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2. Auflage 2020
© 2015 by mvg Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2012 by Sophia Dembling. Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel The Introvert’s Way bei Perigee, a member of Penguin Group (USA) LLC, A Penguin Random House Company.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christa Trautner-Suder
Redaktion: Petra Holzmann
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, nach einer Vorlage des Originalcovers
Satz: Pamela Machleidt
E-Book: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-86882-560-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-725-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-727-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

Widmung

Introvertierte, vereinigt euch!

Was würde Jung dazu sagen?

Amerikas großer Lärm

Sind Introvertierte schüchtern?

Born to be mild

Quiet Riot – Leiser Aufruhr

Gerade intensiv genug

Der langsame Gedankengang

Internal Flame – Die innere Flamme

Was Stille aussagt

Die fruchtbare Leere

Einfach gerne beobachten

Energie – nach innen oder außen gerichtet

Introvertiert oder einfach eine Zicke?

Zaubersätze für ein Energie-Leck

Sind Introvertierte misslungene Extrovertierte?

Muss man immer alle Menschen mögen?

Ruf mich nicht an, ich werde anrufen ...

Über das Recht, nicht feiern zu müssen

Einsamkeit ist eine Gemütsverfassung

Sind Introvertierte unglücklich?

Wer ist nun ein Narzisst?

Über die Vorteile der Extrovertierten

Das Party-Dilemma

Überlebensstrategien für Partys

Die Hölle muss eine Cocktailparty sein

Muss man langweiligen Leuten zuhören?

Ja sagen, wenn man eigentlich Nein sagen möchte

Extroversion aus der Flasche

There must be fifty ways to leave a party

Das Leben aus introvertierter Sicht

Wird das wirklich ein Spaß?

Spaß auf introvertierte Art

Freunde und Bekanntschaften – Wozu die Mühe?

Nur online extrovertiert

Der fröhliche Lärm der Extroversion

Weil sie uns lieben

Kleine Introvertierte

Liebt uns, aber lasst uns mal allein

»Ich hasse es verdammt noch mal, wenn sie das sagen«

Das Ein-Personen-Team

Meisterleistungen introvertierten Heldenmuts

Tipps, um Freunde zu finden

Von Gedankenfülle und Achtsamkeit

Typische Fehler Introvertierter

Aussagen, die Introvertierte stärken

Der Mittelweg

Smile on your brother

Dank

Lobende Stimmen zu »Introvertiert und hochsensibel«






Für Tom, weil ich ihn liebe und
weil er mich versteht.

Introvertierte, vereinigt euch!

Ich muss zugeben, dass es in meinem Leben Zeiten gab – und ich bin bereits seit einigen Jahrzehnten unterwegs –, in denen ich mich fragte, ob ich nicht vielleicht doch eine Art kaltherziger Snob sei. Warum ging ich so ungern auf Partys und warum hätte ich mich, kaum angekommen, am liebsten gleich wieder verdünnisiert? Warum war ich verärgert, wenn aus einer Verabredung mit einer Freundin oder einem Freund ein Gruppenausflug wurde? Warum war ich so übermäßig wählerisch darin, mit wem ich meine Zeit verbrachte? Warum gingen mir regelmäßige wöchentliche Anrufe von Freunden auf die Nerven? Warum brachten mich Herdenmenschen dazu, mich langsam zurückzuziehen? Warum war ich so gerne allein?

War ich schüchtern? Gemein? Wertend? Misanthropisch? Mürrisch? Hasste ich die Menschen? War ich sozial verkümmert? Stimmte irgendetwas nicht mit mir? Wie konnte ich mich ändern und die schulterklopfende Stimmungskanone werden, die alle zu bevorzugen schienen?

Warum war ich so? – Weil meine Natur eine andere ist. Ich bin introvertiert. Und mit mir ist rein gar nichts verkehrt.

