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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Die Erstausgabe erschien 2008

Umschlagmotiv: shutterstock/eugenegurkov;

shutterstock.com/BenzSuthep

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86358-355-2

Kulinarischer Kriminalroman

Neuausgabe

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Für Julius Eichendorff
Mit Dank für die vielen schönen Jahre

 

»Das Gute, dieser Satz steht fest,
ist stets das Böse, was man lässt.«

Wilhelm Busch

1. Kapitel

»Der Teufel scheißt immer auf den dicksten Haufen.«

Deutsches Sprichwort

Samstag, der 11. November

Es war der Tag, an dem Julius Eichendorff eine Siegerwälder Milchkuh, schwarz gescheckt, auf die Kühlerhaube fiel. Aus sicher dreißig Metern Höhe. Was sie genauso überrascht haben musste wie Julius.

Sie war tot und Julius nahezu.

Er brauchte einige Minuten, um sich aus seinem Wagen zu wuchten, den er gegen die Leitplanke gesetzt hatte. Auch diese war nun dahingeschieden und im Paradies der Straßenmarkierungen angekommen.

Erst spät bemerkte Julius die anderen Menschen. Sie standen in sicherem Abstand zu ihm und der Kuh. Ihr Gesichtsausdruck war dem des Tieres nicht unähnlich.

Es war für eine Kuh überaus unüblich, vom Himmel zu fallen. Ein besonders großer Zufall war nötig, damit sie genau auf der Kühlerhaube von Julius Eichendorffs Wagen landete. Er hatte verdammtes Glück, noch am Leben zu sein. Hätte ihr Flug nicht auf der Kühlerhaube, sondern auf dem Dach geendet, Julius wäre jetzt flach wie eine Flunder.

Es begann zu blitzen, als die Schaulustigen beinahe gleichzeitig bemerkten, dass ihre Handys auch fotografieren konnten. Julius hielt sich instinktiv die Hand vors Gesicht. Wie war er hier nur reingeraten? Eben noch hatte er in seinem Wagen gesessen und an nichts Böses gedacht. Nun ja, um ehrlich zu sein, schon. Aber es hatte nichts mit Kühen zu tun gehabt! Sondern mit Banken. Die fielen nicht so einfach aus wolkenlosem Himmel.

Das war leider ihr einziger Vorteil.

Julius Eichendorff, kugelbäuchiger Besitzer und Chefkoch des Heppinger Sternerestaurants »Zur alten Eiche«, blickte empor zu dem Punkt, von dem die Siegerwälder Milchkuh abgehoben haben musste. Der Fels war hoch und steil, das Gestein stach hier nahe Walporzheim wie Klingen hervor. Die Kuh musste gesprungen sein, um die Strecke bis zu seinem Wagen – seinem ehemaligen Wagen – zurückzulegen. Kühe sprangen aber nicht in die Tiefe. Sie waren schließlich keine Lemminge mit Euter. Sie waren Kühe, die friedlich grasten, muhten, Milch gaben und sich selbst von schlechtem Wetter nicht aus der Ruhe bringen ließen.

»Ist das Ihre Kuh?«, fragte ein schnauzbärtiger Schaulustiger, der in seiner S-Klasse am Fahrbahnrand geparkt hatte, den Ellbogen trotz Kälte lässig herausgestülpt.

»Nein. Ihre?«, rief Julius zurück. »Vermissen Sie eine? Haben Sie das arme Tier vielleicht mit Ihren saublöden Fragen in den Selbstmord getrieben?« Julius konnte sich äußerst gut in seine Wut hineinsteigern, wenn es die Lage erforderte. »Glauben Sie, wenn es meine Kuh wäre, läge sie nun tot auf meiner Kühlerhaube und der Wagen wäre zertrümmert? Ich lasse zwar ab und zu die Kuh fliegen, aber das sieht definitiv anders aus! Ist das hier etwa Ihre Vorstellung davon, was man mit seinen Nutztieren macht? Sollte Ihnen einmal der flüchtige Gedanke kommen, Bauer zu werden, gehen Sie ihm bitte nicht nach! Den Tieren zuliebe, ja?«

Der Mann präsentierte seinen Mittelfinger solo und fuhr weiter, die Schaulustigenmenge vor sich teilend. Keiner schien nun mehr eine Frage an Julius richten zu wollen. Und dieser wollte nur noch weg. Er wählte schnell die Nummer eines Bad Neuenahrer Abschleppunternehmers, den er von der Jagd kannte und dem er blind vertrauen konnte. Schweigend nebeneinander auf einem Ansitz zu hocken, mitten in eiskalter Nacht, erzeugte unzertrennbare Bünde.

Julius versuchte gar nicht erst, die Siegerwälder von seinem Wagen herunterzubekommen. Und er widerstand auch der Versuchung, die Polizei zu rufen. Dann würde seine Verlobte Anna, die bei der Koblenzer Kripo arbeitete, zum Gespött ihrer Zunft, und die Presse bekäme Wind von der Sache. Das fehlte ihm gerade noch! Als wäre die Situation nicht eh schon verfahren genug.

Die Kälte kroch langsam seine Beine hoch, drang seitlich in die Ärmel und übersah auch den Krageneingang nicht. Nach und nach löste sich die Menge auf, denn ihr erging es nicht anders. Immer wieder hielten jedoch Autofahrer an, ließen ihre Seitenfenster herunter und fragten, ob sie helfen könnten.

»Sie könnten mir diese Kuh abnehmen!«, brüllte Julius, nachdem er die ständige Kopfschüttelei leid war. »Ganz frisch. Eifeler Qualitätsfleisch. Flugware.«

Dann endlich kam der Abschleppwagen.

Heinrich Plömper stieg aus und besah sich, sein schweres Haupt schüttelnd, den Schlamassel. Er war stämmig, sein in einem gestreiften Trainingsanzug steckender Körper wirkte hart wie ein Schildkrötenpanzer. Der ganze Mann sah aus, als sei er unkaputtbar. Jeden Herbst lag er wegen einer anderen todernsten Sache im Krankenhaus. Immer schäkerte er mit den Schwestern und kam runderneuert wieder heraus. Sein Gemüt schien nichts erschüttern zu können.

»Ich dachte, du kaufst dein Fleisch beim Metzger, wie alle anderen auch?«

»Ist billiger so. Komm, lad meinen Wagen auf, ich will hier bloß noch weg.«

»Was ist mit der Kuh?«

»An den Straßenrand.«

»Und wohin soll’s danach gehen?« Heinrich grinste breit. »Willst du vielleicht zum Zoo, ein paar Elefanten erlegen?«

»Das Auto zum Schrottplatz. Und mich nach Hause. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich bin schlecht gelaunt. Aber nicht nur wegen der Kuh.«

Zehn Minuten später blickte Julius aus dem Fenster des langsam tuckernden Abschleppwagens. Die sonnenfernen Nordhänge des Tals waren bereits gefroren, so als hätten sie es nicht erwarten können, als Erste in Winterschlaf zu fallen. Man konnte dem Eis fast zusehen, wie es sich weiter ausbreitete, wie es von immer mehr Teilen des engen Tals Besitz ergriff. Bald würde alles glitzern, würde alles Leben sich in den Boden zurückgezogen haben. Im letzten Jahr hatte Julius im November noch mit Sandalen herumlaufen können, jetzt war der Nordpol zu Besuch. Die weltweiten Wetterkapriolen vergaßen auch das kleine Ahrtal nicht.

