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Manuela Mair

Du an meiner Seite


Für alle, die verloren haben und trotzdem lieben.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1

 

Wo war er? Was war passiert? Er konnte sich an nichts erinnern. An gar nichts und nun stand er in dieser fremden Wohnung. Neugierig sah er sich um. Der Raum war nichts Besonderes. Nur eine 08/15-Küche mit dazu passender Sitzecke, wie man sie in jedem Möbelhaus kaufen kann. Die Wände stachen hervor. Die untere Hälfte war in einem Schokoladenbraun gestrichen, die obere war weiß. Fein säuberlich getrennt durch eine goldene Bordüre. Die Dekoration auf dem Tisch passte perfekt. Ein roter Tischläufer und darauf ein goldener Teller mit einer dunkelbraunen Kerze. Sah aus wie eine Duftkerze. Er ging ein paar Schritte weiter in den Raum. Tatsächlich. Espresso las er auf dem Kärtchen, das mit einem Band um die Kerze gewickelt war. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, denn er kannte nur eine Person, die sich so etwas kaufen würde. Aber er konnte unmöglich in ihrer Wohnung sein. Sie wohnte hunderte Kilometer weit entfernt und er könnte sich bestimmt daran erinnern, hätte er beschlossen, sie zu besuchen.

Auf der Arbeitsplatte der Küche herrschte geordnetes Chaos. Eine Schale mit Obst stand neben der kleinen Espressomaschine. Ein Stück weiter lagen ein paar Zeitschriften, in der Ecke stapelten sich Kochbücher. Hier wurde gelebt und so fremd ihm diese Wohnung war, fühlte er sich wohl darin. Nur … wie kam er hier her? Er wusste noch, dass er zur Arbeit gegangen war, aber danach? Nichts mehr. Seltsam fand er, dass es ihn nicht im Geringsten beunruhigte. Aber trotzdem hätte er gerne Antworten, irgendwer musste doch hier sein.

„Hallo?“, rief er durch die Stille. Keine Antwort. Er war doch sicher nicht eingebrochen! Jemand musste ihm die Tür geöffnet haben. Er würde einfach jeden Raum absuchen. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Er trat in den Flur. Terrakottafarbene Fliesen lagen unter einem blau gestreiften Läufer. Zwei Paar Schuhe standen ordentlich aufgereiht neben der Tür. Auch hier waren die Wände farbig. Nicht gestrichen, sondern bemalt. Schmetterlinge, Einhörner, Feen. In allen erdenklichen Farben zierten sie den Flur. Manche tollten miteinander herum, andere schliefen. War das da ein Glasmann? So hatte er sich diese kleinen Geschöpfe aus der Tintenherz-Trilogie immer vorgestellt. Großartig waren sie gezeichnet. Jemand in dieser Wohnung war äußerst begabt.

Die nächste Tür führte ihn ins Bad. Der bisher einzige Raum, der nur in schwarz und weiß gehalten war. Doch selbst hier wirkte es nicht steril. Drei Kerzen in schwarz und weiß standen auf der Waschmaschine. Nur die getrockneten Rosen in einer Vase auf der Kommode und vier Zahnbürsten in farbigen Bechern sorgten für Auflockerung. Zwei davon für Kinder. Dafür, dass hier Kinder wohnten, war es äußerst still.

Er zog sich wieder zurück und ging den schmalen Flur weiter entlang. Immer begleitet von Fabelwesen. Auf einem kleinen Schuhschrank fand er die nächsten Kerzen. Rot und sie brannten.

An der Wand dahinter entdeckte er die ersten Fotos. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen mischten sich mit neueren.

Irgendwie kamen ihm die Kinder bekannt vor. Aber woher? Es wollte ihm einfach nicht einfallen. „Also weiter“, sprach er sich selbst Mut zu und steckte den Kopf durch die Türe gegenüber der Kommode.

Ein Büro. Die Regale auf einer Seite der Wand beladen mit Ordnern und jeder Menge Büchern. Zwei Wände in hellem Rot gehalten, passend dazu Vorhänge und ein kleiner Teppich unter dem Schreibtisch. Auch hier wieder Fotos von den Kindern, aber zuordnen konnte er sie immer noch nicht.

