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Ole Hallesby – Vom Beten – Eine kleine Schule des Gebets – SCM R.Brockhaus

INHALT

Vorwort

Das Wesen des Gebets

Die Schwierigkeiten des Betens

Gebetsarbeit

Der Kampf des Gebets I

Der Kampf des Gebets II

Missbrauch des Gebets

Beten zur Ehre Gottes

Die Form des Gebets

Rätsel des Gebets

Die Schule des Betens

Der Geist des Gebets

Vorwort

Ich glaube, es hat kaum ein Buch gegeben, das zu schreiben mir mehr am Herzen gelegen hätte als dieses. Aber ich habe mich auch vor keinem Buch mehr gefürchtet. Denn ich finde, es ist schwer, über das Gebet zu sprechen oder zu schreiben.

Dieses Buch will nicht mehr sein als ein schlichter Rat für müde Beter. Und es beansprucht nicht, eine erschöpfende Behandlung dieses Gebietes geben zu wollen.

Mein Wunsch und mein Gebet ist nur dies eine: das Evangelium des Gebetes zu verkünden, ohne dabei irgendeines der Gesetze des Gebetslebens zu übersehen.

Ole Hallesby

Die Bibelstellen über den Kapiteln

Seite 7: Offb. 3,20; Seite 29: Jak. 4,2; Seite 51: Matth. 9,38; Seite 70: Mark. 14,38; Seite 81: Röm. 15,30-31; Seite 96: Jak. 4,3; Seite 100: Joh. 14,13; Seite 108: Ps. 62,9; Seite 120: Matth. 17,20; Seite 128: Luk. 11,1; Seite 134: Sach. 12,10; Röm. 8,26.

Das Wesen des Gebets

Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.

In der ganzen Schrift kenne ich kein Wort, das ein klareres Licht auf das Gebet wirft als dieses. Mir scheint es der Schlüssel zu sein, der die Tür in die heilige Welt des Gebets öffnet.

Beten ist: Jesus einlassen.

Hier hören wir zunächst, dass es nicht unser Gebet ist, das Jesus in Bewegung setzt. Sondern es ist Jesus, der uns dazu bewegt zu beten. Er klopft an. Damit gibt er zu erkennen, dass er zu uns hinein will. Unser Gebet ist immer eine Wirkung davon, dass Jesus bei uns anklopft.

Dadurch fällt neues Licht auf das alte Prophetenwort: »Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören« (Jes. 65,24). Ja, wahrhaftig, ehe wir rufen, lenkt er unsere Sinne auf die Gabe, die er uns schon vorausbestimmt hat. Er klopft an, um uns zu bewegen, durch Beten bereit zu werden, die uns zugedachte Gabe anzunehmen.

Schon immer hat man das Gebet als das Atemholen der Seele bezeichnet. Ein ausgezeichnetes Bild! Die Luft, die unser Körper braucht, umgibt uns von allen Seiten und sucht in uns einzudringen. Es ist bekanntlich schwerer, die Luft anzuhalten, als zu atmen. Denn wir brauchen nur unsere Atemorgane offen zu halten, dann geht die Luft in unsere Lunge und tut ihren Leben spendenden Dienst für den ganzen Körper.

Die Luft, die unsere Seele braucht, umgibt uns alle jederzeit und von allen Seiten. Gott umgibt uns in Christus von allen Seiten mit seiner mannigfaltigen und vollkommen ausreichenden Gnade. Wir brauchen nur unsere Seele zu öffnen.

Und nun ist das Gebet das Organ, durch das wir Christus in unsere welke und dürre Seele aufnehmen.

Er sagt: »Wenn jemand die Tür auftut, will ich eintreten.« Achte genau auf jedes Wort: Es ist nicht unser Gebet, das Jesus in die Seele hineinzieht. Es ist auch nicht unser Gebet, das Jesus bewegt, bei uns einzutreten.

Er sucht nur die offene Tür – im Übrigen war es längst sein Wunsch, bei uns einzukehren, er tritt überall ein, wo ihm der Zugang nicht verweigert wird. Wie die Luft still in uns hineingeht, wenn wir atmen, und ihren regelmäßigen Dienst an unserem Leibe tut, so geht Jesus still in unser Herz ein und tut dort seinen guten Dienst.

Er nennt es: das Abendmahl mit uns halten.

