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Ute Baur-Timmerbrink
Wir Besatzungskinder

Ute Baur-Timmerbrink

Wir Besatzungskinder

Töchter und Söhne
alliierter Soldaten erzählen

Mit Beiträgen von Heide Glaesmer und Sabine Lee
sowie einem Vorwort von Mechthild Rawert

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Die ganzen Jahre war es, wie auf einem Bein zu stehen
und zu versuchen, Haltung zu bewahren, wenn man nicht weiß,
wo man herkommt, wer man ist.

Hans M., Besatzungskind

Man denkt, man besitzt ein Gedächtnis,
doch das Gedächtnis besitzt den Menschen.

John Irving, »Owen Meany«

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Vater gesucht – ein Tabu aus Kriegs- und Nachkriegszeiten
Vorwort

Von Mechthild Rawert

Wer sind die Besatzungskinder?

Warum ich dieses Buch schreibe

Besatzer, Besetzte und Besatzungskinder in Deutschland und Österreich 1945 – 1955

Von Sabine Lee

Die Mütter – »Amiliebchen«, »Russenhure«, »Britenschlampe«?

Die Väter – Besatzungssoldaten in Deutschland und Österreich

Die Kinder – Das schwierige Leben ohne oder mit dem »falschen« Vater

Die Besatzungskinder in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus psychosozialer Perspektive

Von Heide Glaesmer

Besatzungskinder aus Deutschland und Österreich – zwölf Porträts

Kinder alliierter Soldaten ab 1955

Die Suche nach dem Vater – Einige Hinweise und Anlaufstellen

Ausblick

Anhang

Literaturempfehlungen

Webadressen

Karte

Dank

Vater gesucht – ein Tabu aus Kriegs- und Nachkriegszeiten
Vorwort

Von Mechthild Rawert

Die Frage der eigenen Herkunft und Identität bewegt jeden Menschen. Während die einen mit einem sicheren Gefühl aufwachsen, da beide Elternteile bekannt sind, quälen sich andere ein Leben lang mit den existenziellen Fragen »Von wem stamme ich ab?« und »Wer bin ich?«.

In Deutschland sind zwischen 1945 und 1955 bis zu 250 000 Kinder geboren worden, die eine einheimische Frau zur Mutter und einen Besatzungssoldaten aus den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich zum Vater haben. In Österreich sind es mindestens 20 000 Kinder. Bei den meisten dieser Besatzungskinder steht in ihrer Geburtsurkunde »Vater unbekannt«. Ihr Schicksal war häufig mit gravierenden Tabuisierungen in ihrem familiären und sozialen Umfeld verbunden.

70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, in dessen Folge in Deutschland und Österreich Besatzungszonen eingerichtet wurden, suchen viele der heute 60- bis 70-jährigen Frauen und Männer nach ihren Vätern. Ein noch längeres Schweigen ist keine Lösung mehr. Ihr Schicksal und ihre häufig mit großen Schwierigkeiten behaftete Suche hat bei der Aufarbeitung der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte bisher zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Ich danke Ute Baur-Timmerbrink und allen von ihr porträtierten Besatzungskindern für ihren großen Mut, uns an ihrer Suche teilhaben zu lassen. Ihre Biografien decken ein Tabu der unmittelbaren Nachkriegszeit auf. Viele der belastenden Stigmata und Diskriminierungen sind nur im Kontext der historischen und politischen Rahmenbedingungen nachvollziehbar. Daher mein Dank auch an Heide Glaesmer und Sabine Lee für die aufklärenden und einordnenden Beiträge.

Nicht für jedes der Besatzungskinder erfüllt sich die Hoffnung, den Vater zu finden. Voller Hürden ist die Suche allemal. Sie wünschen vor allem einen besseren Zugang zu entsprechenden staatlichen und militärischen Archiven in den Herkunftsländern ihrer Väter sowie den Einblick beziehungsweise Erhalt der eigenen Originaldokumente hier in Deutschland.

Eine große Herausforderung ist es, das bisher vorhandene Wissen in sinnvolle politische, soziale, rechtliche und humanitäre Maßnahmen einzubinden. Die Stärkung der Rechte von Kindern einheimischer Frauen und im Land anwesender Soldaten ist angesichts gegenwärtiger Konflikte und Kriege eine deutsche, eine europäische, eine internationale Herausforderung. Gefordert wird eine Erweiterung der UN-Kinderrechtskonvention. Dafür ist eine sensibilisierte Öffentlichkeit erforderlich. Seien Sie ein Teil davon.

Wer sind die Besatzungskinder?

Nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945 wurden Deutschland und Österreich durch die alliierten Streitkräfte besetzt und jeweils in vier Besatzungszonen geteilt; die Hauptstädte Wien und Berlin in vier Sektoren.

In allen Besatzungszonen kam es trotz des anfänglichen Fraternisierungsverbots aller alliierten Streitkräfte zu intimen Kontakten von Soldaten und einheimischen Frauen. Die ersten Besatzungskinder wurden Ende 1945 /Anfang 1946 geboren. Unter diesen ersten Besatzungskindern waren auch solche, die nicht aus einer Affäre oder einem Liebesverhältnis hervorgegangen waren. Viele wurden in einer Vergewaltigung gezeugt. Das gilt insbesondere für die sowjetische Besatzungszone.