»Ist wegen dem Dobel, oder? Brauchst nix sagen, weiß ich auch so. Der macht dir die Hölle heiß, was? Ist schon klar. Da willst du nicht drüber reden. Verstehe ich doch. Ist halt doof, wenn einer kommt, der besser ist als man selbst.«

Julius fühlte sich, als habe jemand einen Sack Salz in seine klaffende Wunde gerieben. Trotzdem rang er sich zu einer Antwort durch.

»Immerhin bekommt er nicht so gutes Wild wie ich.«

Heinrich Plömper schwieg. Ziemlich laut.

»Kriegt er doch nicht, oder? Heinrich?«

»Na ja, er zahlt halt gut. Und er ist doch auch von hier. Ich muss da ans Geschäft denken, Julius. Das ist eine Ehre, wenn so einer mein Wild kauft. Das würdest du genauso machen.«

Nein, dachte Julius, sicher nicht. Auch Heinrich hatte sich also auf Willi Dobels Seite geschlagen. Hatte sich mit dem Drei-Sterne-Gott verbündet, dem Küchenmagier, der vor einigen Monaten eine Dependance in Ahrweiler errichtet und damit einen katastrophalen Besucherschwund in Julius’ Restaurant herbeigeführt hatte.

Als ihm die Siegerwälder auf die Kühlerhaube geplatscht war, hatte Julius sich gerade auf dem Weg zu seiner Bank befunden. Wäre der Wiederkäuer ihm nicht dazwischengekommen, würde er nun wahrscheinlich schon in der Zweigstelle sitzen. In dem weichen Polstersessel, der ihn so einsinken ließ, dass er sich unendlich klein und zusammengequetscht vorkam. Während der Bänker hinter seinem mächtigen Kirschbaumschreibtisch thronte, das Ende eines goldverzierten Füllers im Mund. Erst vor einem halben Jahr war Julius dort gewesen, freudig hatte man ihm das Geld für sein neu eröffnetes Bistro gegeben, die »Eichenklause«.

Sie hatten all die Jahre gut an ihm verdient.

»Es geht nur um die jetzige Situation, Herr Eichendorff. Und die ist nun mal leider sehr ernst. Wir sind keine Wohlfahrtsanstalt, das wissen Sie ja«, hatte sein zuständiger Bankberater gestern am Telefon gesagt und dabei geklungen, als sei nur ein Komma verrutscht. Als stehe nicht Julius’ ganze Existenz auf dem Spiel.

Julius war fast dankbar, dass ihm die verdammte Kuh aufs Auto gefallen war. So blieb ihm der erniedrigende Besuch bei der Bank erspart. Zumindest vorerst.

»Hast du eigentlich schon mal beim Dobel gegessen?«, fragte Heinrich nun. Und stellte das Radio für Julius’ Antwort leiser. Nötig wäre es nicht gewesen.

»Nein.«

»Man sollte sich immer über die Konkurrenz informieren!« Heinrich zündete sich eine Zigarette mit der Selbstverständlichkeit an, mit der andere ihr Butterbrot schmierten. »Der Fraß da ist wirklich großes Tennis. Noch nie vorher hab ich so was gegessen. Ist natürlich nicht so … lokaltypisch wie bei dir.«

Die Pause tat am meisten weh. Und dass Heinrich nichts Besseres als »lokaltypisch« einfiel. Das hieß so viel wie: Du bist schlechter, aber immerhin auf heimische Art.

Natürlich war Willi Dobel besser. Da waren sich alle Restaurantführer einig. In Baiersbronn hatte der Mann sich schließlich nicht nur drei Sterne erkocht, sondern die Höchstnote in allen Führern. Er war so etwas wie Deutschlands Küchengott. Die Eröffnung seines neuen Restaurants im Ahrtal glich einer Erscheinung. Und alle waren davon geblendet. Selbst so nüchterne Burschen wie Heinrich. Das viele Gold, die edlen Stoffe, die tiefen Teppiche in Dobels Restaurant »Ahrgebirgsstube« lullten jeden ein.

Deshalb gingen sie nicht mehr bei Julius essen.

Und wenn die »Alte Eiche« nahezu leer war, fühlten sich die wenigen anwesenden Gäste unwohl, kamen nicht wieder, erzählten davon, und es wurde noch schlimmer. Diese Spirale führte auf direktem Weg in den Bankrott. Julius hatte es gestern seinen engsten Mitarbeitern gestehen müssen. Ein Monat Brechdurchfall konnte nicht unangenehmer sein.

»Du bekommst natürlich weiterhin von mir Wild, ist ja klar unter alten Jagdgenossen. Zurzeit habe ich nur nicht so viel.«

»Danke, Heinrich.« Nur weiter so, dachte Julius. Komm, gib mir den Gnadenschuss. »Glaubst du, ich überlebe das?«

Wieder so eine Pause. Und danach viel zu viel Enthusiasmus.

»Aber klar! Und wenn du wieder Schnitzel braten musst.« Heinrich lachte. Dann fing er an zu husten. Es klang, als lösten sich Stücke aus der Lunge.

Heinrich hatte es als Scherz gemeint, aber den Kern getroffen. Weggehen aus dem Ahrtal würde Julius nicht, und ob ihm jemand nach einem Bankrott das Startkapital für ein neues Restaurant anvertraute, war fraglich. Aber als Angestellter wollte er nicht arbeiten, das konnte er nach den vielen Jahren der Selbstständigkeit nicht mehr. Also Schnitzel, Pommes und Frikadellen. Sicheres Geld.

Was für Aussichten.

»Kopf hoch, Julius. Guck doch mal raus. Sieht das nicht toll aus? Ich liebe es, wenn das Tal glitzert.«

So romantisch hatte Julius den Abschleppunternehmer gar nicht eingeschätzt. Der wahre Grund für dessen Begeisterung kam schnell.

»Wenn es jetzt noch schneit, sind die Spuren vom Wild fantastisch zu sehen. Dann geht es denen mächtig an den Kragen.« Da war er wieder, der alte Pragmatiker. Beruhigend.

Sie kamen nach Bad Neuenahr, das sich mit seiner Kurwärme dem Frost trotzig entgegenstellte. Hier waren die Äste noch von keinem weißen Schleier überzogen. Bad Neuenahr hebelte die Jahreszeit fürs Erste aus. Doch Julius konnte sehen, wie sich der Winter immer mächtiger an den Stadtgrenzen aufbaute. Irgendwann würden die Schutzmauern aus Autoabgasen und Heizungswärme nicht mehr reichen. Die Kälte wollte das ganze Tal, und sie würde es bekommen. Glücklich darüber waren vermutlich nur die Winzer, die noch Trauben für Eiswein hängen hatten. Käme der Winter jetzt über ihre Weinberge, hätten sie perfekt reife, gefrorene Trauben, dann wäre es ein grandioser Eisweinjahrgang.

