Das Bessere zuerst
Mary Ward und der Exerzitienweg
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ
und Martin Müller SJ
Band 60
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Mary Ward und der Exerzitienweg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe
ISBN
978-3-429-03596-9 (Print)
978-3-429-04699-6 (PDF)
978-3-429-06098-5 (ePub)
Vorwort
Auf dem Fundament der Exerzitienspiritualität
Auf den Punkt gebracht
Die Grundlegung – in der Gegenwart Gottes leben
Übergabe an den Willen Gottes und Beten ohne Unterlass
Der Zwiespalt der Jesuiten
Ein bedeutsamer Brief
Drei Exerzitienreihen
Ihr Leben – ein Exerzitienweg
Zuerst das Bessere geben – der Beginn der Exerzitien
Der Weg der Furcht
Besondere Erforschung über die zärtliche Sorgfalt
Schwierigkeiten mit den Sündenbetrachtungen
Nicht mit Gewalt
Heil und Heilung
Voranzugehen wie Christus – in seiner Gegenwart und Nachfolge
Der Weg und die Weise Jesu
Freund aller Freunde
Ihr werdet nicht wollen
Mit zärtlicher Sorgfalt
Die Armen, Kranken und Feinde zu lieben
Zuerst das Reich Gottes
Das Beispiel der Apostel
Indifferenz, Trost und Wahl
Die Qual der Wahl
In die andere Richtung denken
Indifferenz
Ohne Vorbehalt
Die Balance finden
Trost
Die Wahlmodi
Im Leiden leben – der Ernstfall der Nachfolge
Leid ist nicht gleich Leid
Trostlosigkeit und Gottferne
Wie das Leid deuten?
Worunter Gott leidet
Auch dann nicht
Durch das Dunkel zum Licht
Um gut zu sein – die Frucht der Exerzitien
Gut sein, um Gutes zu tun
Wachsam und achtsam
Gerecht und aufrichtig
Frei zu allem Guten
Empfangen und mitwirken
Sich mühen und beschenkt werden
Wie den Willen Gottes finden
In Gottes Tempo
Zwiesprache
Frei, alles zu Gott zurückzubringen
Das Herz umfasst, gehalten, bewohnt
Reife Exerzitienspiritualität
Anmerkungen
Aus Aufzeichnungen Mary Wards ergibt sich, wie sehr sie durch die ignatianische Spiritualität geprägt wurde. Es manifestieren sich aber auch Schwierigkeiten, die sie verspürt und formuliert hat. Ihre Maxime, »zuerst das Bessere zu geben«, weist die Richtung, in die die Exerzitien weiterentwickelt werden sollten, so dass das Frohmachende und Befreiende der Botschaft Jesu durchgehend aufleuchten kann. Das mag besonders denen helfen, die andere in Exerzitien begleiten. Zugleich zeigt sich an Mary Ward, welche Frucht des Gebets wie des Lebens aus den Exerzitien reifen kann, Ermutigung für alle, die Exerzitien machen und aus der Exerzitienspiritualität leben.
Mein Dank gilt allen, die mir geholfen haben, diese Gedanken zu formulieren: in erster Linie denen, die ich durch Exerzitien begleiten durfte, ebenso Martha Kempfle, Gefährtin der Congregatio Jesu, und Sr. Anna Schenck CJ, die die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen haben, P. Willi Lambert SJ für viele wertvolle Anregungen, der Redaktion für die Aufnahme in die Reihe der »Ignatianischen Impulse« und in besonderer Weise Sr. Roswitha Bach CJ, in deren Begleitung ich selber die grundlegenden Exerzitienerfahrungen gemacht habe. Ihr möchte ich dieses Büchlein widmen.
Bamberg, Allerheiligen 2012 Ursula Dirmeier CJ
Die zitierten Texte sind übersetzt aus: Mary Ward und ihre Gründung. Die Quellentexte bis 1645 (hg. v. Ursula Dirmeier CJ), vier Bände, Münster 2007.
Ignatius’ Texte werden zitiert nach: Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, übers. v. P. Knauer, Würzburg 1998 (EB: Exerzitienbuch, BP: Bericht des Pilgers, K: Konstitutionen; jeweils mit Randnummer).