Vor ein paar Jahren erfuhr ich erstmals etwas über Introversion – und dies hat meine Selbstwahrnehmung völlig verändert: zum Besseren hin. Ich hasse die Menschen nicht. Ich bin weder unfreundlich noch hochnäsig. Ich bin nicht schüchtern, nicht sozial schwierig oder in irgendeiner (mir bekannten) Weise sozial untauglich. Ich bin absolut fähig, ein Gespräch zu führen. Ich kann sogar vor Publikum sprechen und tue dies recht häufig. Wenn Sie mir begegnen, könnten Sie mich für extrovertiert halten. Das bin ich nicht. Aber viele Menschen verstehen die Introversion nicht, und wenn ich mich selbst als introvertiert bezeichne, versuchen manche Leute, mit mir zu streiten. Sie sagen, ich könne nicht introvertiert sein, weil ich in der Lage sei, aus dem Haus zu gehen, mich sozial zu verhalten und mich zu unterhalten.

Doch der Unterschied zwischen Extrovertierten und Introvertierten besteht nicht darin, dass die ersten gesellschaftsfähig sind und die zweiten nicht. Oder dass Introvertierte andere Menschen nicht mögen und Extrovertierte gleich mit allen gut Freund sind. Oder dass Introvertierte nicht gerne reden und Extrovertierte es lieben, lange zu plaudern. Oder dass Introvertierte Bücher bevorzugen, Extrovertierte hingegen Sport.

Einerseits trifft das alles ein bisschen zu. Andererseits ist es völlig falsch. Eines allerdings ist sicher: Je besser ich die Introversion verstehe, desto besser geht es mir damit und mit mir selbst. Daher dachte ich, ich sollte dieses Wissen teilen. Ziel dieses Buchs ist es, für die introvertierte Lebensart ein gutes Wort einzulegen und Introvertierten dabei zu helfen, mit sich selbst dieselbe stille Behaglichkeit zu erreichen, die ich inzwischen erlangt habe.

Mein erster Aufsatz über Introversion trug den Titel »Bekenntnisse einer introvertierten Reisenden«, er wurde auf einer Website namens World Hum (Der Lärm der Welt) veröffentlicht. Er löste sofort sehr viele Reaktionen aus. Tausende Klicks, Hunderte von Kommentaren, jede Menge Danksagungen und zahllose Menschen, die antworteten: »Ja, aber hallo!« Als ich 2009 anfing, über Introversion zu bloggen und die Mitteilungen Tausender Introvertierter verglich, die auf das Blog antworteten, stellte ich fest, dass es hinter all unserem – in meinem Fall amerikanischen – Geplapper eine Subkultur von Leuten gibt, die nur reden, wenn sie etwas zu sagen haben, die andere Leute mögen, aber nicht Tausende von Freunde brauchen, und die manchmal auch Spaß an Partys haben, nur eben auf ihre Art.

Unser Leben lang haben wir Introvertierten an das Märchen geglaubt, dass Extroversion besser und nun mal die westliche bzw. amerikanische Lebensart sei. In Ländern, in denen Extroversion die höchste Wertschätzung genießt, stehen Introvertierte allein schon deshalb unter Druck, weil sie anders sind. Nach herkömmlicher Meinung ist beispielsweise Amerika eine Nation von Extrovertierten – freundlichen Händeschüttlern, die ständig unmotiviert lächeln und auf Partys gehen, immer nach dem Motto: »Je öfter, desto besser.« Introversion gilt als sonderbar, peinlich, ja sogar als etwas, was Serienmördern anhaftet. Introvertierte werden gedrängt hinauszugehen, auf die Menschen zuzugehen, sich dem Team anzuschließen. Eltern machen sich Sorgen um ihre Kinder, wenn diese lieber allein in ihrem Zimmer spielen, als sich der Horde auf dem Spielplatz anzuschließen. Teenager, die sich als Bücherwurm entpuppen, werden ermahnt, endlich ihr Schneckenhaus zu verlassen. Erwachsene werden gescholten, wenn sie lieber allein arbeiten als im Team.

Man hat uns gesagt, zu viel Einsamkeit sei ungesund. Dass wir »zu intensiv« seien, weil wir tiefgründige, nachdenkliche Gespräche einem fröhlichen Geplauder vorziehen. Manchmal gelten wir als hochnäsig, weil wir nicht der Meinung sind, dass zwei notwendigerweise besser sind als einer, und weil wir ein Treffen unter vier Augen oder in einer kleinen Gruppe einer großen Menschenansammlung vorziehen.

