Johann Legner

GREXIT

Was uns die Griechenland-Lüge kostet

Johann Legner

GRXIT

Was uns die Griechenland-Lüge kostet

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Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH
Frankfurter Ring 150
80807 München
info@cbx-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Cornelius Traub
Umschlaggestaltung: Sina Georgi
Satz: Sina Georgi
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-945794-33-3

Inhalt

  Vorwort
von Peter Tiede
1. Bessere und schlechtere Tage
Unser widersprüchliches Bild von Griechenland
2. Die im Dunkeln sieht man nicht
Korruption, Betrug und Suppenküchen
– Griechenland 2015
3. „Freiheit oder Tod“
Das Werden des modernen Griechenland bis 1923
4. Die Schuldenmacher
Die lange Tradition der Staatspleiten
5. Wie die Bayern in Hellas scheiterten
König Ludwig und Sohn Otto – Siemens
6. Krieg, Bürgerkrieg, Diktatur
Die Jahre von 1923 bis 1974
7. Auf dem Weg in die Euro-Sackgasse
Der Beitritt zur EG und die Aufnahme
in die Eurogruppe
8. Scheitert Europa?
Der Zustand der europäischen
Institutionen im Jahr 2010
9. Ultima Ratio
Athens Alarm im Frühjahr 2010
und das erste Hilfspaket
10. Die Nothelfer
IWF, EZB und EU-Kommission – die Troika
11. Madame Basta heult
Die Regierung Papandreou 2011 und Angela Merkel
12. Medizin ohne Rezept
Die Ratschläge der Experten
13. Am Gängelband der Troika
Die Samaras-Regierung von 2012 bis 2014
14. Die Neuen – Syriza
Tsipras – Varoufakis – Kammenos
15. Endspiel
Januar bis Mai 2015
16. Washington, Moskau und London
Griechenland und die Geopolitik
– England und die EU
17. „Freiheit ist eine Pflicht!“
Schlussfolgerungen und Ausblick

Anhang

18. Griechenlands Chancen
19. Interview mit zwei Finanzexperten
20. Ratschläge für Sparer und Anleger
  Anmerkungen und Dank
  Abkürzungen
  Anmerkungen

Vorwort

„Wir haben die Sonne“ – Impressionen aus Athen

Griechenland. Ja, Rechnungen, Quittungen gibt es jetzt. Sehr viele in Athen und Umgebung. Die Kellner bringen zu jeder Bestellung eine Quittung. Ab ins Glas oder in die Schale damit. Mit jedem Gang füllt sich das Gefäß und am Ende geht man mit einem Bündel an Quittungen ins Hotel. Und in Geschäften bekommt man Quittungen, die meistens nur mit Rechnungen nichts zu tun haben. Die Zahlenzettel werden aus dem Internet ausgedruckt, kommen aus Rechenmaschinen oder auch echten Registrierkassen. Doch in den meisten Fällen heißt das nichts, denn die Geräte sind mit nichts verbunden – außer mit einer Steckdose. Dahinter steckt kein System. Kein Finanzsystem, kein Steuersystem, das auch nur ansatzweise funktionieren würde. Noch immer nicht. Und wohl noch sehr lange nicht.

Griechenland als Land ist nicht zu übersehen. Aber als Staat? Fassade. Im Kern nicht existent.

Seit fünf Jahren stürzt das Land ab. Große Teile der Mittelschicht sind abgestürzt, die Armen sind noch ärmer. Der Staat ist eine Ruine, die Menschen leiden. Nicht alle. Aber sehr, sehr viele.

Vordergründig sieht man die Krise tagsüber kaum. Doch der Schein reicht nicht mehr zum Täuschen – nicht nur bei Nacht, wenn die Straßen Athens voller Obdachloser sind. Doch schon tagsüber kann man das sehen – wenn man will. Oft sind die Sachen noch modern. Gerade noch. Es wird aufgetragen. Die Autos? Meist alt. Es werden kaum noch neue verkauft – wenn, dann kleine. Der Import gebrauchter alter – besonders aus Deutschland – läuft gut. Wer sich umschaut, wird in Athen keine Baustelle finden – jedenfalls keine öffentliche. Eine einzige Großbaustelle gibt es. Die Stiftung eines reichen Auslands-Griechen errichtet ein Kulturzentrum. Geflickt wird nur das Nötigste. Der Staat ist ausgefallen.

Ja, die Strandbars in Glyfada sind voll. Aber die Gäste konsumieren kaum. Gerade so viel, um nicht von den Liegen zu müssen.

Ein Land versucht, den Schein noch zu wahren. Stolz zu bleiben. Doch es ist wie mit – warum auch immer – gescheiterten Existenzen: Irgendwann wird der Abstieg, der Verfall oder schlicht die Armut sichtbar. Griechenland ist abgewetzt. Ein Land, eine Gesellschaft vor dem Kollabieren.

Und man muss anerkennen: Wenn das, was der Gesellschaft an Auflagen zugemutet wurde, den Deutschen zugemutet worden wäre, hätte es auch hier eine Revolte gegeben. Vor allem die Rentner wären auf den Barrikaden.

Griechenland kriegt die Kurve nicht.

Warum nur nicht?

Fragt man im Land nach, ist die Antwort einfach: Weil die Gläubiger zu harte Auflagen machen, wirkliche Solidarität mit dem Land nicht existiere. Weil Europa, speziell Deutschland, das Volk abstrafen wolle. Wofür? Weil es sich eine radikal-linke Regierung gewählt hat.

Weil es Banken hilft.

Weil, weil, weil … weil es einen in Gesprächen selbst mit Freunden in den Wahnsinn treibt: Weil immer andere schuld sind. Es ist der Reflex der Ängstlichen: Das Böse muss da draußen sein.

Nur eines wird meist erst auf Nachfrage eingeräumt: Dass Griechenland aus eigener Kraft gescheitert ist. Man muss sich das Eingeständnis hart erstreiten.

Und immer, immer wieder: wegen der Deutschen. Die Herrscher Europas. Weil sie fixiert sind auf Deutschland. Auf Angela Merkel, auf Wolfgang Schäuble. Und auf Bild.

„Frau“ sagen die Griechen schon mal zu ihren Frauen. Das deutsche Wort. Das meint aus Sicht eines griechischen Mannes nichts so Gutes. Dann macht die Frau Vorschriften, ist deutsch, klingt deutsch, hart. Hat eigene Regeln, will, dass Schluffi mal was macht zu Hause. Und irgendwie ist dieses Griechenland eben auch ein Mann. Ein Macho. Und Europa deutsche „Frau“.

Athen und Berlin – zwischen diesen beiden Polen liegt das wahre Europa.

