46549.jpg

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
 

Für Fragen und Anregungen:

info@rivaverlag.de
 

1. Auflage 2017

© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096
 

© der Originalausgabe 2013 riva Verlag


Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, ­Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 

Manuskripterstellung und -bearbeitung: Michael Gösele

Umschlaggestaltung: Pamela Günther, nach dem Artwork von Dirk Rudolph

Umschlagabbildung: Erik Weiss für Universal

Satz und ePub: Grafikstudio Foerster, Belgern
 

ISBN Print 978-3-86883-474-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-144-8

ISBN E-Book (EPUB & Mobi) 978-3-86413-205-6


 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.m-vg.de

Table of Contents
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Auf ein Wort …
Komm, setz Dich zu mir …
Ohne Worte …
Der Vorhof zur Hölle
Musik als Sprache
Der Dämon
Im Kalkwerk
Stillgestanden!
Die fetten Jahre
Der Lauf des Lebens
Im kalten Norden
Heimliche Spielereien
Träume und Illusionen
Ein australischer Freund
Ganz Ohr
Herz und Verstand
Graf irgendwas
»Stark«
Viele Wege führen nach Rom
Ein schnelles Ende
Auf neuen Wegen
Superbad
Lass dich überraschen
Zurück zu den Wurzeln
Mit Leib und Seele
Gottvertrauen
Unheilig
Der Zauberer
Die große Leere
Der Vertrag
»Sage ja!«, die Zweite
Vier auf einen Streich
Abrakadabra
Der Livemensch
Helfende Hände
Graf Playmobil
Weiß vor Augen
Graf Dracula
Phosphor
Phantasia
Dream On
Die Maske fällt
Ein kleines Wunder
Der Bruder
Die Holländer
Zillo Festival 2001
Das 2. Gebot mit Band
Das Frohe Fest
Highway to Hell
Ein neuer Anfang
Zelluloid
Get the Clip
Moderne Zeiten
Die Festivaltour
Puppenspiel
Ein offener Brief
Die Puppenspieler-Tour
Ein neuer Partner
Die Vorhang-Auf-Tour
Unheilig & Friends
Große Freiheit
Unheiliger Zuwachs
Ein ganz besonderer Tag
Geboren um zu leben
Unheilig & Friends, die zweite
Herzenswunsch
Nasse Füße
Das große Zweifeln
2010
Ein Handy lernt fliegen
Große Freiheit-Tour 1
Schneller, höher, weiter
Das BenefizKonzert
»Wir sind stolz auf dich!«
Ein guter Weg
Bundesvision Song Contest
Fernsehen bildet …
Echo 2011
Dein Song
Die Gedenkfeier
»Heimreise«
»Lichter der Stadt«
Die Ruhe vor dem Sturm
2012
Neuland
Blick in die Zukunft
Dank

Auf ein Wort …

Ich denke, jeder Mensch kennt diesen Augenblick, in dem er sich einmal die Zeit nimmt, um auf das Vergangene zurückzublicken. Häufig geschieht so etwas zu Jahrestagen oder in den Momenten, in denen eine kleine Erinnerung aufflammt, die es wert ist, gedanklich weiter in seine eigene Geschichte einzutauchen.

Wir alle tragen letztlich die Gewissheit in uns, dass unsere Vergangenheit verblasst, wenn es uns nicht gelingt, sie auf irgendeine Weise weiterzugeben – in Gesprächen, Erzählungen oder aber in Büchern … Genau diese Gedanken hatten mich zu den bohrenden Fragen gebracht, wo meine Jahre geblieben sind und wie sie es wohl vermocht haben, aus mir das zu machen, was ich heute bin.

Wenn man sich dann diese Zeit schenkt und sich in all den Gedanken über sein eigenes Leben verliert, geschehen erstaunliche Dinge. Manches ist nur noch verschwommen, kaum wieder abrufbar und anderes erscheint, als wäre es gestern erst geschehen. Wie war das damals? Wie hat sich das angefühlt? Mein erstes Instrument, mein erstes Lied, mein erster Auftritt? Was waren die Höhen, was die Tiefpunkte? Wer war ich? Wie bin ich geworden und was bin ich geblieben? Fragen, die vermutlich zu den schwierigsten gehören, wenn man sie ehrlich gegen sich selbst und aufrichtig gegenüber all denjenigen beantworten muss, denen man von sich erzählen möchte.

Ich wollte mir in diesem Buch diese Zeit nehmen und auf mein Leben zurückblicken. Es ist eine Zeitreise geworden – meine persönliche Zeitreise –, die all das in Worte zu fassen versucht, was mich prägte, mich formte und – was mich am Ende kennzeichnet. Dazu musste ich weit in meine Vergangenheit zurückreisen, denn gerade die Jahre vor meinen ersten Veröffentlichungen haben mich viel mehr geprägt, als den meisten Menschen bekannt sein dürfte. Im Grunde sind genau diese Jahre dafür verantwortlich, dass ich das mache, was mir in meinem Leben immer besonders wichtig war – meine Musik.

Meine kleine Zeitreise in die Vergangenheit soll dort anfangen, wo meine ersten prägenden Erfahrungen einsetzten. Diese Erlebnisse haben es vermocht, mir die Musik zur Sprache und zum Freund zu machen. Und das ist die Musik bis heute geblieben: Sie ist mein bester Freund, der mich immer begleitet und der mir jene Sprache gegeben hat, in der ich mich am besten ausdrücken kann.

Ehrlichkeit und Offenheit sind die einzigen Begleiter, die man auf eine solche Zeitreise mitnehmen darf. Aber ist man umgekehrt gefragt dann unehrlich, wenn man nicht alles restlos offen aus seinem Leben preisgibt? Wenn man den Schutz, den man einigen Menschen aus seinem persönlichen Umfeld – und auch sich selbst – schuldig ist, einfach aufgibt? Muss eine Lebenserinnerung tatsächlich alle Fragen – auch die ganz privaten und intimen – beantworten? Diese Fragen sollte jeder Mensch für sich beantworten. So, wie ich es für mich auch getan habe.