In den Nachkriegsjahren gab es keine Statistik über die Zahl der Besatzungskinder. Erst 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, wurden die ersten Zahlen bekannt. Das Statistische Bundesamt Wiesbaden hat die Geburten von unter Vormundschaft stehenden unehelichen Kindern in den Westzonen beziehungsweise der BRD für die Jahre 1945 bis 1955 mit circa 68 000 ermittelt. Diese Zahl umfasst nur Kinder, die in Jugendamtsakten registriert sind und deren Väter als Besatzungssoldaten namentlich genannt sind. Alle anderen Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, und die, deren Mütter den Namen des Vaters nicht angegeben haben oder die in ehelicher Gemeinschaft geboren worden sind, wurden statistisch nie erfasst. Aufgrund dieser Tatsachen wird es vermutlich eine weitaus größere Zahl von Kindern der alliierten Streitkräfte geben, als bis heute bekannt ist. Für Österreich geht man heute von circa 20 000, für Deutschland von circa 200 000 bis 250 000 Besatzungskindern aus, aber die wirkliche Zahl könnte noch deutlich höher liegen. Die Historikerin Silke Satjukow spricht allein von circa 100 000 Besatzungskindern sowjetischer Soldaten in der DDR.

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Ute Baur-Timmerbrink, circa 1948

Besatzungskinder waren wie ihre Mütter vielfach Diskriminierungen ausgesetzt. Vor allem auf dunkelhäutige Kinder wurden rassische, ideologische und moralische Vorurteile projiziert, die zum Teil auf der NS-Propaganda basierten.

Die meisten Besatzungskinder lebten jahrzehntelang mit einer schweren seelischen Last. Sie wurden gegenüber Geschwistern zurückgesetzt, fühlten sich nicht angenommen und geliebt, spürten, dass um ihre Herkunft ein Geheimnis gemacht wurde und dass man sie belog. Ängste, Hemmungen und Blockaden, Gefühle von Schuld, Zerrissenheit, Unvollkommenheit prägen ihr Leben oftmals bis in die Gegenwart.

Der Vater sei tot, hieß es manchmal, oder der Vater sei unbekannt. Oder ein anderer Mann wurde als Vater ausgegeben. Die Lüge wurde und wird nicht selten durch Zufall aufgedeckt. Und ab diesem Moment treibt sehr viele Besatzungskinder die Sehnsucht nach ihrem richtigen Vater um. Sie suchen Gewissheit über ihre Wurzeln und zugleich Geborgenheit, Sicherheit.

Manche Väter sind bereits gestorben, nicht alle Väter wollen gefunden werden und Kontakt aufnehmen. Und nicht alle Familien sind bereit, sich der Vergangenheit zu stellen. Doch manchen Betroffenen gelingt es, durch die Spurensuche und den Austausch mit den bisher unbekannten Verwandten neues Selbstvertrauen aufzubauen, freier und glücklicher zu leben.

In meinem Buch sollen Schicksale von Besatzungskindern erzählt werden, die sich mit den ungeklärten Fragen ihrer Herkunft nicht abfinden wollten. In zwölf ausgesuchten Porträts und weiteren Kapiteln wird über das schwierige Leben von Besatzungskindern nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich berichtet, über deren Leben und große Sehnsucht nach der Wahrheit. Die Reise in die Vergangenheit bringt Schmerz, Unsicherheit, aber auch Hoffnung.

Mein Buch soll den Besatzungskindern wie allen anderen Leserinnen und Lesern Mut machen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit ungeklärte Fragen oder gar Traumata nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.

Warum ich dieses Buch schreibe

Meine eigenen frühesten Erfahrungen sind: Ich bin nicht erwünscht, mit mir stimmt etwas nicht. In meinem Zuhause, als Einzelkind in einer gutbürgerlichen Familie, schien alles komplizierter als in anderen Familien, die ich kannte. Verstanden habe ich es nicht.

Ich habe mich seit meiner frühesten Kindheit mit dem Gedanken beschäftigt, dass mein Papa vielleicht gar nicht mein Vater sei. Es gab eindeutige Hinweise darauf. Ich bin 1946 in Österreich geboren. Irgendwann wurde mir beiläufig gesagt, »als der Papa aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, musste er sich erst an dich gewöhnen. Das war nicht leicht für ihn, und deshalb ist ihm öfter die Hand ausgerutscht.« Ich habe als kleines Mädchen Gewalt erfahren. Die Erklärung dafür, warum er mich erst mit zweieinhalb Jahren kennenlernte, bekam ich auf Nachfragen erst, als ich schon in der Pubertät war. Es hieß, er habe während der Kriegsgefangenschaft drei Tage Urlaub bekommen, und in dieser Zeit sei ich gezeugt worden. Das glaubte ich damals nicht, aber ich hatte nicht den Mut, es offen zu bezweifeln.