Weil, wie, weil … streiten. Die Stimmung kippt ganz schnell. Das ist das Drama. Dass da Unfrieden in dieses schöne Europa der freien Reise getragen wurde. Es werden Spiele gespielt. Völker getrennt. Keine Regierung sagt ihrem Volk im Fall Griechenland die Wahrheit. Die griechische schon gar nicht. Aber auch die deutsche nicht. Es wird vertuscht, getrickst. Doch die Wahrheit liegt offen da, wird aber nicht ausgesprochen: Griechenland wird seine Schulden nicht zurückzahlen können. Das Geld der Deutschen und anderen Europäer ist weg, die Garantien für die Darlehen werden gezogen werden. Es wird noch mehr gebraucht. Der Staat muss aufgebaut werden. Woher soll Athen das Geld auch nehmen? Wo soll die Regierung denn noch sparen?

Dabei ist die Frage eine andere: Wie soll dieses Nicht-Staatswesen je funktionieren, wie will dieser Staat jemals seine Einnahmen in den Griff bekommen, wie die Ausgaben? Wie können sich Staat und Bürger vereinigen? Wer hört zuerst auf mit diesem andauernden Selbst- und Staatsbetrug?

Fragt man die wählenden Griechen, dann haben sie nun ja angefangen damit. Sie haben nicht mehr die gewählt, mit denen sie sich jahrzehntelang selbst betrogen haben. Eine radikal linke Partei, die eine Koalition mit Rechtspopulisten eingegangen ist. Eine komplette Amateurtruppe. Das soll ein Anfang sein? Es klingt wieder so griechisch.

Als hätten sie in ihrer Not auch noch den Kompass verloren. Es gibt kein rechts und links mehr. Das zählt nicht. Was zählt: Wer hat uns noch nicht betrogen, wer ist weniger eng mit den superreichen Oligarchenfamilien, die das Land geplündert haben, denen Fabriken und Reedereien gehören und mit TV-Stationen und Zeitungen Stimmung für die Politiker machen, die schmieren, oder gegen die, die sich nicht haben schmieren lassen?

Diesem Land fehlt die Mitte. In vielen Bereichen. Der Regierung. Dem gesamten politischen System, das von der Funktionsweise näher an Aserbaidschan ist als an Österreich: korrupt bis in die Faser.

Sie wollen Griechen bleiben. Und Europäer sein.

Sie können einem lauthals das Hohelied auf Europa singen. In der nächsten Minute wollen sie noch eines: raus. „Dann nehmen wir eben das Geld der Russen oder Chinesen!“ Fragt man dann, welches Geld denn, wer bietet denn dem Pleitestaat Kredite oder Darlehen oder Sicherheiten zu besseren Konditionen als die inzwischen so verhassten und verteufelten Gläubiger von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds? In Wahrheit: niemand. Aber es könnte ja. Sie machen sich Hoffnungen. Verdrängen, dass niemand etwas verschenkt. Schon gar kein Geld. Schon gar nicht an einen Staat, eine Nation, die es mit dem Rückzahlen nicht so hat. Und es wird langsam klar: Ohne Europa wird das nichts. Für Europa wird es aber ohne Solidarität auch nichts.

An schlechten Tagen wollen selbst Hochgebildete in den Zeckenmodus flüchten: eine gewisse Zeit ohne alles auskommen, diese brutale Hilfe von den Gläubigern ausschlagen. Selbstversorger werden. Land ist genügend da. „Wir haben die Sonne“ – der Satz klingt zu Anfang nett, lustig. Ja, ja, die Griechen, denkt man dann. Doch mit der Zeit macht er wütend, weil er nach Abkapselung, nach Europa-Realitätsverweigerung klingt. Dann klingen Freunde wie ihre Regierung. Anmaßend. Dann will man sie anbrüllen: „Mein Gott, werdet erwachsen – ihr müsst da jetzt durch!“

Und an schlechten Tagen findet man selbst einen großen Teil dieses netten Völkchens einfach schizophren. Natürlich ist das gemein. Aber nach Wochen und Wochen in Athen kehrt dieser Gedanke immer wieder und immer stärker zurück. Die zwei Seiten: Der „Pleite-Grieche“ und der stolze Grieche. Beide dürfen sich nicht begegnen, sonst könnte der Stolz dahin sein.

Eine Kollegin brachte es fertig, in wenigen Minuten Taxifahrt voller Inbrunst zu erklären, warum man als Griechenland kein Geld haben und den Gläubigern gleichzeitig erklären kann, dass man die nächsten Kreditraten gern auf irgendwie unbestimmt verschieben würde, aber selbstverständlich 500 Putzfrauen wieder einstellen kann, die von den Vorgänger-Regierungen aus dem Finanzministerium entlassen worden waren. Auf das Argument, dass man dafür ja wohl erst einmal Geld brauche, kommt in vollem Ernst: „Euch geht es immer nur um Zahlen. Uns geht es um Menschen.“

Die Argumente, dass es mittel- und langfristig menschlicher ist, sich erst um die Zahlen zu kümmern, weil man dann Putzfrauen keine falschen Hoffnungen machen muss, weil man die Leute nicht gleich wieder rausschmeißen muss, weil das Geld einfach nicht da ist, dass es eventuell auch geht, als Staat Firmen mit dem Putzen zu beauftragen, die dem Staat dann auch Steuern zahlen und Gewinne machen, dass der Staat erst mal seine Rechnungen bei anderen privaten Firmen bezahlen könnte, zählen nicht. Der harte Deutsche erntet totales Unverständnis. Als stünde man als Weißwurst mit kurzer Hose und Socken in den Sandalen da.

Aus griechischer Sicht ein Freak. Ein Zahlenfetischist – dieser Deutsche: ein Perverser.

Und umgekehrt ist der Grieche ja auch ein Freak. Jedenfalls als Staatsbürger. Wenn es schief geht, wie es ja nun mal aufs Famoseste schiefgelaufen ist mit dem System Griechenland, dann hat der Wähler, der Staatsbürger aber auch überhaupt nichts zu tun mit seinem Staat. Der Grieche neigt nicht dazu, sich als staatenbildendes Wesen anzuerkennen. Nicht heute. Ja, Alexander der Große – der sind sie alle. Aber „Pleite-Grieche“, Teil ihres politischen und staatsbescheißenden Systems? Nein! „Das waren doch unsere Regierungen“, heißt es dann so oft. Meistens. Fast immer eigentlich. Der Staat sind immer die anderen.