Ich habe dieses Buch für all jene geschrieben, die mich auf meinem Lebensweg begleitet haben. Meine Familie, meine Freunde – und meine Fans, die ganz einfach meine Musik mögen und mir zu dem verholfen haben, was mich heute noch jeden Tag erstaunt und verwundert. Und ich habe es am Ende auch für mich geschrieben. In der Hoffnung, dass alles, was im Moment nur schemenhaft vor mir liegt, bei der Arbeit an diesem Buch zutage kommt, indem sich beim Nachdenken und Schreiben vielleicht der Nebel ein wenig lichtet …

Ich drehe die Zeit zurück auf Anfang und wir werden sehen, was uns erwartet.

Euer Graf

Komm, setz Dich zu mir …

»Du weißt, du bist nicht dafür gemacht, vor Menschen zu stehen und zu sprechen ... Suche dir einen Beruf, in dem du mit niemandem reden musst und keinen Kontakt mit Menschen hast. Irgendetwas in einem Büro oder so. � Hauptsache, du musst nicht vor Menschen stehen und reden – denn sie werden dich nur auslachen und niemals ernst nehmen.«

Der Rat des stellvertretenden Rektors meiner Schule zu meiner bevorstehenden Berufswahl.

Eigentlich ist es merkwürdig. Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit erscheint so vieles wie durch Milchglas betrachtet. Bilder sehen aus, als läge ein Schleier über ihnen. Erinnerungen liegen im Nebel oder sind zerrissen. Was einmal zusammenhing, ist nur noch bruchstückhaft vorhanden, und was einmal unzweifelhaft da und vermutlich von größter Wichtigkeit war – die ersten Jahre des eigenen Lebens – sind einfach weg. Verschwunden, gelöscht, nicht mehr greifbar. Und gerade aus dieser Zeit, die im Grunde gar nicht mehr präsent sein sollte, stammt meine erste Erinnerung. Ich sehe mich, wie ich mich auf allen vieren von meinem Kinderzimmer aus ins Bad bewege. Es hat blaue Fliesen und dort, auf dem flauschigen Teppich, steht meine Mutter am Waschbecken. Sie dreht sich um, sieht mich – und freut sich. Der kleine Junge, der noch nicht gehen und auch noch gar nicht bewusst denken kann, schaut hoch und fühlt die Wärme und Geborgenheit, die von diesem Menschen ausgeht …

Und dann wird es für lange Zeit dunkel. Da ist nichts mehr, was aufblitzen könnte – keine Stimmen, keine Bilder und auch keine greifbaren Gefühle. Alles, was aus diesen ersten Jahren bleibt, ist dieses Gefühl der uneingeschränkten Geborgenheit, das mich auch heute noch umgibt, wenn ich nach Hause komme …

Es wäre für ein Musikerleben mit Sicherheit einprägsamer und vor allem auch deutlich dramatischer, wenn ich von einer schweren Kindheit berichten könnte. Von Kälte und Einsamkeit, von der Anonymität der Großstadt und der Brutalität eines Hochhausgettos. Aber da war vielmehr eine Kleinstadt, die fast schon ländlichen Charakter hatte. Es herrschte eine mittelständische Ruhe und Friedfertigkeit um mich herum, die in den ersten sechs oder sieben Jahren meines Lebens weder Tragödien noch Verwerfungen hervorbringen konnte. Ich sehe die große Wiese hinter unserem Haus, auf der Kühe grasten und auf der ich an der Seite meiner Freunde – mit Pfeil und Bogen bewaffnet – die Welt eroberte. Ich rieche den geräucherten Schinken und die Würste aus der Metzgerei neben meinem Elterhaus und ich sehe meine großen Vorbilder dieser Jahre – meinen Vater und meinen älteren Bruder –, wie sie auf dem Speicher Tischtennis spielen oder die ferngesteuerten Flugzeuge durch die Lüfte kreisen lassen, die sie in mühevoller Kleinarbeit daheim zusammengebastelt hatten …

Im Wohnzimmer sah es aus, wie Wohnungen in den 70er-Jahren aussahen. Bunt, Nierentische, Holzwand mit eingelassenen Lampen, Schwarz-Weiß-Fernseher, Aquarium mit Magnetschwamm, weiche Teppiche – fast ein wenig wie bei Austin Powers, nur eben zeitgemäß und echt.

Auf dem Boden lag der Hund, dessen Gutmütigkeit in regelmäßigen Abständen von meinem Bruder auf die Probe gestellt wurde und welche das treue Tierchen auch nur einmal im Stich ließ, als er diesem irgendwann entnervt hinterherjagte. Was den kleinen Störenfried aus bis heute unerfindlichen Gründen dazu bewog, Schutz suchend auf den Gasherd zu springen, wo er sich zur Strafe gehörig seinen Hintern verbrannte.

Eine heile Welt, in der der kleine Graf von früh bis spät nur lachte. So zumindest wird es heute erzählt, wenn man sich daran erinnert, dass ich zu jener Zeit nur »Strahlemann« genannt wurde – was auch daran gelegen haben mochte, dass ich ein wenig aussah wie der Junge von der ersten Kinder-Schokolade-Schachtel. Topffrisur aus Mutters Hand, bunte Klamotten, Sandalen mit Kniestrümpfen und eine Schiebermütze mit Anker auf dem Kopf, die man ja nicht nur von Helmut Schmidt, sondern auch von dem in diesen Jahren für einen Jungen meines Alters doch deutlich interessanteren Michel aus Lönneberga kannte.

Mein Kindergarten war ein rein katholischer und lag somit direkt neben einer sehr imposant aussehenden Kirche. Ich finde den Anblick der Kirche noch heute als Erwachsener sehr beeindruckend. Ich denke mal, uns Kindern kam sie damals zehnmal so groß vor und war wohl dementsprechend Respekt einflößend für uns alle.

Meine Mutter sagte mir, dass ich schon recht früh ziemlich verwirrt gefragt habe, warum der Mann da am Kreuz hängt und wieso die ganzen Figuren in der Kirche immer sehr leidend aussahen und wieso Pfeile in den Körpern steckten. Sie hat mir erklärt, dass das alles Heilige wären, womit ich zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich viel anfangen konnte, geschweige denn die biblischen Zusammenhänge verstand. Ich habe es akzeptiert und hingenommen.