So habe ich über die Jahre aufmerksam beobachtet, Gesprächen freiwillig und unfreiwillig gelauscht und mir meine eigenen Gedanken gemacht. Erwähnt habe ich meinen Verdacht erst als ich älter war, aber nur gegenüber guten Freunden. Meine Eltern habe ich nie gefragt. Sie sind 1974 und 1981 gestorben. Wieder wurde ich mit ihren Lebenslügen konfrontiert. Es gab so vieles, was sie mir verheimlicht hatten. Als meine Mutter starb, beichtete mir mein Vater, sie würde nicht kirchlich bestattet werden, weil sie während der Nazizeit aus der Kirche hätten austreten müssen. Ich habe das mit dem örtlichen Pfarrer regeln können. Als mein Vater starb, fand ich in seinen Unterlagen, dass er Mitglied der NSDAP gewesen war. Danach hatte ich ihn früher mehrfach gefragt, und er hatte es immer bestritten.

Ich habe meine Eltern geliebt, bin aber ihren Ansprüchen nie gerecht geworden. Ich habe mich immer mit anderen Kindern verglichen und festgestellt: Die waren ihren Eltern viel wichtiger. Deren Eltern waren besorgt, haben sich engagiert, wollten immer nur das Beste für ihre Kinder. Das war bei mir anders. Aber ich habe gelernt, mich durchzusetzen, um nicht unterzugehen – das wollte ich nicht.

An meinem 52. Geburtstag, 1998, sprach ich mit einer Freundin über meine frühen Kindheitserlebnisse. Unsere Mütter, damals beide schon über 20 Jahre tot, waren von Jugend an befreundet gewesen. Zum ersten Mal traute ich mich, zu fragen: Ist es möglich, dass mein Vater nicht mein richtiger Vater war? Weißt du etwas darüber? Meine Frage hat sie zuerst erstaunt, das spürte ich, dann aber verneinte sie vehement. Noch am selben Abend rief sie mich an, um mir weinend zu sagen: »Du hast so oft Bemerkungen über deinen Papa gemacht. Ich habe dazu immer geschwiegen. Heute hast du mich zum ersten Mal direkt gefragt, und jetzt sage ich dir die Wahrheit. Nein, dein richtiger Vater war ein amerikanischer Soldat, mit dem deine Mutter in Österreich eine Beziehung hatte.« Sie habe damals versprechen müssen, niemals darüber zu sprechen. Jetzt wollte sie mich nicht belügen: »Du hast mich bis heute nie gefragt, alle haben die Wahrheit mit ins Grab genommen, ich kann das nicht«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. Der Schock über diese Nachricht war groß. Auch wenn ich es geahnt hatte: Zuerst brach eine Welt zusammen. Nichts stimmte mehr. Ich suchte weinend nach Fotos aus dieser Zeit. Es gibt nur fünf Baby-Fotos und zwei von meiner Mutter. Auf einem Bild steht sie vor einem schwarzen Mercedes und trägt offensichtlich Militärhose und -pullover. Auf dem anderen Bild sieht sie sehr elegant aus. Auf der Rückseite ihre Handschrift: September 1945, Gmunden. Diese Details fielen mir zum ersten Mal auf. Wochenlang war ich unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Tag und Nacht quälte ich mich: Warum haben mich meine Eltern im Glauben gelassen, ich sei ihr gemeinsames Kind? In meine Trauer mischte sich langsam so etwas wie Erleichterung. Jahrelang hatte ich gedacht, ich tue meinen toten Eltern Unrecht, weil ich sie verdächtigte, mir etwas vorzuenthalten. Jetzt musste ich mich nicht mehr für meine Verdächtigungen schämen, mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht, es war wahr. Das empfand ich als ungeheure Befreiung.

Meine Mutter und jener Mann, von dem ich immer geglaubt hatte, er sei mein leiblicher Vater, haben 1936 geheiratet. Mein Stiefvater, den ich zeit seines Lebens nie Stiefvater genannt habe, war seit 1929 Berufssoldat in der deutschen Reichswehr. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 lebten sie im IX. Bezirk in Wien. 1944 geriet mein Stiefvater in jugoslawische Kriegsgefangenschaft, und meine Mutter flüchtete im Dezember 1944 aus Angst vor »den Russen« aus Wien. Im Sommer 1945 kam sie nach Attnang-Puchheim in Oberösterreich, sie konnte nicht zurück nach Wien. Im November 1946 bin ich in Vöcklabruck geboren, und in meiner Geburtsurkunde ist der Ehemann meiner Mutter als Vater eingetragen. Im Herbst 1947 wurden wir aus Österreich ausgewiesen und übersiedelten nach Bochum in Nordrhein-Westfalen. Mein Stiefvater kam nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Anfang 1948 nach.