Die Dinge, die Extrovertierte als Riesenspaß empfinden – ­Partys, Gruppenaktivitäten, Plaudern mit Fremden –, sind für uns In­trovertierte kein Spaß, was uns bei vielen Leuten als merkwürdig brandmarkt. Gelegentlich packen uns wohlmeinende Menschen am Arm und versuchen, uns zu Dingen zu bewegen, an denen wir keine Freude haben: Ringelpiez mit Anfassen. Lieder zum Mitsingen. Gemeinsame Wochenenden. Manchmal gehen wir ins Theater und geraten in diese sehr spezielle Hölle der Publikumsbeteiligung. Häufig besuchen wir eine Party nur aus Pflichtbewusstsein und nicht, weil wir Freude daran haben. Nachdem man uns zeitlebens erzählt hat, dass unsere Lebensart nicht die richtige sei, haben wir unser Leben lang versucht, »aus unserem Schneckenhaus« zu kommen, oder haben uns auf die Zunge gebissen und unserer Introversion nur heimlich nachgegeben, als wäre sie ein schmutziges Geheimnis. Tatsache ist jedoch: Es gibt eine Heerschar von Introvertierten, und sie lechzen nach Bestätigung.

An dieser Stelle setzt dieses Buch an.

Liebe Mit-Introvertierte, es ist an der Zeit, dass wir aufhören, etwas vorzutäuschen, es ist an der Zeit, dass wir aufhören, uns dafür zu entschuldigen, wie wir sind. Nur weil wir dazu in der Lage sind, der Welt ein extrovertiertes Gesicht zu zeigen, bedeutet das noch lange nicht, dass wir dies auch tun müssen. Es ist allein unsere Entscheidung. Introversion ist nicht falsch, Extroversion ist nicht richtig – und umgekehrt. Wir sind, wie wir sind, und genau das macht die Welt interessant.

In diesem Buch werde ich beides darlegen: die Probleme und die Lösungen, was wir sind und was wir nicht sind, was wir sein könnten und was wir nicht sein müssen, wenn wir das nicht wollen. Introversion ist keine Krankheit, sie ist nicht pathologisch und nicht schlecht. Sie ist ganz einfach eine Funktionsweise in dieser Welt, und daran ist überhaupt nichts Verkehrtes.

Es ist an der Zeit, dass wir unsere Natur annehmen und anfangen, unseren Fall zu verteidigen. – In aller Stille.

Was würde Jung dazu sagen?

Was genau ist Introversion? – Das hängt davon ab, wen Sie fragen.

Für Sigmund Freud in seiner miesepeterigen Art war Introversion pathologisch, eine Form der Neurose. Er definierte sie als »Abkehr der Libido von den Möglichkeiten der realen Befriedigung …« Mit anderen Worten: Er glaubte, Menschen seien introvertiert, weil sie der Realität nicht ins Auge blicken und nicht glauben können, dass sie niemals Sex haben werden. Glücklicherweise werden Gespräche heute nicht mehr von der sexbesessenen Freud’schen Meinungsmache beherrscht, auch wenn deren Schatten noch immer in dem Klischee der in einen Bademantel gehüllten männlichen Jungfrau weiterlebt, die bei Muttern in der Kellerwohnung lebt.

Seit den Tagen Freuds hat sich die Definition der Introversion gewandelt, verändert und ist gewachsen – und dieser Vorgang hält noch immer an. Introversion ist eigentlich ein schwer greifbarer Begriff, der näher bestimmt werden muss. Je genauer wir ihn uns anschauen, desto mehr allerdings entzieht er sich. Wissenschaftler arbeiten noch immer an dem Versuch einer Definition, die alle Nuancen der Introversion beinhaltet, und sie versuchen gleichzeitig, die Unterschiede zwischen Introversion und Schüchternheit, Hochsensibilität und weiteren Elementen herauszuarbeiten, die zur Sprache kommen, wenn Introvertierte die Introversion beschreiben. Zudem würden die Wissenschaftler gerne eine Definition finden, die ihnen bei der empirischen Erforschung in der Psychologie und in den Kognitionslabors helfen könnte.

