sherlock Holmes. Wenn sich endlich sein Zeigefinger wieder auf die Suche machte, dann wussten sie, es gab Hoffnung.