„Was blähst du dich auf in deinem Stolz?
Staub bist du und Staub musst du werden,
ein verfaulter Kadaver, die Speise der Würmer.“

– Grabspruch des Kardinals La Grange –

image

Lars-Erik Schütz

image

image

Schütz, Lars-Erik: Pestland, Hamburg, ACABUS Verlag 2013

Originalausgabe

PDF E-Book: ISBN 978-3-86282-171-6

Epub E-Book: ISBN 978-3-86282-172-3

Print: ISBN 978-3-86282-170-9

Lektorat: Alexej Miller, ds, ACABUS Verlag

Korrektorat: Juri Bender, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Annika Bauer, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: © Annika Bauer

Das Bild von Baphomet stammt aus: Lévi, Eliphas: Dogma und Ritual der

Hohen Magie, Teil 2: Das Ritual, München-Planegg [u.a.]: Barth, 1927

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© ACABUS Verlag, Hamburg 2013

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

image

Eine Warnung

Dies ist kein historischer Roman im klassischen Sinne. Es ist ein Roman über die Pest, nicht über die Zeit ihres Auftretens. Und im Fieberwahn geschehen Dinge, die auf den ersten Blick anachronistisch, sogar befremdlich erscheinen. Am Ende dieser Geschichte werden Sie verstehen, was mit dieser Warnung gemeint ist.

Teil Eins

image

1.

Rrring-rrring.

Wieder dieses schrille Klingeln.

Es lässt meinen Verstand vibrieren, zersprengt jeden klaren Gedanken. Mein Herz pulsiert im schnellen Takt gegen die Rippen, die unter seiner Wucht beinahe zerbersten.

Rrring-rrring.

Ich muss es endlich zum Schweigen bringen.

2.

imageasser! Bringt dem Mann Wasser!“

Das wächserne Gesicht des Minderbruders ruhte über mir. Seine vor Schweiß glänzende Stirn lag in Sorgenfalten, während er mir mit einem Tuch die Wangen abtupfte.

Meine Haut brannte wie ölbestrichenes Pergament, das man ins Feuer geworfen hatte. Jedes rasselnde Luftholen zog meine Lungen zusammen. Aber all diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu dem qualvollen Pochen der Schwellungen an meinem Hals und meinen Leisten.

Jetzt hat der Schwarze Tod dich geholt, bevor ich es tun konnte, erscholl ein Lachen. Spürst du schon, wie die Beulen kurz davor sind, aufzuplatzen, lieber Lucien?

„Sei still!“, schrie ich und hämmerte meine Faust auf das notdürftige Lager aus Stroh und Decken. „Sei endlich still!“

Ich musste hier fort. Ich musste weg. Sie würden mich finden – die Häscher des Papstes. Und was noch viel furchterregender war: Der Dämon würde mich finden!

Mit erstaunlicher Kraft umfasste der Minderbruder meine Unterarme und tätschelte mir dann die Wange. Im flackernden Kerzenlicht lagen seine Augen im Schatten und sein Blick war nicht zu deuten.

„Er spricht bereits im Wahn! Gott im Himmel – wo bleibt das Wasser?“

Ein schlaksiger Novize eilte mit einem Krug herbei und reichte ihn dem Minderbruder.

„Na endlich“, brummte dieser und riss das Gefäß aus der Hand des Jungen. Er goß das Wasser in eine Schüssel und gab weitere Anweisungen: „Kümmere dich um das Mädchen in der hinteren Reihe. Sie hat äußerst starkes Fieber. Und leg neue Gewürze in die Fackeln – wenn du gerade dabei bist, kannst du auch beten, dass sie tatsächlich etwas gegen das Miasma nützen.“

Ich sah dem Novizen nach, der eifrig davonlief. Unter meinen flackernden Lidern schien das Klostergewölbe wie eine der Folterkammern der Hölle, bewohnt von Schatten und Dämonen. Das Stöhnen und Röcheln der Kranken waberte zusammen mit dem Gestank nach Fäulnis, Schweiß und Kot zwischen den trutzigen Säulen umher.

Tripf-Tropf. Tripf-Tropf. Lucien kann etwas trinken, wurde das Crescendo der Kranken erneut übertönt. Nur wird es ihm nichts nützen, denn er ist ein Verräter!

Ich krallte meine Finger in die Wolldecke unter mir, die durchtränkt war vom Eiter und Blut jener, die bereits auf ihr gestorben waren.

Der Mönch führte die Schüssel an meinen Mund.

„Ich bin kein Verräter!“, murmelte ich.

Das Fieber loderte in mir auf und mit ihm die Erinnerung an Scheiterhaufen. Die Bilder meiner Schande – schrille Schreie fegten durch meine Ohren. Die Rufe der Menge, die raue Stimme des Urteilverkünders, das Prasseln der Flammen. Die Verurteilten, die aneinandergekettet und in zerrissenen Leinengewändern auf dem Podium standen.