C.G. Jung, ein Schützling Freuds, des ewigen Sexgeredes und der negativen Art seines Mentors überdrüssig, trennte sich von diesem, um seine eigenen Gedanken zu formulieren und eine weniger trostlose Meinung über Introversion und Extroversion zu äußern – ihm ist übrigens die Popularisierung dieser Begriffe zu verdanken. Jung war der Erste, der das Modell der psychischen Energie aufbrachte und darauf hinwies, dass die Energie bei Introvertierten nach innen und bei Extrovertierten nach außen fließt. Wir Introvertierten sind geneigt, diese Definition aufzugreifen. Wir empfinden sie als richtig, weil wir genau wissen, wie es sich anfühlt, wenn unsere Energie aufgebraucht ist, weil wir sie zu sehr haben nach außen fließen lassen. Ein Wochenende in größerer Gesellschaft kann mich persönlich anschließend ein paar Tage geradezu ins Koma versetzen. Eine Woche in größerer Gesellschaft, und ich muss mich mindestens eine Woche lang in meine Höhle zurückziehen.

Diese Theorie der nach innen oder außen fließenden Energie bestimmt noch immer die allgemeine Diskussion, auch wenn es so gut wie unmöglich ist, »psychische Energie« zu definieren, und noch schwieriger, sie im Labor zu messen. Dennoch gehört sie zu den Dingen, die die meisten von uns sozusagen auf zellulärer Ebene verstehen. Zu schade, dass »ich weiß es genau« nicht ausreicht, sodass Wissenschaftler irgendwelche Daten daran festmachen könnten.

Hans Jürgen Eysenck, ein deutsch-britischer Psychologe, brachte die Soziabilität in die Diskussion mit ein. Eysenck betrachtete die Introversion als das Gegenteil der Extroversion, die er als kontaktfreudig, gesellig, begeisterungsfähig und impulsiv beschrieb. Nach diesem Modell klingt die Introversion in meinen Ohren wie ein trostloses Päckchen; Begriffe, die das Gegenteil von Eysencks Definition der Extroversion beschreiben, sind »kontaktarm«, »nicht begeisterungsfähig«, »distanziert«. Während Freud uns das Trauerkloß-Jungfrau-Modell der Introversion bescherte, kann man Eysenck zum Teil für das Klischee des kontaktarmen Menschenfeindes verantwortlich machen. (Wobei wir, wenn wir uns die Charakterzüge der Extroversion noch einmal ansehen, vielleicht darin übereinstimmen könnten, dass Impulsivität nicht unbedingt etwas ist, worauf man immer stolz sein kann. Ein Punkt geht also doch an die Introvertierten.) Eysenck war auch der Erste, der äußerte, Introversion und Extroversion könnten physiologisch bedingt sein; die Gehirne der Extrovertierten könnten nach mehr Erregung lechzen als die Gehirne der Introvertierten.

Nicht, dass Eysenck bezüglich der Introversion in allen Punkten falsch liegen würde oder diese unbedingt kritisch sähe. Wir Introvertierten sind tatsächlich weniger gesellig als Extrovertierte. Diese Definition ist für uns in Ordnung. Ich möchte nur, dass die Rechtmäßigkeit dieser Tatsache anerkannt und nicht als Mangel abgestempelt wird. (Mehr dazu später.) Auch gefällt mir der Gedanke, dass Introversion tatsächlich eine Veranlagung ist, weil ich die Leute satt habe, die versuchen, mich zu ändern – oder das Gefühl, ich müsste mich selbst ändern. Wenn dies meine bzw. unsere grundlegende Natur ist, kann sie nicht verändert werden.

In den 1960er-Jahren begannen andere Persönlichkeitstheoretiker, die sogenannten Big Five zu entwickeln: das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit. Dabei handelt es sich um Persönlichkeitszüge, die zeitlebens relativ stabil bestehen bleiben. Die Extroversion und deren Gegenteil, die Introversion, gehören zu diesen Persönlichkeitszügen. (Die weiteren sind Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Soziale Verträglichkeit). Jeder von uns steht auf diesem Kontinuum der Persönlichkeitszüge auf einem anderen Platz. Die Extroversion hat in diesem Modell sechs Aspekte: herzlich, gesellig, durchsetzungsfähig, aktiv, empfänglich für An- und Aufregungen und positiv gestimmt. Auch hier ist es wieder so, dass nichts Schönes herauskommt, wenn man das Gegenteil der Extroversion extrapoliert: kalt, schweigsam, nachgiebig, häuslich, langweilig und mürrisch. Ich weise jede dieser Beschreibungen zurück, ausgenommen vielleicht die Häuslichkeit, denn häuslich kann ich zeitweise durchaus sein. Auch mürrisch kann ich gelegentlich sein, normalerweise jedoch nur dann, wenn meine Energie durch zu viel Geselligkeit erschöpft ist.