»Ich kann dich auch gern woanders absetzen, wenn du willst. Wo sollte es eigentlich hingehen, bevor das Vieh dich erwischt hat?«

Julius sah seinen Jagdkumpanen an, der die filterlose Zigarette bis zum letzten Fitzel aufrauchte. Einer wie Heinrich Plömper hätte früher sicher Kautabak mit seinem gewaltigen Kiefer zermahlen und in weitem Bogen ausgespuckt. Er besaß zwar breite Schultern, aber keine zum Ausheulen. Julius hatte keine Lust mehr, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Zu Maximilian Löffler«, sagte er. »Ich wollte mit unserem internationalen Starfloristen über die Blumengestecke für meine Hochzeit reden.«

»Aber der hat seinen Laden doch in der anderen Richtung?« Heinrich blickte ihn perplex an.

»Ich hatte mich verfahren«, erklärte Julius. »Kann jedem mal passieren.«

»Klar«, sagte Heinrich. »Verstehe ich. Alles Gute übrigens schon mal für die Hochzeit. Wird ein rauschendes Fest, was? Hab übrigens noch gar keine Einladung bekommen.«

Nachdem Julius sich von seinem Wagen verabschiedet und im Restaurant nach dem Rechten geschaut hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem allabendlichen Canossa-Gang. Sein Ziel: Willi Dobels Restaurant. Er musste den Konkurrenten im Auge behalten, seine Speisekarte, seine Preise, seine Gäste. Unbedingt.

Julius hatte zwar noch einen Zweitwagen, aber er wollte diese Sache nicht allein durchziehen. Deshalb fuhr ihn François, der Sommelier der »Alten Eiche«. Der hochgewachsene Südafrikaner hatte allerdings einen mürrischen Tag.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch auf jemanden treffe, der schlechter gelaunt ist als ich«, sagte Julius, während die Nacht ins Tal brach.

»Ist ja auch nicht unbedingt der lustigste Anlass, aus dem wir hier sitzen.«

Da musste Julius dem Hüter seines Weinkellers recht geben. Der Grund war der reine Horror. Und sie waren viel zu schnell am Ziel.

»Wenn wir wieder zurück in der ›Alten Eiche‹ sind«, sagte Julius beim Aussteigen, »dann trinken wir was Schönes. Damit heute wenigstens eine Sache passiert, an die man sich gern erinnert. Von mir aus köpfen wir was aus Südafrika. Aber ein Pinot Noir muss es sein!«

François lächelte schwach und schloss den Wagen ab. Sie hatten am Nordtor Ahrweilers geparkt und gingen gesenkten Kopfes in die Altstadt. Das Kerzenlicht von Dobels »Ahrgebirgsstube« fing sich im Kopfsteinpflaster der kleinen Gasse. Ein roter Teppich führte hinein, Rosenblätter lagen darauf, die Menükarte stand geöffnet auf einem massiven goldfarbenen Notenständer. Sie war aus handgeschöpftem Papier, von des Meisters Hand selbst beschrieben, in teurem Leder steckend. Nur eine Seite. Man aß, was Dobel kreierte. Sonderwünsche waren nicht vorgesehen. Als Julius näher trat, konnte er die Musik aus dem Inneren hören, die eine elfengleiche Frau an einer französischen Camac-Harfe zum Besten gab.

Es klang wundervoll.

François linste seitlich durch die Scheiben von Dobels Etablissement, während Julius sich die Menükarte ansah. Wie heißes Öl brannte sie sich in seine Netzhaut. »Roh marinierte Coquilles Saint Jacques mit Sepiakaviar und Salat von Algen«, »Feuer und Eis mit Steinpilz-Couscous, Tomaten-Kokos-Schaum und Koriander«, »Gezupfter Seewolf mit Marenne-Austern, Blumenkohlpurée und Pomeloperlen«. Julius las weiter. Alle Gänge klangen traumhaft, gleichermaßen innovativ und schlüssig. Ihr Duft züngelte verführerisch aus der Eingangstür. Julius konnte sie fast schmecken, die delikaten Aromen kitzelten seine Papillen. Bei jedem Geniestreich Dobels stellte sich Julius die bohrende Frage, warum er selbst nicht darauf gekommen war. Dobel vereinte die moderne Elementarküche des Spaniers Ferran Adrià mit der französischen Haute Cuisine auf seine ganz eigene Art. Mutig, einfallsreich, mit Gegensätzen spielend, als sei Kochen eine Zirkusvorstellung.

Jemand drängte sich an Julius vorbei, um ins Restaurant zu gelangen.

Es war Dr. jur. Harry Hinckeldeyn, der Anwalt von Julius’ Sippe und eigentlich durch nichts aus seiner Villa an der Georg-Kreuzberg-Straße zu locken. Gegen ihn waren Lurche Stimmungskanonen.

»Hast du nix Besseres zu tun, als hier Maulaffen feilzuhalten?«, raunzte Hinckeldeyn ihn an. Das war freundlicher, als Julius erwartet hatte.

»Ich dachte immer, Ihnen läge die moderne Kochkunst nicht so.«

»Seit wann bin ich einem Balg wie dir Rechenschaft schuldig? Ich esse, wo’s schmeckt.« Für Hinckeldeyn galt jeder unter der Rentengrenze als unreifes Kind. »Wenn du mich zu deiner Hochzeit einlädst, wie es sich gehört, esse ich auch da. Du könntest ja Dobel fragen, ob er kocht. Dann hättest du den Abend frei, und ich was Gutes zu futtern. Und jetzt beweg deinen elefantösen Körper zur Seite, sonst komme ich nicht rein.«

Es war noch früh, trotzdem war die »Ahrgebirgsstube« bereits voll. Denn heute war die Nacht der Martinsfeuer, und alle wollten dabei sein, wenn sie am Abend brannten.

Julius warf noch einen letzten Blick auf die Karte, Abteilung Dessert. »Papst göttlich« stand dort. Darunter, klein geschrieben: »Salat von Nüssen – Kandiertes Omelette mit Stickstoff-Gemüse – Flüssiger Apfelkuchen mit Zimt«.

Es war der Nachtisch seines Papstmenüs! Das er beim Weltjugendtag für das geweihte Haupt kreiert hatte. Die Zeitungen hatten darüber geschrieben.

Doch Dobel hatte es genialisiert, es mittels der modernsten Methoden der Kochkunst in ein Dessert verwandelt, das es in die Historie des Kochens schaffen konnte.

Er hatte ihn diskreditiert.

Mit diesem Gericht hatte er auf Julius gespuckt.

François stupste ihn an. »Da sitzt deine Tante, die immer an dir rummäkelt. Der Landrat ist auch da und sogar unser Meisterflorist. Schau dir bloß mal die Champagnerflaschen an! Die machen Krug und Salon in rauen Mengen auf, nur große Flaschen.«

François’ Mund stand so weit offen, dass Pelikane darin ein Nest hätten bauen können.

»Komm, wir gehen, sonst bekommst du schon vom Zuschauen einen Schwips.« Julius zog seinen Sommelier am Sakko fort.

Dobel schien allein an diesem Abend mehr umzusetzen als die »Alte Eiche« im kompletten letzten Monat.

»Hättest du gedacht«, fragte er François, den Arm um ihn legend, wie es alte Freunde taten, »dass mein Verderben so gut duften würde? Wer kann das schon von sich sagen?«

Julius erntete kein Lachen. Und ihm selbst war auch nicht danach.

Sie gingen zurück Richtung Nordtor, als sein Handy klingelte. Er fischte es träge aus seiner dicken Winterjacke, wie ein Schlafwandler, der ohne Elan die Gliedmaßen bewegte. Ohne auf die Nummer im Display zu schauen, hielt er sich das Handy ans Ohr.