Ein einziger Selbstbetrug. Staat gegen Bürger, Bürger gegen Staat und beide zusammen gegen die EU. Und die EU und die Eurogruppe gegen sie: Alle haben sehenden Auges den Weg in diese Katastrophe begonnen. Es wusste doch jeder, dass sich Griechenland in die EU und den Euro gemogelt hat. Dieses ach so schlaue Europa wusste das. Haben uns Politiker und Institutionen über Jahre angelogen, wenn sie sagten, diese Krise sei beherrschbar – politisch und finanziell? Und wir: Waren auch nur Griechen, die wussten, dass das nicht stimmt. Wir haben uns alle etwas erzählen lassen.

Auch in seiner Opferrolle als Krisenland: Selbstbetrug. Immer findet sich ein Grund, warum die estnische Putzfrau trotz allem besser dran ist als die griechische, warum die zwanzigjährigen Transformationsprozesse im Ostblock harmlos waren gegenüber den fünf Krisenjahren in Athen, warum es die Spanier und die Krisen-Portugiesen einfacher haben als die Griechen, warum es nicht das Gleiche ist, wenn ein polnischer und ein griechischer Arbeitsloser nach sechs Monaten nichts mehr vom Staat zu erwarten haben. Es ist ein Jammern. Es ist zum Jammern. So und so.

Und mit der allergrößten Selbstverständlichkeit können einem selbst Konservative verkünden, dass natürlich eine Revolution fällig ist. Nein, nicht in Griechenland, dem Staat ohne wesentliche Staatsteile.

Dann klingen alle wie die ganz linken Theoretiker in der Regierung und der Syriza-Parteizentrale: Von Griechenland aus müsse eine europäische Revolution ihren Anfang nehmen. Europa muss sich verändern. Klar, das große Ganze. Nur: Sie bekommen ja zu Hause gar nichts hin. Den Reichen geht es nicht ans Geld. Steuerbetrüger werden noch nicht gejagt. Als der Chef der Steuergewerkschaft fordert, dass alle Auslandskonten von Griechen sofort eingefroren werden müssen und erst wieder freigegeben werden sollen, wenn die Besitzer nachweisen, dass das Geld versteuert wurde, bekommt er nicht einmal eine Antwort. Keine Reaktion von den regierenden Sonntagsrednern, Theoretikern, Vortragsreisenden. Der Finanzminister hat seit Amtsantritt im Februar etwa 100 Interviews gegeben und für Hochglanzhefte gepost. Aber für so einen Vorschlag seines Syriza-Genossen von der Gewerkschaft hat er kein Ohr.

Varoufakis hat sich im April in Washington mit Präsident Obama getroffen. Und mit Finanzminister Lew. Beide haben ihm klar gemacht, dass Griechenland von Europa schon gerettet werden wird – und muss. Nicht aus Vernunft. Aus geopolitischen Gründen. Denn von Washington aus betrachtet ist Athen schon fast Syrien, arabische Welt oder die Hintertür der Russen. Nur hatte er vergessen, dass ihm Lew und Obama auch gesagt haben, dass er liefern muss.

Nein. Revolution! Varoufakis und sein Chef Alexis Tsipras wollen einen „New Deal“, neue Regeln für Europa. Das heißt ja auch: Wenn Ihr euch ändert, machen wir mit. Als wäre ganz Europa pleite. Hausaufgaben? Der erste kleine Schritt? Nein: Der ganz große soll es sein.

Es ist zum Verrücktwerden. So ändert sich nichts. Nicht in Athen und nicht in Brüssel. So verhärtet man Fronten.

Und jedes Vorurteil stimmt. Und jedes Vorurteil stimmt nicht. In Griechenland gibt es keine einfachen Wahrheiten. Die Krise ist so kompliziert, wie das Verhältnis der Griechen zu IHREM Staat, einem Fremdkörper.

Und da kommt man als Deutscher aus seiner DIN- und ISO-zertifizierten Musterwelt in diese Staatsruine und betrachtet den ganzen Schlamassel vom Ursprung her. Da ist der Grieche selbst schuld und wir haben alle weggesehen, als dieses lustige, gastfreundliche, mediterrane Völkchen sich und Europa betrogen hat.

Mein Freund und hochgeschätzter Kollege Johann Legner und ich haben oft, lange und kontrovers diskutiert. Er hat mir vorgehalten, ich könne doch das Insel- und Mythenreich nicht mit meiner deutschen Messlatte durchschreiten. Und ich habe – dem Schwaben! – Johann Legner geantwortet, dass der griechische ja nun aber auch nicht unser Standard werden könne. Und Regeln existieren eben nicht grundlos.

Unbestritten ist: Es ist viel passiert seit der Griechenland-Rettung. Nur Griechenland ist nicht gerettet. Und die Gründe dafür sind genauso vielfältig wie die Gründe für die Krise. Das zu ergründen, sprengt das tägliche Format einer Zeitung und selbst das einer Wochenzeitung. Alles, was tagespolitisch geschrieben und kommentiert wird, kann schon am Morgen darauf ins Gegenteil verkehrt worden sein. Und ist es meistens auch. Die einzige Regel: Nichts gilt morgen.

Es gibt auch kein Gut und kein Böse. Es gibt nur verschiedene Wahrheiten und Lügen – so viele, wie das Land Inseln hat. Um das zu ergründen, bedarf es eines Buches. Dieses Buches.

Peter Tiede

Korrespondent für Bild

Athen, Mai 2015

1. Bessere und schlechtere Tage

“Diese Griechen!“ Es ist noch gar nicht so lange her, da sagten alle schon mal diese zwei Wörter. „Diese Griechen“ – das klang damals nicht nur nach Überraschung, sondern zeugte von Respekt und es schwang auch ein bisschen Bewunderung mit. Also will ich hier mit den besseren Tagen anfangen und uns allen einen Moment der Besinnung auf den schnellen Wandel der Stimmungen gönnen. Selbst in dieser kurzlebigen Zeit werden sich die meisten von uns noch erinnern – Griechenland im Jahr 2004. Am 4. Juli jenes Jahres schoss um 21.42 Uhr im Lissabonner Stadion des Lichts Angelos Charisteas ein Tor gegen die Elf von Portugal. Griechenland wurde mit diesem Treffer Europameister. Das hatte vorher keiner der Fußballexperten auf der Rechnung. Schon das Ergebnis des Eröffnungsspiels – bislang einmalig in der Geschichte von Europameisterschaften die Paarung des Endspiels – hatte geschockt. Auch da hatten die Griechen die Portugiesen besiegt. Es folgte ein Unentschieden gegen Spanien und Siege gegen die Franzosen, die Holländer und die Tschechen – ja, ein Mal hatte man gegen Russland verloren, aber am Ende alles gewonnen. „Diese Griechen!“ hieß es überall auf dem Kontinent. Den Deutschen, wieder einmal unrühmlich ausgeschieden, blieb immerhin ein schwacher Trost: „Dieser Otto“, der Rehhagel, hatte als Trainer die Hellenen zum Sieg geführt. Wer in der Geschichte Europas einigermaßen bewandert war, horchte da auf. Otto und Griechenland – da war doch schon mal was gewesen. Aber dieses „schon einmal“, worüber hier noch zu berichten sein wird, war sehr lange her und endete nicht meisterlich. Während der Europameisterschaft jedenfalls wurde Griechenland in den britischen Wettbüros für einige wenige zur Investition des Jahres. Auf jedes eingesetzte Pound gab es 80 zurück.