Er drehte sich um und ging zurück in den Flur. Die letzten beiden Türen waren geschlossen. Davon ließ er lieber die Finger. Er horchte angestrengt, aber es war rein gar nichts zu hören. Vermutlich war ohnehin niemand drinnen, der ihm Antworten geben könnte. Er ging den Gang zurück zur Haustür und bog nach rechts ab. Eine Wendeltreppe führte nach oben. Ohne sich die Mühe zu machen, noch einmal zu rufen, stieg er die Stufen hinauf. Auf halber Höhe hüllte ihn ein warmes Sonnengelb ein. Auch das kam ihm bekannt vor, aber er konnte es nicht richtig zuordnen.

Das große Fenster ließ jede Menge Licht herein, obwohl es regnete. Er sah die vielen Bücherregale, noch bevor er ganz oben angekommen war. Und in einem mit Blumenmuster überzogenen Ohrensessel saß sie. Die Beine angezogen, schrieb sie eifrig in ein Notizbuch. Er schmeckte ihren Namen auf der Zunge, noch bevor sein Verstand ihn dachte. Er war bei ihr. Unmöglich und doch wahr. Ein bizarrer Traum, anders konnte es nicht sein. Hatte er nicht irgendwann etwas über solche Träume gelesen? Wieder nichts. Sein blödes Hirn schien einfach nicht richtig zu funktionieren.

Sie hatte ihn noch immer nicht entdeckt. War in ihr Schreiben vertieft. Selbst als er sich räusperte, sah sie nicht auf. Er ging zu ihr. Langsam, konnte nicht glauben, dass sie ihn nicht beachtete. Hatte er nicht an sie gedacht, als … ja als was? Immer wieder versuchten sich Gedanken in seinem Kopf zu formen, nur um halbfertig wieder zu verschwinden. Jetzt stand er unmittelbar vor ihr und ging in die Knie. Doch sie zeigte noch immer keine Reaktion. Er war enttäuscht, ihre erste Begegnung seit Jahren hatte er sich anders vorgestellt. Überschwänglich, neugierig, fröhlich … alles, nur nicht so.

War sie etwa sauer auf ihn, weil er sich so lange nicht mehr gemeldet hatte? Es war eigentlich nicht ihre Art, aber was wenn doch? Dabei hatte er es ihr erklärt! Er hatte dank seiner Arbeit kaum eine freie Minute gehabt und sie hatte ihn beruhigt, hatte Verständnis gezeigt und sein schlechtes Gewissen auf ein Minimum reduziert. Er seufzte und für eine Sekunde hielt sie inne. Durchkämmte den Raum mit ihrem Blick und schrieb weiter.

Sie hatte ihn einfach übersehen. Durch ihn durch gesehen. War das ihre Art ihn zu bestrafen? Nein. Nein, das sah ihr gar nicht ähnlich. Er ließ sich zu ihren Füßen nieder und beobachtete sie. Ihre sonst so fröhlichen Augen sahen gequält aus. Wässrig. Rot vom Weinen. Dunkle Schatten lagen darunter und der sonst so oft lächelnde Mund wirkte traurig. Ihr Haar hatte sie nach hinten gebunden. Sonst trug sie es zu Hause immer offen. Zumindest hatte sie das erzählt. Er konnte sich erinnern. Ja, es klappte, vielleicht musste er sich nur langsam herantasten. Doch so sehr ihn das auch freute, krampfte sich ihm sein Herz zusammen, wenn er seine Freundin ansah. Es tat ihm leid. Er hatte sie alleine gelassen und nun wusste er nicht, was in ihr vorging. Wenn er aufwachte, dann würde er sie gleich anrufen. Das hieß, wenn das ein Traum war. Aber sollte es denn sonst sein?

Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Energisch wischte sie sie fort, doch die zweite bahnte sich gleich darauf ihren Weg über die Wange. Sie klappte das Buch zu und warf es mit voller Wucht auf den Boden. Einen Moment später knallte sie den Stift hinterher und begann bitterlich zu schluchzen. Ihr Körper bebte und es dauerte, ehe sich beruhigte. Trotzdem rannen die Tränen unaufhaltsam. Was hatte sie nur so traurig gemacht?

Er rappelte sich auf. Sie sollte ihn gefälligst beachten, sollte sich in seine Arme werfen und erzählen. Er würde sie trösten und die Welt würde wieder besser aussehen. Zögerlich flüsterte er ihren Namen.

 

Ich hielt inne. Was war das eben? Hatte da nicht jemand meinen Namen gesagt. Viel mehr geflüstert. Gänsehaut machte sich breit, als etwas Warmes mich berührte. Es kribbelte angenehm. Sie waren endlich gekommen. Gekommen, um sich zu verabschieden.