Im biblischen Sprachgebrauch bezeichnet die gemeinsame Mahlzeit die vertraulichste und festlichste Form des Zusammenseins. Das wirft einen neuen Schein auf das Wesen des Gebets: Es ist von Gott aus als das vertraulichste und festlichste Zusammensein zwischen Gott und dem Menschen gedacht.

Sieh, wie gnädig das Gebet eingerichtet ist!

Es bedeutet nichts weiter, als Jesus in unsere Not einschließen. Es bedeutet, Jesus Zugang geben, damit er seine Kraft für unsere Not gebrauchen kann. Es bedeutet, Jesus Gelegenheit geben, seinen Namen inmitten unserer Not zu verherrlichen.

Der Erfolg des Gebets hängt darum nicht von der Kraft des Betens ab. Weder sein starker Wille noch ein brennendes Gefühl, noch seine klaren, durchdachten Gebetsgegenstände sind die Bedingungen für eine Gebetserhörung. Nein, Gott sei Dank, der Erfolg des Gebets ist nicht davon abhängig.

Beten bedeutet nichts weiter, als Jesus Zugang zu uns gewähren, so dass er an unsere Not herankommen kann, und ihm erlauben, unsere Not zu teilen und sie zu überwinden, wenn seine Stunde gekommen ist.

Er, der uns das Gebet gab, kennt uns sehr gut. Er weiß, woraus wir geschaffen sind, und denkt daran, dass wir Staub sind.

Darum hat er das Gebet so eingerichtet, dass auch der Kraftloseste beten kann. Denn es bedeutet ja nur, sich für Jesus aufzuschließen. Dazu ist keine Kraft nötig. Das ist eine Sache des Willens. Ob wir Jesus zu unserer Not hineinlassen wollen, ist die einzige aber grundlegende Frage des Gebets.

Als sich die Israeliten in der Wüste gegen den Herrn versündigt hatten, schickte er ihnen besonders giftige Schlangen. In dieser Not beugte sich das Volk und rief Gott um Gnade an. Und der Herr erbarmte sich über das widerspenstige Volk. Aber er nahm nicht die Schlangen hinweg, sondern ließ Mose eine kupferne Schlange mitten im Lager aufrichten, so dass alle sie sehen konnten. In seiner Gnade bestimmte er, dass die von Schlangen Gebissenen sich nur umzuwenden und auf die Kupferschlange hinzusehen brauchten, um auf der Stelle die Kraft zu bekommen, die sie von dem todbringenden Gift des Schlangenbisses heilen würde.

Das war eine gnädige Anordnung. So konnten alle gerettet werden, wenn sie nur wollten.

Hätte der Herr bestimmt, dass die Gebissenen sich zu der Kupferschlange hinschleppen sollten, um sie anzurühren, so wäre den meisten nicht geholfen worden; denn das Gift wirkte ja augenblicklich, so dass sie kaum mehr einige Schritte zu gehen vermochten. Aber es war nicht mehr nötig, als den Kopf zu wenden und die Kupferschlange anzusehen, um geheilt zu werden.

Genauso hat der Herr in seiner Gnade auch für die im Neuen Bund von Schlangen Gebissenen Hilfe gewusst: »Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben« (Joh. 3,14-15).

In welche Not wir auch kommen, in Not der Seele oder des Leibes, wir brauchen nur unseren Blick auf ihn zu richten, der allezeit bereit ist, mit seiner heilenden Kraft das tödliche Gift der Sünden und ihre gefährlichen Folgen für Seele und Leib auf der Stelle zu überwinden.

Beten bedeutet nicht mehr, als betend den Blick zu dem Erlöser zu erheben, der bereitsteht und anklopft, gerade durch unsere Not anklopft, um in unsere Not hineinzukommen, das Mahl mit uns zu halten und seinen Namen zu verherrlichen.

Denken wir einmal an Menschen, die erkrankt sind. Die Ärzte verordnen ihnen den Aufenthalt in Sonne und frischer Luft, Sommer wie Winter. Dort liegen sie, bis die ständige Einwirkung der Luft und der Sonnenstrahlen zu einer Heilung geführt hat.

Die Heilung beruht nicht auf ihrem Verständnis von der Wirkungsweise der Sonnenstrahlen und der frischen Luft. Sie beruht auch nicht auf ihren Gefühlen während der Kur, auch nicht auf ihrem Willen, indem sie sich anstrengen, gesund zu werden.