Und dann wurden in diesem Sommer 2004 auch noch die Olympischen Sommerspiele in Athen ausgetragen. Vorher hatte es viele Zweifler gegeben, ob die Griechen das wohl schaffen würden. Aber dann wurde in allerletzter Minute fast alles fertig und lief auch fast alles rund. Jacques Rogge, der IOC-Präsident, sagte zum Abschluss, das seien „unvergessliche Traum-Spiele“1 gewesen. Sie hatten allerdings auch eine Menge gekostet, obwohl sie nach der ursprünglichen Planung Gewinn abwerfen sollten. Die späteren Schätzungen sprachen von einem Minus von wenigstens 7 Milliarden Euro.

Heute allerdings redet alle Welt ganz anders über 2004. Heute wird gerne darüber berichtet, dass sich damals in Brüssel ein paar EU-Bürokraten mit Zahlenkolonnen herumschlugen, aus denen klar hervorging, dass das Land bei seinem Beitritt zur Eurozone mit unhaltbaren Angaben operiert hatte. Die haben dann wohl auch „Diese Griechen!“ gesagt. Aber da hörte keiner zu. Kein Mensch interessierte sich damals für ihre seltsamen Statistiken. Im Mittelpunkt des Interesses standen in Brüssel ganz andere Dinge. Die Großen, Frankreich und vor allem Deutschland, hatten ja nicht nur beim Fußballspielen versagt und waren den Erwartungen nicht gerecht geworden. Sie hatten in den Vorjahren auch ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht eingehalten und mehr Schulden gemacht als fest zugesagt. Sollte man in solch einer Situation tatsächlich den Griechen auf die Finger klopfen? Zumal dann, wenn die Regierenden in Berlin und Paris mit ihrem Sündenfall ungeschoren davonkommen würden? Die Kommission in Brüssel versuchte ihr Bestes, die griechische Zahlenmisere dann 2005 noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, und scheitere kläglich an dem insbesondere aus Berlin vorgetragenen Nein. Da gönnte man dem kleinen Griechenland doch lieber seine ganz und gar unerwarteten glanzvollen sportlichen Erfolge. Und schließlich gab es für diese Großzügigkeit auch eine hinreichende Begründung. Die Hellenen hatten ja nicht nur die olympischen Spiele erfunden, sondern auch unserem Kontinent den Namen gegeben – verbunden mit der faszinierenden Geschichte der Ent- und dann auch Verführung einer phönizischen Königstochter durch den Göttervater. Mit dieser Schönen und damit mit den Griechen fing also alles an bei uns in Europa. Mit ihnen musste man schon deswegen Milde walten lassen. Und so durften sie 2004 dann auch ungestört und ausgiebig feiern – zusammen mit Otto, dem Meistermacher aus dem Ruhrpott. Sie hatten zwar einen grausig anzusehenden Fußball gespielt, aber eben gewonnen.

Nur zehn Jahre später beherrschte Griechenland erneut, aber ganz anders die Schlagzeilen. Diesmal nicht mit Berichten von erstaunlichen Wundertaten. Die Nation wurde zum Inbegriff der Schreckensmeldung. Und sie ist es seither geblieben. Griechenland ist Krisenland – diese Gleichung sichert den Journalisten spätestens seit 2010 weltweit die Aufmerksamkeit der Leserschaft.

Aber wenn wir schon von der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit und dem Wandel der Griechenlandbilder reden, muss auch daran erinnert werden, dass 2014 das Land nicht nur einen neuen Schuldenrekord verzeichnete. Das Jahr brach auch noch eine andere Bestmarke. Nie zuvor waren so viele Deutsche als Touristen nach Griechenland gereist, obwohl dort die Preise der gestiegenen Nachfrage wegen kräftig anzogen. Viele von uns schätzen offensichtlich weiterhin die unbezahlbaren landschaftlichen Schönheiten und die historischen Zeugnisse. Viele von uns sind immer, immer wieder gekommen – trotz der Meldungen vom angeblichen Chaos im Lande.

Zwischen dieser unverwüstlichen touristischen Zuneigung und der Wahrnehmung der Menschen und ihres scheinbar selbst verschuldeten schlimmen Schicksals klafft inzwischen ein tiefer Graben. Es gibt auch im Jahr 2015 zweierlei Griechenland in deutschen Köpfen – das der Reisenden, die gerne dorthin fahren, und das andere, das seiner Schulden wegen verflucht wird. Dieses Buch wird den Graben nicht überwinden. Es soll aber dazu beitragen, unsere eigene ambivalente Beziehung zu Griechenland nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Wir verstehen die Vorgänge in Griechenland sicher ein wenig besser, wenn wir uns der eigenen Vorurteile und widersprüchlichen Einschätzungen bewusst sind. Zunächst wird sicher nichts besser dadurch, dass wir uns um Verständnis bemühen. Aber Deutschland ist in den letzten Jahren in vorher nur schwer vorstellbarem Maße Hüter des Schicksals anderer geworden. Wenn schon so viele von uns aus so gut verständlichen Gründen die griechische Sonne genießen, dann kann ein wenig Nachdenken über die Gründe für die griechische Misere sicher nicht schaden.

