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Vorwort des Herausgebers

»Der freieste Schriftsteller aller Zeiten …«

Friedrich Nietzsche

 

»Alles, was die Erzähler des 20. Jahrhunderts als ›Ausbrechen aus dem Zwang einer kontinuierlich sich entwickelnden Geschichte‹ deklarieren, kann sich auf Sterne berufen.«

Rudolf Walter Leonhardt

 

Es ist eine der vielen ans Wunder grenzenden Merkwürdigkeiten der Literaturgeschichte, dass ein einfacher Landpfarrer aus England, der bis zu seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr – außer um Predigten zu verfassen – kaum zur Feder gegriffen hatte, mit einem Mal beginnt, einen bahnbrechenden, fulminanten Roman zu Papier zu bringen. Bereits die ersten beiden veröffentlichten Teile des Werkes sorgen für einen Sturm der Entrüstung und literarische Verzückung gleichermaßen. Unmoralisch sei das Buch, verworren und gottlos. Von brillanter Sprachgewalt, hochintelligent und ironisch nicht weniger. Sterne schreibt und schreibt weiter, zehn Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod. Am Ende, im Jahr 1767, besteht das Mammutwerk aus neun Bänden mit insgesamt 312 Kapiteln – die hier in einer Gesamtausgabe zusammengefasst sind.

»The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« lautet der Originaltitel – und der Leser, der sich daran orientiert, wird verwundert sein. – Denn der Titel ist, wie das ganze Buch, ein Vexierspiel. Das Werk ist das krasse Gegenteil einer klaren Biographie jenes Tristram. Viel eher eine phantastische Erkundungsreise in die Zeit, und die Gedankengänge des Autors.

Oder wie Rudolf Walter Leonhardt in der ›Zeit-Bibliothek der 100 Bücher‹ schreibt: »Vom Leben der Titelfigur erfährt man wenig, und von seinen Meinungen noch weniger ... Im übrigen geht es um: das Aufziehen von Uhren, Spermatozoen, Horaz, Hebammen, Steckenpferde, Namen, Ballistik und Festungsbau, Predigten, das Gewissen, Leib und Seele, Zangengeburt, Witz und Urteilskraft, quietschende Türangeln, Nasen und Brüste, Schwangerschaft, Schlaf, Kastanien, Hausmädchen, Knopflöcher, Beschneidung, die Belagerung von Namur, Ärzte, Gesundheit, die Goten, Hosen, Pfeifen, den gerechten Krieg, die Liebe ... Jungfräulichkeit«, und noch ein Dutzend weitere Themen, die Leonhardt spaßeshalber auflistet.

Pedantische Gemüter mögen sich von diesem vermeintlich bunt zusammengewürfelten Kaleidoskop abwenden, doch ihnen entgeht etwas. Denn hinter dem Roman steckt ein überlegtes Konstrukt, eine intellektuelle Stringenz, die sich zwar chronologischen Abläufen verweigert – der Roman endet vier Jahre vor seinem Beginn, also vier Jahre vor Tristram Shandys Geburt – aber dafür beim Leser Erkenntnisse und Einsichten einer neuen Art erzeugt, wie sie bis dahin in der Literatur unerhört und vor allem ungelesen waren.

Und die vielen Episoden und Nebenlinien der Geschichte geben dem sinnenfrohen Pastor bestens Gelegenheit, die Missstände seiner Zeit anzuprangern: Vom Puritanismus der anglikanischen Kirche, über das größenwahnsinnige Gebaren des Militärs, bis hin zur mystischen Geheimniskrämerei vieler Wissenschaftler.[*] All das war ihm, dem Anhänger der Aufklärung, ein Gräuel.

Leonhardt: »Der Landpfarrer aus Yorkshire stellte alles, was bis dahin als Roman sich mühsam etabliert hatte – bei Fielding, Smollet, Richardson – auf den Kopf.« Nicht nur das, Sterne wird zum Protagonisten einer revolutionären Erzählmethode, die erst 250 Jahre später, durch Proust und Joyce offiziell etabliert wird, des »Bewusstseinsstroms«. – Jeder Einfall des Autors zeugt weitere, verbunden durch Gedankenassoziationen und verwoben zu einem literarischen Teppich des Seins. Angesichts der Progressivität dieses Ansatzes im frühen 18. Jahrhundert reicht es kaum, Sterne einen literarischen Erneuerer zu nennen, er war ein Revoluzzer. Goethe, der die europäische Literatur genau im Blick hatte, und als einer der ersten eine Übersetzung auf den Tisch bekam, erkannte das sofort – und wurde zum Sterne-Fan, wie man heute sagen würde.

Englische Literaturhistoriker dagegen vertraten zum Teil bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Meinung, Sterne – der ja eigentlich Pfarrer war – habe seine geistlichen Pflichten gröblich vernachlässigt und sich dem ausschweifenden Lebenswandel hingegeben; ein schräger Geselle sei er, ein Mensch mit moralischen Defekten. Seine Ehefrau habe er durch eine Affäre mit dem Dienstmädchen in den Wahnsinn getrieben. – Überhaupt das Geflirte mit der ihn umgebenden Damenwelt! Seine Liebschaften in London, nachdem die ersten beiden Bände des Tristram ein Bestseller waren ... schließlich seine späte Affäre mit der rund 25 Jahre jüngeren Anglo-Inderin Eliza Draper, der Ehefrau eines Offiziers der Ostindien-Compagnie – all das wird dem literarischen Avantgardisten in seinem Heimatland nicht so leicht verziehen. – Außerhalb Englands aber war der Ruhm immer groß. In Frankreich war Denis Diderot mit Sterne befreundet, Voltaire lässt ihn hochleben, in Deutschland war neben Goethe und vielen anderen auch Nietzsche ein großer Sterne-Verehrer.

