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Sommer 2005. Innerhalb weniger Tage verschwindet eine Freiburger Studentin, wird ein Familienvater auf grausame Weise ermordet, ertrinkt ein Junge unter ungeklärten Umständen im Rhein. Louise Bonì, Hauptkommissarin der Freiburger Kripo, und ihren Ermittlerkollegen wird schnell klar, dass die drei Fälle zusammenhängen – und dass noch mehr Menschen in größter Gefahr schweben. Darunter: Louise Bonì selbst. Bonìs vierter Fall konfrontiert sie mit den düstersten Geheimnissen gutsituierter Freiburger Familien und führt ihr erneut vor Augen, dass manchmal wenig genügt, um die Bestie im Menschen freizusetzen.
 
Oliver Bottini wurde 1965 geboren. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem viermal den Deutschen Krimi Preis, den Krimipreis von Radio Bremen, den Berliner ›Krimifuchs‹ sowie zuletzt den Stuttgarter Krimipreis für ›Ein paar Tage Licht‹ (DuMont 2014). Oliver Bottini lebt in Berlin.
Der erste und der vierte Band der Louise-Bonì-Reihe, ›Mord im Zeichen des Zen‹ und ›Jäger in der Nacht‹, wurden 2014 und 2015 mit Melika Foroutan in der Hauptrolle für die ARD verfilmt. Der vorliegende Band ist der vierte Fall für die Kommisarin Louise-Bonì.

OLIVER BOTTINI

JÄGER IN DER NACHT

EIN FALL FÜR LOUISE BONÌ

Es gibt kaum einen häßlicheren Zug in der Natur des Menschen als den Hang, grausam zu sein, sobald er die Macht besitzt, anderen Böses zuzufügen.

NATHANIEL HAWTHORNE, »DAS ZOLLHAUS«

PROLOG

EIN BLICK AUF DAS DUNKLE, lautlose Wasser des Rheins, und alles war für einen Moment vergessen. Der Hass, die Schmerzen, die Angst.

Eddie ließ das Fahrrad ins Gras fallen, stieg zum Wasser hinunter, setzte sich. Wenn der Rhein nicht wäre. Trug alles weg für ein paar Minuten. Nur die Gedanken blieben. Die Gedanken und das Herzklopfen.

Den Vater töten.

Er zündete sich eine Zigarette an, streckte die Beine aus, hängte die Füße in den Fluss. Die Nikes sogen sich voll. Von unten kroch es kühl die Beine hoch.

Wenn ihn der Hass und die Gedanken zu übermannen drohten, ging er nachts ins Wasser und schwamm. In Deutschland rein, in Frankreich raus. Erst der Altrhein, dann über die Insel, dann der Große Elsässische Kanal. Der Kanal war gefährlich. Einhundertfünfzig Meter Dunkelheit und Kälte, quer durch die Fahrrinnen, zwischen Lastkähnen, Fischerbooten, Sportbooten hindurch, und das bei starker Strömung. Manchmal hörte er eine wütende Stimme von einem der Schiffe, doch meistens sah ihn niemand. Am anderen Ufer blieb er liegen, bis er wieder zu Kräften gekommen war. Dann schwamm er zurück. So wurde er den Hass und die Gedanken los.

Im Winter, wenn das Wasser zu kalt war, rannte er.

Er füllte die Lungen mit Rauch, ließ den Blick wandern. Der Wald gegenüber im Sonnenlicht, flussabwärts am deutschen Ufer die Bootsanlegestelle, dann ging es in einer leichten Linkskurve hoch nach Breisach. Flussaufwärts ein weißer Fleck am Ufer, Dennis, der sich in jeder freien Minute in die Sonne legte und doch immer weiß blieb wie Mozzarella. Der kaum etwas aß und doch immer fett blieb wie eine Qualle.

Ein weißer, schwabbliger Arm hob sich. Eddie winkte zurück. Als er eine Männerstimme hörte, hielt er den Atem an. Eine Frau lachte. Das Geräusch von Fahrradreifen auf dem Weg über ihm. Dann war es wieder ruhig.

Er schnippte die Zigarette von sich, ließ sich zurücksinken und dachte darüber nach, wie das Leben ohne seinen Vater wäre.

»Eddie.«

Er öffnete die Augen und fuhr hoch. Sein Herz raste, und er spürte, dass er die Muskeln angespannt hatte.

Aber es war nur Dennis, eine gelbe Tüte in der einen, das Fahrrad an der anderen Hand. Vorsichtig ließ er das Rad ins Gras gleiten und kam die zwei Meter herunter. »Ich hab Bier, wenn du willst.«

Eddie nickte, und Dennis nahm eine Flasche Ganter aus der Tüte und öffnete sie.

Die Flasche war kühl und nass. Während er trank, dachte er, dass auch Dennis’ Stimme irgendwie weiß und fett war.

Rülpsend setzte sich Dennis neben ihn. Er rülpste und furzte alle paar Minuten. Eddie hatte den Eindruck, dass er es tat, weil er so weiß und so fett war. Dass er sich dachte: Wenn schon hässlich, dann richtig.

Eddie störte sich nicht daran. Er schwamm nachts durch den Rhein, Dennis rülpste und furzte. Irgendwas musste man tun.

Dennis furzte. »Du blutest.«

Eddie berührte die Wunde an seiner linken Wange. Im Schlaf aufgekratzt. Jetzt tat es auch wieder weh. Er hielt die blutverschmierte Hand vor sich, und sie betrachteten sie eine Weile.

»Krass«, sagte Dennis. »Meins ist viel heller.«

»Weiß?«

Sie grinsten. Eddie beugte sich vor und tauchte die Hand ins Wasser. Der Rhein wusch das Blut fort.

Er drehte den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich.

Sie sprachen nicht darüber, und doch schien Dennis zu ahnen, wie die Wunde entstanden war. Weshalb Eddie auch im Sommer nie kurze Hosen oder kurzärmlige T-Shirts trug.

Eddie dachte, dass er ihn mochte, obwohl er keine Ahnung hatte, weshalb. Vielleicht weil Dennis keine Fragen stellte. Oder weil er pausenlos rülpste und furzte. Oder weil sie fast so etwas wie Brüder waren. Sein Vater fickte die Mutter von Dennis.

Die Mutter ging nie in die Sonne und aß für drei und war genauso weiß und fett wie Dennis. Wie Dennis’ Vater aussah, wusste niemand. Nicht einmal seine Mutter, behauptete Dennis. Ich bin von hinten gemacht worden, sagte er, als würde das alles erklären. Die weiße Haut, das Fett, die schlechten Noten in der Schule, und warum das Leben beschissen war.