Als Mary Ward der Exerzitienspiritualität begegnete und sich von ihr prägen ließ, geschah dies etwa zwei Generationen nach der offiziellen kirchlichen Anerkennung der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola (1548). Die Exerzitien waren inzwischen zu einer sich ausbreitenden spirituellen Bewegung geworden, von der Mary Ward empfing, der sie aber auch aus der Tiefe ihres Wesens und Lebensweges heraus eine eigene Prägung gab.
Mary Ward legte am Morgen des 30. Januar 1645 in einem kleinen Vorort von York den wenigen Gefährtinnen, die um ihr Sterbebett versammelt waren, als Vermächtnis ans Herz, »in der Ausübung der Berufung, die Gott in uns gelegt hat, beständig, wirkungs- und liebevoll zu sein« (D = [Dokument] 1529). So sollten sie in allem handeln, was zum Allgemeinen und Besonderen »of the same« gehört, das meint die Berufung, aber auch »dasselbe von der Gesellschaft (Jesu)«. In diesen Worten hatte Mary Ward 1611 den göttlichen Auftrag vernommen, ihre Gemeinschaft nach dem Vorbild des Jesuitenordens zu formen mit derselben Spiritualität, Lebensweise, Struktur und Zielsetzung. Was sie als Testament weitergab, bringt das Ziel der Exerzitienspiritualität auf den Punkt: beständig und ausdauernd zu sein in dem, was wir vor Gott als richtig erkannt und als unsere Berufung gehört haben, wirksam und wirklich effektiv in dem, was wir im Licht Gottes unternehmen, zugleich ganz mit dem Herzen, mit Leib und Seele dabei und in der Verwirklichung voll Liebe und Güte.
»Dasselbe von der Gesellschaft« klingt ebenfalls in der Inschrift auf Mary Wards Grabstein an, mit dem die Gefährtinnen ihr Leben in Worte zu fassen suchten. »Die Armen zu lieben, in demselben auszudauern, mit ihnen zu leben, zu sterben und aufzuerstehen, war Mary Wards Lebensziel.« Ihre Liebe zu den Armen war groß, zu den ganz wörtlich Armen, den Hungernden und Bedürftigen, ebenso wie zu den Armen, die an einem anderen Hunger litten, dem nach Glauben und Bildung, Zuversicht und Sinn. Kann man mit den Armen leben, sterben und auferstehen, muss sich das nicht auf Christus beziehen, so hat man gefragt. Demgegenüber weist die Grabinschrift darauf hin, dass in jedem von ihnen Christus gegenwärtig ist und dass das, was wir in der »Zweiten, Dritten und Vierten Woche« der Exerzitien und im Jahreskreis der Liturgie meditieren, das Leben, Sterben und Auferstehen Christi, sich auswirkt und verwirklichen muss im eigenen »mit den Armen meines Lebens Leben, Sterben und Auferstehen«.
Mary Ward, deren Kindheit in die Regierungszeit von Königin Elisabeth I. fiel, wuchs in einer katholischen Familie des Landadels im Norden Englands auf. Wegen der Katholikenverfolgung mussten sich die Priester versteckt halten und wechselten von einem Ort zum nächsten, um der Verhaftung zu entgehen. Im einsam gelegenen Haus der Großeltern, wo Mary Ward vom fünften bis zum zehnten Lebensjahr wohnte, könnte sich ein Priester für längere Zeit aufgehalten haben. Als Jugendliche lebte sie bei der Familie Babthorpe. Dort wurde fast täglich die Messe gefeiert; wiederholt waren zwei Priester anwesend.