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Auch formal ist der Roman unkonventionell. Die Kapitel sind höchst unterschiedlich lang. Manche gehen über viele dutzend Seiten, andere bestehen nur aus einer oder zwei Zeilen. Ein Kapitel existiert gar nicht, wofür Sterne die amüsante Begründung gab: Es sei so gut gewesen, dass alle anderen daneben im Schatten gestanden hätten – also hätte er es wieder löschen müssen. Daneben arbeitet der Autor zum Teil mit typographischen Elementen – es gibt im Original verschiedene Text-Synopsen, geschwärzte oder marmorierte Seiten, eingefügte krakelige Linien sowie Auslassungen, symbolisiert durch Sternchen-Ansammlungen. Soweit es technisch möglich und sinnvoll ist, sind diese Besonderheiten in diesem eBook möglichst originalgetreu wiedergegeben.

 

Über den Autor

Laurence Sterne wird am 24. November 1713 in Clonmel, Irland, als Sohn des Roger Sterne, eines Fähnrichs in der englischen Armee, und dessen Ehefrau Agnes geboren. Sterne ist der Urenkel eines englischen Erzbischofs. Während seiner Kindheit folgt die Familie mit vielen Umzügen den ständig wechselnden Stationierungen des Vaters. Als Laurence 18 Jahre alt ist, stirbt sein Vater, wenig später beginnt er als Stipendiat in Cambridge Theologie zu studieren.

In York, wo er anschließend eine Pfarrstelle erhält, lernt der junge Pfarrer Sterne ein begütertes Mädchen kennen: Elizabeth Lumley. Die Werbungs- und Liebesbriefe (»In einem kleinen Landhäuschen möchte ich mit dir wohnen, von goldener Sonne beschienen, am Hang eines romantischen Hügels ...«) die er fortan an sie richtet, werden später zu literarischen Dokumenten. Denn der junge Mann fühlt sich so heftig und leidenschaftlich bewegt, dass er nach einer neuen Vokabel sucht, um seinen einzigartigen Zustand zu bezeichnen. Er findet das Wort »sentimental«. Sternes Worterfindung wird zum Motto einer ganzen Literaturepoche.

1741 heiratet Sterne Elizabeth Lumley, und sein Leben scheint bis 1760 in recht engen Bahnen zu verlaufen. Die Liebe zu Elizabeth erkaltet, Affären beginnen die Beziehung zu belasten. Vielleicht treibt ihn die unbefriedigende Ehesituation auch zum Schreiben seines Meisterwerks. Vieles ändert sich, als die beiden ersten Bände des Tristram Shandy erscheinen und Sterne zum Favoriten der literarischen Zirkel der Hauptstadt wird. Auf Parties der Londoner Gesellschaft wird er herumgereicht, neue Liebschaften sind die Folge.

1760 zieht Sterne nach London, pendelt von nun an zu seiner neuen Pfarrei in Shandy Hall in Coxwold. Nachdem er vier weitere Teile des Werks veröffentlichte, ermöglichen ihm die Buch-Einnahmen Reisen. Er geht für zweieinhalb Jahre nach Frankreich. Kehrt dann ohne seine Frau zurück, die sich dort niederlässt. 1765 zieht es ihn nach Italien, bis nach Neapel.

1767 beginnt er eine Affäre mit Eliza Draper, der Ehefrau eines Offiziers der East India Company. Nachdem 1767 der neunte und letzte Band des Tristram erschienen war, wandte sich Sterne einem neuen Projekt zu: der ›Empfindsamen Reise‹ – Ergebnis seiner Frankreich- und Italien-Erfahrungen. Doch kurz nach Beginn an dieser Arbeit stirbt er, am 18. März 1768 in London an Tuberkulose.

Immer wieder wird die Geschichte kolportiert, Leichendiebe hätten Sternes Leichnam zwei Tage nach der Beerdigung aus dem Grab geraubt und an die Anatomie der Universität Cambridge verkauft. Laut Sterne-Biograph Henri Fluchère eine Legende. Die Geschichte dieses Leichenraubes, so Fluchère, sei von einem schriftstellernden Zeitgenossen Sternes erfunden, später jedoch dementiert worden, ohne dass ein halbes Dutzend Sterne-Biographen Lust gehabt hätte, von diesem Dementi Kenntnis zu nehmen.

Redaktion eClassica

 

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Quellen:

• Rudolf Walter Leonhardt: Tristram Shandy, in: Zeit-Bibliothek der 100 Bücher, Suhrkamp 1980

• ›Laurence Sterne: Die Säfte kreisen‹, Spiegel No. 35/1958

• Henri Fluchère: Laurence Sterne: De l'homme à l'oeuvre. Biographie critique et esssai d'interprétation de Tristram Shandy, Gallimard, Paris 1961

[*] frei zitiert nach Spiegel 35/1958, ›Laurence Sterne: Die Säfte kreisen‹