Meine Kindheit war mit vielen Problemen der Eltern belastet. In den ersten drei Jahren wohnten wir in einem Barackenlager in Bochum. Es war während des Krieges ein Außenlager des KZs Buchenwald gewesen, das habe ich erst 2012 erfahren. Die Zustände dort waren bedrückend, ich erinnere mich nicht gern daran. Zwischen meinen Eltern gab es oft Streit, und eine Frage meines Stiefvaters prägte sich mir ein, die ich nicht verstand: »Und was hast du damals in Österreich gemacht?« Ich grübelte nach der Bedeutung: Was hatte meine Mutter in Österreich gemacht? Die Familie väterlicherseits, Großeltern, Tanten, Onkel und deren Kinder, alle hielten Distanz zu meiner Mutter und zu mir.

Meine Mutter schwärmte von Oberösterreich, es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Angeblich hatte sie für die Amerikaner gearbeitet, aber Genaueres erzählte sie nie. Durch die Amerikaner habe es ihr an nichts gefehlt, sie habe eine Wohnung und viele Freunde gehabt. 1955 fuhren meine Eltern in den Sommerferien zum ersten Mal mit mir nach Oberösterreich. Ich lernte unter anderem auch eine Freundin meiner Mutter aus der Zeit in Attnang-Puchheim kennen. Ich erfuhr, dass sie meine beiden Vornamen ausgesucht hatte, mein zweiter Vorname ist der ihre. Ich liebte und bewunderte sie spontan. Sie war 15 Jahre jünger als meine Mutter und so schön, sie wurde meine Lieblingstante. Bis 1965 verlebte ich alle Sommerferien in meinem Geburtsort in Oberösterreich, und er ist für mich bis heute meine gefühlte Heimat.

Nach Schule und Berufsausbildung zog ich 1967, mit 21 Jahren, nach Stuttgart, heiratete und bekam zwei Söhne. Ich habe immer den Kontakt zu meinen Eltern gepflegt. Ich habe keine Geschwister, und meine Eltern waren mir wichtig, ich liebte sie trotz alledem. Ich habe den Beruf der Arzthelferin erlernt und in späteren Jahren, als ich meine beiden Söhne hatte, als Sekretärin gearbeitet. Seit 1996 wohne ich in Berlin. Meine Eltern haben bis zu ihrem Tod mit mir nicht über meine wahre Herkunft gesprochen.

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Ute Baur-Timmerbrinks Mutter, vermutlich Herbst 1945, Oberösterreich

Nach dem Telefongespräch mit meiner Bochumer Freundin wusste ich, dass nur ein Mensch mir helfen konnte, meinen Vater zu finden – meine Tante in Oberösterreich. Sie nahm Anteil an meinem Leben, an meinen Kindern, freute sich über unsere regelmäßigen Besuche und machte uns großzügige Geschenke. Sie lebte allein, wir waren ihre Familie. Sie musste über meine Geburt und meinen Vater etwas wissen. Es lebte niemand mehr, den ich sonst hätte fragen können. Ich schrieb ihr einen Brief und erklärte ihr meine jahrelangen Zweifel, über die ich nie gesprochen hatte. Und dass ich die Wahrheit erfahren hatte. Ich bat sie um Hilfe bei der Suche nach meinem amerikanischen Vater.

Drei quälende Wochen lang wartete ich auf ihre Antwort. Ich hatte nicht den Mut, sie anzurufen. Dann endlich ihr Anruf. Aber am Apparat war nicht die liebevolle Person, die ich kannte. Ihre Stimme war verändert, ich spürte die Anspannung. Offenbar kostete es sie große Überwindung, mit mir zu sprechen. Sie bestätigte sofort: »Ja, es stimmt, dein Vater ist ein Amerikaner.« Es folgte ein wütender Ausbruch über die Person, die mir das erzählt hatte. Auf mein drängendes Fragen nach dem Namen meines Vaters sagte sie schließlich: »Er hieß Bill Knox, mehr weiß ich nicht.«

Ich glaubte ihr nicht. Ich war mir sicher, sie müsse mehr wissen. Das Telefongespräch ließ mich erschüttert und enttäuscht zurück. Warum war sie so ablehnend, so ärgerlich, so ohne Mitgefühl für mich und meine Situation?

Mehr und mehr war ich entschlossen, meinen Vater zu suchen – wie das gelingen könnte, wusste ich nicht. Im Dezember 1998 besuchte ich Verwandte meines Stiefvaters in Bochum. Auch die kannten die Wahrheit über mich, wenn auch keine Details. Ich war ein Amikind! Die Kälte, mit der mir das ins Gesicht geschleudert wurde, war kaum zu ertragen. Als Kind hatte ich gespürt, sie gingen anders mit mir um als mit den Cousinen und Cousins. Jetzt erst begriff ich, warum. Ich hatte in dieser Familie nie wirklich einen Platz gehabt.

Im Januar 1999 gab mir eine Stuttgarter Freundin die Telefonnummer eines US-Veteranen in Heidelberg. Er hatte großes Verständnis für meine Situation und sagte mir, ich müsse recherchieren, in welcher Division beziehungsweise Einheit der US-Armee Bill Knox 1945 in Österreich gewesen war. Vor allem müsste ich nach Zeitzeugen in Österreich suchen. Das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz gab mir die Empfehlung, mich an den Militärhistoriker Dr. Schmiedl in Wien zu wenden. Er bot mir sofort seine Unterstützung an.