Nein, gerade dann wirkt die Kur am besten, wenn sie sich ganz still und passiv verhalten, ohne Gedanken oder Willen anzustrengen. Die Heilung vollführt die Sonne. Die Kranken brauchen nichts weiter, als mit ihrer Krankheit in Luft und Sonnenschein zu bleiben.

Genauso einfach ist das Gebet.

Wir alle sind angefressen von der ätzenden Wirkung der Sünde, sind alle dem Tode geweihte Patienten, aber »die Sonne der Gerechtigkeit ist aufgegangen mit der Heilkraft ihrer Strahlen«. Zu einer Heilung für Zeit und Ewigkeit wird nicht mehr von uns verlangt, als daß wir uns von der Sonne der Gerechtigkeit treffen lassen und so in diesem Sonnenbad liegen bleiben.

Beten bedeutet nichts anderes, als sich in die Sonne der Gnade legen, die Not seiner Seele und seines Leibes in diesem heiligen Licht ausbreiten, das mit seinen Wunder tuenden Kräften alle Bakterien der Sünde entkräftet. Ein Beter zu sein heißt, in einer Lichtkur sich befinden und Jesu wundertätige Kraft Tag und Nacht auf alle Not einwirken lassen. Christ sein bedeutet in Wahrheit, einen Platz an der Sonne bekommen haben!

Ich möchte an einem Beispiel zeigen, wie einfach der Herr das Gebet eingerichtet hat:

Der Gichtbrüchige, von dem in Markus 2 erzählt wird, hatte gute Freunde. Diese wussten, dass Jesus ihm helfen konnte. Und so trugen sie ihn vor das Haus, in dem Jesus war. Aber dort waren so viele Menschen, dass sie nicht hineinkommen konnten. Resolut trugen sie ihn auf das Dach, deckten es ab und ließen ihn gerade zu Jesu Füßen hinab.

Ruhig standen diese Freunde da und warteten auf das entscheidende Wort von Jesus, das ihren kranken Freund auf der Stelle gesund machen sollte. Aber merkwürdigerweise kam dieses Wort nicht, sondern sie hörten ein anderes, entscheidendes Wort: »Mein Sohn, sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben!«

Es war also eine andere Bitte, die Jesus stärker ansprach. Das war die Bitte des Kranken um Vergebung seiner Sünden. Und doch hatte der Mann nicht ein einziges Wort zu Jesus gesagt. Er lag ganz still auf seinem Bett.

Ich kann mir leicht denken, dass er dalag und nur Jesus ansah.

Aber Jesus hörte dieses Gebet ohne Worte, das aus dem Herzen dieses kranken Mannes um Vergebung der Sünden schrie. Und Jesus erhörte erst dieses Gebet. Danach erhörte er auch das andere Gebet und machte den Kranken leiblich gesund.

Das hilft uns, ein wenig tiefer in die Verborgenheit des Gebets zu schauen.

Das Gebet geht tiefer als alle unsere Worte. Es lebt in der Seele, bevor wir es in Worte kleiden können. Und es bleibt wieder in der Seele, wenn das letzte Wort des Gebets über unsere Lippen gegangen ist.

Das Gebet ist eine Beschaffenheit unseres Herzens, ein Gemütszustand. Beten ist eine ganz bestimmte Herzensstellung zu Gott, die er im Himmel sofort als einen Ruf vernimmt. Ob das in Worte geformt ist oder nicht, bedeutet für Gott nichts, wohl aber für uns.

Welches ist die Beschaffenheit und die Haltung des Herzens, die Gott als Gebet erkennt? Ich will zwei Dinge nennen.

1. Hilflosigkeit

Hilflosigkeit ist fraglos das erste und sicherste Kennzeichen eines betenden Herzens. Soviel ich verstehe, ist das Gebet eigentlich für die Hilflosen eingerichtet. Es ist der letzte Ausweg der Hilflosen. Ja, wahrhaftig, der letzte Ausweg. Wir versuchen alles, bevor wir endlich den Weg des Betens gehen.

Nicht nur vor der Bekehrung ist das so. Unser ganzes Christenleben hindurch ist das Beten unser letzter Ausweg. Ich weiß wohl, dass wir oft schöne Gebete sprechen, privat und öffentlich, ohne dass uns die Hilflosigkeit treibt. Aber ich bin nicht sicher, ob das Gebete sind.

Beten und Hilflosigkeit gehören unlöslich zusammen. Es sind sicher nur die Hilflosen, die beten können.