Europa wird nicht an Griechenland, vielleicht aber zusammen mit Griechenland an sich selbst scheitern. Dazu, dass es den Kontinent zerbrechen könnte, hat das Mittelmeerland immer noch zu wenig Gewicht. Wichtig ist Griechenland nicht in erster Linie, weil es ein schwer erträglicher Schuldner und unverantwortlicher Verschwender ist. Wichtig ist es vor allem als Projektionsfläche für Ängste und Enttäuschungen, für Hoffnungen und hochgesteckte Erwartungen andernorts – als ein politischer Sprengsatz, der jederzeit überall in Europa zünden kann. Denn es ist das Spiegelbild aller Versäumnisse der europäischen Politik insgesamt, die jetzt zutage treten. Wenn die scheinbar so erfolgreichen Politiker der letzten Jahrzehnte tatsächlich so klug wären, wie sie vorgeben, würden sie heute alle beschämt schweigen, wenn es um Griechenland geht. Schweigen würden zuvorderst der Welterklärer Helmut Schmidt, aber auch der Endloskanzler Helmut Kohl und der Hannoveraner Selfmademan Gerhard Schröder. Denn sie alle stehen ganz vorne in der Reihe derer, die für den Lauf der Dinge in Athen mitverantwortlich sind. Ein jeder von ihnen trägt weit mehr Verantwortung dafür als Tausende von griechischen Taxifahrern oder Bauern – auch weit mehr Verantwortung als die allermeisten griechischen Politiker. Wird Europa jetzt endlich in der Lage sein, sich der Erkenntnis zu stellen, dass die allseitigen Lügen der Vergangenheit, dass die enormen politischen Fehler, die gemacht wurden, Konsequenzen haben müssen – und zwar nicht nur in Griechenland? Dass es nicht in erster Linie um viele und noch ein paar mehr Milliarden geht, sondern um das notwendige Maß an selbstkritischer Wahrhaftigkeit?

Zu der politischen Krise in Griechenland sind in den letzten Jahren eine Reihe guter Bücher geschrieben worden.2 Vieles davon bleibt überaus aktuell und lesenswert. Aber mit den jüngsten Wahlen in dem Mittelmeerland haben die Geschehnisse noch einmal eine dramatische Wendung genommen, die so manche Analyse überholt hat. Die Machtverschiebung, die wir dabei erlebten, eine Regierungbildung mit Akteuren in beiden, politisch weit auseinanderliegenden Koalitionsparteien, die ganz offen das Projekt der europäischen Integration bekämpfen – das gab es in dieser Form noch nicht. Griechenland ist jetzt endgültig nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Problem. Und deswegen beschäftigt sich dieses Buch vor allem mit den politischen Prozessen, die für diese Entwicklung in Europa entscheidend waren. Es hätte nicht unbedingt Griechenland sein müssen, das uns jetzt auf einige der dringend und unaufschiebbar zu klärenden Fragen stößt – auch das Ungarn des Viktor Orban ist beispielsweise nicht weit davon entfernt. Und auch in Ländern wie Frankreich oder Spanien kämpfen die traditionellen Parteien einen schweren Kampf gegen neue, radikale politische Formationen. Aber wieder einmal ist Griechenland der Anfang.

Alexis Tsipras, den seit Januar 2015 amtierenden griechischen Ministerpräsidenten, habe ich zum ersten Mal im Januar 2013 in Washington erlebt. Es war aus meiner Sicht ein erschreckender Auftritt. Als Oppositionführer sprach er in der angesehenen Brookings Institution nicht weit vom Weißen Haus entfernt am Dupont Circle, dort, wo die als Denkfabriken bezeichneten amerikanischen Institutionen ihren Sitz haben. Der große Saal von Brookings, der viele Hundert Zuhörer fasst, war völlig überfüllt und auch in dem angrenzenden Nebenraum, in den die Veranstaltung übertragen wurde, fand sich bald kein Sitzplatz mehr. Tsipras merkte schnell, was sein Publikum, das in der Mehrzahl aus älteren Herrschaften, aber auch aus vielen Angestellten der nahegelegenen Regierungsbehörden bestand, gerne hören wollte. Seine Anflüge von sozialistischer Kritik an der Finanzwirtschaft stießen auf höfliches Schweigen. Aber seine Bemerkungen zu einer angeblichen Schieflage der europäischen Architektur und zur Dominanz der deutschen Politik in Europa fanden ein williges, aufnahmebereites Publikum. Zwar waren diese Bemerkungen in eine damals wie heute in den USA weit verbreitete Kritik an der in Berlin propagierten, angeblich wachstumshemmenden Sparpolitik eingebettet. Und doch war spürbar, dass hinter der wachsenden Zustimmung, die der junge griechische Oppositionspolitiker erleben durfte, mehr steckte. In den USA fand er – bei Demokraten und Republikanern jeweils unterschiedlich ausgeprägt – Sympathie wegen seiner zwar auf Deutschland zugespitzten, aber generell gegen die EU gerichteten Schelte. Das Projekt der europäischen Integration wird in der amerikanischen Hauptstadt allen offiziellen Bekundungen zum Trotz mit wachsenden Ressentiments beobachtet. Mehr Europa – das wird bewusst oder unbewusst als Angriff auf die Stellung der USA empfunden. Da kommt ein Grieche, der dafür nicht nur die Stichworte, sondern sogar nachvollziehbare Argumente liefert, wie gerufen. Dass der Mann einer politischen Partei vorsteht, die als eine wesentliche Botschaft massive Kritik an der globalen Rolle der USA übt, wird dann gerne mal übersehen.

Mit dem Regierungsantritt von Tsipras im Januar 2015 – zwei Jahre nach dem Beifall heischenden Auftritt in der Hauptstadt der Supermacht – übernimmt die von ihm geführte griechische Linke Mitverantwortung für unseren Kontinent. Und sie befindet sich dabei ohne jeden Zweifel auf einem äußerst umstrittenen, mit vielen Risiken behafteten Kurs. Dies zeigt sich beispielsweise bei ihrem demonstrativen Liebäugeln mit dem Kremlherrscher Putin. Dass die linksgerichtete Syriza-Partei des Kabinettschefs ihren Erfolg auch noch in einer blitzartig geschlossenen, offenbar schon vor den Wahlen vorbereiteten Koalition mit der rechtspopulistischen Anel-Partei sucht, hat zunächst viele überrascht. Die Anel ist nicht nur fremdenfeindlich und von antisemitischen Ressentiments geprägt. Sie ist auch ein fundamentaler Gegner der europäischen Integration und steht für einen Rückfall in den Verderben bringenden Nationalismus des 20. Jahrhunderts. Wenn also eine Partei wie Syriza, die in ihren Reihen Kader der unterschiedlichsten marxistischen und anarchistischen Gruppierungen zählt, sich auf ein Bündnis mit solchen, gemeinhin als reaktionär beschimpften Politikern einlässt, so zeigt dies, wie unwägbar, vor allem wie prinzipienlos griechische Politik sein kann und offenbar geworden ist.