Im März 1999 plante ich eine Reise nach Oberösterreich. Vorher hatte ich mich bei den Gemeindeämtern vor Ort nach Menschen erkundigt, die sich dort aus lokalhistorischem Interesse mit der Besatzungszeit beschäftigten. Ich erhielt die Namen von zwei älteren Herren, die bereit waren, sich mit mir zu treffen. Die örtliche Tageszeitung hatte ich um einen Artikel über meine Suche gebeten. Eine Woche vor meinem Besuch erschien der Artikel: »Berlinerin sucht US-GI«. Während meines Aufenthaltes erlebte ich eine große unerwartete Hilfsbereitschaft in den Gemeindeämtern und besonders von den Menschen, die ich befragte. Die meisten hatten den Zeitungsartikel gelesen und waren vorbereitet. In der Gemeinde Attnang-Puchheim wurde die Meldekartei meine Mutter gefunden, und nun wusste ich, dass sie im August 1945 zugezogen war.

Eine alte Dame erinnerte sich besonders gut an meine Mutter und den amerikanischen Offizier mit dem schwarzen Mercedes. Sie hatte in unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt und erzählte auch von der Freundin meiner Mutter, die sie namentlich nannte. Meine Tante. Die beiden Frauen hätten ein sehr enges Verhältnis zueinander gehabt. So erfuhr ich Tag für Tag mehr. Vieles schockierte mich, ich hatte ja eigentlich nur nach meinem Vater gesucht. Meine Tante hatte mich im Vorfeld von meinem Besuch abbringen wollen, mit der Begründung, dass niemand etwas wisse. Jeden Tag besuchte ich sie, um ihr zu berichten, was ich herausgefunden hatte. Sie wurde zunehmend nervöser, weil sie viele der Menschen kannte, die mir bereitwillig erzählt hatten. Ich aber nannte den Zeitzeugen nie den Namen meiner Tante und ließ sie im Glauben, ich sei fremd. In den Gesprächen mit meiner Tante kam ich nicht weiter, sie hatte angeblich keinerlei Erinnerungen an diese Zeit, obwohl sie 1945 knapp 20 Jahre alt gewesen war: »Das sind längst vergangene Weisen, lass die alten Geschichten«, versuchte sie mich zu überzeugen.

Nach meiner Rückkehr in Berlin rief mich meine Tante an und sagte zu meiner Überraschung, sie wolle mir die Adresse eines Amerikaners geben. Ein alter Freund, der könne mir vielleicht helfen, Bill Knox zu finden. Sie habe ihn 1945 im Büro der Militärverwaltung kennengelernt. Dieser James G. (Name geändert) antwortete mir auf meinen Brief umgehend schriftlich. Sein Briefkopf war beeindruckend, er war der Inhaber einer großen Rechtsanwaltskanzlei. Er bestätigte mir, mit meiner Tante befreundet zu sein, teilte mir mit, wann und mit welcher Division er 1945 nach Österreich gekommen war, und nannte als seinen damaligen Standort Grieskirchen, etwas mehr als 30 Kilometer von Attnang-Puchheim entfernt. Dort oder in Vöcklabruck sei er nicht gewesen. Meine Mutter und Bill Knox seien ihm nicht bekannt. Zuletzt wies er mich darauf hin, dass es unmöglich sei, in Amerika einen Vater zu finden. Ich solle aufhören, mich in private Familienangelegenheiten einzumischen. Ich war enttäuscht. Der US-Veteran in Heidelberg vermutete, James G. sei mein Vater und wolle mit dem Brief verhindern, dass ich weitersuchte. Bill Knox wurde nicht gefunden, obwohl sich inzwischen viele Menschen in den USA und in Österreich darum bemühten. Der amerikanische Botschafter John Kornblum in Berlin hatte sich durch die Fürsprache von Christine Rau, Ehefrau des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, intensiv für die Suche nach Bill Knox eingesetzt, ohne Erfolg. Anfang 2000 schrieb ich ein zweites Mal an James G. Es kamen die gleichen, wohl gesetzten Formulierungen zurück, die mir nicht weiterhalfen. Meine Tante betonte in unseren regelmäßigen Telefonaten immer wieder, wenn sie mich nach Neuigkeiten ausfragen wollte: »James sagt, du sollst das lassen. Du wirst die Wahrheit nie erfahren.« Unser Verhältnis verschlechterte sich, ich vertraute ihr nicht mehr.

Im September 2000 entschloss ich mich, in Grieskirchen zu recherchieren, dort, wo James G. stationiert war. Ich entdeckte, dass Grieskirchen eine Außenstelle des CIC (Counter Intelligence Corps) Gmunden war. Der schwarze Mercedes auf dem Foto meiner Mutter stammte aus dem dortigen Car-Pool. Ein älterer Herr aus Grieskirchen erzählte mir, die Offiziere des CIC seien häufig zu Gast im Haus seiner Eltern gewesen. Er versprach mir Fotos, die ich auch kurze Zeit später auf dem Postweg erhielt. Eines der Bilder veränderte alles. Es ist das Porträt eines jungen Offiziers mit einer Widmung auf der Rückseite: »Christmas 1945«, von First Lt. James G. Die Ähnlichkeit mit mir und meinem jüngeren Sohn ist unübersehbar. Ein Freund verglich mittels Overlay das Foto mit Fotos von mir und meinem Sohn, das Ergebnis ist eindeutig. Ich war sicher, James war mein Vater.