»Eichendorff.«

Er erhielt keine Antwort. Nur ein Atmen. Ein Seufzen.

»Hallo? Hier ist Eichendorff, wer ist da?«

»Ich bin’s, Julius.« Anna. Sie klang erschöpft. Aber froh. Ihr Glück bollerte aus dem Handy, als wäre es ein kleiner Ofen. »Endlich hab ich Empfang! Es ist so gut, deine Stimme zu hören, Dicker. Ich vermisse dich schrecklich. Weißt du das eigentlich? Du mich auch, oder? Sag’s mir! Ich will das jetzt hören. Sofort! Los! Du kannst es, ich weiß das!«

Julius lächelte. Es war das erste Mal an diesem Tag.

Das Lächeln war immer noch nicht ganz aus Julius’ Gesicht verschwunden, als er später am Abend durch ein Privathaus zwischen Nieder- und Ahrtor an der Friedrichstraße schritt. Denn nur so gelangte die Jury auf den Kanonenturm im südlichen Teil der Ahrweiler Stadtmauer. Normalerweise bestand sie ausschließlich aus Abgesandten der Huten, wie die Stadtviertel Ahrweilers genannt wurden, den Ortsvorstehern, dem Bürgermeister und dem Vorsitzenden des Martins-Ausschusses. Doch in diesem Jahr hatten sie Julius dazu gebeten. Er war immer neidisch auf diese Truppe gewesen, hatte sie doch als Einzige wirklich freien Blick auf alle vier brennenden Schaubilder samt Martinsfeuern, die in dieser Nacht in den pechschwarzen Weinbergen rund um Ahrweiler entzündet wurden. Der Kanonenturm mit seinen Geschützen aus dem 16. Jahrhundert kam Julius an diesem Abend wie der sicherste Platz auf Erden vor. Er schien Tausende Meilen entfernt von allen Sorgen, die auf dem harten Ahrtaler Beton auf ihn lauerten. Hier oben konnten sie ihm nichts anhaben.

Als das erste Schaubild entzündet wurde, schmolzen die Gedanken an Dobel und die schwer taumelnde »Alte Eiche« wie Schnee im Hochofen. Julius dachte endlich nicht mehr daran, dass FX jeden Tag die stets leer bleibenden Tische eindeckte, dass die Köche gepökelten Eifelrehrücken und Pumpernickel-Eis vorbereiteten, obwohl niemand zum Essen kam, und dass François schon die ganze Woche Telefondienst schob ohne eine einzige Reservierung. Die Brigade verrichtete sinnlos ihren Dienst – zumindest jene Mitarbeiter, die Julius nicht hatte entlassen müssen.

Doch das war nun alles weit weg.

Gott, wie liebte Julius dieses Spektakel zu Ehren des heiligen St. Martin! Die Junggesellen des Stadtviertels Ahrhut hatten ihr Schaubild dem Bundesschützenfest gewidmet. Dreizehnhundertzwanzig Fackeln hatten die Junggesellen auf ihren beeindruckenden Holzkonstruktionen angebracht, die Schrift war bis zu zweieinhalb Meter groß. Links zierte der heilige St. Sebastianus die brennende Schrift, rechts das Symbol des Bundes der historischen deutschen Schützenbruderschaften. Darüber loderte das Martinsfeuer, gerade und hoch, so wie es sein sollte.

»Die sommermüde Erde im Verblühen / Lässt all ihr Feuer in den Trauben glühen / Die Sonne, Funken sprühend, im Versinken / Gibt noch einmal der Erde Glut zu trinken / Bis, Stern auf Stern, die Trunkne zu umfangen / Die wunderbare Nacht ist aufgegangen«, zitierte Julius seinen dichtenden Vorfahr und erntete allgemeines Nicken.

Schon flammte ein anderer Weinberg auf. Julius spürte das Raunen der Menschenmenge, die Ahrweiler in diesen Nächten stets bedeckte. Die guten Plätze waren lange vor Einbruch der Dunkelheit besetzt, und für Auswärtige, die einen Parkplatz suchten, konnte dieses Fest in Verzweiflung enden.

Das Schaubild der Adenbachhut, der traditionell kleinsten der vier Huten, wies nur rund tausend Fackeln auf, beeindruckte aber nicht weniger. »Denn Frieden ist der Weg« hatten die Junggesellen mit Feuer geschrieben und wiesen damit auf die Eröffnung der Dokumentationsstätte im ehemaligen Regierungsbunker des Tals hin. Vor Jahren war noch darüber nachgedacht worden, dort die größte Champignonfarm Europas entstehen zu lassen. Manchmal tranken sie halt doch zu viel Wein im Tal.

»Guck mal dort«, sagte der Bürgermeister zu ihm, nachdem er aufgehört hatte, seine verrutschte Amtskette geradezuziehen. Begeistert wies er auf das Martinsfeuer der Adenbachhut, das für alle unübersehbar dem Himmel entgegenzüngelte. »Ohne schwarzen Mann, so muss das sein!« Die Feuersäule musste durchgehend sein, ohne dunkle Löcher, und mindestens drei Minuten brennen. Die Stoppuhren tickten.

»Mensch, schau mal da!«, rief der Bürgermeister jetzt, putzte schnell seine Brille und sah in Richtung Niederhut. »Siehst du das?«, fragte er, obwohl Julius ja längst hinschaute. »Da, Julius, da musst du hinsehen. Ist das nicht toll hier oben?«

Schon, dachte Julius, aber es ständig zu betonen machte den Spaß irgendwie kaputt. Das Schaubild war dennoch eine Pracht. »Oos Hutenfackel en doll Idee von 1981« stand dort. Über zweitausend Fackeln hatten die Junggesellen verbraten.

»Guck hin«, schob der Bürgermeister nach. »Den Turm musst du dir auch angucken.« Mit Fackeln war das Gebäude der Hutenschaft kunstvoll nachempfunden worden.

Julius kam sich vor wie ein Zwölfjähriger, dem ein seniler Onkel erklärte, was ein Teddybär war. Er stellte auf Durchzug.

Das ersparte ihm einiges.

Nämlich alle Kommentare über das Schaubild der Oberhut. Zwar nur fünfzehnhundert Fackeln. Aber diese in Form eines Seeteufels. Des Wappentiers von Willi Dobel. Seiner legendärsten Spezialität. Eingerahmt von drei Sternen. Darüber brannte der Schriftzug »Willkommen zurück, verlorener Sohn!«.

Julius überhörte den Jubel auf den Straßen, das anerkennende Gemurmel der Juroren und das Geplapper des nun vollends ekstatisierten Bürgermeisters. Alle klopften sie Julius aufmunternd auf die Schulter wie einem verdienten alten Gaul, der nun zum Abdecker musste. Er konnte den Blick nicht abwenden. Wie bei einem schweren Verkehrsunfall. Es war schrecklich und fesselnd zugleich.

Julius hatte keinen Zweifel, wer heute gewinnen würde.

Und ebenfalls keinen, wo er jetzt hinging.

In den Keller des Dernauer Weinguts Pikberg. Denn dort warteten Fässer voller flüssiger Freunde.

Und kein brennender Seeteufel.

Julius klingelte. Es war fast so, als zeigte der Alkohol, den er gleich zu sich nehmen würde, schon jetzt Wirkung. Die Welt wurde mit einem Mal angenehm weich.