Für mich war die Arbeit an diesem Buch auch die Rückkehr zu zutiefst widersprüchlichen, überaus prägenden Erfahrungen, die ich zunächst in der Schulzeit, später dann zu Beginn meiner Arbeit als Journalist machte. Griechenland war über viele Jahrzehnte und ist mir bis heute eine unbewältigte, immer noch äußerst schwierige Herausforderung. Das fing schon sehr früh an. Es war eine Qual, sich im Gymnasium altphilologischer Prägung mit diesen fremden, altgriechischen Schriftzeichen und dann beispielsweise mit den Texten des Geschichtsschreibers Thukydides zu beschäftigen. Aber dies hatte dann doch auch seine ganz eigenen Reize, war ohne jeden Zweifel schillernder als die lateinischen Texte, mit denen wir uns ebenfalls herumschlugen. Die Welt des antiken Griechenlands, die den aus Italien kommenden Legionärsstiefeln im Altertum so sang- und klanglos Platz machen musste, spukte weiter in meinem Kopf und hielt den römischen Kohorten allemal stand.

Es ist inzwischen über drei Jahrzehnte her, dass ich als noch junger Journalist zusammen mit meiner Frau erstmals direkt der Faszination Griechenlands ausgesetzt war. Da wenigstens half es dann, Straßenschilder und Ortsnamen lesen zu können. Das Land war damals gerade in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen worden. Unsere Urlaubsreise führte uns an die zu jener Zeit touristisch noch weitgehend unerschlossene Südküste Kretas. Gewohnt haben wir bei einem Fischer-Ehepaar, das gerade einen Hausanbau fertiggestellt hatte – in der Hoffnung auf die Fremden, die Geld mitbringen sollten. Wir waren ihre ersten Gäste. Nie wieder bin ich irgendwo so zuvorkommend empfangen worden. Die Herzlichkeit, die Freude darüber, dass sich die Anstrengungen offenbar gelohnt hatten und wir uns wohl zu fühlen schienen – das alles war überwältigend und ist uns in vielen Details gut erinnerlich. Dieses Griechenland, das wir damals übrigens in einer Maschine der DDR-Fluggesellschaft Interflug erreichten, wurde uns zum Inbegriff von Gastfreundschaft. Ich weiß heute aber auch, warum wir nie wieder dorthin zurückkehrten: Das hätte die Erinnerung an diese warmherzigen Menschen nur trüben können.

Etwa zur gleichen Zeit fiel mir ein Buch in die Hände. Geschrieben hatte es die Italienerin Oriana Fallaci, die damals weltweit bekannteste Journalistin. Ihre Interviews mit den Mächtigen der Welt waren ein Genuss. Diese kluge und schöne Frau brachte Männer dazu, Sätze zu sagen, die sie anschließend ihr Leben lang bereuten. Das Buch aber, das sie 1979 unter dem Titel „Ein Mann“ veröffentlichte3, handelte von einem außerhalb Griechenlands weitgehend unbekannten Mann, der die Liebe ihres Lebens gewesen war – von Alexandros Panagoulis. Panagoulis, einer der griechischen Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur, wurde 1976 nach einem mysteriösen, nie aufgeklärten Autounfall zu Grabe getragen. Hunderttausende folgten dem Sarg. Fallaci schildert auf unnachahmliche Weise diese Momente. „Zi, Zi“ oder „Er lebt, er lebt“ brüllte die Menge. Tatsächlich aber war dies eine Lüge – Fallacis geliebter griechischer Held lebte nicht mehr.4 Griechenland war trotz des herzzerreißenden Geschreis kein Heldenland. Und dass der Tod von Panagoulis nie abschließend geklärt wurde, dass immer der Verdacht blieb, dass er einem Attentat zum Opfer gefallen sein könnte, schwebte seitdem wie ein böses Omen über meinen Griechenland-Gedanken.

Das „Zi“, das „Er lebt“ war meiner Generation als „Z“ zuvor schon einmal begegnet – in dem Spielfilm „Z“5 von Constantin Costa-Gavras, einem der besten Regisseure seiner Epoche. Darin geht es um einen mutigen griechischen Politiker, der ermordet wird, und um einen Ermittlungbeamten, der sich große Mühe gibt, den Fall aufzuklären. Den historischen Hintergrund des Films bildet die Ermordung des griechischen Oppositionspolitikers und Universitätsprofessors Grigoris Lambrakis im Mai 1963.6 Aber auch der Film kann nicht verhindern, dass die Hintermänner des Attentats ungestraft davonkommen. Der Film mit dem französischen Schauspieler Yves Montand wurde 1969 ein großer Erfolg – er gewann sogar den Oscar als bester ausländischer Streifen. Aber in Athen herrschten derweil weiter die Militärs. Es schien, als sei nicht nur das Heldentum, sondern auch die bodenlose Niedertracht in diesem Land beheimatet.

Griechenland ist seit dieser Zeit nicht nur ein Hort unvergleichlicher Gastlichkeit für mich, sondern auch ein immer wiederkehrender Trauerzug eines hilflosen Volkes geblieben. Es ist eine Ansammlung von Unvereinbarem – und scheint es auch heute wieder für viele zu werden, die sich auf den Weg nach Athen machen. Die Kollegen aus dem Journalismus, die sich jetzt zahlreich in das Großstadtchaos der griechischen Hauptstadt stürzen, sind allesamt entsetzt, weil nichts zu funktionieren scheint und offensichtlich auch berichtet werden muss, dass vieles tatsächlich nicht funktioniert. Aber wenn der Ausstieg aus dem Euro kommt und die Drachme wieder eingeführt wird, dann wollen sie als Urlauber die Gelegenheit nutzen und wieder kommen. Dann wird das Schöne ja auch noch billig. Etwas funktioniert dann also doch wieder. Auch für sie gibt es ganz offenkundig diesen unerklärlichen Mix aus Gastfreundschaft und unheilbringendem Chaos, der zugleich abschreckt und doch auch anzieht.

Womit wir bei der Ausgangsfrage wären: Was kostet uns die Griechenland-Lüge? Dieses Buch kommt zu der ernüchternden Feststellung, dass der politische Preis, den die europäischen Völker für den Irrlauf in Griechenland zu zahlen haben werden, sehr, sehr hoch sein wird. Denn die schnelle und umfassende Anpassung an diese Krise, die es braucht, ist für die Europäische Union völliges Neuland, auf das sie sich unter hohem Zeitdruck zu begeben hat. Das ist sie ganz und gar nicht gewohnt, sie hat auch noch nicht hinreichend Erfahrung in solchen Prozessen, um aus alten Fehlern zu lernen. Nicht nur Athen, Europa insgesamt steht unter enormem Druck. Die Vorstellung, man werde sich, wie bisher schon, irgendwie durchwursteln, ist in diesem Fall leider ein Trugschluss. Es kann sehr wohl sein, dass wir an einer entscheidenden Weggabelung für unseren Kontinent stehen – vor denkbaren Entwicklungen mit ungeahnter Sprengkraft. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies etwas verkürzt angedeutet mit ihrem Satz, dass mit dem Euro auch Europa falle. Wenn dem aber so ist, dann verdient die griechische Krise tatsächlich die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwird. Dann sollten wir uns an andere solcher Weggabelungen erinnern und an die Lehren daraus. Und jetzt stehen wir ohne Zweifel wieder vor der Frage, wohin dieses Europa gehen soll.