Ich erinnere mich allerdings daran, dass wir als Kinder im Kindergarten jeden Morgen und ab und zu am Tage gemeinsam gebetet haben und uns damals schon beigebracht wurde, wer der liebe Gott ist und was es damit auf sich hat. Wir sollten schön brav sein, weil wir sonst in die Hölle kämen oder bestraft würden. Wir bastelten und werkelten in diesem Kindergarten immer unter der Obhut von zwei Kindergärtnerinnen.

Der Gottesdienst war Teil des ganz normalen Tagesablaufs, ebenso wie das Gebet vor dem Essen und dem Schlafengehen. Diese geregelte Ordnung gab mir eigentlich immer ein gutes Gefühl. Ich habe an diese Zeit keine schlechten Erinnerungen. Egal, wie sehr ich nun darüber nachdenke. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Meine Kindergärtnerin, die damals noch sehr jung war, sehe ich ab und zu noch heute in meiner Heimatstadt. Sie erkennt mich ­sogar noch immer. Ich habe heute noch alte Bilder meiner Kindergartenzeit zwischen den gesammelten Urlaubsfotos meiner Eltern, ebenso wie vieles, was ich dort als Kind gebastelt habe. Ich ging immer gerne dorthin und war ein Kind von vielen, welches spielte und froh war, dass der liebe Gott auf mich aufpasste.

Meine Mutter sagt mir, dass ich zu dieser Zeit immer den ganzen Tag gesungen hätte, woran ich mich allerdings nicht wirklich erinnern kann. Ich glaube allerdings, dass alle Mütter das von ihren Kindern erzählen und behaupten. Meistens ist es aber eher ein unverständliches Gesumme, was aus all den aufgeschnappten Fragmenten der Umwelt einfach zusammengewürfelt und dann in einem unverständlichen Kauderwelsch vor sich hingeträllert wird. Ich glaube, das macht einfach jedes Kind in einem bestimmten Alter. Es wird dann häufig, wenn aus dem Knirps mal was geworden ist, bei dem Musik oder Gesang eine Rolle spielen, immer wieder von den Eltern erzählt, weil es einfach gut passt.

Allerdings weiß ich noch, wie im Kindergarten immer Kirchenlieder gesungen wurden und mir das Spaß machte. Anscheinend schien ich auch eine Art Begabung oder eine scheinbar sehr hohe, helle Stimme gehabt zu haben, denn irgendwann landete ich im Kirchenchor und sang mit anderen Knirpsen bei den Gottesdiensten und den ­jeweiligen Messen die von dem dort ansässigen Pfarrer gewünschten Lieder.

Somit muss wohl etwas Wahres dran sein, dass ich schon als Kind gerne gesungen habe. Vieles von dem, was damals geschah, ist zwar in Vergessenheit geraten, allerdings erinnere ich mich noch genau daran, dass ich aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen den Pfarrer nicht mochte und dieser wohl auch der Grund war, dass ich irgendwann nicht mehr Teil des Kirchenchors sein wollte.

Vielleicht mochte ich ihn auch nicht, weil er wohl zur damaligen Zeit der Hauptschuldige für mich war, warum ich nicht mehr mit meinen Kindergartenkameraden im Sandkasten spielen konnte, weil ich stattdessen zur Chorprobe musste. Das erscheint mir aus heutiger Sicht recht plausibel. Meine Mutter sagte mir, ich hätte mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dort wieder hinzugehen.

Irgendwann hat sie es dann auch akzeptiert und ich musste nicht mehr zum Kirchenchor gehen und somit endet hier auch schon mein erster Kontakt zur Musik. Wenn ich diese Sätze nun aufschreibe, erinnere ich mich an viele kleine Momente, die allerdings recht zufällig und zusammenhanglos vor meinem geistigen Auge erscheinen. Ich halte es jedoch für wichtig, sie auch in meine Zeitreise einfließen zu lassen, weil ich damals den wirklich ersten Kontakt zur Musik hatte. Auch wenn es vielleicht eher Zufall war, sollte es wichtig für mich und meine Entwicklung sein.

Der Glaube an etwas hat mein Leben ebenso geprägt wie die Musik selbst. Beides bildete in diesen jungen Jahren auf irgendeine Art und Weise, vielleicht auch nur durch Zufall, eine Einheit. Vielleicht ist damals auch ein kleiner, unscheinbarer Grundstein für das noch Kommende gelegt worden.

Ohne Worte …

Die Schule hat für mich in meiner Vergangenheit immer einen besonderen Platz eingenommen und ist auch einer der Gründe, warum ich irgendwann den Weg zur Musik gefunden habe. Ich kann mich noch an vieles erinnern und habe noch die Umgebung meiner Grundschule und viele Momente als Bildfragment vor meinem geistigen Auge.

Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine glückliche Kindheit hatte und es mir im Grunde an nichts fehlte. Ich hatte viele Freunde und liebevolle Eltern, die ihr Leben danach planten, dass wir Kinder glücklich und zufrieden waren. Ich kann mich noch genau an meine Einschulung erinnern und habe auch noch einige Namen von damals in meinem Kopf. Sie springen regelrecht vor meinem geistigen Auge herum und ich sehe auch die dazu passenden Gesichter meiner damaligen Klassenkameraden. Die Schule hatte mir immer Spaß gemacht. Zumindest am Anfang war es noch so. Ich bin immer gerne hingegangen und habe mich auch nie sonderlich dagegen gewehrt.

So war es in den ersten Jahren in der Grundschule, in denen alles recht normal verlief. Ich habe keine außergewöhnlichen Erinnerungen an diese Zeit. Ich glaube allerdings, dass in meiner Grundschulzeit etwas passiert ist, was aus heutiger Sicht der Ursprung dessen ist, dass mein Weg irgendwann einmal dazu führte, ein Instrument zu erlernen.

Ich weiß genau, dass ich an irgendeinem Tag von der Schule nach Hause gekommen bin und kaum noch gesprochen habe. Ich beschränkte mich nur noch auf knappe Sätze und war ängstlich und zurückhaltend. Ich konnte nicht ertragen, wenn mich andere ansahen und mir Fragen stellten oder mit mir reden wollten. Ich habe darauf immer nach unten geschaut und nicht geantwortet.