Der Mönch legte mir einen Finger auf die spröden Lippen.

„Ruhig, mein Sohn, ruhig. Ich bin sicher, du bist kein Verräter. Trink – es wird dir gut tun!“ Er hob meinen Kopf an und hielt mir die Schüssel an den Mund.

Da liegt er falsch, der alte Narr, raunte die Stimme. Du bist ein Verräter! Fühlst du sie? Apluc!? Culpa!? Die Schuld!? Du warst es, Lucien! Du hast es getan, Sohn des Judas Ischariot!

Ich warf mich hin und her, schüttelte den Kopf. Beinahe fiel die Schüssel aus der Hand des Minderbruders. Wasser schwappte über ihren Rand und tropfte auf meine schwarzfleckige Brust.

„Ich bin Lucien de Courogny!“, beschwor ich den Mönch. Er musste mir helfen. Er war ein Diener Gottes – er musste mich verstehen; mich gehen lassen. Ich konnte nicht bleiben, auch wenn die Pest mich umklammert hielt. Durch sie den Tod zu finden erschien mir immer noch besser als durch die Hand meines Verfolgers.

„Ich muss hier weg, aus Duisburg hinaus!“, flehte ich. „Sie verfolgen mich! Er verfolgt mich! Die Häscher des Papstes – und er!“

Der Minderbruder starrte mich aus seinen stahlgrauen Augen an. „Du sprichst im Wahn, mein Sohn! Wer immer du auch bist, mit diesen merkwürdigen Dingen, die du bei dir trägst, niemand verfolgt dich. Denkst du nicht, das hätten wir nicht schon längst …“

Ich konnte seinen Worten nicht weiter lauschen. Ein Krampf zuckte durch meine Glieder. Schmerz zerriss mich von innen heraus. Mein Körper bäumte sich auf. Ich schloss die Augen. Schrie.

In der Schwärze hinter meinen Lidern sah ich ihn vor mir: den gehörnten Ziegenkopf. Das leuchtende Pentagramm auf der struppigen Stirn. Der Sichelmond, der über seiner ausgebreiteten Hand tänzelte.

Verräter holen die Dämonen selbst in die Hölle!

Baphomet starrte mich aus seinen glimmenden Opalaugen geradewegs an. Er musste ganz nah sein.

Die Krämpfe lösten sich. Mein Körper erschlaffte.

„Pater noster, qui es in caelis …“ Der Minderbruder führte erneut die Schüssel an meine Lippen und ich nahm einen gierigen Schluck. Das Wasser schien bereits in meinem Mund zu verdunsten. Jedoch löste das Bild Baphomets ein solches Frösteln in mir aus, dass es selbst die Fieberglut kurzzeitig abkühlte. Ich musste die Gelegenheit nutzen. Meine verbliebene Kraft gebrauchen.

Ich musste fliehen.

Als der Mönch die Schüssel wegnahm, stürzte ich mich auf ihn. Völlig überrascht zeigte er kaum Gegenwehr.

Ich zog ihn am Hals zu mir herunter und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Unter einem erstickten Aufschrei sackte er neben mir zusammen.

Mit flatternden Händen packte ich meine Habseligkeiten und taumelte aus dem Gewölbe.

Ich konnte es schaffen – ich konnte Baphomet entkommen.

3.

imageus dem Klostertor hinaus taumelte ich in den Schein des Mondes, der wie ein Klumpen Lehm am Himmel klebte.

Rußende Fackeln hingen an der Stadtmauer gegenüber des Minoritenstifts. Die Duisburger glaubten, durch Feuer die Ausdünstungen der Pest vertreiben zu können. Aber wie viele Kerzen und Fackeln sie auch entzündeten, die Leute starben hier ebenso zahlreich wie in den anderen Städten Europas.

Vor zwei Jahren, anno domini 1347, hatten die Bürger noch gespottet, wenn man ihnen von den Gerüchten aus dem Süden erzählte, die von einer Seuche kündeten, die jeden innerhalb von Tagen dahinraffte, egal ob Kaufmann oder Bettler, Fürst oder Bauer.

Jetzt erschrak jeder, sobald er nur den Namen der Plage vernahm. Die Gelehrten disputierten über astrologische Konstellationen, die zu der Katastrophe führten, über die Schuld der Juden und Heiden, über Heilmittel und das bevorstehende Armageddon, das Ende der Welt.

Ich hörte von der Pest das erste Mal in einer Taverne in Marseille. Ein Seemann hatte von den Beulen berichtet, die sich an Hälsen und Leisten der Kranken bildeten.

