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Bruno, der Lustgreis

Mobbing in der Waldsiedlung

Werner Gutjahr

Als der Möbelwagen vor dem leeren Haus hielt, war es mit der Mittagsruhe in der Waldsiedlung vorbei. Fenster und Türen wurden geöffnet, Kinder platzierten sich auf der Bordkante und verfolgten jeden Handgriff der Möbelträger. Die Großen versuchten ihre Neugier hinter allerhand sinnlosen Tätigkeiten zu verbergen. Manche fegten eifrig den makellosen Gehweg, andere gossen die Blumenkästen vor den Fenstern, von denen schon vor der erneuten Dusche Wasser tropfte. Wieder andere kamen unverschämt nahe, um ja nichts zu verpassen.

So einen Trubel hatte Bruno in seinem geruhsamen Rentnerleben noch nicht erlebt. Halblaut gab er den Trägern Anweisungen und wunderte sich über die Neugier seiner neuen Nachbarn. In dem riesigen Block, wo er fast vierzig Jahre gewohnt hatte, war das Aus- und Einziehen etwas Selbstverständliches, aber hier schien es ein besonderes Ereignis zu sein. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Irgendwie würde er mit den Leuten schon klar kommen, schließlich hatte er während seiner vielen Arbeitsjahre im Bergbau nie Berührungsängste gehabt.

Freundlich lächelnd erwiderte er den Gruß einer Frau in seinem Alter, deren frisch gefärbtes, schwarzes Haar in der Sonne glänzte.

„Auf gute Nachbarschaft!“, rief er ihr zu, worauf sie eifrig nickte und sich wieder ihren Blumen zuwandte.

Anfangs hatte er wenig Kontakt mit den Anwohnern, weil es ihm schwer fiel, sich ihre Namen zu merken. In dieser Hinsicht schien sein Gedächtnis ein Sieb zu sein.

Bei schönem Wetter wanderte er öfters mit Stock und Rucksack durch die nahen Wälder und kehrte hin und wieder in einer Dorfkneipe ein, die inzwischen immer seltener wurden. Auch in seinem geerbten Haus fühlte er sich allmählich wohl, obgleich er zuerst gar nicht einziehen wollte. Schließlich hatte er seit dem Tode seiner Frau fast zehn Jahre allein gewirtschaftet. Und wenn nichts dazwischen kam, wollte er noch eine gute Weile so weitermachen.

Ein Schatten der Vergangenheit

Als er nach einer ausgedehnten Wanderung mit anschließendem Kneipengang heimkehrte, traute er seinen Augen nicht: Vor der Haustür erwartete ihn seine Schwägerin. Nach dem Tod seines Bruders vor zwölf Jahren war er mit der äußerst streitsüchtigen Frau uneins. Und nun stand diese Xanthippe, groß und hager, die Arme in die Hüften gestemmt, neben dem Rosentor und blickte ihm herausfordernd entgegen. ‚Woher das Luder nur weiß, dass ich hier wohne?‘, grübelte er.

„Mit mir hast du sicher nicht gerechnet?“, empfing sie ihn mit schriller Stimme.

Bruno lächelte schief. „In einem Freudenjubel werde ich nicht gerade ausbrechen! Aber wenn du nun schon mal da bist, dann komm rein!“

„Ich hab dir Äpfel mitgebracht. Die hast du doch immer gern gegessen!“

Bruno musterte skeptisch den riesigen Beutel. „Aber nicht zentnerweise, Elvira!“, brummte er. „Vermutlich hast du dir nicht nur deshalb den weiten Weg gemacht?

„Ich wollte mal sehen, ob es dir gut geht? Außerdem möchte ich dir einen Vorschlag machen.“

‚Was kommt jetzt!‘, dachte Bruno, bemüht ein Grinsen zu unterdrücken.