Eines der zu Ende fackelnden Schaubilder schien auf den wartenden Julius. Es war das der Adenbachhut, doch Julius sah den brennenden Seeteufel vor sich.

Jetzt hätte er gut wieder einen kurzen Anruf von Anna gebrauchen können, doch die war in Vancouver mit ihrer kranken Tante Ursula vollauf beschäftigt. Die Gleichung hieß: Oberschenkelhalsbruch mit knapp neunzig + kein Geld für Pflegekraft = nächste Verwandte ohne Flugangst (Anna). Dass diese gerade einen Heiratsantrag angenommen hatte und der Hochzeitstermin nur wenige Wochen entfernt lag, bedeutete in einer Nebenkalkulation, dass Julius nun alles allein machen musste, wobei es Annas geheimste Wünsche zu erahnen galt.

Dazu gehörte Julius’ Meinung nach auch ein spezieller Hochzeitswein. Der war ihr mit Sicherheit wichtiger als Einladungen mit goldenen Lettern, eine perfekt ausgeklügelte Sitzordnung, teure Blumenarrangements, die Farbe der Tischdecken oder die richtige Lichtstimmung. Wein und Essen mussten stimmen, das sahen bestimmt alle so.

Endlich wurde die Tür geöffnet. Julius war sich nur nicht sicher, ob von einem Menschen. Das Wesen sah zwar aus wie einer und trug einen handelsüblichen Bademantel über dem gestreiften Schlafanzug, klang aber alles andere als menschlich. Es schniefte ohne Unterlass, und die Stimme ähnelte dem Krächzen einer Krähe.

»Johann«, begrüßte Julius sein Gegenüber. »Du siehst gut aus, kann ich reinkommen?«

Der Winzer schüttelte den Kopf. Aber nur ganz langsam. Er sah ein wenig aus wie der junge Woody Allen. Allerdings mit geschmackvoller Brille. Doch den Schalk hatte auch er im Nacken. Ein ausgewachsenes, prachtvolles Exemplar sogar.

»Wenn ich gut aussehe, gewinnt der Glöckner von Notre-Dame die Wahl zur Miss Universum.« Johann Pikberg schniefte wieder.

»Gib mir einfach den Kellerschlüssel«, sagte Julius. »Ich find mich schon zurecht.« Er kam einen Schritt näher, woraufhin sich Johann Pikberg wie ein lichtscheues Tier weiter in die Diele zurückzog.

»Bleib bloß weg von mir! Ich bin zurzeit eine echte Bazillenschleuder. Was machst du überhaupt hier? Du bist dieses Jahr doch in der Jury, oder?« Er hustete, als sei seine Lunge löchriger als ein altes Nudelsieb.

»Kann ich jetzt in den Keller oder nicht? Guck nicht so! Heute klappt’s!«

»Klar, das hast du vorher ja noch nie gesagt. Von mir aus komm rein, aber tritt nicht auf den Hund.«

Der Mastiff lag auf dem Läufer, war wegen seines dunklen Fells aber schlecht auszumachen. Er störte sich nicht an dem über ihn steigenden Menschen.

»Wollen wir wetten, dass du es wieder nicht schaffst? Um ein Essen bei dir? Für die ganze Familie Pikberg?«

»Du könntest von mir aus deine Nachbarn auch noch mit einladen. Aber gewinnen wirst du die Wette trotzdem nicht.«

»Steht der Mond richtig oder juckt dein linkes Ohrläppchen?«

Julius nahm Johann den Schlüssel aus der Hand und ging in Richtung Keller. »Ich sag dir, warum. Weil deine Weine heute endlich schmecken. Die letzten Male waren sie untrinkbar.«

»Bist du schon mal die Kellertreppe heruntergefallen?« Johann schubste Julius allerdings nicht – sondern nieste. Der Windstoß reichte Gott sei Dank nicht aus.

Der Keller war klein, die Barriquefässer in jede mögliche und unmögliche Ecke gestopft, über-, neben- und vor allem durcheinander. Die besten Weine des letzten Jahres und die gesamte Ernte des neuen lagen hier, einige Fässer blubberten noch fröhlich gärend vor sich hin, als säßen Zwerge mit Strohhalmen darin. Johann reichte Julius ein Burgunderglas, zog seinen Bademantel enger und setzte sich auf den einzigen Stuhl.

»Dann leg mal los.«

Die Gebrüder Pikberg hatten viele Rebsorten im Anbau. Spät- und Frühburgunder, Dornfelder, Regent, Cabernet Franc, Cabernet Sauvignon, Portugieser, alles war da. Julius konnte hier deshalb eine besonders außergewöhnliche Cuvée zusammenstellen. Er hatte unzählige Möglichkeiten.

Genau das machte es so verdammt schwer.

Er hatte es schon etliche Male versucht, aber immer war er übel gelaunt in die »Alte Eiche« zurückgekehrt, weswegen die Belegschaft den Hochzeitstropfen mittlerweile als verteufelten Wein bezeichnete. Sie unkten, er würde ihn niemals komponieren.

Julius war bisher gescheitert, weil ihm eine genaue Vorstellung gefehlt hatte. Wie sollte der Duft sein, wie der Geschmack? Doch jetzt wusste er es genau! Die Cuvée musste sein wie Anna und er. So präzise wie er und so gemütlich. Von Anna bekäme sie das Chaotische, das Unerwartete, einen guten Schuss Humor und einen verdammt süßen Kern. All diese Eigenschaften würden ein großes, wunderbares Ganzes ergeben, das gut reifen konnte, viele Jahre lang, ohne dass ein Teil des Weines die Überhand gewann.

Ein gutes Dutzend Messzylinder füllte Julius mit Wein und goss sie dann in unterschiedlichen Mischverhältnissen zusammen. Je mehr er verkostete, desto besser gelangen die Zusammenstellungen. Johann Pikberg war jedoch nicht länger bereit, die Fortschritte zu goutieren. Und vor allem nicht Julius’ stetige Tiraden gegen »den vermaledeiten Willi Dobel«. Immer wieder brachen sie durch, mit jedem Schluck Wein mehr.

»Mit meiner Triefnase rieche ich überhaupt nichts. Und es ist verdammt kalt hier unten.« Johann Pikberg sagte das so langsam, dass Julius schon befürchtete, das Hirn des Winzers friere ein. »Ich bin zu müde, Julius. Du findest schon allein raus. Sei nicht zu laut. Wir kommen dann nächsten Samstag zum Essen – auf deine Kosten.«

Julius hob die Hand zum Abschiedsgruß und gab noch mehr Frühburgunder in das bauchige Glas. Bei dieser heimischen Rebsorte musste er immer an Anna denken. Der Wein war fruchtig und schmeichelnd, hatte aber durch den Schieferboden auch einen mineralischen Kern. Und Julius bekam ihn nie richtig zu fassen. Stets schmeckte er ein bisschen anders als zuvor.

Immer mehr Frühburgunder wanderte in die Cuvée. Julius summte etwas dazu. Jazz, keine Klassik, denn die mochte Anna nicht. »Smooth Operator« von Sade. Den Song hatte er mal bei ihr gehört. An einem besonders schönen Abend. Er passte gut zum Frühburgunder.

Jede neue Kreation musste verkostet werden. Julius spuckte natürlich das meiste in einen Krug, doch er wollte auch wissen, wie der Wein in großen Schlucken schmeckte, wie er den Hals hinabglitt. Er nahm die Sache sehr ernst!