„Sie sind schwarz wie Kohle – deshalb nennt man die Seuche in Italien auch Morte nera, den Schwarzen Tod“, hatte er verkündet und seinen Weinkrug in einem Zug geleert.

Am nächsten Tag floh ich aus Marseille, wieder einmal vor den Männern des Papstes. Nur eine Woche später traf auch in der Hafenstadt der Schwarze Tod ein und machte die Gerüchte zur Gewissheit, tötete alle anderen Trunkenbolde, die in der Kneipe gewesen waren, nur nicht mich.

Ich reiste gen Norden, der Seuche immer nur knapp voraus. Dennoch hatte mich die Hölle der Pest jetzt in Duisburg eingeholt.

Zitternd hockte ich mich in den Eingang eines Fachwerkhauses. Auch hier musste der Schwarze Tod schon eingekehrt sein. Die Fenster waren vernagelt, Kälte und Leere gingen von der Behausung aus.

Zu meinem Erstaunen fühlte ich mich besser als noch vor wenigen Augenblicken im Kloster. Das Fieber glomm in meinem Inneren nur noch als schwaches Lodern. Auch die Stimme Baphomets, meines ewigen Verfolgers, war verstummt.

Ich befühlte meinen Hals und erstarrte.

Wo im Kloster noch eitrige Beulen geprangt hatten, war nun wieder glatte, gesunde Haut. Ich fuhr mit der Hand unter mein Hemd und strich über meine Leisten. Auch dort spürte ich keine Beulen mehr.

Was war geschehen? Zwar hatte ich immer wieder von wundersamen Heilungen gehört, bei denen die Pestbeulen langsam kleiner wurden und schließlich verschwanden, aber noch nie von einer Genesung in so kurzer Zeit. Ich jauchzte innerlich – so konnte ich schneller vorankommen und Baphomet noch entkommen. Mir würde später noch genügend Zeit bleiben, über dieses Wunder zu grübeln.

Der Novemberwind wehte einige Blattgerippe über den zertretenen Matsch der Straße. Ich fröstelte und zog mir meine Kutte enger um den Körper. Auf meiner immerwährenden Flucht gab ich mich als Bettelmönch des Franziskanerordens aus. Eine Tarnung, die kaum Verdacht schöpfen ließ und mir die Pforten zu Klöstern und Gasthäusern öffnete. Ohne die Kutte hätten die Minoriten mich niemals zur Pflege aufgenommen, als ich auf der Straße zusammengebrochen war.

Unter dem Gewand hatte ich meine wenigen Besitzstücke verborgen, die wohl jedem schnell klar gemacht hätten, dass ich alles andere als ein Bettelmönch war. Ich rang mich zu einem Schmunzeln durch, als ich aufstand. Allein ihr Anblick hatte schon so manchen Strauchdieb in die Flucht geschlagen.

Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zum Mond. Die Nacht neigte sich langsam ihrem Ende entgegen. Möglicherweise ließen die Wachen mich bereits durch das Stadttor ziehen.

Das Schwanentor lag nur wenige Steinwürfe vom Kloster entfernt und führte geradewegs zur Ruhr. Dort müsste ich mir einen gottesfürchtigen Fährmann suchen, der ein armes Mönchlein für ein paar Pfennig mit über den Fluss nahm. Dann konnte ich gefahrlos weiter gen Norden reisen, weg von der Pest und meinen Verfolgern.

Je näher ich dem Torhaus kam, desto ärmlicher sahen die Häuser aus. Tod und Chaos hatten Duisburg zum Erliegen gebracht. Die einzige Gestalt, die ich auf meinem Weg antraf, war eine junge Frau, die an einer der Haustüren lehnte. Sie wäre schön gewesen, hätte die Armut sie nicht mit schütteren Haaren und eingefallenen Wangen gestraft.

In ihren Armen wiegte sie einen Säugling, dem sie die Brust gab. Erst nach mehreren Augenblicken fiel mir auf, dass der Mund des Kindes im Angesicht der Brustwarze völlig reglos war. Sein Gesicht blass, der Blick gebrochen. Schließlich sah ich auch die winzigen Beulen an seinem Hals. Ich konnte nicht sagen, wie lang die Mutter schon so dastand und ihr totes Kind säugen wollte. Ihr Bild versetzte meinem Herzen einen Stich.

Ich beschleunigte meine Schritte, um nicht der Versuchung zu erliegen, zu ihr zu gehen. Ihr dieses Relikt zu entziehen und zu helfen.

Seit den Taten, die Baphomet meinen Verrat nannte, war ich darauf bedacht, den Menschen beizustehen – im Namen jener, die ich damals dem sicheren Tod überantwortet hatte.