Während meiner Recherchen war ich auf die US-Armee-Zeitung Stars and Stripes aufmerksam geworden und dort auf einen Artikel über TRACE, heute GItrace. Mein erster Ansprechpartner war ein Anwalt aus Miami, der ehrenamtlich für TRACE arbeitete. Auch er glaubte nicht an einen Bill Knox und war überzeugt, wir müssten alles über James G. erfahren: »You can catch him if you proof him.« Dr. Niels Zussblatt vom NPRC, dem National Personnel Record Center in St. Louis, recherchierte erneut. Definitiv gab es keinen Bill Knox, aber relevante Daten über James G. Noch bevor ich nach Amerika fliegen konnte, erfuhr ich Mitte September 2002, dass James nach langer Krankheit 87-jährig gestorben war. In seinem Nachruf las ich, dass er zwei Mal verheiratet war, keine Kinder hatte und ein hochgeschätzter Anwalt war. Weiter, dass er in verschiedenen Hilfsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International engagiert war und Dekan einer Baptistenkirche.

Meine Tante wusste bereits von seinem Tod, als ich sie darüber informieren wollte. Unser einst so liebevolles Verhältnis ist durch die Suche nach meinem Vater zerstört. Wir haben keinen Kontakt mehr zueinander, obwohl sie allein lebt und alt ist, lehnt sie mich nun ab. Warum sie so handelt, bleibt bis heute unbeantwortet.

Dann wurde ich zum Zeitpunkt des Todes meines mutmaßlichen leiblichen Vaters von GItrace gefragt, ob ich sie bei Anfragen aus Deutschland und Österreich unterstützen könnte. Ich habe diese Aufgabe spontan angenommen, auch aus Dankbarkeit gegenüber den vielen Menschen, die mich bei meiner Suche unterstützt haben. (Nähere Informationen zu GItrace im Kapitel »Die Suche nach dem Vater«.)

Seit 2003 arbeite ich nun ehrenamtlich für GItrace und helfe Besatzungskindern aus dem deutschsprachigen Raum bei der Suche nach den unbekannten Vätern. Das ist noch immer ein belastetes Kapitel in den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Ich habe schon Dutzende Väter und Kinder zusammengeführt. Jede Suche ist eine neue Gratwanderung zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Häufig werden dabei Wunden wieder aufgerissen, die die Zeit notdürftig geheilt hat. Niemand kann das besser nachvollziehen als ich.

Ich habe weniger Erfahrungen mit den Kindern der russischen, französischen und englischen Besatzungsmächte. Doch manchmal konnte ich in der Vergangenheit einigen helfen, ihre Väter zu finden. Die Problematik ist, dass es für die Besatzungskinder der anderen Alliierten bis heute keine offizielle Unterstützung der jeweiligen Regierungen bei der Suche nach dem Vater gibt. Allein die Regierung der USA hat sich 1990 dazu verpflichtet, wenn Soldaten der US Army während ihrer Auslandseinsätze Kinder hinterlassen, diesen Kindern bei der Suche nach dem leiblichen Vater zu helfen. Dazu gehören Kinder aus Europa sowie aus Korea und Vietnam. Das NPRC ist gehalten, die persönlichen Daten des Vaters freizugeben.

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Ute Baur-Timmerbrink auf dem Arm ihrer Mutter, Frühjahr 1947, Oberösterreich

Ich habe im Laufe der Jahre annähernd 200 erfolgreiche Familienzusammenführungen begleitet, aber es gibt auch mindestens ebenso oft Enttäuschungen. Entweder wurde der Vater aufgrund zu geringer Informationen nicht gefunden, oder, noch tragischer für die Betroffenen, der gefundene Vater oder die Familie verweigern jeden Kontakt.

Wir haben viele Menschen glücklich gemacht, weil wir ihre Herkunft aufklären konnten – und auch viele Väter, die ihre Kinder kennenlernen konnten –, aber nicht immer gelingt das.


Besatzer, Besetzte und Besatzungskinder in Deutschland und Österreich 1945 – 1955

Von Sabine Lee

In der Folge des Zweiten Weltkrieges kamen in Deutschland und Österreich Zehntausende sogenannter Besatzungskinder zur Welt, Kinder von einheimischen Müttern, deren Väter Besatzungsangehörige waren. Vielfach galten sie als »Kinder des Feindes«, obwohl die Väter de jure keine Feinde mehr waren, und oftmals waren sie – wie auch ihre Mütter – unterschiedlichen Formen von Diskriminierung ausgesetzt.