„Tobi?“, hauchte ich. Mein Herz schlug schneller. Ja, irgendwer war hier. Irgendwer, der längst bei den Toten hätte sein sollen und noch immer hier war. Ich horchte genau hin, aber ich konnte nichts hören und nichts sehen.

„Sprecht lauter, ich kann euch nicht hören. Bitte, sprecht lauter.“

„Mathilda“, flüsterte es da wieder. Etwas lauter als zuvor, aber das war nicht Tobis Stimme. Diese Stimme gehörte auch keinem meiner Kinder. Ein Fremder. Wieder ein Fremder.

„Geh weg!“, schrie ich ihn an. „Ich will euch nicht. Ich will meine Familie sehen. Ich kann euch nicht mehr helfen. Jetzt bin ich dran. Ich. Verstanden?“

Schnell sprang ich auf und war mit wenigen Schritten an der Treppe. Ich stürmte hinunter, riss meine Regenjacke vom Haken und schlüpfte in die Stiefel. Ohne mich umzudrehen, lief ich nach draußen. Der Regen fiel in dicken Tropfen und durchnässte meine Haare binnen kürzester Zeit, so dass sie mir in dicken Strähnen ins Gesicht hingen. Das kühle Nass des Regens vermischte sich mit meinen Tränen und wusch sie weg. Aber nicht meine Gefühle. Nicht die Trauer. Nicht meinen Fluch. Es machte einfach nur nass. Meine Tränen mischten sich mit den Tränen des Himmels. Es war nicht fair. Warum ich? Warum meine Familie? Was hatte ich nur verbrochen?

 

Alex wartete geduldig auf sie. Sah ihr durchs Fenster zu, wie sie draußen stand. Im Regen. Nass bis auf die Haut. Dabei zermarterte er sich sein Hirn. Was war das vorhin gewesen? Sie hatte ihn gehört, hatte ihn gespürt, aber nicht auf ihn reagiert. Er konnte sie nicht berühren, hatte es versucht und einfach durch sie hindurch gegriffen. Er konnte keine Gegenstände anfassen. War er etwa … Nein, daran durfte er nicht denken. Das war unmöglich. Er träumte. Musste träumen. Irgendwann würde er schon aufwachen, aber warum konnte Matze ihn dann wahrnehmen. War sein Geist wirklich hier? Ein Traum, in dem sein Geist den Körper verlässt, um ihr beizustehen? Und was hatte sie gemeint, als sie ihn wegschickte?

„Ich kann euch jetzt nicht helfen.“ Das waren ihre Worte. Was meinte sie damit? Gab es andere wie ihn? Was zum Teufel ging hier vor sich?

Die Antworten konnte ihm wohl nur Matze geben. Wenn sie jemals wieder herein kommen würde. Sie stand einfach nur bewegungslos da und zitterte. Und warum hatte sie ihn Tobi genannt. Tobi war doch ihr Mann. Wo war er eigentlich und wo die Kinder? Stefan und Georg?

Sie war so allein. Er konnte es kaum ertragen, sie so zu sehen. So unendlich traurig. So kannte er sie nicht. Sie war die fröhlichste Person, die er je kennen gelernt hatte. Ein Stehaufmännchen. Liebenswürdig, hilfsbereit, lustig und tiefgründig. Natürlich hatte sie auch ihre Macken, aber die machten sie noch liebenswürdiger. So oft hatte sie ihn durch schwere Zeiten begleitet, obwohl sie sich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen hatten. Seit dem Umzug waren sie sich nie wieder gegenüber gestanden. Es hatte keine Berührungen mehr zwischen ihnen gegeben. Briefe, E-Mails und stundenlange Telefonate hatten ihre Treffen ersetzt, die er für sich ausgeschlossen hatte. Ja, eigentlich wollte er sie schon wiedersehen. Wollte sie lachen sehen, tanzen sehen, herumalbern sehen, aber es war gefährlich. Sie war gefährlich. Für ihn. Wie oft hatte er sich für total übergeschnappt gehalten, weil er so für sie empfand? Hatte an sie gedacht, wenn es ihm schlecht ging. Hatte an sie gedacht, wenn eines ihrer Lieblingslieder gespielt wurde. Hatte an sie gedacht, wenn er glücklich war. Und es erfüllte ihn immer mit Wärme. Er hatte sie die letzten Wochen vermisst. Schrecklich vermisst und doch fand er nicht mal die Zeit, sie anzurufen.