In den letzten Jahren hat die Debatte darüber angehalten, was Introversion ist, sie hat jedoch seit Freuds griesgrämiger Bewertung einen weiten Weg zurückgelegt. Unter Einsatz aller heute verfügbaren neuen Hochleistungstechnologien im Bereich der Gehirn-Scans beginnen die Wissenschaftler tatsächlich, Unterschiede in den Gehirnen Introvertierter und Extrovertierter festzustellen. Und allmählich setzt sich auch die Auffassung durch, dass Introversion gar nicht so schlecht sei – dass sie tatsächlich einige wirklich gute Qualitäten haben könnte. Die Psychoanalytikerin und Autorin Marti Laney war eine der ersten der sogenannten »Pro-Introversions«-Bewegung und bereicherte die Diskussion um einige weitere Qualitäten Introvertierter: scharfsinnige Denker, kreativ, sich selbst reflektierend, flexibel, verantwortungsbewusst.

Das ist großartig und liefert Ansätze, die Introversion in eine völlig andere Richtung zu definieren. Das tut beispielsweise der von der Psychologin Elaine Aron geprägte Begriff der »Hochsensiblen Personen« (kurz HSP), der ebenfalls in den Introversions-Definitions-Mix aufgenommen wurde, weil viele Introvertierte, die ihre Bücher gelesen haben, sich darin selbst wiedererkannt haben. Hochsensible Menschen werden schnell von zu viel Aufregung und Unruhe überwältigt, sie sind empfänglich für die Stimmungen anderer Menschen und nehmen alles in ihrer Umgebung übermäßig stark wahr. Dies ist eine Frage der sensorischen Verarbeitung. Von mir ist bekannt, dass ich zu einer großen, lebhaften Party ging und beinahe in Katatonie verfiel. Ob diese hohe Empfindlichkeit für äußere Stimuli nun auch ein Aspekt der Introversion oder etwas anderes ist, insgesamt trägt dieser zusätzliche Aspekt der Definition der Introversion jedenfalls zu weiterer Verwirrung bei.

Und es gibt das Problem, dass Schüchternheit lange Zeit als Synonym für Introversion galt. Die vielen Jahre, in denen Wissenschaftler und andere »Introversion« und »Schüchternheit« als austauschbare Begriffe verwendet haben, machen die Sache entschieden verworrener, vor allem im Labor. In der Vergangenheit wurde viel Forschungsarbeit unter der Annahme geleistet, dass Schüchternheit für Introversion stünde, daher ist die Forschung zwar durchaus interessant und teilweise auch relevant, teilweise jedoch auch irrelevant. Dennoch werden wir uns hier damit beschäftigen, einfach weil es nichts anderes gibt. Wir nehmen sie als Notbehelf.

Trotz der Verwirrung wird eines zunehmend klar: Introversion ist mehr als nur die Abwesenheit von Extroversion. Wir Introvertierte nehmen unseren eigenen Raum in der Welt ein, auch wenn dessen Gestaltung noch nicht vollständig definiert ist. Wir sind ein bisschen Jung und ein bisschen Eysenck. Laney trägt zu unserem Wohlbefinden bei, und wir glauben gerne, dass wir kreativ und nachdenklich sind und all diese anderen guten Eigenschaften haben, aber empirische Daten, um dies zu bestätigen, gibt es nicht. Viele Introvertierte beziehen sich auf Arons HSP, auch wenn das Urteil darüber, ob ein Zusammenhang mit Introversion vorhanden ist, noch aussteht.

Die gute Nachricht jedoch lautet, dass sich Introvertierte mehr als je zuvor (Dank sei dem World Wide Web) zusammenschließen, miteinander sprechen, Nachrichten austauschen und ihre Natur annehmen, wie sie ist. Die Wissenschaftler sollen die Arbeit im Labor erledigen, wir jedoch betreiben Feldforschung. Wir sind Teil der Bewegung, um die Introversion zu definieren, zu schildern und zu verstehen, und kommen dem Ziel täglich näher, alles darüber herauszufinden.