Natürlich war es für Reue längst zu spät. Aber ich spielte den sanften Helfer nicht deshalb, damit mir einige Jahrhunderte im Eissee des letzten Höllenkreises erspart blieben. Ich tat es einzig für den Frieden meiner Seele. Oder zumindest für das, was von ihr übrig war.

Zwei Geharnischte flankierten das Tor, müde auf ihre Lanzen gestützt. Zwar waren die Torflügel geöffnet, aber die Zugbrücke immer noch hochgezogen.

„He da, Wachmänner! Wollt ihr ein Mönchlein nicht in die Ferne entlassen?“ Mit der üblichen Maskerade des überschwänglichen Kirchendieners trat ich auf die beiden zu.

„Vergiss es, Bruder!“ Der Kerl rechts vom Tor spuckte aus. Sein Vollbart war vom selben Braun wie der Rost auf seinem Brustpanzer, unter dem sich ein gewaltiger Bauch wölbte. „Die Zugbrücke wird erst im Morgengrauen hinabgelassen. Keine Ausnahmen.“

Ich stampfte auf, mehr aus Verzweiflung als aus Wut. So verlor ich wertvolle Zeit. Es erschien mir ohnehin als ein Wunder, dass einige Stadtwachen noch ihrem Tagewerk nachgingen. Ich hatte von Städten gehört, in denen Plündereien und Gemetzel herrschten – aus dem Grund, dass schlicht kein Wächter, kein Richter, kein Ratsherr mehr lebte oder sich aus Angst vor der Pest nicht mehr aus dem Haus traute.

„Ohnehin würde ich es Euch nicht raten, Duisburg in Richtung Norden zu verlassen“, meldete sich der linke Torwächter zu Wort. Er klang deutlich weniger abweisend als sein Kumpane.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich den schlaksigen Jüngling an. „Warum das?“

„Wisst Ihr das nicht?“ Seine Stimme zitterte wie Blech unter den Hammerschlägen eines Schmieds. „Der Landstrich um Kleve, entlang des Rheins – das ist das Pestland.“

„Das Pestland?“

Der Dicke stöhnte und übernahm die Erklärung: „Da lebt keiner mehr, Mönchlein. Entweder alle tot oder geflohen. Die Pest ist da umgegangen wie der Satan, Gott bewahre. Niemand geht mehr dorthin. Die, die es getan haben, sind nicht zurückgekehrt.“

„Und ob Ihr es nun glauben wollt oder nicht, Bruder, man sagt, die vier apokalyptischen Reiter selbst gehen dort um. Höllenhunde. Das Land gehört längst den Toten, nicht den Lebenden.“

Der Rostbart spuckte aus, diesmal in Richtung des jüngeren Wachmanns. „Jetzt piss dir nicht ins Hemd, Jakob! Und Kleve ist der Schlund der Hölle selbst, was?“ Grimmig wandte er sich zu mir. „Was ist jetzt? Du weißt alles, was du wissen musst. Kannst ja jetzt selbst entscheiden, ob du heute dahin willst oder nicht. Meinen Arsch soll’s nicht kratzen.“

Ich verbeugte mich vor den beiden so tief, dass sie mein schiefes Grinsen nicht sehen konnten. „Werte Herren, ich danke für Euren Rat.“

Nach kurzer Unentschlossenheit machte ich kehrt und lief in Richtung Burgplatz. Mein Geld reichte noch für einen Krug Met oder Bier, vorausgesetzt, eines der Gasthäuser hatte überhaupt geöffnet.

Über die Erzählungen der Torwachen machte ich mir keine Gedanken. Ich hatte schon zu viele Schauergeschichten über die Pest gehört, um ihrem Geschwätz noch Glauben schenken zu können.

Der unvollendete Turmbau der Salvatorkirche ragte wie ein Armstumpf in den Nachthimmel, die Gerüststreben ein Kranz aus abgetrennten Knochen und Sehnen. Die Kirche war längst nicht das einzige Bauwerk, dessen Vollendung durch die Pest unmöglich geworden war.

Am Ziehbrunnen auf der Mitte der Straße ließ eine gekrümmte Gestalt einen Eimer in den Schacht hinab. Eine andere lehnte gegen die Mauer des Brunnens und hustete dröhnend. Rufe drangen vom Ende der Straße, wo ein Fuhrwerk vor einem Haus stand. Leichen wurden aus den Fenstern der oberen Stockwerke auf die Ladefläche geworfen. Die meisten Kranken starben in der Nacht. Also zogen die Totengräber bei Tagesanbruch durch die Stadt, um die armen Seelen abzuholen, für die es keinen Morgen gab. Zwischen all diesem Treiben sah ich einen Jungen, der geradewegs auf mich zuhielt.