Eddie wandte sich ab und wusch sich das Blut von der Wange.

»Du kannst das Spiel heute Abend bei mir anschauen, wenn du willst«, sagte Dennis.

Das zweite Halbfinale. Mexiko gegen Argentinien in Dolby Digital, ein Plasmabildschirm, der die halbe Wohnzimmerwand einnahm. Viele Männer fickten Dennis’ Mutter, und manche ließen Geld da.

»Okay.«

Eddie starrte auf sein verzerrtes Spiegelbild im Wasser, und sein Herz begann wieder zu rasen. Gestern das erste Halbfinale. Die Deutschen hatten gut gespielt, aber die Brasilianer hatten gewonnen. Mit dem Schlusspfiff war sein Vater aufgesprungen und hatte zugeschlagen.

»Mama macht Gulasch.«

»Okay.«

Eddie setzte sich zurück, nahm einen Schluck Ganter, und für einen Moment war er beinahe zufrieden. Fußball schauen, Bier trinken, rauchen und aus riesigen Suppentellern Gulasch essen. Später würde er wieder herkommen und zusehen, wie es Nacht wurde, und dann würde er durch den Fluss ans französische Ufer schwimmen.

Eine Weile saßen sie da, beobachteten vereinzelte Kanufahrer auf dem Wasser, sagten nichts. Der Moment der Zufriedenheit war verflogen. Die Wunde brannte, und der Hass war wieder da. Das Tor von Adriano. Die Wut seines Vaters, der teilnahmslose Blick seiner Mutter.

Heute Morgen erst die üblichen Knüffe, Schubsereien, Drohungen. Dann hatte sein Vater zu lachen begonnen, was hat’n der im Gesicht, ist der aus’m Bett gefallen? Seine Mutter hatte gesagt: Lach doch, Eddie, ist doch lustig, und sein Vater hatte gesagt: Schau dir dem seine Schmollfresse an, und nicht aufgehört zu lachen. Eddie war zur Tür gegangen, hatte sich umgedreht und gesagt: Eines Tages kill ich dich. Da hatte sein Vater nicht mehr gelacht.

»Ich fahr dann«, sagte Dennis.

Eddie nickte.

»Kommst du mit in den Ort?«

»Ich bleib noch.«

»Wenn du willst, lass ich dir ein Bier da.«

»Okay. Hast du Zigaretten?«

Dennis öffnete ein weiteres Ganter. »Sind alle«, sagte er. Sein Blick war merkwürdig, und Eddie fragte sich, was er dachte.

»Du kannst mit zu mir kommen, wenn du willst.«

Eddie schüttelte den Kopf.

»Dann bis später.«

»Okay.«

Er hörte, wie Dennis oben am Weg auf das Rad stieg. Ein Furz, ein Rülpser, ein Quietschen, dann entfernten sich die Geräusche. Er hob das Bier an die Lippen, schloss die Augen, trank. Er wusste jetzt, was Dennis gedacht hatte, und er hasste ihn dafür. Dennis hatte Mitleid gehabt, und Mitleid hatte man nur mit den Schwachen.

Sein Vater schien auf ihn zu warten. Er saß im schmalen Vorgarten auf einem Stuhl, eine Bierflasche in Reichweite, den schwarzen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen. Er saß so, dass Eddie nicht ins Haus kommen würde, ohne ihn zu berühren.

Dann hörte Eddie Schnarchgeräusche, und er dachte, dass er Glück hatte.

Er ging am Zaun entlang um das Haus herum, bis er den faustgroßen, fast runden Stein fand, den er vor Monaten hierher gelegt hatte. Er wischte die Erde ab, rieb den Stein an seiner Hose sauber, damit er ihm nicht aus der Hand gleiten würde. Den Stein in der Rechten, ging er zum Gartentor zurück. Der Stein fühlte sich kühl und beruhigend an, so kühl und beruhigend wie das Wasser des Rheins. Er dachte, dass der Stein genau wie der Rhein für ihn gemacht war.

Am Gartentor blieb er stehen und musterte seinen Vater. Er trug Shorts und Unterhemd, sodass die muskulösen Arme und Beine zu sehen waren. Eddie presste die Finger um den Stein. Wichtig war nur, beim ersten Mal so fest wie möglich zuzuschlagen. Dann würde er es schon schaffen, selbst wenn sein Vater danach versuchen würde, sich zu wehren.

Eine Bewegung an einem der Fenster im ersten Stock ließ ihn aufblicken. Der weiße Vorhang war zugezogen, doch er sah den Schatten seiner Mutter dahinter. Sie stand reglos da, das Gesicht in seine Richtung gewandt. Dann hob sie eine Hand und krallte sie in den Vorhang. Dann stand sie wieder reglos da.

Eddie machte ein paar Schritte auf seinen Vater zu. Sein Herz raste, und der Hass pochte in seinem Kopf. Erneut blieb er stehen und schaute zu seiner Mutter hoch. Dort, wo ihre Hand den Vorhang hielt, war der Stoff verdreht.

Sein Vater gab im Schlaf ein leises, tiefes Schweinegrunzen von sich, und Eddie wandte sich ihm wieder zu. Er dachte, dass sein Vater so sterben würde, wie es zu ihm passte. Grunzend wie ein Schwein.

Er ging weiter. Wieder hörte er das Grunzen, doch dann begriff er, dass sein Vater erwacht war und dass er nicht im Schlaf grunzte, sondern weil er die Augen geöffnet und den Stein gesehen hatte. In diesem Moment hob er den Kopf leicht, und Eddie konnte seine Augen unter der Hutkrempe sehen. Erwartungsvoll und voller Verachtung blickten sie ihn an. Komm, sagten sie. Versuch es.

Eddie blieb stehen. Plötzlich wusste er, dass sein Vater genau wie er auf die richtige Gelegenheit gewartet hatte.

Jetzt war sie da. Endlich, sagten die Augen, und Eddie dachte, dass er verloren und dass sein Vater gewonnen hatte. Alles war entschieden, ohne dass er etwas hatte tun können, das die Dinge entschied. Wie so oft war sein Vater zu stark und er zu schwach.

Sein Vater lächelte und sah sehr zufrieden aus.

Eddie hob den Stein, holte aus und schleuderte ihn in Richtung seines Vaters. Aber der Stein verfehlte ihn um einen Meter. Als er gegen die Hauswand krachte, sprang sein Vater auf, und Eddie drehte sich um und rannte.