Amerikas großer Lärm

Amerikas Kultur ist laut. Wir brüllen einander auf alle erdenklichen Arten an – Politiker und Experten, Filmstars und die Stars aus Realityshows, Reklameflächen und Fernseher, Handys und SMS, alle fordern unsere Aufmerksamkeit. Schlagzeilen informieren ebenso auffällig über Autobomben und die Scheidung irgendwelcher Prominenter; Blockbuster-Filme werden immer lauter, teurer und realitätsferner. Im TV-Land sprechen die Führungskräfte darüber, dass sie »laute« Shows brauchen, um sich im Wirrwarr von Hunderten von Kanälen und Hunderten von Shows durchzusetzen. Blam! Slam! Explosions! Gunfire! Zombies! When animals attack! Ruhige Shows über ruhige Emotionen sterben häufig fast lautlos innerhalb weniger Wochen nach ihrem Start. – Das alles ist nicht nur in Amerika so!

Sogar die Lautstärke der Trauer haben wir aufgedreht. Ich war überrascht und bestürzt über die Orgie öffentlicher Trauerbekundungen, die nach dem Tod von Prinzessin Diana zu erleben war. Sie schien eine total nette Lady gewesen zu sein, aber warum musste das Jammern so öffentlich und überdreht sein? Hatten denn alle Menschen auf der Welt irgendeine persönliche Beziehung zu ihr, die mir entgangen war? Wann wurde aus einfacher Trauer ein unangemessener Ausdruck von Gram?

Auch Facebook hat die Trauer in die Öffentlichkeit getragen, ob nun als Reaktion auf die Nachrichten von Prominenten, wie den Tod von Michael Jackson, oder im Fall persönlicher Verluste, die man auf verweinten Facebook-Seiten posten und alle »Freunde« dazu einladen kann, den eigenen Kummer zu teilen. Wir verschweigen nichts mehr, und je lauter wir werden, desto lauter wird alles, um den Umgebungslärm, den wir erzeugt haben, zu übertönen.

Dieses Hochfahren gilt nicht nur für die Lautstärke, sondern auch für unsere Erwartungen. Stiller Erfolg – das Malen eines Bildes, das Schreiben eines Gedichts, das Verfassen eines Algorithmus’ – ist schön und gut, wenn man damit aber nicht berühmt wird, zählt er dann überhaupt? Stürzt ein Baum im Wald um, ohne in einem Nachrichtensender erwähnt zu werden, ist es dann tatsächlich passiert?

Nicht nur Amerika hat seine Lautstärke weit aufgedreht. Doch in gewisser Weise wirkt diese Nation dadurch extrovertierter denn je. Das Land ist voller quietschender Reifen, die Aufmerksamkeit verlangen. Die Politik ist laut und kriegerisch, und die lautstärksten und vorlautesten Experten erhalten die meiste Aufmerksamkeit, so wie man eine schrillende Autoalarmanlage nicht überhören kann. Unsere stillen Denker, Intellektuellen, Dichter und Philosophen haben keine Chance, über all diesem Lärm gehört zu werden. Alle Introvertierten werden übertönt.

Bei persönlichen Kontakten zwischen Extrovertierten und In­trovertierten sind die Introvertierten auf dem Rückzug. Wenn sie sich einem Plappermaul gegenübersehen, entziehen sie sich einfach mental, lassen die Worte über sich niedergehen, während sie sich still in ihren Kopf zurückziehen. Bei einer großen lebhaften Party halten sie nach einem Platz Ausschau, wo sie abseits des Klamauks sitzen und sich freuen können, wenn jemand auf einen Besuch vorbeischaut, aber sie werden sicher nicht aufspringen, um sich einer Polonaise anzuschließen.