Und jetzt war er hier, wenn auch nur in seinen Träumen und sie wies ihn zurück. Es konnte nichts anderes als ein Albtraum sein. Er musste ihr einfach sagen, dass es ihm leid tat. Sich entschuldigen und mit ihr reden. Schließlich konnte sie ihn hören, wenn auch offensichtlich nicht sehen. Er würde einfach warten, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte und es dann versuchen. Schließlich war sie ja nicht nachtragend.

 

Erst als es dunkel wurde, zwang ich mich wieder zurück ins Haus zu gehen. Aber es fiel mir nicht leicht, zu viele Erinnerungen quälten mich. Überall sah ich meine Familie. Und das war ja auch kein Wunder, schließlich hatten wir diese Wohnung gemeinsam gestaltet. Ich seufzte, als die Tür ins Schloss fiel. Früher war das hier mein Zuhause. Ein Ort des Wohlfühlens, doch heute glich es mehr einer Hölle. Meiner ganz persönlichen Hölle.

Ich schälte mich im Flur aus den nassen Klamotten und trug sie ins Bad. Lustlos steckte ich sie in die Waschmaschine zu den anderen Sachen und schaltete ein. Ich warf mir den Bademantel über und schlich in die Küche. Den Flur würde ich bald streichen. Ich konnte all diese lustigen Fabelwesen einfach nicht mehr ertragen. Sie hatten mich durch ein besseres Leben begleitet und stammten alle aus Geschichten, die ich den Kinder vorgelesen oder selbst gelesen hatte.

In der Tür zur Küche blieb ich stehen, rieb mir die müden Augen. Das konnte nicht sein. Er konnte nicht hier sein. Durfte nicht hier sein. Nicht so. Ich blinzelte. Doch er verschwand nicht. Nein! Nicht auch noch Alex. Nicht der einzige Mensch, den ich jetzt wirklich sehen wollte. Der einzige, der mich aus diesem Loch rausholen könnte. So wie die anderen Male, als es mir schlecht ging und ich in der Dunkelheit zu ertrinken drohte. Es zerriss mir beinahe das Herz.

Er lächelte mich an. Genauso wie ich es nur noch von Fotos kannte. Ein Lächeln, das die Kälte vertrieb. Trotzdem durfte er nicht hier sein. Vielleicht träumte ich nur, vielleicht spielte mir mein müdes Hirn einen Streich? Ich ignorierte ihn und machte mir Tee. Versuchte meine Gedanken zu lenken, versuchte ihn nicht anzusehen, aber aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich, dass er immer noch lächelnd neben der Sitzbank stand.

War er es gewesen, der mich vorher berührt hatte? War er es gewesen, der meinen Namen geflüstert hatte? Verdammt! Er durfte nicht hier sein.

„Matze?“ Kein Flüstern dieses Mal, klar und deutlich hörte ich meinen Spitznamen. Seine Stimme hatte noch immer den gleichen Klang. Tief und beruhigend. Ich würde ihm nicht antworten. Wenn ich ganz fest daran glaubte, dass er noch lebte …

„Ich weiß, dass du mich hörst.“

So warm fühlte ich mich plötzlich.

„Bitte, Matze. Ich hab so viele Fragen!“ Fragen. Ja, die hatten sie alle. Alle, die halb durchscheinend bei mir auftauchten. Alle, die bei meiner Mutter und früher bei meiner Großmutter aufgetaucht waren. Und sie fanden Antworten. Nur dieses Mal wollte ich nicht antworten. Ich wollte nicht wahrhaben, dass das alles passierte.

Ich spürte, wie er seine Hand auf meine legte. Es fühlte sich wie ein Windhauch an, der über meine Haut strich. Langsam wagte ich es auch, meinen Blick darauf zu richten und es tat mir gut. Es war tröstlich. Der Schlamm der Dunkelheit zog sich zurück. Langsam. Dabei sollte ich mich mies fühlen. Sollte vor Trauer vergehen. Trauer um meine Familie und Trauer um meinen besten Freund.

Stattdessen konnte ich wieder atmen. Richtig atmen. Befreit. Was für eine verdrehte Welt. Was war ich egoistisch, mich jetzt leichter zu fühlen. Jetzt, da noch ein so wichtiger Mensch von mir gehen würde.

„Mondschein.“

Mein Gott, dieser Kosename. So viele Erinnerungen waren plötzlich so lebendig vor mir. So viel Gelächter, so viel Fröhlichkeit, so viel Glück. Es war nicht richtig. Es war traurig. Ich sollte traurig sein. Ich sollte Schmerzen haben. Ich sollte in meinem dunklen Tal bleiben.