Wann das genau anfing, weiß ich heute nicht mehr. Und auch den Grund dafür kenne ich bis heute nicht. Allerdings änderte sich mein Leben ab diesem Moment grundlegend. Gerade was das Schulische und den Umgang mit anderen Menschen anging. Ich zog mich zur damaligen Zeit immer mehr von meiner Umgebung zurück. Von da an gingen meine schulischen Leistungen in den Keller. Gerade was die mündliche Mitarbeit betrifft. Sie existierte bei mir praktisch nicht mehr, da ich nichts mehr sagte. Ich konnte die Blicke der anderen einfach nicht ertragen und die Angst, etwas falsch zu machen, wuchs in mir von Tag zu Tag.

Ich glaube, meine Eltern mussten sich damals ganze Arien von Eventualitäten anhören, warum ich nicht mehr sprach. Ich weiß noch genau, wie man mich zu unzähligen Psychologen brachte und alle Hebel in Bewegung setzte, meine Sprachblockade wieder zu lösen und mir Selbstbewusstsein einzuflößen. Meine Mutter klebte mir kleine Zettel in meine Tasche, auf Bücher und einfach auf alles, was mich umgab. Auf denen stand dann »Du schaffst das« oder »Hab keine Angst«. Diese Botschaften halfen mir damals sehr. Ich wusste, dass ich nicht alleine war. Allerdings lösten sie das Problem nicht.

Meine Eltern zweifelten zur damaligen Zeit naturgemäß auch an sich selbst und suchten einfach nach einem Grund oder einer Lösung. Was ich damals darüber dachte, kann ich heute nicht mehr ergründen. Ich suchte mir einfach Hobbys und sonstige Dinge, bei denen ich nicht sprechen musste.

Der Sport war das Erste, was ich damals für mich in dieser Situation entdeckte. Dabei brauchte ich nicht zu reden und ich merkte schnell, dass ich genau so sein kann wie andere und bekam durch gute Leistungen Respekt und Aufmerksamkeit der anderen Kinder und auch der Lehrer. Ebenso begann ich zu zeichnen. Ich verbrachte Nachmittage damit, einfach Figuren und Karikaturen zu zeichnen. Im Grunde habe ich Dinge gemacht, bei denen ich nicht sprechen musste und mich niemand ansah. Damit war ich zu dieser Zeit glücklich.

Außerhalb der Schule machte ich es nicht anders. Ich verbrachte unzählige Nachmittage alleine zu Hause und beschäftigte mich mit meinen Zeichnungen. Zudem entdeckte ich die Freude am Tischtennisspielen. Mein Vater betrieb den Sport damals im Verein und somit meldete er mich dann dort auch an. Freunde hatte ich in dieser Zeit nicht viele. Im Grunde nur einen einzigen, der mich so akzeptierte, wie ich eben war.

Die darauffolgenden Jahre lernte ich damit zu leben, wie ich bin. Im Grunde war ich ein stilles Kind und meine Zurückhaltung und das wenige Sprechen und die Angst, anderen in die Augen zu schauen, wurde für mich zur Normalität. Wenn ich diese Zeilen hier schreibe, bin ich selbst über meine Ansicht, so etwas als normal zu empfinden, fast geschockt. Aber damals war es so. Ich denke, ich habe mich einfach damit arrangiert, wie die Dinge waren. Irgendwann ist man auch einfach zu müde, immer wieder Gründe zu suchen, warum die Dinge so sind, wie sie eben sind, oder sich zu ändern, damit andere einen als normal ansehen.

Aus heutiger Sicht kann ich es nur so erklären. Ich kannte es einfach nicht anders und trotz der gegebenen Umstände war ich ein glückliches Kind. Ich hatte meine Hobbys und einen sehr guten Freund, der mich so akzeptierte, wie ich war.

Es ist ja nun nicht so, dass ein Mensch, der stottert, nicht weiß, was er eigentlich gerne sagen würde. Ganz im Gegenteil! Je mehr sich diese Schwäche in meinem Leben breitmachte, desto stärker war ich darauf bedacht, mir im Vorfeld ganz genau zu überlegen, was ich gerne zum Ausdruck bringen würde. Während Kinder in meinem Alter vermutlich einfach drauflosgeplappert hätten, versuchte ich im Laufe der Zeit, geradezu planmäßig vorzugehen, um dann erneut wieder an einem Wort oder einer Silbe scheitern zu müssen.

Das Schlimmste, was einem Stotterer in solchen Momenten dann passieren kann, ist der gut gemeinte Versuch des Gegenübers, das besagte Wort vorzusagen. Diese Menschen wissen nicht, dass Stotterer keine Souffleure brauchen. Diese unbedachten Hilfestellungen waren vielmehr demütigend und führten dazu, dass man es sich künftig mehrfach überlegte, ob man überhaupt etwas sagen wollte.

Auch einige Lehrer an meiner Schule gingen nicht so behutsam mit meiner Störung um, wie man es sich hätte wünschen dürfen. Viel zu oft quittierten sie meine Sprechprobleme mit Ungeduld, waren womöglich auch der Ansicht, dass mein Stottern auf fehlendes Wissen hindeuten könnte – und wandten sich entnervt einem anderen Schüler zu. Ein verheerender Kreislauf.

Auch bei mir zu Hause versuchte man nun, etwas gegen meine Sprechstörung zu unternehmen. Meine Eltern waren zu der Ansicht gelangt, ich könnte durch regelmäßiges Vorlesen mehr Sicherheit beim Sprechen bekommen. Aber genau das Gegenteil traf zu: Während ich bis dahin mein Elternhaus als eine Oase empfunden hatte, in der es weder Druck noch Strenge oder Strapazen gab, war ich von einem Tag auf den anderen auch hier gezwungen, Leistungen abzurufen, zu denen ich jedoch ganz offensichtlich nicht imstande war.

Die Konsequenz war erschreckend, aber letztlich klar nachvollziehbar: Ich bin fortan nicht mehr gerne nach Hause gekommen!