Sein Vater folgte ihm nicht. Minutenlang stand Eddie am anderen Ende des Ortes im Schatten eines Baumes. Sein Herz raste, der Hass war da und noch mehr Angst. Doch sein Vater kam nicht. Warum auch, dachte er. Sein Vater musste nur abwarten, ob er es wagen würde, nach Hause zurückzukehren.

Einen Augenblick lang überlegte er, was er jetzt machen sollte. Er hatte kein Geld, keine Kleidung. Um fortzugehen, musste er nach Hause. Aber er konnte nicht mehr nach Hause.

Er verdrängte die Gedanken und folgte der Straße in Richtung Ortsmitte, um sein Fahrrad zu holen, das er vorhin am Taubenturm abgestellt hatte. Der Rhein würde Antworten haben.

Als er das Schloss aufsperrte, spielte sein Handy die ersten Takte von »Candy Shop« von 50 Cent.

Dennis.

»Ich muss dir was zeigen«, sagte er, und seine Stimme klang nicht mehr weiß und fett, sondern geheimnisvoll.

Eddie schwieg. Der Hass auf seinen Vater und die Angst saßen wie eine Faust in seiner Kehle und schienen das Sprechen unmöglich zu machen.

»Komm zur alten Scheune.«

Eddie schüttelte den Kopf, um die Faust loszuwerden. »Ich geh schwimmen.«

»Schwimmen kannst du doch auch später.«

Er dachte an das Mitleid in Dennis’ Blick. Dass er ihn vor einer Stunde dafür gehasst hatte und dass Dennis jetzt der einzige Mensch war, der übriggeblieben war.

»Ich hab was gefunden.«

»Was?«

»Komm her«, wiederholte Dennis. »Aber pass auf, dass dich niemand sieht.«

Eddie steckte das Handy in die Hosentasche. Während er durch den Ort fuhr, dachte er an die alte Scheune. Es hatte gute Tage gegeben in seinem Leben, und viele hatten mit der Scheune zu tun gehabt. Besäufnisse und Schlägereien mit Gleichaltrigen aus Hausen und Oberrimsingen, Fummeleien mit Mädchen, Pornos auf einem tragbaren Minifernseher, bis die Batterien den Geist aufgegeben hatten. Ein paar Wochen lang hatten sie Hunde und Katzen entführt und in der alten Scheune erschlagen. Hier hatten sie auch das Geld verteilt, das sie in der Kirche aus den Opferstöcken und Klingelbeuteln gestohlen hatten.

Und dann die vielen stillen Nächte, nachdem sein Vater zugeschlagen hatte.

Die alte Scheune lag zweihundert Meter westlich des Ortes inmitten eines brachliegenden Feldes. Krähen flogen aus dem kniehohen, ausgedörrten Gras auf, als Eddie auf dem schmalen Pfad über das Feld fuhr. Ihre Schatten und ihr gieriges Krächzen begleiteten ihn.

Er legte sein Rad neben das von Dennis und betrat die Scheune. Sonnenlicht brach durch zahllose Ritzen und Scharten im Holz der Wände. In den Lichtlanzen tanzte Staub.

Dennis saß im Schneidersitz an eine der Wände gelehnt, und Eddie setzte sich neben ihn. »Also?«

Dennis hob das Kinn in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Erst jetzt bemerkte Eddie, dass dort noch jemand war. Auf dem Boden lag eine Frau. Sie hatte das Gesicht nach oben gewandt und bewegte sich nicht und sah beinahe so aus, als wäre sie tot.

»Wer ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Ist sie tot?«

»Nein.«

Eddie ging hinüber. Die Frau lag in eine rote Decke gewickelt und hatte die Augen geschlossen, aber er hörte jetzt, dass sie atmete. Die Decke war verrutscht, er sah eine nackte Schulter und die nackten Beine. Oben auf den Beinen waren Blutergüsse und verschorfende Kratzer zu erkennen. Auch im Gesicht war Blut, und ein Auge war zugeschwollen und die Nase irgendwie schief. Die aufgeplatzten Lippen standen leicht offen, und Eddie hatte den Eindruck, als wären ihr die Schneidezähne ausgeschlagen worden, so viel Blut war da. Das Gesicht war derart verunstaltet, dass er nicht hätte sagen können, ob die Frau hübsch oder hässlich war. Nur dass sie nicht älter war als Anfang zwanzig und schlank.

»Krass, wenn du mich fragst«, sagte Dennis.

Eddie schwieg. Er fragte sich, weshalb Dennis ihn angerufen hatte, nicht den Notarzt oder die Polizei. Warum er da drüben an der Wand saß und nichts unternahm.

»Schau dir das linke Bein an«, sagte Dennis.

Eddie beugte sich vor. Vom Knie an abwärts war das Bein an der Seite blaugefärbt. Die Frau war barfuß, und ihre Füße waren voller Erde und Dreck.

Jetzt bewegte sie den Kopf ein wenig, und die Augen öffneten sich, das eine ganz, das andere halb, und sahen ihn voller Angst an. Es kam ihm so vor, als versuchte sie, sich zu bewegen, und als gelänge es ihr nicht. Als könnte sie nichts anderes mehr bewegen, nur den Kopf und die Augen.

Ohne dass er es wollte, dachte er an die Hunde und Katzen, die in der Scheune gefesselt vor ihnen gelegen hatten. Sie hatten ähnlich geschaut wie die Frau, hilflos und voller Angst.

Er kniete sich neben sie. Auf Bauchhöhe war die Decke nicht ganz geschlossen, und er sah einen schmalen Streifen Haut. Er hob den Saum an. Auch auf dem Bauch hatte die Frau Blutergüsse und verschorfende Kratzspuren.

Als er die Decke zurückschlug, glaubte er, die Frau kurz wimmern zu hören, aber er war sich nicht sicher. Er starrte auf ihre linke Brust, die jetzt frei lag und rote Quetschungen aufwies. Er schob die Decke von ihrer anderen Brust, dann von ihrer Hüfte. Die Frau gab einen komischen Laut von sich, doch mehr geschah nicht. Zwischen ihren leicht gespreizten Beinen war Blut zu erkennen. Mit angehaltenem Atem legte Eddie die Hand auf ihren rechten Oberschenkel. Unter seiner Hand spürte er, wie ein Zucken durch den Körper der Frau lief. Mehr geschah auch jetzt nicht.

Er dachte, dass er tun und lassen konnte, was er wollte, und es würde nichts geschehen.

Langsam bewegte er die Hand über ihren Körper nach oben. Wegen der Blutergüsse und Kratzer berührte er ihre Haut nur leicht, obwohl er sie gern deutlicher gespürt hätte. Er wusste, wie weh solche Wunden taten, und er wollte ihr nicht wehtun.