Um Zeit zu gewinnen, schob Elvira bedächtig eine graue Haarsträhne von der Stirn, während Bruno sie abwartend anblickte. Schließlich sagte sie: „Sieh mal, wir sind beide älter und ruhiger geworden. Warum tun wir uns nicht zusammen? Du hast hier so viel Platz und ich könnte Kerstin meine Wohnung überlassen. Vielleicht kannst du auch irgendwann nicht mehr, dann könnte ich mich um dich kümmern.“

Bruno nickte tiefsinnig. „So wie in den zurückliegenden zehn Jahren? Wofür ich dir übrigens noch heute dankbar bin, das du mich mit deiner Anwesenheit verschont hast. Bei uns beiden stimmt eben die Chemie nicht, Elvira! Und dabei wollen wir es belassen. Wenn ich nicht mehr allein zurechtkomme, findet sich schon eine Lösung. Außerdem habe ich mir noch viel vorgenommen und eigentlich gar keine Zeit für derartige Gedanken.“

Elvira wollte aufbrausen, doch dann besann sie sich und erzählte von ihren Enkeln und Urenkeln, wohl wissend, dass Kinder Brunos schwache Stelle waren. Doch der war auf der Hut und machte ihr keinerlei Zugeständnisse.

Schließlich trank sie mit versteinerten Gesicht ihre Kaffeetasse leer, quetschte ein „Tschüss“ hervor und zog energisch die Haustür zu.

Bruno massierte nachdenklich seine rechte Augenbraue: ‚Hoffentlich tauchen nicht noch mehr solche Erbschleicher auf!‘, dachte er. ‚So eine Fürsorge aus Berechnung kann mitunter ziemlich anstrengend sein!‘

Am nächsten Morgen stolperte er über den Beutel mit den Äpfeln und konnte nur mit Mühe einen Sturz verhindern.

„Ein Knochenbruch hätte mir gerade noch gefehlt!“, murmelte er wütend, während er den Beutel wieder aufrichtete und sich die Äpfel besah. Sie waren zwar nicht Güteklasse I, aber immerhin genießbar. Er wählte 6 Stück für sich aus und lief mit dem Beutel in der Hand zum Nebenhaus.

Die Nachbarin verzog ihre dick geschminkten Lippen zu einem falschen

Lächeln und säuselte: „Oh – ich bin entzückt! Aber bitte kommen Sie doch herein!“

Bruno schüttelte lächelnd den Kopf und zeigte auf den Beutel. „Meine Schwägerin hat die gestern gebracht, aber allein schaffe ich sie nicht!“

„Vielen, vielen Dank! Bei Gelegenheit werde ich mich revanchieren! – Das war wohl die schlanke Dame, die ihr Haus so eingehend begutachtet hat. Zufällig habe ich sie bemerkt, als ich auf der Terrasse saß.“

‚Ein bisschen Neugier wird wohl in dem Zufall auch gesteckt haben‘, dachte Bruno und zuckte leicht mit den Schultern: „Vielleicht hat ihr das Haus gefallen?“

Die schwarze Lisa (so lautete der Spitzname der Nachbarin) war in der Siedlung nicht das einzige weibliche Wesen, das sich um Bruno bemühte. Schon am folgenden Tag ertappte er die Witwe von einem Fahrschullehrer und eine ehemalige Unterstufenlehrerin dabei, wie sie die spärlichen Rosen vor seinem Haus bewunderten und dabei höchst auffällig die Fenster absuchten. Lebten hier denn nur heiratstolle Witwen? Als schließlich immer mehr weit entfernte Verwandte ihre Besuche ankündigten, wurde ihm die Sache allmählich zu bunt.

„Denen geht’s doch bloß um das Haus und meine Bergmannsrente“, murmelte er grinsend. „Aber ich werde allen einen Strich durch ihre Rechnung machen!“

Er nahm sich vor, die zwei leeren Zimmer im Obergeschoss zu möblieren und an Studentinnen zu vermieten. Erst vor ein paar Tagen war ihm in der Zeitung eine ganze Seite diesbezüglicher Suchanzeigen aufgefallen. Zwar schien bei Studenten die Innenstadt begehrter zu sein, aber bis zur Siedlung fuhr schließlich eine Straßenbahn.