„Mönch! Bruder!“ Schwer atmend kam er vor mir zum Stehen. Das dunkelblonde Haar hing ihm ins Gesicht. Er mochte vielleicht sechzehn sein, eine Spur zu klein und hager für sein Alter. Der Kittel ebenso dreckverschmiert wie seine Wangen, die von Schrammen überzogen waren. Anscheinend rutschte seinen Eltern öfter einmal die Hand aus. Mitleid regte sich in mir, wie schon beim Anblick der Frau mit dem toten Säugling.

„Was ist los, mein Sohn?“

„Ich …“ Seine Stimme überschlug sich. „Mein Großvater, er liegt im Sterben. Ich habe keinen Priester gefunden. Schnell! Ihr müsst ihm die Beichte abnehmen! Er will unbedingt einen Mann Gottes sprechen. Ich bitte Euch!“

Ohne zu zögern willigte ich ein. „Wo ist er?“

„In der Salvatorkirche! Der Medicus hat dort ein Notlager eingerichtet.“ Der Junge eilte davon. „Folgt mir!“

Ich spurtete ihm nach, aber schon wenige Schritte später zitterten meine Knie und meine Lunge schmerzte bei jedem Atemzug. So schnell hatte ich mich also doch nicht erholt. Der Knabe bemerkte es, als er einen Blick zurück warf, und verlangsamte sein Tempo. Ohnehin hatten wir schon den Burgplatz erreicht.

„Wie heißt du?“, fragte ich, als ich wieder Luft geholt und zu ihm aufgeschlossen hatte.

„Simon Aumann.“

„Das ist ein stolzer Name.“

„Was nützen Namen in Zeiten wie diesen?“

Es lag eine Ernsthaftigkeit in der Stimme des Knaben, die nicht zu seinem Alter passen wollte und die mich tief berührte. Sie erinnerte mich an mein eigenes Verhalten als Junge.

„Ich heiße Lucien de Courogny.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter, während wir die Stufen zur Salvatorkirche erklommen. „Wir werden deinem Großvater die Würde zukommen lassen, die er verdient hat.“

4.

imager liegt da drüben.“

Simon deutete auf die Südkapelle der Kirche und lief weiter zwischen den Reihen notdürftiger Krankenlager hindurch. Ich folgte ihm, darauf bedacht, meinen Blick auf seinen Rücken gerichtet zu halten und nicht auf das Leid um uns herum. Allein die Geräusche genügten schon, um die schrecklichsten Bilder in meinem Kopf heraufzubeschwören. Das Husten und Röcheln, Speien und Schreien der Kranken, vereint mit dem Flehen der Angehörigen. Die geflüsterten Anweisungen von Pflegern und Medicus. Ein genuscheltes Pater noster.

Es stank nach Urin und Ausscheidungen, Eiter und Verzweiflung.

Dies alles in dem halbfertigen Gerippe der Kirche. Strebebögen breiteten sich wie Rippenknochen über diesen Rumpf aus Leid. Das Dach war nur teilweise gedeckt und die Nacht starrte mit tausend Augen in das Mittelschiff. Dutzende Kerzen loderten, schienen aber von der Finsternis des Gotteshauses erdrückt zu werden. In das Maßwerk der hohen Bogenfenster war noch kein Glas eingefasst worden. Ungehindert pfiff der Wind durch sie hinein und brachte Kälte und Unbehagen mit sich. Ich war froh, meine Pestilenz im Kloster durchlebt zu haben und nicht unter diesen erbärmlichen Umständen.

Wir erreichten die Südkapelle. Hier war es noch schlimmer als im Hauptschiff und wären nicht der kleine Altar und die sakralen Ornamente an den Wänden gewesen, ich hätte diesen Ort für den ersten Limbus der Hölle gehalten. Greise krümmten sich auf ihren Lagern, von Beulen übersät, mit Fleisch behangene Skelette. Eine Frau schluchzte neben ihrer kleinen blassen Tochter, die im Fieberwahn vor sich hinflüsterte.

Es erschien mir als Ding der Unmöglichkeit, dass ich vor kurzem noch in genau derselben Verfassung gewesen sein sollte.

„Mein Großvater liegt vor dem Altar. Da – mein Onkel ist bei ihm!“ Simon zog mich am Ärmel meiner Kutte dorthin.

Der Greis überraschte mich: Er krümmte sich nicht unter Schmerzen wie alle anderen oder rief flehentlich Gott an. Ruhig lag er auf der mit Stroh gefüllten, schmutzigen Matratze, die Hände gefaltet und die Augen für einen Pestkranken ungewöhnlich klar. Ein fein ziselierter Silberschlüssel hing an einem Kettchen um seinen Hals.