Was bis zum heutigen Tag niemand restlos zu erklären vermag, ist die Tatsache, dass ich in all diesen Jahren zu ganz bestimmten Zeiten keine Sprechprobleme hatte. Und das war stets im Urlaub. Ein Junge, der Tag für Tag stottert, spricht mit einem Mal flüssig und ohne Probleme – aber eben nur für ein paar Tage oder Wochen. Sobald die Schulferien begonnen hatten und wir mit der gesamten Familie in den Urlaub gefahren waren, hörte mein Stottern schlagartig auf. Es war, als ob mich der Schulalltag aus seiner Zwangsjacke entlassen hatte. Und mit dieser Freiheit, die leider immer nur von kurzer Dauer war, lösten sich all meine Probleme und Blockaden. Bis zum nächsten Schultag …

Die Kompensation, die ich im Sport gesucht hatte, schien die perfekte Lösung zu sein. Wer beim Fußball als Erster in die Mannschaft gewählt wurde, musste keinen Spott fürchten. Auch nicht, wenn er stotterte. So schlicht waren die kindlichen Gesellschaftshierarchien nun mal gestrickt. Meine Strategie war erstaunlich gut aufgegangen und so hatte sich sehr früh schon ein Leitmotiv entwickelt, was mich im Grunde bis heute stark beeinflusst und auch geprägt hat: Du musst einfach besser sein als die, die dich auslachen!

Gleichwohl war mein Leben in diesen Jahren von meiner Sprechstörung geprägt. Ich musste zu Logopäden, in Sprechtherapiegruppen, wo ich manchmal das Gefühl hatte, dass es der liebe Gott noch gut mit mir gemeint hatte, waren dort doch Kinder dabei, die es deutlich ärger erwischt hatte. Mittags, nach der Schule, geriet ich regelmäßig mit meiner Mutter in Streit, weil ich nicht vorlesen wollte, und der Druck, der mich zum Stottern gebracht hatte, wurde im Grunde immer größer.

Ich sehe mich noch ganz deutlich an unserem Küchentisch sitzen. Das Übungsbuch lag aufgeschlagen vor mir und meine Mutter war wohl kurz einkaufen gegangen. Meine Verzweiflung war derart groß, dass ich mir damals als kleiner Junge tatsächlich überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn ich mich in diesem Augenblick mit einem Messer verletzen würde. Die Antwort war verlockend: Ich müsste nicht mehr lesen …

Aber ich tat es nicht. Ich litt still und stumm weiter und fand mich damit ab.

Auch im Sport – meiner Ersatzsprache gewissermaßen – taten sich erste Risse auf. Während mein Bruder in jenen Tagen sehr vielversprechend im Verein Tischtennis spielte, stellten sich bei mir die Erfolge in dieser Sportart entweder gar nicht oder nur sehr schleppend ein. Ich trainierte wie besessen auf unserem Speicher – wir hatten damals sogar so eine Art Ballmaschine, die mir ganze Nachmittage lang die Bälle auf die Vor- oder Rückhand spielte, aber ich wurde nicht so gut, wie ich es gerne gehabt hätte – und wie es mein Vater von meinem großen Bruder gewohnt war. Das wiederum ließ meinen Vater von Mal zu Mal ungeduldiger werden, weil er einfach nicht verstehen konnte, warum ich nicht so schnell lernte wie mein Bruder.

Und da war er erneut in mein behütetes zu Hause eingedrungen: der Leistungsdruck! Der Sport, mit dem ich mich auf der Straße und in der Schule behaupten konnte, half mir zu Hause überhaupt nicht. Dort war ich noch immer vergeblich auf der Jagd nach etwas, was mir Respekt verschafft hätte. Und so bin ich eines Tages einfach ausgerastet. Ich drosch meine Schläger kaputt und schrie in die Welt, dass ich nie wieder Tischtennis spielen würde. Ich wollte Lob und Anerkennung – aber ich bekam beides nicht. Und es sollte noch schlimmer kommen …

Der Vorhof zur Hölle

Mit meinen Noten, die ich mir allesamt durch meine im Grunde nicht vorhandenen mündlichen Leistungen verbaut hatte, und dank der Ansicht meiner Lehrer, ich wäre als Schüler zu mehr offenkundig nicht fähig, blieb am Ende nur die Hauptschule. Hatte ich die Grundschule schon als Vorhölle betrachtet, so schien es nun, als sei ich endgültig in der ewigen Finsternis angekommen. Mir stand die schlimmste Zeit meines Lebens bevor.

Ich sehe die Bilder noch vor mir, als wäre das Ganze gerade eben geschehen. Wie ich am ersten Schultag mit meiner Mutter auf dem Pausenhof der Hauptschule ankam und sogleich Augenzeuge einer wüsten Schlägerei zwischen zwei Schülern werden durfte. Szenen, die so nicht in meine wohlbehütete Welt passen sollten, und ich mich aus diesem Grund auch mit Händen und Füßen gegen diese Schule gewehrt hatte. Aber es gab keinen Ausweg.

Wenn ich heute – über diesen Zeilen sitzend – darüber nachdenke, wird mir ganz flau. Was für ein erbarmungsloser Kreislauf! Ein kleiner Junge wird mit dem Druck einer Grundschule nicht fertig und fängt das Stottern an. Wegen dieser Sprechstörung jedoch werden seine Leistungen derart schlecht bewertet, dass er es nur in die Hauptschule schafft. Und genau dort gerät er in die nächste, sehr viel schlimmere Falle. Was ihn an dieser Schule an sozialem Druck, Spott und Unterdrückung erwartet, übertrifft alles, was bis dahin gewesen war, und droht, den Jungen gleichsam im freien Fall abstürzen zu lassen.