Höre du zu, der du oft so hilflos bist, dass du nicht weißt, was du tun sollst. Manchmal verstehst du nicht einmal zu beten. Dein Herz ist so voller Sünden und Unreinheit; alle deine Interessen sind von dem erfüllt, was die Bibel Welt nennt. Gott, das Ewige und das Heilige sind dir so fern und so fremd, dass du es als eine doppelte Sünde empfindest, dich Gott mit einem solchen Gemüt nahen zu wollen. Ab und zu fragst du dich selbst: »Will ich denn wirklich los werden von diesem lauen Sinn und diesem weltlichen Leben? Sind die Lauheit und Halbheit meines Christenlebens nicht eine Frage davon, dass ich es im tiefsten Grunde meines Herzens gar nicht anders haben will?«

So streitet die redliche Seele gegen ihre eingeborene Unredlichkeit und fühlt sich so hilflos verloren, dass das Gebet auf den Lippen erfriert.

Höre, mein Freund! Deine Hilflosigkeit ist dein bestes Gebet. Sie ruft aus deinem Herzen besser zu Gottes Herzen als alle deine Worte und formulierten Gebete. Er hört dich vom ersten Augenblick an, da dich die Hilflosigkeit ergriffen hat. Und er macht sich schon bereit, dir zu helfen. Heute wie damals, als er das hilflose und wortlose Gebet des Gichtbrüchigen erhörte.

Als Mutter verstehst du leichter diese Seite des Gebets. Dein kleines, zartes Kind kann nicht eine einzige Bitte an dich in Worte kleiden; und doch bittet es, so gut es kann, indem es schreit. Aber du verstehst die Bitte in seinem Schreien. Ja, das Kleine braucht nicht einmal zu schreien. Du brauchst es nur zu sehen in all seiner hilflosen Abhängigkeit von dir, so erreicht seine Bitte dein Mutterherz, eine Bitte, die eindringlicher ist als der lauteste Schrei.

Er, der Vater ist für alle, die Mutter genannt werden, und alle, die Kinder heißen im Himmel und auf Erden, nimmt in derselben Weise teil an uns. Unsere Hilflosigkeit ist eine einzige Bitte an sein Vaterherz. Und er ist unaufhörlich bereit, diese Bitte zu hören und unseren Drang zu stillen. Tag und Nacht ist er bereit dazu, obgleich wir meist nicht darauf achten, geschweige denn ihm dafür danken.

Als Mutter verstehst du ihn hierin besser als wir anderen. Du versorgst das Kleine Tag und Nacht, obgleich es nicht versteht, was du für es tust, opferst und leidest. Es dankt dir auch nicht und ist oft unwillig und sogar widerspenstig gegen dich. Aber du lässt dich nicht beirren. Du hörst unablässig die Bitten, die seine Hilflosigkeit an dein Mutterherz richtet.

Genauso ist Gott.

Nur mit dem Unterschied, dass sein Wirken vollkommen ist, während menschliche Liebe unvollkommen bleibt. Wie eine richtige Mutter ihr Leben der Pflege ihres Kindes weiht, so hat der ewige Gott in seiner unfasslichen Gnade sein ewiges Leben der Pflege seiner sündigen Menschenkinder geweiht.

So ist Gott mit allen.

Auch mit dem unbekehrten Menschen. – Du denkst gewiss, Gott liebt dich nicht. Ab und zu glaubst du, dass er sich nicht um dich kümmert. Manchmal scheint es dir sogar, als verfolge dich Gott mit seiner Rache und Vergeltung, als zerstöre er alle deine Pläne und vernichte dein Glück.

Nein, mein Freund, so ist Gott nicht. Du kennst ihn nicht und gehst deshalb mit einem Zerrbild von ihm herum.

Höre, wie Gott ist: »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Matth. 5,45). Christus benutzte seine letzte Kraft und seine letzten Augenblicke, um für seine Feinde zu beten: »Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Luk. 23,34). Und als Jesus das letzte Mal nach Jerusalem kam und kein Mittel mehr besaß, um diese gottlose und widerspenstige Stadt zu erlösen, stand er auf dem Ölberg und weinte über sie, während sein prophetischer Blick das schreckliche Gericht sah, das diese Stadt treffen würde.