Simons Onkel löste Argwohn in mir aus. Ein Gefühl, als ramme mir jemand eine stumpfe Klinge in den Nacken. Er kniete neben dem Kranken. Seine Statur war kräftig, doch der Kopf ähnelte dem eines Wiesels, viel zu klein für den übrigen Körper. Das Haar, das ihm noch blieb, hing in fettigen Strähnen herab und gab freie Sicht auf die bleiche Kopfhaut. Ein Dolch baumelte an dem Gürtel, der sein graues Wams festhielt.

„Da bist du ja endlich“, schnarrte er, als er Simon und mich erspähte. Er musterte mich von Schuhspitze bis Haaransatz. „Diese Vogelscheuche war der Einzige, den du finden konntest?“

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Mimik zu ändern. Der Onkel mochte in mir nur einen einfachen Franziskaner sehen, der die fünfzig Jahre längst überschritten hatte. Einen sehnigen Kerl mit Haaren, so blond, dass sie fast durchscheinend waren. Mit tiefliegenden Augen, in deren Wasserblau jede Freude längst ertrunken war. Wüsste er, was ich unter meiner Kutte verbarg, wäre der Kerl mir wohl mit etwas mehr Respekt entgegen getreten.

„Der Mönch wird genügen, Kuno!“, erklang die raue Stimme des Großvaters. Er hatte seinen Oberkörper aufgerichtet. „Jetzt verschwinde und lass mich mit ihm und Simon allein.“

Kuno rührte sich nicht, starrte mich und Simon nur misstrauisch an. „Über das Erbe reden wir noch“, knurrte er und verschwand hinter dem Altar.

Ich sah ihm kurz nach und beugte mich dann zu dem Greis hinab. Simon tat es mir gleich.

Als der Großvater in mein Gesicht blickte, weiteten sich seine Augen. „Ihr … Das ist doch nicht möglich.“

Ich hob die Augenbrauen. „Was ist mit mir?“

„Ihr … Ihr habt mich nur an jemanden erinnert.“ Der Alte hatte sich wieder gefasst, entspannte sich und senkte den Oberkörper. „Eurer Stimme entnehme ich, dass Ihr Franzose seid. Wie lautet Euer Name?“

„Lucien de Courogny.“

„Daniel Aumann. Was treibt Euch hierher, in diese gottverdammte Gegend?“

„Es würde zu weit gehen, dies zu erklären, mein Sohn“, lenkte ich ab. „Lasst mich Euch jetzt die Beichte abnehmen, auf dass Ihr in Frieden ins Himmelreich eingehen könnt.“

„Nein!“ Der alte Aumann umfasste meinen Arm. „Ich habe Simon nicht nach einem Priester suchen lassen, damit dieser mir die Beichte abnimmt.“

„Wozu dann?“ Mein Herz schlug schneller unter einem Gefühl der Vorahnung.

Daniel Aumann hustete, aber es war nicht jenes bis zum Erbrechen führende Husten, das ich bei anderen Pestkranken beobachtet hatte.

„Ihr … Ihr müsst wissen, ich war der Gehilfe eines Alchemisten, der unter der Obhut des Grafen von Kleve seiner Arbeit nachgangen ist. Er hatte sein Laboratorium in der Schwanenburg, nördlich von hier.“

„Das ist mitten im Pestland“, murmelte ich.

„So ist es. Und es ist grausame Ironie. Denn er hat ein Heilmittel gegen die Pest gefunden.“

Simon und ich erstarrten. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf. Mein Mund stand offen. Aumanns Worte und seine Augen waren zu klar, als dass er im Fieberwahn sprach. Ein Heilmittel gegen die Seuche. Konnte das sein?

„Warum bist du dann an der Pest erkrankt, Großvater?“, stellte Simon die naheliegendste aller Fragen, die mir doch niemals in den Sinn gekommen wäre.

Der Alte seufzte. „Ich bin ein Tor, mein Junge. Ich habe gesagt, mein Schutz gegen den Schwarzen Tod ist allein das Vertrauen in Gott. Wie sich nun herausstellt, hat es sich als nutzlos erwiesen.“

„Du hättest niemals nach Duisburg kommen dürfen“, sagte Simon. Er wandte den Kopf zu mir. „Großvater ist vorgestern hier eingetroffen, nur wenige Stunden später haben wir die ersten Beulen entdeckt.“

Der Greis tätschelte Simons Wange. „Du bist ein guter Junge.“ Erneutes Husten, diesmal stärker. „Aber ich musste kommen. Es gab keinen anderen Ausweg. Wahnsinn ist über die Bewohner der Burg gekommen, jetzt, wo niemand mehr außer ihnen lebt. Es scheint, als würde der Alchemist dafür gestraft werden, ein Heilmittel gefunden zu haben. Nirgendwo hat die Pest so sehr gewütet wie dort. Als das Mittel vollendet war, war es schon zu spät. Nur einigen Mitgliedern der Grafenfamilie und den Leuten auf der Burg konnte er es verabreichen. Dann fielen sie alle nach und nach dem Wahnsinn anheim.“