Retten konnte mich auch hier – in dieser deutlich raueren Umgebung – nur der Sport. In meiner Klassenstufe verschaffte ich mir erneut mit Fußball und Leichtathletik den Respekt, der mir aufgrund meiner Sprechstörung ansonsten versagt geblieben wäre, und ich versuchte, meine schulischen Leistungen trotz aller Rückschläge so zu steigern, dass ich es irgendwie doch noch auf die Realschule schaffen würde. Und es gelang. Nach einem Jahr in der Hölle gelang mir nach der fünften Klasse tatsächlich der Wechsel in die Realschule. Es bestand also doch noch Hoffnung auf etwas Licht in meinem zu jener Zeit leider sehr düsteren Leben …

Musik als Sprache

Im Grunde bin ich ein Kind der 80er-Jahre und hatte zu jener Zeit alles aufgesogen, was musikalisch auf die Menschheit losgelassen wurde. Im Fernsehen gab es Pflichttermine, die keiner verpassen durfte: Die ZDF Hitparade, Disco mit Ilja Richter und natürlich ab 1983 die Sendung Formel Eins mit Peter Illmann und später Ingolf Lück – und aus der Stereoanlage ertönten in unserem Haus Country-Musik-Kassetten, die mein Vater aus dem Radio aufgenommen hatte.

Meine erste Platte, die ich mir von meinem eigenen Geld gekauft hatte, war Trio – Da Da Da. Der Sound dieses Liedes stammte – wie ich später erfahren konnte – von einer Casio-Spielzeugorgel … Ob es nun der Da Da Da-Beat war oder am Ende ein anderes, von Dieter-Thomas Heck anmoderiertes Musikstück – eines Tages, irgendwann in der fünften Klasse, überkam mich einfach der Wunsch, ein Instrument zu lernen.

Meine Eltern, die mir zu jedem Zeitpunkt alle Wünsche erfüllen wollten, zögerten nicht lange und kamen meiner Bitte nach. Es war ihnen wichtig, alles zu tun, um ein wenig Normalität in mein ansonsten doch ungewöhnliches Leben zu bringen. So sehr ich auch heute über meine damalige Instrumentenwahl nachdenke, kann ich nicht restlos erklären, wie es dann letztlich eine Orgel werden sollte. Vielleicht gebührt mein später Dank doch Stephan Remmler und seinem schlichten Casio-Keyboard …

Aber es wurde kein Keyboard, sondern eine Heimorgel – und zwar eine mit zwei Klaviaturen für Bass- und Rhythmusbegleitung. Solch ein Instrument musste es also sein, die Standard-Orgel für dauergrinsende Alleinunterhalter, die sich auf Geburtstagen oder Hochzeiten was nebenbei verdienten. Aber sei’s drum.

Meiner Familie ging es zu jener Zeit finanziell einigermaßen gut. Wir hatten zwar keine Reichtümer vorzuweisen, aber echte Geldsorgen gab es auch nicht. Allerdings war dieses merkwürdige Instrument, das ich mir da ausgesucht hatte, auch damals schon recht teuer. Und es stand natürlich die Frage im Raum, ob man es sich tatsächlich leisten konnte, mal eben mehrere Tausend Mark für eine Orgel auszugeben. Die Antwort war schnell gefunden: Nein.

Also wurde entschieden, das Instrument zunächst einmal zu mieten. Wenn es mir wirklich gefiele und ich es nicht nach ein paar Wochen schon aus reiner Langeweile auseinandernehmen würde, könnte man das Instrument nach einigen Jahren auch kaufen. Eine kluge Entscheidung, zumal ich mich in einem Alter befand, in dem Wünsche, Stimmungen und Ansichten fast im Minutentakt wechselten, was Fachleute auch gerne mit dem Begriff »präpubertär« umschreiben.

Es kam schon bald der Tag, an dem wir das Instrument geliefert bekommen sollten. Meine Eltern hatten einen Lehrer organisiert, welcher auch mitgeholfen hatte, die Orgel auszusuchen, und da dieses Ding unfassbar groß und schwer war, erfolgte die Anlieferung mit einem großen Lkw. Ich sehe mich noch heute auf unserem Sofa direkt am Fenster stehen, die Blumen meiner Mutter zur Scheibe gedrückt die Straße beobachten, ob und wann nun endlich dieser Lastwagen käme. Und dann – nach einer nicht enden wollenden Ewigkeit – war es endlich so weit. Die Laderampe des Transporters hob sich und da stand er: ein riesiger, mit Karton umhüllter Klotz. Mehrere Leute wuchteten das Ungetüm ins Treppenhaus und durch unsere Wohnung hindurch in mein Kinderzimmer. Meine Mutter unterschrieb ein paar Formulare und dann stand das Ding in meinem Zimmer.

Ich war von dem Anblick der Orgel völlig hingerissen. Das Ding war fast so groß wie ich und als ich mich zum ersten Mal davor setzte, kam ich mir vor wie Captain Kirk auf dem Raumschiff Enterprise. So viele Knöpfe und Regler hatte ich noch nie gesehen. Ich schloss die Orgel an der Steckdose an und schaltete das Gerät ein. Ein tiefer, satter Ton war zu hören und zu den Reglern und Schaltern kamen nun noch jede Menge Lichter und Lämpchen dazu. Ich drückte irgendeine Taste und hörte den ersten Ton. Ein Traum …

Ich sehe meine Mutter noch immer, wie sie lächelnd in meinem Zimmer stand und mich überglücklich anschaute. Dann verließ sie schließlich das Zimmer und überließ mich ganz einfach meinem Glück.

Ich spielte naturgemäß keine Melodien, geschweige denn ganze Lieder. Ich klimperte vielmehr völlig wahllos darauf herum, probierte die unzähligen Knöpfe, Lichter und Schalter aus und war immer wieder aufs Neue gespannt, welche Töne erklangen, wenn ich die verschiedenen Tasten anschlug. Schnell fand ich die Rhythmusabteilung und so dudelte ich irgendwelche, vermutlich schrecklich klingenden Melodien vor mich hin, bis irgendwann meine Mutter vorsichtig die Türe öffnete und mich sanft darum bat, die Orgel etwas leiser zu stellen.