Näher betrachtet haben es Introvertierte jedoch nicht so einfach. Introvertierte sind – häufig wichtige – Zahnräder in der Maschinerie, deren Beiträge oft übersehen oder heruntergespielt werden. Bei einem erfolgreichen Film werden die Schauspieler gerühmt, nicht der Drehbuchautor. Der Gipfel des Erfolgs für ein Buch ist heutzutage, wenn es verfilmt wird; sobald eine Geschichte mit Geräusch verbunden ist, ist sie etwas wert. Die Stars von Realityshows verdienen sehr viel mehr Geld als Bibliothekare. (Nicht dass Bibliothekare nicht extrovertiert sein könnten.) Wie, glauben Sie, sieht das Verhältnis von weltberühmten klassischen Musikern gegenüber weltberühmten jungen Frauen aus, die tanzen, eine Art Gesang von sich geben und leicht bekleidet eine gute Figur machen? Ex­trovertierte lieben es, im Rampenlicht zu stehen, und sie wissen, wie sie es bekommen.

Wobei das nicht heißen soll, dass es keine extrovertierten Schriftsteller oder introvertierten Schauspieler gäbe. Eine der extrovertiertesten Schriftstellerinnen, die ich kenne, arbeitet sehr viel als Ghostwriterin. Dazu muss sie sich in das Gehirn eines anderen versetzen und diese Person im eigenen Gehirn lebendig werden lassen. Das klingt für mich unerträglich. In meinem Gehirn ist wirklich nicht genügend Platz für jemand anderen. Introvertierte Schauspielerinnen wie Julia Roberts werden eher dann berühmt, wenn sie im extrovertierten Modus agieren – beim Spielen, beim Plaudern in Talkshows, bei Auftritten auf dem roten Teppich. Sobald es anschließend möglich ist, ohne die Karriere zu gefährden, ziehen sich introvertierte Filmstars in ein gut beschütztes Leben zurück, in dem sie sehr streng auswählen, wer sie wann und wie zu Gesicht bekommt. Johnny Depp ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn er nicht auf der Leinwand ist, lebt er meist abgeschottet von den Blicken der Öffentlichkeit.

In gewisser Weise ist das alles sehr schön. Wir Introvertierten mögen es nicht, wenn aller Blicke auf uns ruhen. Es kann jedoch auch frustrierend sein, wenn wir etwas zu sagen haben, aber nicht brüllen möchten.

Wie können wir uns bei all dem Lärm verständlich machen?

Ich erinnere mich, einmal ein Interview mit Marlon Brando gelesen zu haben, der beschrieb, wie er seine Rolle in Der Pate angelegt hat. Brando sagte, er habe festgestellt, dass mächtige Menschen immer leise sprechen und Don Corleones Ruhe und fast unhörbare Sprechstimme der Schlüssel zu der Rolle seien. Wenn Corleone spreche, müsse man still sein, um ihn zu hören. Was können wir von Don Corleone lernen (ich meine jetzt nichts, was das Töten von Menschen angeht!)? Dass Stille ihre eigene Kraft hat, wenn wir sie uns nutzbar machen können.

Introvertierte sind dabei, sich Gehör zu verschaffen, und auch wenn jede einzelne Stimme leise ist, muss man sie nur zusammenfassen, um eine deutlich lautere Stille zu erhalten. Anstatt zu versuchen, die ganze Nation zu übertönen, müssen wir standhaft bleiben und unsere Wahrheiten konsequent äußern. Fangen wir bei den Menschen an, die uns am nächsten stehen, sagen so oft wie nötig, was zu sagen ist und wer wir sind, bis es Wirkung zeigt. Hören wir auf, uns zu entschuldigen oder uns davonzuschleichen, wenn wir eine Party verlassen möchten. Geben wir sanft Kontra, wenn irgendjemand versucht, uns wegen unserer Natur zu beschämen. Manchmal ist es nicht nötig, etwas laut zu sagen, um gehört zu werden, wenn man es nur konsequent immer und immer wieder sagt. Ein Introvertierter nach dem anderen wird schließlich dafür sorgen, dass man uns hört.

Sind Introvertierte schüchtern?

Introvertierte werden immer wieder fälschlich für extrovertiert gehalten, weil viele Leute meinen, Introversion sei dasselbe wie Schüchternheit. Das ist es aber nicht.

Ja, Schüchternheit und Introversion haben beide mit Geselligkeit zu tun, aber während schüchterne Menschen Angst davor haben, unter Leute zu gehen, sind Introvertierte einfach nicht immer daran interessiert.