Ich hatte dem alten Mann gebannt gelauscht. „Was ist dann passiert?“

„Der Alchemist glaubte, der Wahnsinn wäre eine Nebenwirkung des Mittels. Er hat sich in seinem Laboratorium verbarrikadiert. Ließ niemanden mehr ein, selbst mich nicht mehr. Also bin ich losgezogen, nach Duisburg. Ich wollte Hilfe holen, Leute, die den Alchemisten dort herausholen. Die ihm bei der Perfektionierung seiner Heilungsmethode helfen. Doch dann kam der Schwarze Tod.“

In meinem Kopf wütete es. Ich fragte mich, ob ich Aumann Glauben schenken konnte, klang seine Geschichte doch so völlig abwegig. Simon hatte diese Entscheidung wohl schon getroffen und sagte: „Dann müssen wir sofort dorthin und das Heilmittel für dich holen.“

„Nein, mein Sohn.“ Der Großvater schüttelte den Kopf. „Für mich ist es zu spät.“ Der nächste Hustenanfall hielt länger an. Aumann krümmte sich. „Herr Lucien, ich bitte Euch, zieht mit Simon ins Pestland. Führt ihn zur Schwanenburg und sucht den Alchemisten. Ihr müsst ihn aus dieser Hölle aus Wahnsinn und Tod befreien. Er ist ein Gottgesandter. Der Mann, der uns von der Plage erlösen wird.“

„Wie ist sein Name?“ Ich sah den Alten eindringlich an.

Doch wieder schüttelte er sich unter einem Hustenanfall. Er wandte den Blick von mir ab und schloss die Hand um den Schlüssel auf seiner Brust. Seine eben noch so klare Stimme war zu einem Röcheln verkommen: „Nimm ihn, Simon … Das ist der Schlüssel … zum Laboratorium. Der Beutel unter der Matratze. In ihm ist genug Geld … Mein Lohn. Nimm ihn, Simon, nimm ihn!“

Er verkrampfte die Hände zu Klauen. Einige Beulen an seinem Hals pulsierten erst stark, dann platzten sie auf und Eiter ergoß sich über die Haut des Greises.

„Gib nichts davon Kuno“, brachte er unter Stöhnen hervor. „Und hütet euch – nicht alles, was die Leute über das Land sagen … ist … ist falsch.“

„Großvater!“ Simon wollte die Schultern des Sterbenden umfassen, aber ich hielt ihn zurück. Der hochansteckende Eiter hatte sich bereits auf seinem Oberkörper ausgebreitet.

Ich bekreuzigte mich. „Pater noster, qui es in caelis …“

Aumann bäumte sich auf, schrie aus vollem Leibe.

„… Sanctificetur nomen tuum …“

Er wälzte sich auf der Matratze hin und her, der Gestank nach Eiter und Blut wurde unerträglich.

„… Adveniat regnum tuum …“

Tränen strömten über Simons Wangen. Sein Körper erbebte unter Schluchzern. Weiter hielt ich ihn mit einem Arm zurück.

„… Fiat voluntas tua …“

Aumanns Augen drehten sich ins Weiße und sein Körper erschlaffte.

„… sicut in caelo, et in terra.“

„Nimm den Schlüssel, Junge“, forderte ich Simon auf, als ich mich bekreuzigt hatte. Wir mussten hier fort. Ich brauchte Ruhe, um nachdenken zu können. Musste das Gehörte abwägen. Vor allem aber musste der Jüngling sich beruhigen.

„Berühr auf keinen Fall den Eiter“, sagte ich. „Und vergiss nicht das Geld unter der Matratze.“

Nachdem der Knabe den prallen Lederbeutel hervorgezerrt hatte, kam Kuno wieder hinter dem Altar hervor. „Ist der Alte endlich tot?“

Sein Blick fiel auf den Beutel und den Schlüssel in Simons Händen.

„Wo willst du damit hin?“

„Ich … Wir …“ Simon, vom Tod des Großvaters völlig aufgewühlt, erstarrte. Er war noch blasser als ohnehin schon.

„Das ist mein Geld!“, brüllte Kuno und stapfte auf ihn zu. Augenpaare wandten sich in ihre Richtung. Gespräche verstummten. Selbst das Wehklagen und Stöhnen der Kranken wurden leiser. „Ich bin Daniels verdammter Sohn! Das Erbe gehört mir!“

Er packte Simon am Ohr und zog ihn zu sich heran. Der Junge schrie auf.

Ich tat einen unentschlossenen Schritt auf den Onkel zu. Meine Hand glitt unter meine Kutte, zuckte aber sogleich zurück, als hätte sie etwas gebissen. Nicht jetzt. Nicht so leichtfertig.