In den folgenden Tagen spürte ich immer deutlicher, wie wertvoll dieses Instrument für mich werden sollte. Ich hatte etwas, bei dem ich nicht zu reden brauchte. Da war etwas, mit dem konnte ich einfach Musik machen – und man hörte mir sogar zu, obwohl doch alles noch sehr willkürlich, orientierungslos und schräg klang. Aber ich konnte mich mit etwas beschäftigen, was ich unbedingt machen wollte – und konnte dabei schweigen.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich keinen Lehrer gebraucht, um das Orgelspiel zu erlernen. Zum damaligen Zeitpunkt reichte es mir völlig aus, einfach auf dem Instrument herumzuklimpern. Heute bin ich froh, dass sich meine Eltern durchgesetzt hatten, denn nur mit dem Unterricht verstand ich am Ende auch, was ich da machte, und konnte somit Dinge umsetzen, die ich ohne Hilfe nie hätte leisten können.

Irgendwann kam dann also mein Orgellehrer. In der ersten Stunde ging es nur um kleine Fingerübungen in Gestalt der Tonleiter. Es war schrecklich. Immer dieselbe Abfolge, wieder und wieder und wieder. Zunächst nur mit der rechten Hand, dann mit beiden Händen gleichzeitig und zuletzt auch noch mit den Füßen auf den Basspedalen …

Um zu zeigen, was aus mir vielleicht einmal werden könnte, demonstrierte mein Orgellehrer nach der ersten Stunde, wie man so ein Instrument spielt – wenn man es denn wirklich beherrscht. Er zimmerte ein Deutsches Volkslied in einer sagenhaften Geschwindigkeit auf meine Orgel, sodass seinen Fingern und Bewegungen kaum noch zu folgen war. Meine Eltern waren sichtlich beeindruckt und gaben dem Musikpädagogen heftigen Applaus. Ich indes war wenig beeindruckt, sondern hatte eigentlich nur Angst, dass dieser Mensch mein Instrument kaputt machen könnte. Aber ich klatschte aus reiner Höflichkeit ein wenig mit.

In den folgenden Wochen und Monaten konnte ich schon bald gute Fortschritte erkennen. Ich lernte beidhändig zu spielen und wurde auch immer schneller. Allerdings hasste ich die Musik, die ich spielen sollte. Deutsches Liedgut der guten alten Schule. Im Grunde genau die Lieder, die wir in der Grundschule aus der sogenannten Mundorgel, einem Liederbuch, schon singen mussten. Ich lernte brav die Standards, spielte aber – wann immer ich mit dem Üben fertig war – meine eigenen Melodien und Stücke.

Ich hatte damit angefangen, Melodien und Rhythmen in meinen Gedanken zu hören und dann versucht, diese auf der Orgel zu klimpern. Auch wenn ich einen Film gesehen hatte, spielte ich die Musik nach, die noch lange in meinem Kopf herumschwirrte, und lernte so für mich deutlich mehr als nur schnöde Fingerfertigkeit und braves Orgelspielen. Besonders Western-Filme von Sergio Leone hatten es mir angetan. Die liefen zu jener Zeit ständig im Fernsehen – in der Hauptrolle meistens Clint Eastwood und die Musik von Ennio Morricone. Das war meine Welt – nicht jedoch die der Mundorgel.

Im Laufe der Zeit hatte ich immer häufiger das Interesse verloren, die Dinge zu üben, die mir der Orgellehrer beibrachte, denn im Grunde war ich mir selbst der bessere Lehrer geworden. Und so kam es nach etwa zwei Jahren zur Trennung. Keine Marschmusik und keine Volkslieder mehr! Wozu nach Noten spielen, wenn ich die Melodien doch in meinem Kopf hörte und sie nur nachspielen musste? Mein Lehrer hatte mir eine Menge beigebracht – das weiß ich bis heute sehr zu schätzen, aber es war Zeit geworden, meine eigenen Wege zu gehen.

Ich hatte es genossen, Musik zu machen, und ich fand es einfach nur schön, wenn meine Familie mir dabei zuhörte. Ich musste nicht sprechen, konnte mich aber trotzdem ausdrücken – und die Menschen hörten mir zu. Ich fing in jenen Jahren an, mich in die Musik und die Melodien, die ich jeden Tag für mich neu entdeckte, zu verlieben, und wollte unbedingt noch mehr.

Das allerdings konnte auf meiner Heimorgel nicht länger funktionieren. Was Sounds, Rhythmen und Töne anging, war dieses Instrument mittlerweile viel zu langweilig geworden. Überdies hatte ich derart viele Melodien und Lieder ausgedacht, die ich jedoch nicht aufnehmen konnte.

Dummerweise hatten meine Eltern die Orgel in der Zwischenzeit gekauft und nun wollte ich sie nicht mehr haben. Ich hatte davon gehört, dass es Synthesizer und Drumcomputer geben würde, und genau so etwas musste es nun auch für mich sein. Mein Gejammere und Wehklagen müssen herzzerreißend und vor allem zermürbend gewesen sein, denn nach einiger Zeit wurde die Orgel tatsächlich verkauft und von dem Geld ein Synthesizer, ein Drumcomputer und ein kleines Mischpult angeschafft. Der nächste Schritt in eine neue Welt. In meine Welt …

Alles war kleiner und cooler als die große Orgel. Ich konnte plötzlich Gitarre, Klavier, Streicher, Bass und Instrumente, die ich bis dahin zum Teil noch gar nicht kannte, einstellen und spielen. Nachdem ich alles angeschlossen und gelernt hatte, den Synthie zu programmieren, entstand mein erstes Lied, das ich einspielen, programmieren und am Ende dann auf Kassette aufnehmen konnte. Den Song habe ich glücklicherweise heute noch, da ich zu einem späteren Zeitpunkt alle meine alten Lieder einmal digital überspielt habe.

Der Titel war ambitioniert: »Success«.

Die Musik machte von diesem Moment an alle anderen Hobbys für mich unmöglich. Es gab nur noch eines: Ich schrieb Lieder, ­machte Musik und nahm alles auf Kassetten auf. Die Zeichnerei geriet ­immer mehr in Vergessenheit und auch der Sport spielte von da an zunächst keine große Rolle mehr. In jeder freien Minute saß ich nur noch vor meiner Anlage und beschäftigte mich mit Sounds und Melodien. Neben meinen eigenen Instrumentalkreationen hatte ich auch damit begonnen, bekannte Musikstücke nachzuspielen und sie so zu programmieren, dass meine Musik fast wie die Originale klang. Ich wollte spielen wie die richtigen Musiker …

An der Wand meines Kinderzimmers hingen Rocky-Poster. Mein Held. Zu jener Zeit kamen die ersten Videorekorder auf den Markt und es herrschte ein Glaubenskrieg zwischen den Systemen. VHS oder Video 2000, das war die große Frage. Mein Vater setzte auf Video 2000 und musste sich am Ende geschlagen geben. Aber nur, was die Filme-Auswahl in den Videotheken anging – das Gerät selbst hielt bis ins Jahr 2009, insofern hatte er damals eine weitsichtige, gute Wahl getroffen.