Erst als seine Hand bei ihrer Brust war, gab er dem Drang nach und legte sie darauf. Wieder ging ein Zucken durch den Körper der Frau, und ihre Schultern bewegten sich krampfartig, aber nicht ihre Arme, und als er genauer hinschaute, erkannte er, dass auch auf ihren Armen Blutergüsse waren. Wieder hörte er diesen merkwürdigen, leisen Laut aus ihrem Mund, und als der Laut abbrach, verebbten auch die Bewegungen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Frau den Kopf weggedreht und die Lider geschlossen hatte, und er dachte wieder, dass er jetzt tun und lassen konnte, was er wollte, es würde nichts geschehen.

Während seine Hand noch auf ihrer Brust lag, überlegte er, wie er die Frau überall berühren konnte, ohne ihr weh zu tun, denn weh tun wollte er ihr wirklich nicht. Die Sekunden vergingen, ohne dass er eine Lösung fand, und irgendwann hörte er auf nachzudenken, weil alle anderen Wahrnehmungen plötzlich ausgeblendet waren bis auf den Anblick seiner Hand auf ihrer Brust, und wie sich ihre Brust anfühlte, und dass da noch mehr war, das er tun konnte, ohne dass etwas geschehen würde.

»Eddie.« Dennis’ weiße, fette Stimme brachte alles andere zurück.

Er wandte sich um. Dennis musterte ihn mit einem dieser unergründlichen Dennis-Blicke, und er dachte, dass er Lust hätte, ihm diesen Blick aus dem Gesicht zu schlagen.

»Wir müssen jetzt los, es gibt bald Essen.«

»Geh schon vor.«

»Eddie …«

Schweigend starrten sie sich an.

»Geh schon vor«, wiederholte er.

Dennis erhob sich mühsam, indem er sich auf beide Hände stützte, und klopfte sich Staub und Heureste von den Shorts. Eddie glaubte zu sehen, dass er zitterte, aber vielleicht täuschte er sich. Vielleicht wabbelte nur das Fett. Dann sah Dennis ihn wieder an, und jetzt war sein Blick nicht mehr unergründlich, sondern verunsichert und fast ein bisschen erschrocken. »Komm jetzt.«

Eddie sagte nichts.

»Jemand wird sie suchen, und wenn die uns hier finden …«

»Geh vor.«

Dennis schüttelte den Kopf, und Eddie begriff, dass er ihn nicht allein mit der Frau zurücklassen würde. Dass er wusste, woran Eddie dachte, und dass er anfangs an dasselbe gedacht hatte, aber jetzt nicht mehr.

Er nahm die Hand von der Brust der Frau und stand auf und ging hinaus.

Dennis folgte ihm. Kaum war er draußen, rülpste und furzte er ausgiebig, als hätte er es sich in der Scheune verkniffen. »Wenn du mich fragst, wir sollten jemand anrufen.«

»Ich frag dich nicht.«

»Ich meine, einen Arzt. Oder die Polizei.«

»Später«, sagte Eddie und dachte, dass Dennis vielleicht ein Problem werden würde und dass er noch nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

In der Nähe der Scheune fand er ein Brett, das aus einer der Wände oder vom Dach stammen musste. Er schob es durch die Handgriffe der beiden Torflügel, sodass sie von innen nicht zu öffnen waren, es sei denn, man stieße mit Wucht dagegen. Er glaubte nicht, dass die Frau dazu in der Lage war.

»Wegen der Tiere«, sagte er.

»Mhm«, machte Dennis leise, und dann stiegen sie auf die Räder und fuhren über das Feld in den Ort zurück, und wieder flogen die Krähen auf und krächzten wütend, und ihre Schatten sausten neben ihnen über das Gras.

Während des Essens dachte Eddie an nichts anderes als an die Frau und an die Gedanken, die ihm in der Scheune durch den Kopf gegangen waren: dass er tun und lassen konnte, was er wollte, und dass nichts geschehen würde. Wenn sein Blick dem von Dennis begegnete, wusste er, dass auch Dennis an die Frau dachte.

Dennis’ Mutter bemerkte nichts von alldem. Sie sagte kaum ein Wort. Blass, fett und schwitzend saß sie zwischen ihnen, auf die riesige Portion Gulasch konzentriert, die sie sich auf den Teller geladen hatte. Nach dem Essen verschwand sie in ihr Zimmer, und Eddie hörte sie eine Weile telefonieren und dann eine Weile weinen, dann schien sie eingeschlafen zu sein.

Um sechs begann das Fußballspiel, und auch während des Spiels dachte Eddie nur an die Frau in der Scheune. Ein-, zweimal war er drauf und dran, aufzustehen und zu gehen, aber dann blieb er doch.

Nach der ersten Halbzeit stellte Dennis den Ton ab und sagte: »Was wohl mit ihr passiert ist?«

Eddie zuckte die Achseln. Er dachte gerade daran, dass er für ein paar Tage in der Scheune bleiben konnte. Irgendwann nachts würde er zu Hause Kleidung und etwas zu essen holen, und dann würde er für ein paar Tage bei der Frau in der Scheune bleiben.

»Wenn du mich fragst …« Dennis vollendete den Satz nicht. Stattdessen sagte er: »Hoffentlich kratzt sie nicht ab.«

»Tut sie nicht.«

»Aber wir müssen einen Arzt …«

»Morgen«, unterbrach Eddie.

»Ja.« Dennis ging in die Küche und kam mit Bier und den Zigaretten seiner Mutter zurück. Sie tranken und rauchten schweigend. Die zweite Halbzeit begann, und Dennis stellte den Ton wieder laut. Eddie spürte, wie ihn das Bier und der riesige Bildschirm und der Stadionlärm aus fünf Lautsprechern mitrissen. Dennoch sah er die Frau vor sich, wie sie nackt im Halbdunkel der Scheune lag.

Dennis rülpste und sagte etwas.

»Was?«

»Ob jemand nach ihr sucht?«

»Wer zum Beispiel?«

»Der, der das getan hat.«

Sie sahen sich an. Da war es wieder, das Mitleid in Dennis’ Blick.

»Wir werden auf sie aufpassen«, sagte Eddie.

Das Spiel dauerte Ewigkeiten. Es gab Verlängerung und Elfmeterschießen, dann hatte Argentinien knapp gewonnen.

Eddie stand auf. »Fahren wir.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte Dennis und rührte sich nicht. Blass und schwabblig saß er da, und Eddie wusste, dass er tatsächlich zu einem Problem geworden war. »Ich weiß nicht«, wiederholte er. Dann schaltete er den Fernseher aus und machte Anstalten, sich zu erheben.