„Wie ist es passiert?“, presste ich hervor, ohne den Blick von seiner Hand, die immer noch auf meiner lag, zu nehmen.

„Du hörst mich tatsächlich!“

„Und ich sehe dich.“

Ich hob meinen Blick und sah ihm in die Augen. Freundliche, braune Augen. Lachfältchen hatten sich um sie gelegt.

„Vorhin hast du mich nicht gesehen.“ Er grinste. Strahlte sogar. Er freute sich. Alle freuten sich, wenn man sie sah. Sie wahrnehmen, konnten nur die wenigsten Menschen.

„Es ist schwierig für neue …“, ich schluckte. Es fiel schwer, das jemanden zu sagen, ganz besonders jemanden, der einem so nahe stand. Ich räusperte mich und schluckte hart. „Es ist schwierig für Neulinge, sich am Tag sichtbar zu machen. Stell es dir vor wie bei einer Taschenlampe. Wenn du sie im Hellen einschaltest, siehst du keinen oder nur einen schwachen Strahl. Aber bei Nacht …“

„… sieht man das Licht genau.“ Er zwinkerte mir zu. Noch immer schienen wir die Sätze des anderen vervollständigen zu können. Seit Jahren machten wir uns einen Spaß daraus.

„Wie bist du … Was ist passiert?“ So viele Worte, die gesprochen werden wollten, aber ich schaffte es nicht. Die Sätze blieben mir im Hals stecken und plötzlich wurde ich ganz unruhig. Wusste er bereits, dass er tot war? War Alex gekommen, um sich zu verabschieden?

„Ich weiß es nicht. Ich dachte, du kannst es mir sagen. Nach dem Mittagessen fuhr ich wieder zur Arbeit und plötzlich war ich hier. Vielleicht bin ich in der U-Bahn eingeschlafen.“ Er zuckte mit den Schultern und wirkte dabei hilflos. Der Wasserkessel begann zu pfeifen.

„Du bist … ich weiß wirklich nicht, wie ich dir das schonend beibringen soll. Du bist tot“, stammelte ich.

Alex lachte. Er wusste es tatsächlich nicht. Es gab viele, die es nicht wahrhaben wollten, die sich nicht erinnern konnten. Ich drehte die Herdplatte ab, stellte den Wasserkessel beiseite und ging in mein Büro. Alex würde mir auch ohne Aufforderung folgen.

Wie gewöhnlich lief mein Computer. Tobi hatte sich oft darüber beschwert.

Tobi. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Warum kam er denn nicht, er wusste doch, dass ich ihn sehen könnte. Noch ganz in Gedanken spürte ich Alex‘ Berührung auf meinen Schultern. Warm und so tröstend. Ich seufzte und rief die Nachrichtenseite auf. Wenn Alex in der U-Bahn gestorben war, dann musste es inzwischen einen Bericht darüber geben. Und ich fand ihn tatsächlich. Ein Terrorakt hieß es in dem Artikel. Eine Sprengladung hatte den Tunnel verwüstet. Hatte die Bahn zerstört. So viele Tote, so viele Verletzte. Die Bilder waren grausam.

Ich bemerkte, dass Alex mich nicht mehr berührte und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er weg war.

„Das ist unmöglich“, kam seine Stimme von der Tür. Ich wusste, was jetzt in ihm vorging. Es war für keinen der Geister leicht zu erfahren, dass sie nicht mehr in diese Welt gehörten. Für Alex tat es mir besonders leid. So vieles hatte er noch vor, so vieles, das er noch erleben sollte. Er hätte eine tolle Frau, ein Haus und ein Haufen Kinder haben sollen. Das alles blieb ihm nun verwehrt. Ich konnte mich wenigstens glücklich schätzen, all diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen. All die Liebe hatte ich erfahren. Ihm blieb sie versagt.

„Aber es ist so. Es tut mir so leid, Alex“, flüsterte ich und versuchte mein ganzes Mitgefühl in diese Worte zu legen.

„Aber … so geht das doch nicht. Wo ist das Licht? Wo der Tunnel? Wo meine toten Verwandten?“, meinte Alex aufgebracht.

„Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“, fragte ich ihn, aber Alex schüttelte den Kopf. „Versuch es!“

Aber er verschwand. Seufzend schaltete ich den Computer aus und ging in die Küche. Tee war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich musste mich entspannen, musste Ordnung in dieses Gedankenchaos bringen.