So ist Gott. Er liebte seine Feinde. Wenn er die Not der Gottlosen sieht, ihre leeren Freuden und wirklichen Sorgen, ihre Enttäuschungen, Leiden und Ängste, und wie sie unerbittlich im Strom der Zeit der ewigen Pein der Hölle entgegengehen, dann schreien die Not und Hilflosigkeit der Gottlosen zu Gottes Herzen. Er hört diesen Schrei und beugt sich zu seinem hilflosen Menschenkind nieder, um ihm zu helfen. Und der Unbekehrte nimmt die Hilfe entgegen, soweit sie zeitliche Dinge betrifft. Aber sobald Gott ihm Hilfe für die Seele anbietet, wendet sich der Hilflose erschrocken ab und flieht vor seinem Gott: Er will nicht bekehrt werden!

Das Gebet ist für die Hilflosen. Für den hilflosen Sünder, der nicht länger vor seinem Gott flieht, der in dem himmlischen Licht stehen bleibt. Er fängt an, seine früheren Sünden zu erkennen, die Unreinheit seines Herzens, seine Reuelosigkeit, seine Kälte und Gleichgültigkeit, seinen Unwillen gegen Gott, gegen die Bibel und das Gebet, seinen schwachen Willen gegenüber der dauernden Lust zur Sünde.

Was soll er nun machen?

Wie alle anderen schreit er in dieser Not zu Gott. Mehr oder weniger heftig, mehr oder weniger oft, mehr oder weniger regelmäßig. Aber er bekommt keine Antwort von Gott. Er fühlt sich verlassen wie ein Mann, der in einem kleinen Boot draußen auf dem offenen schäumenden Meer treibt. Er ruft aus aller Kraft. Er kann es nicht lassen, obgleich nirgends ein Mensch zu sehen ist, der ihn hören könnte.

Und so sagt sich der zerknirschte Sünder: »Wenn mir Gott nicht antwortet, liegt das natürlich daran, dass ich nicht richtig bete. Kann denn mein Rufen ein Gebet genannt werden? Sind das nicht nur Worte, leere Worte? Reichen sie höher als bis zum Dach? Wenn nicht mehr heiliger Ernst und entschiedener Wille in meinem Gebet sind, dann ist das kein Gebet, das Gott erhören kann.«

Mein hilfloser Freund, deine Hilflosigkeit ist ein starkes Gebet, das zu Gottes Vaterherzen aufsteigt. Er hat es vom ersten Augenblick an, als du ehrlich deine Not vor ihm ausbreitetest, gehört. Tag und Nacht neigt er sein Ohr zur Erde, um zu hören, ob sich irgendeins seiner hilflosen Menschenkinder in seiner Not an ihn wendet.

Höre weiter: Es ist nicht dein Gebet, das Gott in Bewegung setzt, dich zu erlösen. Nein, dein Gebet ist eine Frucht davon, dass Jesus an dein Herz anklopfte und dir sagte, dass er in deine Not zu dir hinein will. Du meinst, dass dir alles verschlossen sei, weil du nicht beten kannst. Mein Freund, gerade diese Hilflosigkeit ist das Entscheidende in deinem Gebet.

Beten heißt, sich für Jesus aufschließen und ihn in unsere Not einlassen. Meine Hilflosigkeit ist es, die Jesus die Tür völlig öffnet und ihm Zugang verschafft zu all meiner Not.

Aber warum antwortet er mir nicht?, fragst du in deiner Ratlosigkeit.

Er hat auf dein Beten geantwortet. Er ist zu dir hineingegangen durch die Tür, die du ihm durch deine Hilflosigkeit geöffnet hast. Er wohnt schon in deinem Herzen und tut dort seinen guten Dienst. Du hast seine Antwort noch nicht richtig verstanden. Wir beten und bekommen Antwort, aber verstehen die Antwort nicht gleich, oft verstehen wir sie erst lange hinterher.

Du hast dir eine bestimmte Antwort von Gott gedacht: Frieden, Gewissheit, Freude in der Seele. Und wenn du das nicht bekommst, glaubst du, dass Gott dir nicht geantwortet habe. Jesus hat uns viel zu sagen und viel in uns zu tun, was wir nicht gleich verstehen. Wir sind ungeduldig und möchten, dass er etwas anderes tut oder sagt, genau wie Petrus bei der Fußwaschung (Joh. 13,1-10). Aber Jesus läßt sich nicht durch unsere Unvernunft beirren. Er fährt ruhig fort und sagt: »Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht, aber du wirst es hernach erfahren« (Vers 7).