Eddie sagte: »Wenn du nicht mitkommen willst, fahr ich allein.«

Überrascht hielt Dennis inne. Er sank auf den Sessel zurück, als zöge ihn sein Gewicht hinunter. »Ich weiß nicht«, sagte er zum dritten Mal. »Wenn du mich fragst, wir dürfen das nicht tun.«

»Du tust nichts.«

»Aber wir sollten jemand anrufen.«

»Ja«, sagte Eddie. »Und dann fragen sie, warum wir so lang gewartet haben.«

Dennis sah auf den schwarzen Bildschirm, als wollte er sagen: wegen dem Fußballspiel.

Er furzte laut und lang, und Eddie grinste und dachte: Ein Furz der Verzweiflung. »Ich sag dir, wer sie ist. Eine von den französischen Zigeunerschlampen.«

»Meinst du?«

»Sie hat Ärger gemacht, und dann haben die anderen Zigeuner sie verprügelt.«

»Aber sie sieht nicht aus wie eine Zigeunerin.«

»Klar sieht sie aus wie ’ne Zigeunerin. Hast du die Augen gesehen? Zigeuneraugen.«

Dennis sagte nichts.

»Also, kommst du mit oder nicht?« Eddie wartete noch einen Moment lang. Er wusste, dass Dennis an die Frau dachte. An die Gelegenheit, die sich ihm, dem fetten, hässlichen Fünfzehnjährigen, den kein Mädchen jemals freiwillig ranlassen würde, da plötzlich bot.

Aber dann schüttelte Dennis den Kopf.

»Du rufst niemand an«, sagte Eddie warnend.

Dennis wandte sich ihm zu. »Und du?«

»Später. Morgen früh.«

»In Ordnung.«

Eddie ging zur Tür. »Wenn du willst, komm nach.«

Dennis nickte. Für einen Moment lag in seinen Augen ein Leuchten, und da wusste Eddie, dass es später keine Probleme mehr geben würde. Dass Dennis nachkommen und die Gelegenheit nutzen würde.

Draußen dämmerte es bereits. Eddie ertappte sich dabei, dass er nach seinem Vater Ausschau hielt, während er durch die stillen Straßen des Ortes fuhr. Aber er sah ihn nicht.

Als er das Feld erreichte, blieb er stehen. Die Scheune war vor dem dunklen Wald kaum zu erkennen. Für einen kurzen Moment glaubte er, einen Lichtschein zu sehen, der sich dort, wo die Scheune stand, bewegte. Doch er hatte sich getäuscht. Da war kein Licht.

Er fuhr auf den Feldweg. Im hohen Gras rauschte der Wind, in der Ferne war ein Automotor zu hören. Die Krähen schienen fort zu sein, oder sie verbargen sich schweigend im Schutz der Dämmerung.

Wolken zogen auf, plötzlich herrschte Dunkelheit.

Erst als Eddie vom Rad stieg, wurde ihm klar, dass ein Flügel des Scheunentors offen stand. Er stieß das Rad von sich. Auf dem Weg zum Tor trat er auf das Brett, und er bückte sich und stellte fest, dass es nicht zerbrochen war. Das Tor war von außen geöffnet worden.

Sekundenlang starrte er auf den Eingang. Drinnen war es noch dunkler als draußen. Geräusche waren nicht zu hören. Er dachte an das Licht, das er von weitem in der Scheune gesehen zu haben glaubte. Aber da war kein Licht.

Schließlich ging er hinein. Dunkelheit umfing ihn, doch er war so oft hier gewesen, dass er sich blind zurechtgefunden hätte.

Er trat zur gegenüberliegenden Wand. Die Frau war fort. Der Geruch von Urin stieg ihm in die Nase, und er dachte, dass sie sich angepisst hatte. Langsam ging er die Rückwand ab, dann die eine Seite, die Front, die andere Seite, und schließlich durchquerte er die Scheune zwei-, dreimal im Zickzack. Nach ein paar Minuten war er davon überzeugt, dass die Frau nicht mehr hier war. Er überlegte, ob er sie draußen suchen sollte. Doch wenn jemand gekommen war und sie mitgenommen hatte, würde er sie nicht finden.

Er wandte sich dem Eingang zu und hielt erschrocken inne. Vor dem bläulichen Schimmer der Nacht zeichnete sich der Körper eines Menschen ab. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und auf seinen Armen bildete sich Gänsehaut. Aber er blieb ruhig.

Zu groß für die Frau, dachte er. Zu schmal für Dennis.

In jedem Fall ein Mann.

Sein Vater?

Ohne ein Geräusch zu verursachen, ging er in die Knie. Er hatte keine Angst, und das machte ihn zufrieden. Die Scheune war sein Reich. Und er wusste, dass ihn der Mann nicht sehen konnte.

Aber er musste das Fahrrad gesehen haben.

»Komm raus«, sagte eine freundliche, tiefe Stimme, die er noch nie gehört hatte. Dann war der Mann verschwunden.

Eddie rührte sich nicht. Er dachte, dass dies der merkwürdigste Tag seines Lebens war. Ein Tag, an dem vieles geschehen war und irgendwie zugleich auch nichts.

Er schlich sich zum Tor und warf einen Blick nach draußen. Der Mann stand neben seinem Fahrrad. Er trug Jeans und Lederjacke, wirkte massig und alt. »Komm«, sagte er und winkte ihn mit einer Hand zu sich. Eine knappe Geste, in der trotzdem Vertrautheit lag. Auch die Stimme klang vertrauenswürdig. Die Stimme eines alten, müden, sanften Mannes.

»Na, komm«, sagte der Mann, und Eddie trat vor die Scheune. Er sah den Mann nicken. »Wie heißt du?«

Eddie hob nur die Brauen.

Der Mann strich sich über die Augen. In der Jeans und der Lederjacke wirkte er beinahe wie ein Bulle. »Du hast sie gesehen?«

»Wen?«

Der Mann deutete in Richtung Scheune.

»Ach so«, sagte Eddie. »Ja. Jeden Tag.«

Der Mann verstand nicht gleich. Dann lächelte er, aber er sagte nichts. Schweigend sahen sie sich an.

»Und wie heißen Sie?«, fragte Eddie.

»Willie Reimer.«

Willie, dachte Eddie und kicherte. Willie und Eddie. »Sind Sie ein Bulle?«

Der Mann lächelte wieder. »Kripo.« Er hielt etwas in die Höhe, das in der Dunkelheit wie ein Ausweis aussah.