Ich hatte den Videorekorder gewissermaßen als Musikarchiv für mich entdeckt. Musste ich mir zuvor die Filmmusiken einprägen, um sie später nachspielen zu können, war ich mit dem Videorekorder in der Lage, meine Lieblingssoundtracks immer und immer wieder zu hören und sie noch exakter zu studieren.

Da ich durch meine Sprachstörung Schwierigkeiten hatte, mich mitzuteilen, begann ich schon sehr früh damit, all meine Gedanken und Emotionen in meine Stücke einzubringen. Die Musik war mein wichtigstes Kommunikationsmittel geworden. Wenn ich Ängste hatte, Probleme und Sorgen oder mich nicht gut fühlte, aber auch, wenn ich einfach nur glücklich war, schrieb ich ein Instrumentalstück darüber. Im Grunde verarbeitete ich meine Gedanken und Ängste in Liedern und fühlte mich danach einfach besser. Und das könnte in der Nachbetrachtung auch der Grund sein, warum ich zu dieser Zeit immer selbstsicherer wurde und aus der Musik so viel Kraft ziehen konnte, um mit allem, was mich umgab, klarzukommen. Und irgendwann – ohne einen besonderen Grund – fing ich wieder damit an, zu Hause zu sprechen.

Ohne große Ankündigung, so erzählte es mir meine Mutter später, habe ich damals begonnen, über meine Musik zu reden. Wie toll sie doch sei und wie viel Spaß mir das alles machen würde, und das Stottern war mit einem Mal kein großes Thema mehr. Im Schutz meines Elternhauses zumindest …

In der Schule stand ich noch immer unter großem Druck. Während ich es über meine sportlichen Leistungen geschafft hatte, mir den Respekt meiner Mitschüler gleichsam zu erlaufen, traf mich von anderer Seite der nächste Tiefschlag: Ich bekam eine Brille. Nun war ich in der Schulwelt also auch noch die »Brillenschlange« – als hätte die Stotterei nicht ausgereicht. Ausgestattet mit einem dieser berühmt-berüchtigten großformatigen Kassengestellen, ging ich stimmungsmäßig also zurück auf Los.

In meiner Realschule war es damals erlaubt, Kunst und Musik als Hauptfächer zu wählen, was mich im Grunde über Nacht zu einem richtig guten Schüler machte. Im Musikunterricht durfte ich ständig vorspielen und in Kunst konnte ich mit meinen Zeichnungen regelmäßig hoch punkten – vieler Worte bedurfte es in beiden Fächern naturgemäß nicht. Durch diese beiden Wahlfächer war ich überdies vornehmlich mit musisch ambitionierten Kindern zusammen, was den Umgangston in der Klasse doch deutlich positiv beeinflusste.

Gleichwohl war ich selbstverständlich auch dort nicht vor Spott und Hohn gefeit, wenn ich mal wieder ins Stocken geriet. Aus diesem Sog herausgezogen hatte mich am Ende eine Geschichtslehrerin, die auf meiner Schule von allen Kindern gehasst wurde. Eine strenge ältere Dame, die gnadenlos ihren Unterricht durchzog – ohne Rücksicht auf Verluste. Was diese Frau jedoch am meisten aufbrachte, war ­Ungerechtigkeit. Diese Lehrerin war mit größter Bestimmtheit nicht auf meiner Seite – vermutlich mochte sie mich so wenig wie all die anderen Schüler –, aber sie setzte sich mit allem Nachdruck dafür ein, dass ich fair behandelt wurde. Wer in ihren Stunden glaubte, er müsse sich über mein Stottern lustig machen, bekam richtig Ärger. Damit bereitete sie mir in ihren Stunden die Freiräume, die ich so dringend brauchte, um meine Ängste, vor anderen zu sprechen, endlich zu überwinden.

Alle anderen Lehrer reagierten eher hilflos auf meine Sprachstörung. Zum einen ließen sie den Spott der anderen zu und sie quittierten überdies meine fehlende mündliche Teilnahme mit schlechten Noten. Eine Form der Strafe, die ich nicht verstehen konnte. Ich fragte mich damals häufig – und das tue ich heute noch –, ob man auch Kindern im Rollstuhl schlechte Sportnoten geben würde, weil sie die 100 Meter nicht laufen konnten …

Diese Geschichtslehrerin jedenfalls hielt mir in ihren Stunden gewissermaßen den Rücken frei und ließ mir alle Zeit, die ich brauchte, um meine Beiträge im Unterricht abzugeben. Und sie gab mir den wichtigsten Rückhalt, den ich zu jener Zeit so sehr vermisste: Sie glaubte daran, dass ich es könne!

Und mit einem Mal klappte es auch in der Schule. Die Fesseln waren gelöst – der Bann gebrochen. Ich hatte mich mit der Hilfe dieser Lehrerin freigeschwommen und war plötzlich in der Lage, einigermaßen störungsfrei vor allen anderen zu reden.

Dazu kam das Selbstvertrauen, das ich durch meine Arbeit an meinen Instrumenten gewonnen hatte. Von dem Zeitpunkt an, ab dem ich meine Lieder schreiben, programmieren und aufnehmen konnte, änderte sich mein Leben. So, wie ich eines Tages einfach aufgehört hatte zu sprechen – so fing ich auch wieder damit an.

Warum ich mein erstes Lied gerade »Success« genannt habe, weiß ich heute nicht mehr. Vielleicht entstand es damals eher aus einem Wunschdenken heraus. Ich wollte offenkundig mit meiner Musik Erfolg haben. Dabei hatte ich mit meiner Musik doch den größten Erfolg bereits errungen: Ich sprach wieder!