Lass dich darum nicht von deiner Hilflosigkeit ängstigen. Vor allen Dingen lass sie dich nicht am Beten hindern. Denn sie ist das eigentliche Geheimnis und die treibende Kraft des Gebets. Darum sollst du lieber versuchen, Gott für die Gabe der Hilflosigkeit zu danken. Sie ist eine der größten Gaben, die Gott uns schenken kann. Denn nur allein durch Hilflosigkeit schließen wir uns auf, so dass Jesus in unsere Not hineinkommen kann mit aller Gnade und allen Gaben.

Vom Himmel her sehen viele Dinge anders aus als von der Erde. Auch unsere Gebete nehmen sich gewiss von dort oben anders aus.

Da sind z. B. die Gebetstreffen, Gebetsstunden. Einer betet nach dem anderen. Zuerst solche, die gewohnt sind, laut und in Gegenwart anderer zu beten. Sie beten gut und erbaulich, und wenn sie Amen sagen, sind sich alle stillschweigend darüber einig, dass es ein gutes Gebet war. Auf demselben Gebetstreffen ist ein anderer, der auch gern seine Stimme in der Versammlung von Betern erheben möchte. Er weiß, er braucht das Gebet vielleicht mehr als irgendein anderer. Indessen ist er ungewandt, und es will ihm nicht glücken. Seine Gedanken sind unzusammenhängend, und die Worte überstürzen sich. Zuletzt ist er so verwirrt, dass er vergisst, Amen zu sagen. Und hinterher ist er so verzweifelt über sein Gebet und über sich selbst, dass er kaum jemandem in die Augen zu sehen wagt, nachdem das Treffen beendet ist.

Ich glaube aber, dass im Himmel ein neuer Lobgesang angestimmt wurde, aus Freude darüber, einen Menschen zu hören, der wirklich zu Gott betete, weil er in seiner Hilflosigkeit keinen Rat wusste. Ja, solche Gebete machen Eindruck im Himmel.

Hilflosigkeit beim Beten kann sehr verschieden erlebt werden. Besonders in unserem Gefühlsleben kann sie ganz verschiedene Wirkungen hervorrufen. In der Regel ist es wohl so, dass die Hilflosigkeit in der ersten Zeit unseres Christenlebens am stärksten in unser Gefühlsleben eingreift. In dieser Zeit »beugt« der Herr unseren Sinn und »demütigt« unser Herz (Jes. 5,15) und zerbricht unser Selbstvertrauen sowie unsere Selbstsicherheit. Nicht nur, dass das Ganze so neu und ungewohnt ist, sondern es ist so unverständlich.

Zu Gottes Wesen gehört, dass er unbegreiflich ist. Er ist so groß, dass kein Geschöpf ihn völlig verstehen kann. Und so kann kein Mensch Gott begegnen, ohne auch auf seine Unbegreiflichkeit zu stoßen. Und es dauert gar nicht lange, bis der wache Sünder die bange Frage stellt: Warum bekomme ich keinen Frieden, keine Gewissheit, keine Freude? Warum hilft mir Gott nicht in meiner Not, die ich kaum noch ertragen kann? Warum lässt er mich in ewige Verdammnis sinken, wenn er doch sieht, wie gern ich erlöst werden möchte? Warum antwortet er nicht auf alle meine Notrufe?

Wir können viel leiden, wenn wir den Grund unserer Leiden und ihren Zweck erkennen können. Aber das Unbegreifliche, das uns so leicht zum Sinnlosen wird, beunruhigt uns und rührt uns mehr auf als alles andere. Darum gibt es überhaupt nichts, an dem wir leichter Anstoß nehmen als gerade an dieser Unbegreiflichkeit Gottes. Keine Wesensart Gottes erschüttert darum unser Selbstvertrauen und unsere Selbstsicherheit so schnell wie diese Unbegreiflichkeit.

Das veranlasste Jesus, die wehmütigen Worte zu sprechen: »Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert« (Matth. 11,6).

Wir kommen zum ersten Mal zu einem Punkt, wo wir nicht wissen, was wir tun sollen. Wir sind unfähig, zu unserem alten Leben zurückzukehren, können aber auch nicht den Weg zu Gott finden. Wir haben noch nicht gelernt, uns dem unbegreiflichen Gott zu übergeben. Darum ist unser ganzes Menschenwesen in Aufruhr. Das Unbegreifliche erfüllt uns stets mit einer lähmenden Angst.