Eddie grinste. Willie – falls er wirklich so hieß – musste ihn für reichlich dumm halten. »Und was tun Sie hier?«

Willie deutete erneut in Richtung Scheune, und Eddie nickte und sagte: »Wollen Sie sie kaufen?«

Wieder verstand Willie nicht sofort. Dann sagte er: »Ich habe das Blut gesehen.«

»Ist von den Hunden und Katzen.«

Willie erwiderte nichts. Reglos stand er da und wartete.

»Die Kinder aus dem Ort erschlagen sie da drin.«

»Ja«, sagte Willie.

Eddie fragte sich, ob Willie die Frau so zugerichtet hatte. Wie er dort stand – müde, sanft, gemütlich –, traute man es ihm nicht zu.

»Hast du sie weggebracht?«

»Die Hunde und Katzen?«

Da sagte eine andere Männerstimme hinter ihm: »Du weißt wen, Junge.«

Eddie fuhr herum, sah jedoch niemanden. Der zweite Mann musste in der Scheune sein.

»Noch ein Bulle?«

»Ja«, erwiderte die unsichtbare Stimme, aber überzeugend klang es nicht.

Eddie wartete nicht, was die beiden Männer tun würden. Mit gesenktem Kopf begann er zu rennen, in Richtung Wald, weil Willie zwischen ihm und dem Ort stand. Anfangs hörte er Schritte und keuchenden Atem hinter sich, doch die Geräusche blieben rasch zurück. Erst als er den Wald erreicht hatte, fiel ihm ein, dass die Männer möglicherweise Pistolen hatten. Doch da sie nicht geschossen hatten, spielte es keine Rolle.

Er sprang ins Dickicht und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Er würde nicht stehen bleiben, bevor er am Rhein war, und auch dann würde er nicht stehen bleiben, sondern ins Wasser springen und zur Insel schwimmen. Dorthin würden sie ihm auf keinen Fall folgen.

Mit erhobenen Armen lief er durch den Wald. Zweige und Äste schlugen ihm gegen Unterarme, Schultern und Kopf, aber das kümmerte ihn nicht. Er hatte Schlimmeres erlebt.

Kurz darauf sah er vereinzelte Lichter vor sich – die Laternen am Uferweg. Er lachte in sich hinein. Dort vorn wartete schon der Rhein auf ihn.

Er hatte den Waldrand beinahe erreicht, als ihn von rechts ein Körper rammte. Er prallte gegen einen Baum, und irgendetwas in seinem Arm brach krachend. Mit einem Aufschrei stürzte er. Schmerzen rasten durch seinen linken Ellbogen, doch er rappelte sich hoch. Wichtig war nur, dass er den Rhein erreichte. Der Rhein würde ihn retten, wie er ihn so oft gerettet hatte.

Zwei Hände krallten sich in sein T-Shirt und schleuderten ihn zu Boden, und da wusste er, dass er verloren hatte.

Er blieb auf dem Bauch liegen. Im ersten Moment hatte er gedacht, dass ihn sein Vater abgepasst hatte. Doch der Mann, der ihn erwischt hatte, war nicht sein Vater, und es war auch nicht Willie. Es musste der Mann aus der Scheune sein.

»Spuck’s aus«, flüsterte der Mann.

Keuchend schnappte Eddie nach Luft. »Leck mich.«

Da trat ihn der Mann mit der Schuhspitze in die Seite, und Eddie begriff, dass er reden musste, wenn er nicht so enden wollte wie die Frau.

Er erzählte, dass er die Frau am Nachmittag in der Scheune gesehen hatte und dass sie am Abend fort gewesen war. Dass er sie nicht kannte und kein Wort mit ihr gesprochen hatte, weil sie wegen der Verletzungen nicht hatte sprechen können.

Mehr erzählte er nicht.

Während er sprach, fragte er sich, wo die Frau sein mochte. Ob jemand anders sie gefunden hatte. Er wünschte, es wäre so. Irgendwie, dachte er, gehörten sie auf eine komische Art zusammen, er und die Frau, und deswegen gönnte er sie keinem anderen.

Noch immer lag er auf dem Bauch, und der Mann stand neben ihm.

»Hast du jemandem von ihr erzählt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Eddie schwieg.

Der Mann trat ihn wieder in die Seite. »Hast sie eingesperrt, was? Hast du gedacht, du kannst sie später ficken?«

Eddie antwortete nicht.

Der Mann lachte auf. »Warum nicht gleich?«

»Das Essen war fertig. Und dann war Fußball im Fernsehen.«

»Und danach wolltest du wiederkommen und sie ficken.«

»Ja.«

Der Mann lachte wieder. »Warst du allein bei ihr?«

Eddie sah Dennis’ weißes, fettes Gesicht vor sich, und aus irgendeinem Grund hatte dieser Anblick etwas Tröstliches. Er dachte, dass er ihn vielleicht tatsächlich mochte, weil sie so etwas wie Brüder waren oder weil Dennis ununterbrochen rülpste und furzte. Egal weshalb, er mochte ihn, und Dennis war ja auch der einzige Mensch nach diesem Tag, der übriggeblieben war.

»Ja.«

Der Mann beugte sich über ihn und zog seinen Kopf hoch und schlug ihn auf die Schläfe und das Ohr, wieder und wieder, und Eddie dachte, dass er nun wirklich verloren hatte, aber solange er Dennis nicht verraten würde, hatte er auch ein bisschen gewonnen.

Also tat er es nicht.

Irgendwann musste er das Bewusstsein verloren haben. Er erwachte, weil an seinem Kopf etwas Kühles war.

Wasser.

Er wollte Luft holen, doch statt der Luft sog er Wasser in seine Lungen.

Das Wasser des Rheins, dachte er, und dieser Gedanke hatte auch etwas Tröstliches.

Dann kam die Verzweiflung, und er begann, sich gegen die Hände zu wehren, die ihn mit eiserner Kraft unter Wasser drückten.

Aber es war zu spät.

I

Eddie und Nadine

1

EIN SCHMALER STREIFEN Licht in der Dunkelheit, kaum zwanzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Inmitten des Lichts die Konturen eines Mannes, die im strömenden Regen verschwammen, ansonsten keine Menschenseele. Keine Hundehalter, keine Betrunkenen, nicht einmal Wohnsitzlose verirrten sich hierher.

Ein fast leerer Parkplatz, ein hellerleuchtetes Wächterhäuschen. Ein trauriger Ort, dachte Louise Bonì, im zufriedenen Freiburg.

In den zwanzig Minuten, seit sie ihn beobachtete, hatte sich der uniformierte Wachmann kaum einmal bewegt. Niemand war gekommen, niemand fortgefahren.