Und immer ernster.

Auf die Uhr hatte Julius schon lange nicht mehr geschaut, als bei ihm endlich alle Glocken läuteten. Denn das, was er im Glas hatte, war perfekt. Es war eine Liebesnacht mit Anna. Der Wein schien Julius so sinnlich, dass er das Gefühl hatte, ihn bei der Hochzeit nicht ausschenken zu können. Zumindest nicht an seine Eltern.

Zudem bestünde mit diesem Tropfen die Gefahr, dass die Hochzeitsfeier in einer Orgie endete.

Und mit Orgien musste man im Ahrtal vorsichtig sein.

All die Gedanken an seine Hochzeit ließen Julius immer stärker an Anna denken, und je mehr er dies tat, umso sehnsuchtsvoller vermisste er sie, was wiederum nach Wein verlangte, um die Traurigkeit zu lindern, welcher ihn noch melancholischer werden ließ, was seine Gedanken an Anna verstärkte, wodurch er wieder Wein trinken musste.

Irgendwann gingen die Lichter aus.

Es war Anna, die in seinen Gedanken den Schalter bediente.

Julius lächelte.

Das zweite Mal an diesem Tag.

***

Sonntag, der 12. November

Es war schrecklich kalt, als Julius erwachte. Was natürlich am Frost lag. Und an der eisigen Luft. Ein weiterer Grund war, dass er nur unter einer Kamelhaardecke lag.

Mitten im Weinberg.

Das war nicht das Weingut Pikberg.

Das war Grauwackeboden. Auf diesem war er ganz bestimmt nicht eingeschlafen. So viel wusste er noch. Auch wenn er sich an die Nacht sonst nicht mehr erinnerte. Alles war wie ausgelöscht. Von dem Moment an, da er die perfekte Cuvée getrunken hatte.

Mühsam rappelte er sich auf und wischte die Erde ordentlich von der Kleidung. Noch war es Nacht, doch der Tag kündigte sich an, schwerfällig, als lägen anstrengende Stunden hinter ihm.

Das wenige Morgenlicht aber reichte Julius, um zu erkennen, wo er war und was da neben ihm einer Felswand gleich aufragte. Das Kloster Calvarienberg. Es thronte nahe Ahrweiler, wie ein steinerner König über sein Land wachend. Neben Julius wuchs Riesling. Das heißt, zurzeit fror er. Also stand er in der Weinlage Ahrweiler Ursulinengarten.

Die frische Morgenluft drang in seinen Kopf und schmerzte an den noch weinseligen Stellen. Der Alkohol wollte nicht kampflos das Feld räumen. Julius legte zur Linderung die Hände auf seinen Schädel. Es half allerdings nichts. Nur die Ohren wurden wärmer.

Als er die Hände wieder senkte, hörte er Stimmen. Sie waren weit weg, der Wind trug nur Bruchstücke von Worten zu ihm herüber. Aber Julius konnte ausmachen, woher sie kamen. Da die Rebstöcke nur wenige Blätter und Trauben trugen, schaffte er es sogar, sich durch die Rebzeile vor ihm in ihre Richtung zu zwängen. Dann aber hinderte ihn ein blaues Netz am Weitergehen. Es schützte die Trauben, mit denen edelsüße Weine erzeugt werden sollten, vor Vogelfraß. Und nun auch vor Julius. Sein Kopf pochte immer mehr, als dotze jemand ständig mit einem uralten Graubrot gegen die Schädeldecke.

Der gefrorene Boden war hart und rutschig. Julius ging sehr vorsichtig den Hang hinauf, um über den quer laufenden Bewirtschaftungsweg zu den anderen Menschen im Weinberg zu gelangen. An den Enden der Rebgänge standen Bütten mit Trauben. Eisweinlese. Da musste es schnell gehen, denn die Trauben durften nur in gefrorenem Zustand gekeltert werden. Hier war allerdings niemand, der sie hektisch einsammelte und zum Weingut brachte. Die wertvollen Trauben waren einfach allein gelassen worden, obwohl der Morgen graute und die Temperaturen stiegen. Der Eiswein verkam.

Julius stapfte weiter zu den Stimmen, die lauter und erregter wurden. Einige kamen Julius bekannt vor. Vielleicht konnte ihm einer der Erntehelfer sagen, wie er hierhergekommen war.

Endlich war er in der richtigen Rebzeile. Der Lesetrupp stand zusammengerottet im Weinberg, sicher rund zwanzig Männer und Frauen, dick eingemümmelt in alte warme Kleidung, bei der es nichts ausmachte, wenn sie bei der Lese litt. Die Füße steckten in festem Schuhwerk, die Hände in Gummihandschuhen, Rebscheren haltend. Einige der Helfer kannte er. Seine Cousine Annemarie war dabei, der Walporzheimer Pizzeriabesitzer Don Pitter, der neue Landrat stand direkt neben einem Fotografen der Lokalpresse, auch François gehörte zum Trupp.

Julius mühte sich hinunter, den faden Schlafgeschmack am Gaumen durch den Genuss einiger Eisweintrauben vertreibend.

»Morgen zusammen«, sagte er mit vollem Mund. »Nur keine Müdigkeit vorschützen, die Trauben tauen schon!«

»Julius!«, sagte ein Mann, den der Heppinger Koch sofort erkannte. Es war der Winzer Markus Kiesingar. Der mächtige Glatzkopf rannte einige Schritte auf ihn zu. »Was machst du denn hier?«

Die Frage hieß ihn nicht willkommen. Sie war ernst, fast vorwurfsvoll.

Julius überhörte es.

Und mit einem Mal wurde es still, denn die Menge hatte ihn bemerkt. Keiner sagte mehr etwas. Alle schauten entsetzt zu ihm hoch, schienen seine Antwort zu erwarten.

Doch er wollte sie nicht geben. Nicht vor versammelter Mannschaft. Es musste ja nicht jeder von seinem Blackout erfahren. Er winkte den Winzer näher zu sich.

»Seid ihr schon lange hier?«

»Wieso fragst du? Du hast doch nicht irgendwas, also ich meine, das kann ich mir nicht vorstellen. Wie siehst du überhaupt aus?«

»Ich bin gerade im Weinberg aufgewacht«, flüsterte Julius. »Keine Ahnung, wie ich hierhin gekommen bin. Ich dachte, du wüsstest es vielleicht. Kann ja sein, dass sich einer einen Scherz erlaubt hat.«

»Du kannst dich nicht erinnern?«

»Kommt bestimmt wieder. Hoffe ich.« Julius lächelte. Mittlerweile war der Tag da. Das Ahrtal funkelte wie eine Diamantenmine.

»Du solltest lieber ganz schnell gehen und keinem etwas davon erzählen. Ach was, dafür ist es eh schon zu spät. Es haben dich ja alle gesehen.«

»So schlimm ist es ja auch wieder nicht. Wir sagen einfach, ich hätte einen Morgenspaziergang gemacht. Kannst du mich vielleicht schnell nach Hause fahren? Ich will mich noch ein bisschen ins Bett legen.«

Kiesingar schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Lass uns zu den anderen gehen, Julius. Das ist wohl das Beste. Wir können es nicht vertuschen. Wenn du jetzt abhaust, sieht das ganz schlecht für dich aus.«

»Wovon redest du? Ich habe zu viel getrunken, das gebe ich ja zu. Aber seit wann ist das bei uns ein Verbrechen? Das Tal hat jahrzehntelang davon gelebt, dass Menschen so was machen!«

»Komm mit! Du musst dir was ansehen.« Markus Kiesingar zerrte Julius fast mit sich. Die Menschenmenge vor ihnen im Rebgang teilte sich, so gut es ging.