Als ein paar Tage später wieder ein Möbelwagen vor Brunos Haus hielt, gab es zwar kein Inventar zu begutachten, weil alle Einzelteile in grauer Wellpappe verpackt waren, aber die üblichen Zaungäste.

Als die schwarze Lisa ihre Neugier nicht mehr zügeln konnte, kam sie mit einer Freundin im Gefolge zu Bruno und brachte ihm eine Einladung zu einem Chorkonzert. Während sie ihm die Vorzüge des Frauenchors schilderte, versuchte sie den Inhalt der grauen Pakete zu erraten.

Ihre Begleiterin hatte viel zu große Ohrringe und die Lidschatten erinnerten Bruno an einen Pavian.

Ihre pinkfarbene Bluse mit riesigem Ausschnitt war mindestens zwei Nummern zu eng.

„Haben Sie sich schon eingelebt?“, fragte sie wie nebenbei.

Bruno nickte. „Es gefällt mir hier am Waldrand, obwohl die Stadt auch ihre Vorteile hatte.“

„Ja, ja – wem sagen Sie das! Als wir hier hergezogen sind, ist mein Mann kurz nach dem Richtfest gestorben. Seit dem lebe ich allein. Das werden nun im Herbst zehn Jahre. Anfangs boten mir öfters Männer ihre Hilfe an. Aber die meisten waren sehr primitiv oder sie erwarteten, dass ich sie freihalte. Zwar besuche ich mit Lisa öfters Kulturveranstaltungen und lese anspruchsvolle Literatur, aber manchmal wünschte ich mir einen humorvollen männlichen Begleiter.“

„Vielleicht kommt bald der richtige“, antwortete Bruno und lächelte verbindlich.

„Ob sich zu Liane ein Prinz auf einem weißen Pferd verirrt, ist noch ungewiss!“, antwortete Freundin Lisa leicht giftig.

„Die Hoffnung stirbt immer zuletzt, meine Damen!“, warf Bruno ein. „Sie sind doch beide noch in der Blüte ihrer Jahre – dagegen bin ich wahrlich ein alter Knacker! Aber jetzt muss ich mich erstmal um meine neuen Möbel kümmern.“

Die Logierzimmer

Die modernen hellen Betten und Schränke nahmen sich gut aus in den Räumen im Obergeschoss. Bruno war gespannt, was seine künftigen Mieterinnen dazu sagen würden?

An diesem Nachmittag fuhr er mit der Straßenbahn in die City und gab folgende Annonce für die Wochenzeitung auf: „Zwei möblierte Zimmer an Studentinnen kostengünstig zu vermieten. Zu besichtigen am Montag, d. 5. September, in der Waldsiedlung 14, bei Bruno Vergas.“

Anschließend suchte er ein Geschäft für Raumgestaltung auf, wo er Gardinen und Vorhänge bestellte sowie Decken und Kopfkissen kaufte.

Mit sich selbst zufrieden kehrte er in seiner alten Stammkneipe ein und bestellte einen Schoppen Spätburgunder.

Plötzlich stand Gerd an seinem Tisch und starrte ihn ungläubig an: „Mensch Bruno, bist du’s wirklich? Das ist ja eine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben. Ich dachte schon, du…“

„Ich lebe noch!“. Bruno grinste. „Soweit ist es noch nicht. Allerdings wohne ich jetzt in der Waldsiedlung, weil ich dort ein Haus geerbt habe.“

„Allein? Kommst du denn da zurecht?“

„Warum denn nicht? Bis jetzt ging’s doch auch.“

„Aber du wirst doch nicht jünger!“

„Prost!“„“