Nachtschicht in St. Georgen.

Vor einer Viertelstunde hatte er zum Handy gegriffen und gewählt, und sie hatte sich gefragt, wen er wohl anrief. Ein kurzes Gespräch, vier, fünf Minuten lang, dann hatte er das Telefon zur Seite gelegt.

Sie schaltete die Zündung ein, und die in die Radiofront integrierten Leuchtdioden sprangen an. Viele Tasten und Rädchen für ein wenig Musik. Viele winzige Symbole. Zu klein für die Augen einer Vierundvierzigjährigen.

Sie drückte und drehte hier und dort. Als nichts geschah, stellte sie die Zündung ab. Nach Jahren mal wieder ein neues Auto, das ging eben nicht ohne Reibungsverluste. Ein fabrikneuer Peugeot, der durchdringend nach Kunststoff roch, bezahlt von einem unangenehmen Bayern mit Gutsherrenart, dem es am Ende fünfzehntausend Euro wert gewesen war, dass endlich auch sie ihre Wohnung in der Gartenstraße verließ, damit saniert werden konnte.

Ihr Blick fiel auf die leuchtenden Ziffern der Digitaluhr. Viertel vor zwölf, noch fünfzehn Minuten. Ein merkwürdiges Kribbeln lief ihr durch Arme und Beine. Die Moleküle waren wieder unterwegs.

Sie lehnte sich zurück. Vieles war neu im Sommer 2005 – Auto, Wohnung, Lebenslust. Ein Mann, mit dem man es durchaus probieren konnte.

In dieser Reihenfolge, das war sie sich schuldig.

Eigentlich, dachte sie, war das Leben momentan ganz in Ordnung. Abgesehen von all dem Neuen ein Sommer nach Maß – heiße Tage, nachts abkühlende Gewitter. Keine Rückfallgefahr. Keine schwerwiegenden Straftaten – Brandstiftung in Littenweiler, eine ausgeräumte Villa, eine verschwundene Studentin, die sich, wie es schien, nur eine Auszeit gönnte. Nichts, was dazu angetan wäre, die Abgründe in ihr wieder zu öffnen.

Sie zog das Foto der Studentin aus der Akte, die auf dem Beifahrersitz lag. Nadine Rohmueller, gepflegtes, auf eine kindliche Weise hübsches Gesicht, das eher nach Schülerin aussah als nach Studentin. Halblanges kastanienbraunes Haar, beneidenswert volle Lippen. Ein Hauch Verwöhntheit und vielleicht Hochmut in den Augen. Reiche Bonner Familie, das Geld floss, ohne dass die Tochter mehr tun musste, als zum Geldautomaten zu gehen. Amerikanistik, Germanistik und Psychologie im sechsten Semester, mittelmäßige Zensuren, jetzt hat es ihr halt gereicht, hatte eine Freundin gesagt, Lust hat sie schon lange nicht mehr gehabt.

Louise blätterte in den Unterlagen.

Am Vormittag hatten die Eltern angerufen. Die Tochter war seit drei Tagen nicht erreichbar, Professoren und Kommilitonen hatten sie seit Freitag nicht gesehen. Für morgen Mittag wurde der Vater erwartet. Sie würden mit ihm in die Wohnung gehen. Eine Eigentumswohnung, natürlich, drei Zimmer mit Wohnküche in der Wintererstraße in Herdern, damit die Tochter nicht durch Wohngemeinschaften in Versuchung geriet, am Leben zu schnuppern.

Nun war sie offenbar doch ausgebrochen.

Louise warf einen Blick auf den Wachmann. Reglos starrte er in die Dunkelheit jenseits der Fensterscheibe. Was sah man da? Tel Aviv, Priština, Sarajewo?

Jahrelang Kripo, dann Auslandseinsätze in Krisenregionen. Jetzt ein Blechverschlag in Freiburg-St. Georgen …

Und doch, es war ein Job. Irgendwann begann der Dienst, irgendwann endete er. Dazwischen lagen neun Stunden, in denen man wusste, dass man gebraucht wurde, wenn auch nur, um einen fast leeren Parkplatz in der Dunkelheit zu bewachen.

Es war ein Anfang.

Sie wandte sich wieder den Unterlagen zu. Florida, wette ich, hatte die Freundin gesagt. Nadine verehrt Jack Kerouac.

Und der wohnt da?, hatte Thomas Ilic gefragt.

Der ist da begraben, hatte die Freundin gesagt. In Saint Petersburg.

Saint Petersburg in Florida, hatte Thomas Ilic notiert.

Louise lächelte. Auch das war neu – Illi war seit ein paar Wochen wieder im Dienst. Noch ein wenig unbeholfen, medikamentenblass und still, aber er war wieder da.

Amerikanischer Schriftsteller, 1922  1969, hatte er notiert.

Karin, eine Kommissarsanwärterin, kümmerte sich um Mietwagenfirmen, Fluggesellschaften, Bahn. Nadine besaß ein Auto, aber man wusste ja nie.

Der Wecker ihres Handys begann zu fiepen. Mitternacht. Sie strich sich die Lippen nach, griff nach dem Regenschirm und der Papiertüte und stieg aus.

»Hey«, sagte sie.

Ben Liebermann lächelte. »Hey.«

»Mittagessen.« Sie reichte ihm die Papiertüte durch den Ausschnitt der Glasscheibe.

Er öffnete sie. Eine Käsesemmel, eine Salamisemmel, wie immer eben. Sie zuckte die Achseln. »Wag es, dich zu beschweren.«

Er lachte, schloss die Tüte, stand auf. »Gehen wir ein paar Schritte?«

Ein Kuss, dann hakte man sich unter. Sie fand das alles immer noch ein wenig seltsam, und Ben Liebermann ging es wohl ebenso. Außer Übung, alle beide. Aber die Moleküle sprangen wie wild hin und her.

Am Rand des Parkplatzes entlang gingen sie im Rechteck durch die Dunkelheit. Um sie herum prasselte und trommelte der Regen, unter ihren Füßen platschten Pfützen. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten, sagte sie: »Du hast telefoniert.«

»Ja.«

Sie wartete. Davor hatte sie sich am meisten gefürchtet – Schatten der Vergangenheit. Ben Liebermann hatte in Hamburg, Köln, Berlin, Freiburg gelebt, ganz zu schweigen von Tel Aviv, Priština, Sarajewo. Da gab es vermutlich jede Menge Schatten.

Ganz zu schweigen davon, dass er zweimal verheiratet gewesen war. Irgendwo gab es zwei Frauen, die Jahre mit ihm verbracht hatten. Ihn kannten, wie sie ihn vielleicht nie kennen würde. Ihn an Orten erlebt hatten, an die sie nie mit ihm kommen würde.