Kiesingar hielt an einem Eisblock.

Er war sicher rund zwei Meter lang und einen Meter breit.

Die Oberfläche war glatt, doch die Seiten wirkten aufgeraut, gesplittert und abgebrochen.

Aber das war es nicht, was Julius am meisten verwunderte. Die Überraschung, einen solchen Eisblock mitten im Weinberg zu finden, hatte schnell einem anderen Gefühl Platz gemacht.

Schock.

Denn in dem Eisblock steckte ein Mensch.

Es war Willi Dobel.

2. Kapitel

»Es ist wichtig, einen kranken Körper zu

stärken, damit er dem Teufel und seinen Gehilfen

Widerstand leisten kann.«

Hildegard von Bingen

»Und dann?« FX rutschte auf seinem Stuhl herum, als stünde der auf höchster Garstufe. Eigentlich hieß der Maître d’Hôtel des Restaurants »Zur alten Eiche« Franz-Xaver und war eine Art Oberkellner – aber beides erwähnte man ihm gegenüber tunlichst nicht. Selbst seine wienerische Gelassenheit kannte Grenzen. Eigentlich sogar ziemlich enge.

»Ich muss meine Katzen füttern. Und drüber reden will ich nicht«, grummelte Julius und verschwand in Richtung Küche.

FX drehte seinen imposanten Zwirbelbart empor und dackelte ihm hinterher. »Drüber reden sollst net, sondern erzählen

»Herr Bimmel! Felix! Fresschen!«

Rufen war gar nicht notwendig. Schon am Gang hatten die beiden Vierbeiner erkannt, dass Julius sich nicht selbst etwas genehmigen wollte. Denn dann federte er immer freudig. Diesmal war sein Schritt eher schleifend gewesen. Er wollte also ihre Näpfe füllen! Als Julius in die Küche trat, standen sie bereits dort, die Schwänze kerzengerade erhoben.

»Komm schon, es is grad mal eine Stunde her. Du musst des loswerden. Aus gesundheitlichen Gründen!«

»Vielleicht sollte ich den beiden Stinkern gleich was Neues kochen und einfrieren? Dann ist alles vorbereitet, wenn es für mich ins Gefängnis geht.« Julius leerte die Futterdosen und sah seinen Katern beim Fressen zu. Er liebte es, wenn die beiden für kurze Zeit wieder zu gierigen Raubtieren wurden.

»Dir macht des Spaß, oder? Mich hier so unwürdig biezeln zu lassen?«

Julius versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Wenn’s dir dadurch besser geht«, sagte FX und schüttelte den Kopf, »sei es dir von Herzen gegönnt.«

»Es geht mir jetzt wirklich ein bisschen besser. Dabei sollte ich eigentlich wimmernd im Keller hocken.«

»Musst heut noch zur Polizei?«

Julius nickte, ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Ohrensessel plumpsen, als wäre der ein Sprungtuch der Feuerwehr. Den hatte ihm einst seine treue Belegschaft geschenkt. Bald würde er wegen des Gästeschwunds noch mehr von ihnen entlassen müssen. Der Sessel fühlte sich härter an als gewohnt.

»Sie holen mich ab.«

»Was?«

»Ist ihnen lieber so. Du musst dich nicht aufregen. Bisher haben sie nicht gesagt, dass sie mich dabehalten wollen.«

»Ich begreif des alles net. Du bist schließlich der kulinarische Detektiv und net der lukullische Killer! Fünf Mordserien hast aufgeklärt. Des muss doch für irgendwas gut sein!« FX blickte besorgt aus dem Fenster. Noch blitzte kein Blaulicht auf.

»Offenbar nicht. Eher scheinen sie zu denken, ich hätte ein kriminelles Hirn. Wenn du aufhörst, mich nervös zu machen, und dich auf deine vier Buchstaben setzt, erzähle ich weiter. In Ordnung?«

FX war schneller auf dem Stuhl als Rainer Calmund am kalten Büfett.

»Ich erzähle von dem Moment an, als ich die Leiche gesehen habe. Unheimlich war das. Dobel hatte nämlich die Augen auf und war kein bisschen aufgedunsen. Auch seine Gesichtsfarbe war noch frisch. Keine Wunde zu sehen, kein Blut. Jeans und Jacke unversehrt. Man hätte denken können, der läuft wieder rum, wenn das Eis geschmolzen ist. Dann war auch schon die Polizei da. Und keiner durfte mehr weg. Jeder wurde befragt. Ich habe tierisch gefroren. Es war irre, irre kalt.« Julius starrte mit einem Mal ins Leere, als hätte er die Situation wieder vor Augen, und versank immer tiefer in seinem Ohrensessel.

FX wurde unruhig. »Willst einen Schoppen? Für die Nerven? Julius?«

Es dauerte einige Sekunden, bis Julius wieder im Hier und Jetzt war.

»Was? Hast du was gesagt?«

»Wein?«

»Kann keinen mehr sehen.«

»Dann is es ernst. Zeit, mir wirklich Sorgen zu machen.«

»Ich mach mir schon seit heute Morgen welche, da hast du einiges aufzuholen.«

»Des heißt, sie glauben tatsächlich, du hättst den Dobel kaltgemacht?«

Herr Bimmel sprang auf Julius’ Schoß, um sich ein paar Krauler abzuholen. Die schlechte Laune seines Mitbewohners schreckte ihn nicht ab. Julius hatte sogar das Gefühl, sie sporne den kugeligen Kater immer zum Kuscheln an. Dafür war er sehr dankbar. Langsam streichelte er Herrn Bimmel über das Köpfchen.

»Annas Vertretung vom Koblenzer Kommissariat heißt Thidrek. Er hat unmissverständlich klargemacht, dass er seine Ermittlungen schnell abschließen will. Und nachdem er meine Geschichte gehört hatte, zweifelte er nicht mehr an seinem baldigen Erfolg.«

»Ein schmieriger Hund mit eng zusammenstehenden Augen?«

»Nein, smart und jung. Allerdings mit gigantischen Händen. So was hab ich noch nie gesehen, völlig überproportioniert im Verhältnis zum Rest seines Körpers. Sahen aus wie Bananenstauden.«

»Und vom Geisteszustand her?«

»Sehr dynamisch und eloquent.«

»Also keine Menschenkenntnis.«

»Nein.«

»Kälter als ein Seehundhintern?«

Julius nickte. »Für diesen Thidrek ist jeder neue Mord nur eine Chance, Karriere zu machen. Und jetzt, wo Anna nicht da ist, ruht er sich keine Minute mehr aus. Er will den Täter unbedingt haben, bevor sie zurückkommt.«

»Und wenn der Mörder zufällig der Verlobte seiner Vorgesetzten sein sollte, was diese a bisserl diskreditieren würd, käm des dem jungen Mann sehr gelegen.«

»Jetzt brauch ich doch was. Trink ich eigentlich zu viel?«

»Da du noch gerade sitzen kannst, würd ich des net sagen.«

Julius schaute nicht auf die Flasche, aus der FX einschenkte. Seine Nase sagte ihm, dass es sich um einen nach Eukalyptus duftenden chilenischen Cabernet Sauvignon handelte. Einen »Casillero del Diablo«. Übersetzt: »Keller des Teufels«. Wie passend.