1940 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway einen Roman, in dem er seine Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg verarbeitete – dem blutigen Vorspiel zu der großen Tragödie des Zweiten Weltkriegs, dem Vorspiel zum Völkermord und zur unentschuldbaren Verirrung unseres Volkes in das Verbrechen. Den Titel zu diesem Roman hatte er sich von den Aufzeichnungen eines englischen Geistlichen des Mittelalters geliehen. Er passte so wunderbar und er passt auch heute noch so wunderbar – auch und gerade zu der Auseinandersetzung um Griechenland. „Kein Mensch ist eine Insel, in sich selbst vollständig. Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlands. […] Und darum frage nie, wem die Stunde schlägt. Sie schlägt dir.“7 Hemingways „Wem die Stunde schlägt“, der Roman über den vergeblichen Versuch, der Freiheit zum Überleben zu verhelfen, wurde 1943 auch als Film ein Welterfolg. Ingrid Bergman und Gary Cooper spielten die Hauptrollen und es gab neun Nominierungen für den Oscar. Den heißbegehrten Preis bekommen hat dann allerdings nur eine der Mitwirkenden: Katina Paxinou – die einzige Griechin im Team.

Was Griechenland heute betrifft, so sollten wir uns darauf einrichten, dass der Ausgang der Tragödie uns alle angehen wird. Sie ist keinesfalls nur eine griechische – mit ihr schlägt ganz Europa die Stunde. Dann aber kann es nicht schaden, uns über Ursache, Verlauf, Wirkung und mögliche Lösung der Krise Gedanken zu machen. Dazu ist dieses Buch als bescheidener Beitrag gedacht.

2. Die im Dunkeln sieht man nicht

Ein Kollege, der sonst immer von den schönen Momenten seiner Griechenlandurlaube schwärmt, hat mir vor kurzem ein ganz anderes Mitbringsel an Erinnerung geschildert: seine Geschichte vom Besitzer einer kleinen Taverna auf der winzigen, aber von Touristen überlaufenen Insel Paros in der Ägäis. Der wurde mit einem Steuerbescheid konfrontiert, der ihm die Tränen in die Augen trieb. „So geht das nicht, die Geschäfte laufen dazu viel zu schlecht. Gyros, Ouzo und Rezina, überhaupt alles geht nicht mehr so gut wie früher über die Theke“ sagte Nicos, der Eigentümer der kleinen Kneipe. Am nächsten Tag ging er mit seiner Frau Valencia auf das kleine Steueramt. Der Beamte hinter seinem metallenen Schreibtisch war völlig entspannt – als hätte er den Besuch schon erwartet. „Gebt mir das Übliche, das Kuvert, und wir sind mindestens ein Jahr wieder Freunde.“ Nicos und Valencia eilten wieder nach Hause und ließen im Amt einen Briefumschlag mit einigen Hunderteuroscheinen zurück.

Solche Geschichten wie die von der kleinen Insel Paros werden in Europa inzwischen vieltausendfach erzählt. So sei das dort unten in Griechenland eben. Und dann hat mir ein Kollege auch noch erklärt, dass dagegen sowieso nichts zu machen sei – Videokameras in den Amtszimmern nützten beispielsweise gar nichts. Denn in Griechenland komme häufig der Steuerpflichtige nicht auf dem Amt vorbei, sondern der Finanzbeamte schaue sich gerne prüfend bei ihm zu Hause um. Und was da dann passiere, bleibe zwischen beiden für immer ein Geheimnis. Einfach ganz raffiniert korrupt seien sie, diese Griechen.

Tatsächlich mag sich dies auch so zutragen und ein jeder Griechenlandkenner, auch jeder Grieche schwört darauf, mindestens einen zu kennen, der sich so durch den Steuerdschungel schlägt – wobei er selbst natürlich nicht zu solchen Methoden greift. Aber ob diese Art der Bestechung von Beamten überall und jederzeit anzutreffen ist und ob sie das größte Problem des Landes darstellt, darf bezweifelt werden. Die allerwenigsten griechischen Steuerbeamten sind im Laufe ihrer Dienstjahre stolze Besitzer von Yachten geworden oder residieren in herrschaftlichen Anwesen auf dem Lande. Ihre Zugewinne durch großzügige und gesetzwidrige Behandlung von Steuerpflichtigen haben – wenn überhaupt – nur einen eher beschränkten Anteil an der griechischen Ökonomie. Die Briefumschläge mit den Euroscheinen sind von Bedeutung – aber nicht entscheidend für den wirtschaftlichen Niedergang des Landes. Und genau kalkulierbar sind sie nicht – bei ihnen ist der Spekulation Tür und Tor geöffnet.

Korruption in ihrem Ausmaß zu erkennen und zu beziffern ist ein überaus schwieriges Unterfangen. Einige Institutionen wie Transparency International oder die Weltbank haben sich darüber viele Gedanken gemacht und große Anstrengungen unternommen, so etwas wie eine Rangliste von den Allerbesten hin zu den schlimmsten Sündern zu erstellen. Was kommt dabei zutage? Für die große Mehrzahl der Griechen ist die Bestechung von bestimmten Staatsbediensteten, darunter vor allem auch Mitarbeiter des Gesundheitswesens, alltägliche Praxis. Sie sind sich dabei des Unrechtscharakters solcher Handlungen sehr wohl bewusst. Bestochen wird beispielsweise bei Genehmigungsverfahren im Zusammenhang mit Baumaßnahmen. Fast schon Routine sind Extrazahlungen bei der Führerscheinprüfung. Die Stundung von Steuerzahlungen ist nur, dann aber durchaus in großem Umfang mit Bestechung zu erreichen. Diese dient häufig auch dazu, lange Wartezeiten etwa bei der Anmeldung eines Fahrzeuges zu verkürzen. Weit verbreitet sind solche Zahlungen in Krankenhäusern, wenn es um Termine für eine bevorzugte Behandlung oder Zugang zu stark nachgefragten Geräten geht. Dort ist der Briefumschlag, oder auf Griechisch der Fakelaki, noch immer in vielen Fällen unentbehrlich.8 In Umfragen sagt die große Mehrheit der Griechen, die Korruption sei das größte Problem des Landes. Griechenland schneidet laut diverser Studien tatsächlich nicht gut ab – es liegt in aller Regel weltweit im Mittelfeld und in Europa zumeist ganz hinten, was die Ehrlichkeit seiner Staatsdiener betrifft.9 Es liegt aber auch nicht Welten entfernt von anderen europäischen Ländern. Bulgarien, aber auch Rumänien zeigen aus Sicht der Weltbank durchaus ähnliche Werte. Und so mancher stolze Deutsche würde sich über den eher bescheidenen Platz wundern, den sein Land unter den guten Nationen dieser Erde einnimmt. Interessanter ist allerdings die Feststellung, dass sich in den letzten Jahren in Bezug auf die Korruption in Griechenland nichts zum Besseren entwickelt hat. Nach Feststellungen der Weltbank ist es in vielen Bereichen, insbesondere bei der Ausprägung eines funktionierenden Rechtsstaates, weiter nach hinten gerutscht.10 Dies ist angesichts der Überfülle von Gesetzesänderungen und der hastigen Sparmaßnahmen der letzten vier Jahre auch nicht besonders verwunderlich. Zu viel des Guten kann eben zuweilen mehr schaden als nutzen.