Sie hatten noch nicht über Vergangenheiten gesprochen, doch das würde kommen, irgendwann. Dann würde sie ihm auch erzählen, weshalb sie noch lange nicht vertrauen konnte und nach nächtlichen Telefonaten fragte. Würde ihm von Mick erzählen, der mit einer gutgläubigen Hauptkommissarin verheiratet gewesen war und ihr Vertrauen dutzendfach missbraucht hatte.

»Ein Freund im Innenministerium. Ich will wissen, warum sie mich nicht nehmen.«

Sie nickte.

Ben Liebermann hatte sich bei der Landespolizeidirektion Freiburg beworben. Möglichst Kripo Freiburg, aber er wäre überallhin gegangen, selbst in einen Dorfposten im Hochschwarzwald. Wilderer jagen statt bosnische Kriegsverbrecher.

Kein Bedarf, hatte die LPD nach Wochen geantwortet.

Im Grunde wussten sie, weshalb. Ben Liebermann war im Mai 2004 aus dem Dienst ausgestiegen, und einen, der freiwillig gegangen war, wollte man nicht wiederhaben.

Schweigend kehrten sie zu dem Wächterhäuschen zurück, drehten die Runde noch einmal.

Immerhin, kein Schatten aus dem Vorleben. Nur die Dunkelheit der Nacht.

Um halb eins war sie zu Hause und riss die Fenster auf. Das neue Auto roch nach Kunststoff, die neue Wohnung nach Lack.

Und der neue Mann?

Sie stieg in die Dusche. Nach Zino Davidoff, Zigaretten, Sorgen, Schatten und womöglich, irgendwann einmal, nach Schmerz.

Aber auch ein wenig nach Perspektive.

Sie wusch sich die Haare. Auch das ein seltsames Bedürfnis: nach all den Jahren wollte sie wieder schön und weiblich sein. Wollte sich schön anziehen, schöne Dinge kaufen. Wollte sich schön und weiblich fühlen.

Gefahr im Verzug. Sie nahm sich vor aufzupassen.

Unter dem Wasserstrahl dachte sie wieder an Nadine Rohmueller. Die Aussage der Freundin deutete darauf hin, dass sie sich für ein paar Wochen oder Monate Abenteuer ins Ausland abgesetzt hatte. Reiche, gelangweilte Tochter, die von Studium und sorglosem Leben die Nase voll hatte.

Aber vielleicht wollte Louise es nur so sehen. Es passte ins Bild. Jung, reich, schön, gelangweilt, gedankenlos. Eines Morgens wacht sie auf und will nicht mehr gelangweilt sein. Die Welt steht ihr doch offen. Warum nicht mal ans Grab von Jack Kerouac in Saint Petersburg/Florida pilgern statt immer nur nach Saint-Tropez?

Von keinem ihrer diversen Konten hatte Nadine seit Samstagnachmittag Geld abgehoben. Die letzte Kontobewegung: 16 Uhr 34, Geldautomat Deutsche Bank, Kaiser-Joseph-Straße 262 – dreihundert Euro. Keine Transaktionen in den vergangenen Monaten, die auf eine Reise hinwiesen.

Das konnte alles und nichts bedeuten.

Kreditkarte?, hatte Thomas Ilic notiert. Morgen würde ein Wirtschaftsermittler mit den entsprechenden Kontakten ein paar Telefonate führen.

Als sie vor dem Spiegel stand, drängte sich Ben Liebermann wieder in ihre Gedanken. Sie sah ihn in seinem Wachhäuschen sitzen, in die Dunkelheit starren, Semmeln essen, Käse und Salami wie jede Nacht. Die Haare waren jetzt kurz, inoffizielle Einstellungsbedingung – also, das muss aber ab.

Wenn man mit dreiundvierzig gezwungen wurde, sich die Haare schneiden zu lassen …

Es ist doch nur ein Anfang, Ben, hatte sie gesagt.

Ja, hatte Ben Liebermann gesagt.

Sie fragte sich, wie lange er mitspielen würde. Sie hatte ihm zwei Monate gegeben. Nun waren es schon vier.

Das war gut und schlecht zugleich.

Aus dem Anfang war Alltag geworden.

Um eins saß sie auf ihrem neuen Balkon und blickte auf den Annaplatz hinunter. Zwei Zimmer mit Wohnküche, Altbau, frisch renoviert samt abgezogener Dielen, siebzig Quadratmeter. Groß genug für zwei, aber das Zusammenleben musste man mögen, und sowohl sie als auch Ben Liebermann mochten es nicht. Er kam oft, als Gast, gern morgens um halb sechs nach dem Dienst, wenn sie früh in die Direktion musste. Dann frühstückten sie zusammen und fuhren gemeinsam los. Er hatte ein kleines Appartement im Stühlinger, leicht heruntergekommen und ohne jeden Charme, wie ein Mensch es vielleicht brauchte, der behauptete, er fühle sich in Städten am wohlsten, in denen Krieg gewesen sei.

Der Krieg in Freiburg zählte nicht. Zu lange her. Ben Liebermann wollte den Krieg in den Häuserfassaden und den Blicken der Menschen sehen. Eines der vielen Rätsel um ihn, die sie noch nicht gelöst hatte. Das einzige, das sie nicht so richtig ernst nehmen konnte.

Tel Aviv, Priština, Sarajewo, dachte sie mit einem Kopfschütteln. Ihr genügten die kleinen Kriege, jene privaten Kriege, die einzelne Menschen gegen andere Menschen führten, weil sie aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatten, dem Drang nach Gewalt nachzugeben.

Ein Rätsel, das sie nie lösen würde.

Um halb sechs kam Ben Liebermann. Im trüben Treppenhauslicht wirkte sein Gesicht fahl. Freiburg tat ihm nicht gut, das wusste sie.

Aber er lächelte, und sie spürte, dass er sich freute, sie zu sehen.

Sie zog ihn in die Wohnung und begann, ihn auszuziehen. Kleidung flog durch die Dunkelheit, die Dielen krachten. Das Telefontischchen kippte um, die Wohnzimmertür knallte gegen die Wand. Louise lachte. Zwei Verzweifelte bei der Lust.

Es gab Menschen, die behaupteten, eine Beziehung solle nicht auf Sex basieren. Seit sie Ben Liebermann kannte, scherte sie sich schon gar nicht mehr um solche Vorbehalte, um Vorsicht und Vernunft. Häufiger Sex war definitiv ein guter Anfang für diese