»Das Schlimmste waren die Blicke der Lesehelfer. Die haben mich angesehen, als sei ich ein Mörder. Dabei kennen mich die meisten, seit ich in die Hosen gemacht habe.«

»Und was jetzt?«

»Die verlorene Nacht wiederfinden. So schnell wie möglich. Sonst werde ich meine nächsten nämlich hinter Gitter verbringen.«

Kurze Zeit später stand Julius wieder vor dem Weingut Pikberg. Um zum Keller zu gelangen, in dem er einen Teil der letzten Nacht verbracht hatte, musste man zwischen zwei Wohnhäusern hindurch. Tische und Stühle der Gastwirtschaft waren dort aufgestellt, mit dicken Plastikplanen vor dem Frost geschützt. Julius umkurvte sie, als wäre es ein Slalomkurs, und schwenkte in Richtung des schweren Holztors, das den Eingang sicherte. Es war zu. Julius wusste, dass es selbst im aufgeschlossenen Zustand verdammt viel Kraft kostete, es zu öffnen.

Wäre er in seinem Zustand dazu überhaupt fähig gewesen?

Der Betonweg hinunter war glatt. Es war schwierig, ihn hinabzugehen, beinahe unmöglich wäre es, ihn mit betrunkenem Kopf und schlingerndem Schritt hinaufzukommen. Und selbst wenn er dies geschafft hätte: Er war hier in Dernau, erwacht war er aber auf dem Calvarienberg nahe Ahrweiler. Das waren bestimmt sechs Kilometer. Eine solche Strecke legte man keinesfalls einfach so zurück. Julius wusste, dass er nicht nur geschlafen hatte. Dann wäre da nicht diese unendliche Müdigkeit. Es fühlte sich an, als wäre sein Kopf ein großer Wassertank. Er drohte zu bersten.

Besonders jetzt, da jemand nach ihm rief.

Es war Johann Pikberg. Er schloss das Tor auf, es öffnete sich mit lautem Quietschen.

»Was treibst du hier? Die Polizei hat wegen dir schon gefragt!« Unruhig blickte er zur Straße. »Lass uns drinnen weiterreden.«

»Deine Erkältung ist ja noch schlimmer geworden«, sagte Julius, als sich das Tor hinter ihm schloss und Johann Pikberg das Licht in den niedrigen Kellerräumen anschaltete.

»Du hast Nerven! Mein Schnupfen ist im Augenblick ja wohl das Unwichtigste. Setz dich.« Er schob einen Stuhl zu Julius, als wäre dieser ein gebrechlicher alter Mann. »Sie wollten alles genau wissen, Uhrzeiten, wo du gestanden hast, was du gesagt hast. Ich wusste ja nicht, dass du unter Mordverdacht stehst, deshalb hab ich ihnen zuerst die Wahrheit erzählt. Auch über deinen Groll auf Dobel.«

Johann machte eine Pause und sah Julius unsicher an.

»Sie haben auch gefragt, ob du häufiger zu viel trinkst.«

»Was hast du geantwortet?«

»Na, dass du fast nie trinkst und ich dich niemals vorher betrunken erlebt habe. Ist doch klar!«

Das wird Thidrek noch misstrauischer gemacht haben, dachte Julius. Er lächelte, um seine Dankbarkeit zu zeigen.

Johann Pikberg winkte ab. »Geschenkt, Julius! Irgendwann hab nämlich selbst ich begriffen, worum es ging. Deshalb hab ich ihnen auch erzählt, dass du niemals imstande wärst, einen Mord zu begehen. Und ansonsten immer nur Lobendes über Dobel gesagt hast. Das waren vielleicht zwei Bluthunde, sage ich dir. Der eine so ein Junger, Gelackter und der andere ein Braungebrannter mit Stoppelhaaren und Boxernase. Sah aus, als wäre er zu lange im Toaster gewesen. Die wollten noch nicht mal einen Schluck Wein!«

»Du hättest nicht für mich zu lügen brauchen.«

»Wir sind Freunde, Julius.«

Er sah dem Winzer in die Augen. »Bist du dir denn absolut sicher, dass ich es nicht war?«

»Ja klar.« Johann Pikberg lachte. Doch er hatte einen Augenblick gezögert. Julius hatte nichts anderes erwartet. Er war sich ja selbst nicht vollkommen sicher. War er zu solch einer Tat fähig? Er hatte Dobel gehasst, das stimmte. Der Mann war dabei gewesen, sein Lebenswerk zu zerstören.

Johann Pikberg riss ihn aus den trüben Gedanken. »Probier mal den Wein hier!«

»Wein? Jetzt? So schlimm kann deine Erkältung nicht sein, wenn du schon wieder Scherze machst.«

Der Winzer drückte ihm ein gefülltes Rotweinglas in die Hand. »Ist kein Scherz. Tu mir den Gefallen.«

»Dann gib mir einen Spucknapf, denn nach Trinken ist mir wirklich nicht zumute.«

Ein grüner Glaskrug wurde vor ihn gestellt.

»Verstehe ich«, sagte Johann. »Wirst du trotzdem nicht brauchen.«

Julius senkte seine Nase ins Glas. Es war ihm mit einem Mal, als würde ein Stern in seinem Herz geboren.

»Meine Cuvée!«, rief er, ohne die Nase aus dem Glas zu heben. »Sie ist …«

»… perfekt«, ergänzte Johann. »Oh ja, das ist sie, verdammt noch mal. Was für ein teuflisch guter Wein. Wenn du mir jetzt verrätst, was genau drin ist, erzähle ich als Dank der Polizei, dass ich Dobler höchstselbst tiefgefroren habe.« Er wuschelte Julius durch den spärlichen Haarkranz. »Die ganze Familie ist begeistert. Wer so einen Wein machen kann, der ist nicht fähig, jemanden umzubringen. So viel ist mal klar!«

Julius trank. Es war ihm, als nähme Anna ihn fest in die Arme. Er fühlte sich sicher und glücklich. Für einen Wimpernschlag.

Dann wurde ihm klar: Er hatte keine Ahnung, welche Weine er zusammengegossen hatte.

»Tut mir leid, Johann. Das wird nichts mit deinem Geständnis.«

»Du willst mir jetzt nicht sagen, dass du das auch vergessen hast?«

Julius trank das Glas in einem Zug leer.

»Jetzt erzähl mir von gestern Abend. Mein Film ist gerissen, und ich weiß nicht, ab wann. Ich will alles wissen. Und zwar die Wahrheit

Johann stand auf und wanderte im Keller umher, als liefe er über glühende Kohlen.

»Komm schon«, sagte Julius. »Mir ist schon klar, dass ich einiges gebechert habe.«

»Du weißt aber noch, dass du über Dobel hergezogen bist?«

»Vage.«

»Du warst sehr wütend, hast geschrien, dass du ihm den Hals umdrehen würdest, damit endlich Schluss sei. Dass du dir nicht alles kaputt machen lassen würdest von ihm. Du warst … unangenehm. So kenne ich dich überhaupt nicht.«

Ich mich auch nicht, dachte Julius.