Wie noch im Detail dargestellt werden wird, war das Verhältnis zwischen alliierten Truppen und einheimischer Zivilbevölkerung vielschichtig. Insbesondere die Kontakte zwischen alliierten Besatzungstruppen und einheimischen Frauen umfassten die gesamte Bandbreite von Liebesbeziehungen über praktische Dienstleistungsarrangements und Überlebensprostitution bis hin zu sexuellen Gewalttaten, die vielfach das Bild der Beziehungen im öffentlichen Bewusstsein geprägt haben. Aus einer nicht unerheblichen Zahl dieser Beziehungen sind Kinder hervorgegangen, um deren Schicksale es im vorliegenden Buch geht. Dieser einführende Beitrag soll die historischen und politischen Rahmenbedingungen darstellen, in denen sich die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten zu Kriegsende und in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten und in deren Gesamtzusammenhang die Lebenswege der Besatzungskinder in Deutschland zu bewerten sind.

Schon vor Ende des Krieges, auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945, hatten die drei Hauptalliierten, die USA, die Sowjetunion und Großbritannien, die Aufteilung Deutschlands in drei und später – nach der Einbeziehung Frankreichs – vier Besatzungszonen beschlossen. Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945, die das Ende des Krieges in Europa bedeutete, einigten sich die »Big Three«, das sowjetische Staatsoberhaupt Josef W. Stalin, der amerikanische Präsident Harry S. Truman und der britische Premierminister Clement Attlee, auf die Besatzung Deutschlands, die über die Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 hinaus bis 1955 andauerte.

Diese Besatzung bedeute eine lange Phase der Stationierung ausländischer Soldaten auf deutschem Boden und des intensiven Kontaktes zwischen diesen ausländischen Soldaten und der einheimischen Zivilbevölkerung. Wie viele Kinder aus intimen Kontakten zwischen Besatzern und Besetzten hervorgegangen sind, wird wohl abschließend nie genau festzustellen sein. In den Westzonen Deutschlands spricht eine Analyse aus dem Jahr 1955 von mehr als 66 000 Kindern, von denen 37 000 Kinder amerikanischer Soldaten seien. Es ist unumstritten, dass diese Zahlen eine konservative Annäherung an die Realität darstellen. Die »Absorbierung« unehelicher Kinder in ihre Familien, entweder durch stillschweigende Anerkennung der Vaterschaft durch den Ehemann der Kindesmutter oder dadurch, dass die Geburtsfamilien aus unterschiedlichen Gründen die biologischen Hintergründe der Kinder nicht publik machen wollten, deutet auf eine weit höhere Zahl an Besatzungskindern hin. Seriöse Schätzungen gehen von bis zu 250 000 Kindern aus.

Für Österreich sind die Zahlen ähnlich ungenau. Nach offiziellen Statistiken wurden zwischen 1946 und 1953 8000 Kinder geboren, deren Väter ausländische Soldaten waren, aber neue Schätzungen sprechen von mindestens 20 000 solcher Kinder vor 1955.

Nicht nur die Gesamtzahl der Besatzungskinder ist unklar, sondern auch, wie viele dieser Kinder als Folge sexueller Übergriffe durch Besatzungssoldaten geboren wurden und wie viele aus einvernehmlichen oder gar Liebesbeziehungen hervorgingen. Für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin belegt ein Dokument des Finanzministeriums, dass allein im Jahr 1959 6325 Anträge auf finanzielle Unterstützung durch Mütter eingereicht wurden, deren Kinder in Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten gezeugt worden waren. Auch hier ist es fraglich, ob die Zahlen die wirkliche Dimension des Problems akkurat reflektieren oder ob die tatsächliche Zahl nicht noch weitaus höher liegt.

Unabhängig von der Zahl der Betroffenen ist es von großer Bedeutung, die Umstände zu beleuchten, die zu den Beziehungen zwischen Soldaten und einheimischen Zivilisten geführt haben, um in der Folge die Erfahrungen der Kinder zu verstehen, die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind. Die historischen und politischen Hintergründe der verschiedenen Besatzungen sind ebenso vielschichtig wie die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten, zwischen Befreiern und Befreiten. All diese Faktoren und ihr Verhältnis zueinander erfuhren während der letzten Kriegsmonate und in der Nachkriegszeit vielerlei Veränderungen in Abhängigkeit von den militärischen und politischen Entwicklungen der Zeit.

Die Rote Armee

Die Endphase des Krieges, als die Westalliierten und die Sowjetunion sich den Weg in das »Dritte Reich« erkämpften, wurde in ganz Europa von einer Welle von Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen begleitet. Die Mehrzahl dieser Gewalttaten ereignete sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich durch sowjetische Soldaten. Obwohl Schätzungen über das Ausmaß der Übergriffe mit zwischen Zehntausenden und zwei Millionen Vergewaltigungen weit auseinanderliegen, gibt die Einschätzung eines Historikers, der vom »größten Phänomen einer Massenvergewaltigung in der Geschichte« spricht, eine grobe Vorstellung von der Dimension der Gewalttaten. Für Berlin, einen Brennpunkt der sexuellen Übergriffe, geht man von einer Vergewaltigungsquote von etwa 7 Prozent aller Frauen aus. Vergewaltigungen waren willkürlich, und unter den Opfern waren Frauen und Mädchen jeden Alters, Deutsche, befreite Opfer der Nazidiktatur und Frauen anderer Nationalitäten gleichermaßen. Viele dieser Vergewaltigungen führten zu Schwangerschaften, und obwohl die Abtreibungsquote, begünstigt durch einen Erlass vom März 1945, der Abbrüche für aus Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten entstandene Schwangerschaften legalisierte, nach neueren Untersuchungen gerade in Berlin und anderen Großstädten sehr hoch war, wird allgemein angenommen, dass dennoch viele Schwangerschaften ausgetragen wurden. Obwohl keine genauen Zahlen vorliegen, geht man in der Forschung davon aus, dass besonders in ländlichen Gebieten eine erhebliche Zahl an Kindern aus diesen Vergewaltigungen hervorgegangen ist.