Louis A. Schmidt, ein Neurowissenschaftler der McMaster University, der Schüchternheit erforscht, veränderte meine Denkweise bezüglich Introversion und Schüchternheit völlig. Er definiert Introversion als eine Motivation – in diesem Fall den schwachen Wunsch, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Extrovertierte haben eine sehr viel größere Sehnsucht nach Gesellschaft als Introvertierte.

Schüchternheit definiert er hingegen als ein Verhalten. Schüchterne Menschen sind gehemmt, angespannt und fühlen sich in Gesellschaft unwohl. Und so wie Introvertierte schüchtern sein können, trifft dies auf Extrovertierte ebenso zu.

Weiter erklärt Schmidt: »Wenn wir uns die Wechselwirkung zwischen Schüchternheit und Introversion anschauen und beide als zwei verschiedene Dimensionen behandeln, dann ist es so, als würde die unabhängige Messung das Verhalten um einzigartige Varianten bereichern.« Für Nicht-Neurowissenschaftler übersetzt heißt dies, dass sich jemand, der introvertiert und schüchtern ist, anders verhält als jemand, der introvertiert und nicht schüchtern ist, der wiederum verhält sich anders als jemand, der extrovertiert und schüchtern ist, wobei der sich auch wieder anders verhält als jemand, der extrovertiert und nicht schüchtern ist.

Die unglücklichste Kombination ist extrovertiert und schüchtern. Diese bedauernswerten Seelen möchten gesellig sein und fürchten sich doch davor. Es sind diejenigen, die bei jeder Party aufkreuzen und dann in der Ecke kauern oder verängstigt und stumm bei Events herumstehen oder vielleicht zu alkoholischen Getränken greifen, um den Partylöwen bzw. die Partymaus in sich hervorzulocken. (Das probieren auch manche Introvertierte, insbesondere wenn sie jung sind und versuchen, sich einer studentischen Partygesellschaft anzupassen. In der Regel entwachsen sie diesem Stadium jedoch. Mehr dazu später.)

Ich selbst bin introvertiert und nicht schüchtern. Das bedeutet, wenn ich einen Schritt aus »meinem eigenen Kopf« heraus tun möchte, geht das problemlos. Aber oft will ich das nicht. Mein Job verlangt es beispielsweise häufig, dass ich reise und mit Gruppen durch verschiedene Gegenden fahre. An manchen Tagen bin ich mittendrin, plaudere und scherze und lasse meine Stimme bei den Sitzungen fröhlich vernehmen. An anderen Tagen bin ich daran einfach nicht interessiert, dann nehme ich mich zurück, überlasse anderen das Rampenlicht und erfreue mich an meiner eigenen Gesellschaft. Das kann tatsächlich von einer Stunde auf die andere umschlagen. Ich bin kein Morgentyp, deshalb trinke ich meine erste Tasse Kaffee in meinem Hotelzimmer, egal wie abscheulich der Kaffee ist, der aufs Zimmer gebracht wird (der schmeckt in der Regel ziemlich grässlich). Nachmittags kann ich durchaus in der Stimmung sein für etwas freundschaftlichen Spaß und Geplauder, aber abends bin ich in der Regel wieder so weit abzuschalten.

Schüchternheit kann in großem Ausmaß überwunden werden. Bei der Introversion ist das nicht der Fall, und das ist in Ordnung so. Introvertierte, die ihre Natur akzeptiert haben, fühlen sich nicht so, als fehle ihnen etwas. Abgesehen davon können sich viele Introvertierte wie Extrovertierte benehmen, wenn sie wollen. Wenn die extreme Introversion an einem Ende des Kontinuums liegt und die extreme Extroversion am anderen Ende, leben viele Introvertierte zwischen beiden Extremen; und je näher ein Introvertierter in der Mitte liegt, desto leichter fällt ihm eine extrovertierte Verhaltensweise.

In einer Online-Diskussion beschrieb sich ein Typ als »verwegenen Introvertierten« wegen seiner Fähigkeit, einen Raum zu betreten und dabei eine Show abzuziehen. Eine Frau bezeichnete sich selbst als »extrovertierte Introvertierte«. Wenn ich für mich beschließe, die Extrovertierte zu geben, nenne ich das meine »Zirkusshow«.