Und dann ist das griechische Steuersystem, insbesondere nach den letzten Veränderungen der Steuersätze, seiner Ungerechtigkeit wegen auch eine direkte Einladung zum Schummeln – dies gilt vor allem für Selbstständige, die in anderen europäischen Ländern erheblich dazu beitragen, dass der Staatssäckel gefüllt bleibt. Denn hinter den Statistiken, nach denen das Land seinen Bürgern nicht viel weniger abnimmt als andere EU-Staaten (die Steuerlastquote liegt in etwa im Bereich der Bundesrepublik und die Staatsquote ist fast identisch mit dem Durchschnittswert der EU-Länder), verbergen sich extreme Ungerechtigkeiten. Dank der Fülle der Berichte wissen wir ja inzwischen, dass Superreiche, insbesondere die Reeder des Landes, so gut wie keine Steuern zahlen.11 Dabei helfen andere EU-Länder, vor allem die Briten, kräftig mit, indem sie immer neue Steueroasen schaffen - auch für die griechische Millionärsklasse. Dafür werden gering verdienende Gewerbetreibende oder Angehörige der freien Berufe in einem Maße zur Kasse gebeten, das geradezu zum Betrug herausfordert. Wenn jemand mit einem Betriebsgewinn von 1000 Euro im Monat mehr als ein Viertel an den Staat abgeben soll, steht die Steuerehrlichkeit natürlich auf einem harten Prüfstand – und ist Schummelei eine durchaus verständliche Reaktion. Geprügelt ist der Grieche inzwischen auch bei den indirekten Steuern. Der Mehrwertsteuersatz liegt mit 23 Prozent schon merklich über dem in der Bundesrepublik (19 Prozent). Vor allem aber die 13 Prozent, die ein Grieche inzwischen beispielsweise für Nahrungsmittel bezahlt, sind extrem hoch – fast doppelt so hoch wie bei uns mit 7 Prozent. Kein anderes EU-Land weist höhere Steuersätze für die unabdingbaren Ausgaben eines Bürgers aus. Viele Steuerpflichtige reagieren angesichts der stetigen Veränderungen, die sich in aller Regel als Steuererhöhungen entpuppen, mit der schlichten Weigerung, überhaupt noch Erklärungen zu den eigenen Einkünften abzugeben. Dies führt dann dazu, dass im In- und Ausland mit weitgehend auf ungesicherten Schätzungen beruhenden Zahlen von angeblichen Milliarden an nicht eingetriebenen Steuern argumentiert wird.

Solche Zahlen aber sind für Griechenland nichts anderes als der Stoff, aus dem Träume von einem Weg aus der Krise gesponnen werden. Was im Wirtschaftsleben eines Landes tatsächlich passiert, ist überall – nicht nur in dem Mittelmeerland – überaus schwer zu durchschauen. Da gibt es das, was staatlich erfasst oder zumindest erwartet wird, und dann gibt es die Daten, die niemand kennt. Freundlicherweise hat man für den Teil des ökonomischen Handelns, der sich offiziellen Statistiken und damit auch dem steuerlichen Zugriff entzieht, das Wort Schattenwirtschaft gewählt. Wenn sich da Prozesse im Schattenwurf vollziehen würden, wäre so manches ja noch schemenhaft erkennbar. Tatsächlich aber ist dieser Teil des Wirtschaftslebens eines Landes allzu oft zunächst in ein fast schon undurchdringliches Dunkel gehüllt und wird auch mit noch so komplizierten und gut durchdachten Rechenmodellen nie vollständig zu beziffern sein. Dunkelwirtschaft wäre dafür eine bessere Bezeichnung. Griechenland hat unbestreitbar eine Dunkelwirtschaft, die sich sehen lassen könnte. Experten schätzen sie auf bis zu einem Viertel der Ökonomie des Landes.

Aber dahinter verbirgt sich nicht der wesentliche Grund für die finanzpolitischen Probleme, vor denen das Land steht. Seine Verwaltung ist schlicht nicht in der Lage, sich dem gut erkennbaren Teil der ökonomischen Wirklichkeit angemessen anzunähern – und versagt dann bei der Schattenwirtschaft vollständig. Zwar beklagen wir in Deutschland aus gutem Grund ebenfalls die Ineffizienz und Ignoranz staatlicher Dienststellen – aber sie sind, wenn sie denn auch wollen, hinreichend gut vernetzt und wirkungsvoll genug, um den Schatten-Wirtschaftlern das Leben nicht allzu einfach zu machen. Sie haben bei uns auch ein erkennbares Eigeninteresse daran, die Leistungsfähigkeit ihrer Gesellschaft zu ergründen und bewerten zu können. Sie wissen ja, dass sie letztlich vom erkannten Fleiß der Bürger profitieren und achten schon deswegen darauf, die mit diesem Fleiß geschaffenen Werte auch kennen zu lernen. Und diese Annäherung an die Wirklichkeit wäre auch in Griechenland keine Aufgabe, an der man in jedem Falle scheitern müsste. Wissenschaftler haben aus Daten, die auch den Behörden bekannt sein sollten, relativ einfach errechnen können, wie groß die Kluft zwischen tatsächlich erzielten Einkünften und steuerlich erklärten in Griechenland ist. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass in bestimmten Wirtschaftsbereichen des Landes, insbesondere im Dienstleistungssektor, fast die Hälfte der Geldflüsse keinen Niederschlag im Steuersystem findet.12