Obwohl diese Gewalttaten das Bild des Verhältnisses zwischen sowjetischer Besatzungsmacht und Zivilbevölkerung geprägt haben, ist es wichtig festzuhalten, dass es auch zahlreiche freiwillige Verhältnisse bis hin zu Liebesbeziehungen gab, wenn nicht in der ursprünglichen Kriegs- und Befreiungsphase, dann später während der eigentlichen Besatzungszeit. Entgegen der oft geäußerten Vermutung wurde die Vergewaltigung deutscher und österreichischer Frauen durch alliierte Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht totgeschwiegen. Ganz im Gegenteil, sie fand den Weg in Tagebücher, Memoiren und Romane, und die Vorkommnisse waren in dieser Zeit ein offenes Geheimnis. Im Gegensatz dazu wurden Liebesbeziehungen oft verheimlicht, nicht zuletzt weil die Frauen Stigmatisierung befürchteten, in einer Gesellschaft, in der Fraternisierung – auch mit Besatzern, die offiziell nicht länger als Feinde gelten sollten – nicht goutiert wurde. Solche Fraternisierung war nicht nur illegal, sondern erregte in der einheimischen Bevölkerung, in Familien und bei Freunden vielfach großes Misstrauen und viel Unmut. Daher ist es kaum verwunderlich, dass Kinder, die solchen freundschaftlichen und konsensuellen Beziehungen entsprangen, auf Jahrzehnte ein Tabuthema blieben. Vielfach wurde ihre biologische Herkunft geheim gehalten, und ihre sowjetischen Wurzeln blieben verborgen. Trotzdem entwickelten sich zahlreiche Liebesverhältnisse während der Besatzungszeit. Es gab nicht nur »den Russen«, vor dem sich alle fürchteten, es gab auch die freundlichen, kultivierten und hilfsbereiten russischen Soldaten oder Offiziere. Die Durchsetzung des Fraternisierungsverbotes wurde sehr unterschiedlich gehandhabt, doch in aller Regel wurden Beziehungen sowjetischerseits unterbunden. Obwohl es sowjetischen Soldaten ab 1953 offiziell möglich war, deutsche Frauen in der sowjetischen Besatzungszone zu heiraten, geschah dies in der Realität äußerst selten. Häufiger gab es tragische Liebesgeschichten, die durch Verhaftung, Verschleppung oder Hinrichtung des Soldaten ein Ende fanden. Derartige Maßnahmen sind von den anderen alliierten Streitkräften nicht bekannt.

Eine kürzlich von Kindern des Indochinakrieges produzierte Dokumentation ihrer Erfahrungen trägt – mit Hinweis auf die Ungewissheit der Kinder über die Identität ihrer Väter – den Titel: »Inconnu – présumé français«. In Anlehnung daran kann man die Situation vieler Besatzungskinder, vor allem in den sowjetischen Zonen, mit den Worten: »Unbekannt – vermutlich russisch« umschreiben. Die Kinder des Krieges waren Teil der »vaterlosen« Nachkriegsgeneration. Doch anders als bei vielen anderen Kriegskindern, deren Väter im Krieg »für das deutsche Vaterland« ihr Leben gelassen hatten, führten Fragen der Besatzungskinder nach dem Vater oft ins Leere.

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Ein Rotarmist mit zwei Kindern, Mai 1945, Berlin

Die Militärregierung wusste nicht oder wollte nicht wissen, welche ihrer Soldaten in Deutschland Kinder gezeugt hatten. Und wenn sie es erfuhr, war die Reaktion vielfach die Versetzung des Vaters zurück in die Sowjetunion. Daher wuchsen die Kinder sowjetischer Soldaten in fast allen Fällen ohne ihren Vater entweder bei Großeltern, anderen Verwandten, in Pflegefamilien oder Heimen auf. Nach allen bislang verfügbaren Informationen wurden etwa zwei Drittel der mit sowjetischen Soldaten gezeugten Kinder bei ihren Müttern oder bei Verwandten groß, ein Drittel in Heimen oder bei Pflegeeltern. Vielfach wurden sie in die Familie der Mutter integriert, wussten nicht, dass der Mann, den sie als Vater kennenlernten, nicht ihr leiblicher Vater war, und generell wuchsen sie auf in Situationen, die im Nachhinein von vielen Kindern übereinstimmend als »Wand des Schweigens« beschrieben wurden.