Spätestens in diesem Umfeld kam sie mit der ignatianischen Spiritualität in Berührung. Sie fand, wie sie in ihren autobiographischen Aufzeichnungen (AB) schrieb, in einem Buch Anregungen, »wie man die Wochentage auf die Übung verschiedener Tugenden aufteilen und die Zimmer des Hauses einzelnen Heiligen widmen kann« (AB 6, 2). Es handelte sich um die »Kurze Regel für ein gutes Leben«, die der Jesuitenpater Robert Southwell (1561–1595) für Ann Howard schrieb, deren Mann wegen seiner Glaubensüberzeugung im Tower saß. P. Southwell gab darin Hinweise für eine Laienspiritualität aus dem Geist der Exerzitien. Im zweiten Kapitel ist zu lesen: »Was meine Pflicht gegenüber Gott betrifft, besteht ein sehr gutes Mittel, ihm zu gefallen, darin, seine Gegenwart immer im Sinn zu haben. (…) Wenn ich die Gewohnheit oder Haltung gewinnen kann, mich an die Gegenwart und Unterstützung Gottes immer wieder zu erinnern (wie mir das durch Übung leicht möglich ist), werde ich mich mit wahrer Aufmerksamkeit, Ehrfurcht und Überlegung von einem Verhalten fernhalten, von dem ich denke, es könnte ihn in irgendeiner Weise beleidigen. Ebenso werde ich eine große Leichtigkeit gewinnen, ihm meinen Sinn und mein Herz zuzuwenden und oft mit ihm zu sprechen in kurzen und innigen Gebeten, die der Brennstoff der Hingabe sind.«1 Hier dürfte die Quelle für den Vorsatz liegen, den Mary Ward formulierte: »Ich will dem Rat folgen, den der selige Vater Ignatius so sehr empfahl und verwirklichte, nämlich immer in der Gegenwart meines Gottes unterwegs zu sein. Herr, lass mir das durch deine Gnade möglich werden, was mir von Natur aus unmöglich zu sein scheint« (D 72, 34).
Mary Wards langjähriger Beichtvater, der Weltpriester John Mush (1552–1617), war der Spiritualität der Jesuiten zugetan. Allerdings ergriff er im Streit zwischen den Jesuiten und dem englischen Weltklerus für Letzteren Partei. In dieser Zeit gab ihr ein anderer Priester, man vermutet in ihm den für die Jesuitenmission im Norden zuständigen P. Richard Holtby (1552–1640), ein Buch zu lesen, das sie nach eigener Aussage sehr geprägt hat, den »Geistlichen Kampf« des Theatinerpaters Lorenzo Scupoli, den P. John Gerard ins Englische übersetzt hatte. Scupoli betont, dass die christliche Vollkommenheit weder in Bußübungen und Strenge gegenüber dem eigenen Leib noch in der Aneinanderreihung von mündlichen Gebeten besteht, auch nicht in Einsamkeit und Stille, sondern »in einem wahren Wissen um die Güte und Größe Gottes und unser eigenes Kleinsein oder Nichts und unseren natürlichen Hang zu allem Bösen, im Hass uns selbst gegenüber und in der Liebe zu Gott, in der völligen Verneinung unseres Eigenwillens und seiner Übergabe an den Willen Gottes«2. Für das Gebet fordert Scupoli die Haltung, »den Willen Gottes zu wollen und nicht den eigenen, sowohl im Erbitten wie im Erhalten dessen, was man erbeten hat, das bedeutet, dass man zum Gebet bewegt ist, weil Gott es will, und dass man wünscht, erhört zu werden, weil man hofft, dass das sein Wille ist«3. Inneres Gebet ist nach Scupoli das Erheben des Geistes zu Gott mit oder ohne Worte, auch ein einfacher »Aufblick des Geistes«, eine stille Erinnerung an ihn. Das könnte Mary Ward gemeint haben, wenn sie von jener Zeit in England schrieb, sie sei nach dem, was sie in diesem Buch gefunden und zu befolgen versucht habe, beinahe immer in der Haltung des Gebets gewesen (AB 6, 4).
Die Exerzitienspiritualität wendet sich weder ausschließlich noch vornehmlich an Ordensleute, sie will vielmehr alle Christen dazu ermutigen, ihr Leben aus dem Geist Gottes und aus dem Glauben zu führen. Daher verbreitete sie sich rasch, und zwar bei Frauen ebenso wie bei Männern. Das wurde von den Jesuiten natürlich gefördert und begrüßt. Anders sah es aus, wenn Frauen sich der Gesellschaft Jesu anschließen oder Frauengemeinschaften einen Jesuitenpater als Beichtvater haben wollten. Da erhoben sich warnende Stimmen, die um das Ansehen und die Flexibilität der Gesellschaft Jesu fürchteten. Und in der Tat war die Aufgabe, geistlicher Leiter eines (klausurierten) Frauenordens zu sein, aufgrund des rigiden Kirchenrechts damals ein Fulltime-Job.