„Du verfluchter Bastard wirst mir nicht mein Erbe klauen.“ Kuno riss den Geldbeutel aus Simons Hand. Der Junge wimmerte, zitternd vor Schmerz und Trauer.

Ich umfasste Kunos Schulter. „Lass den Jungen in Frieden! Sein Großvater hat es ihm rechtmäßig übergeben.“

Der feiste Kerl schlug meinen Arm weg. Er hämmerte den Zeigefinger auf meine Brust und funkelte mich aus verengten Augen an. „Halt dich da bloß raus, verfluchter Pfaffe! Das sind Familienangelegenheiten!“

Er drehte sich wieder zu Simon und nahm auch den Silberschlüssel an sich. Noch immer hielt er das Ohr des Jungen verdreht und bleckte ihn an wie ein zufriedenes Wiesel. Simons Gesicht war rot angelaufen. Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen. Seine Lippen bebten. Als Kuno Beutel und Schlüssel in den Taschen seines Wamses verstaut hatte, schlug er ihm in die Magengrube. Der Knabe krümmte sich und jaulte wie ein Welpe.

„Beklau. Mich. Nie. Wieder.“ Jedes dieser Worte unterlegte Kuno mit einer schallenden Ohrfeige.

Simon versuchte, sein Gesicht mit den Händen zu schützen, hatte aber gegen die Pranken seines Onkels keine Chance. Einige Umstehende schüttelten den Kopf. Irgendjemand raunte etwas, aber keiner griff ein. Eine Wut entflammte in mir, die ich lang nicht mehr gespürt hatte – und wenn, dann höchstens auf mich selbst. Meine Hand schob sich abermals unter meine Kutte und diesmal zuckte sie nicht zurück.

Ich zog das Schwert mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Der Gesang der Klinge brachte die Leute in der Kapelle vollends zum Schweigen. Noch bevor Kuno überhaupt erkannte, was geschehen war, hielt ich ihm die Spitze bereits unter das Kinn.

Alle Anwesenden starrten mich ungläubig an – Kuno ausgenommen, dieser schielte viel eher auf die Klinge, die an seiner Haut kratzte. Keiner hier würde mehr annehmen, ich wäre ein Mönch. Ich hatte meine Tarnung aufgegeben. Möglicherweise allzu leichtfertig. Aber wenn das, was der Greis gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, konnte mein Handeln kaum wichtiger sein.

„Dies ist Saint Épée, Schwert der Großmeister der Templer“, flüsterte ich Kuno zu. „Gefertigt von den fähigsten Schmieden seiner Zeit, bestehend aus mehreren Arten von Stahl, unzerbrechlich und unerbittlich. Zuletzt gehörte es Jaques de Molay, der vor mehr als dreißig Jahren den Tod fand.“ Je mehr ich von der Geschichte der Waffe preisgab, desto mehr verzog sich Kunos Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens. „Siehst du die Parierstange? Siehst du die Worte, die dort eingraviert sind? Verstehst du sie?“

Kunos Blick glitt von der im Kerzenschein schimmernden Klinge hinauf zur Parierstange. Er schüttelte den Kopf.

„Es ist Latein“, sagte ich. „Ich werde es dir vorlesen:

Ziehe mich nicht ohne Grund;

wenn du mich aber herauszischen lässt,

dann stecke mich nicht eher wieder in die Scheide,

bis ich Blut getrunken habe.“

Natürlich stand das nicht da, sondern nur das Sigillum militum christi, das Siegel der Streiter Christi, unterlegt vom Motto der Templer: Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam – Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre. Aber die Verse, die ich mir einmal ersonnen hatte und in solchen Situationen stets zum Besten gab, verfehlten ihre Wirkung selten. Wie auch jetzt. Ein Fleck erschien in Kunos Schritt und breitete sich immer weiter über seine Beinlinge aus. Seine Knie schlotterten.

„Gib dem Jungen die Sachen zurück!“

Kuno zögerte einen Augenblick. Ich verstärkte den Druck der Klinge und ein feines Blutrinnsal strömte seinen Hals hinab. Nun leistete er Folge, kramte Schlüssel und Beutel hervor und übergab sie bereitwillig seinem Neffen.

„Erbärmlicher Hund!“ Ich steckte das Schwert weg. „Du bist es nicht würdig, diese Klinge mit deinem Blut zu beschmutzen.“

Kuno schluckte und stand weiter reglos da, die feuchten Augen auf einen fernen Punkt gerichtet. Ich packte Simon und riss ihn von der Betrachtung seines Großvaters los.

„Wir müssen hier weg. Komm schon! Es gibt nichts, was du noch für ihn tun könntest.“

Der Knabe ließ sich von mir aus der Kirche führen. Was wir zurückließen, waren ungläubige Augenpaare, entsetztes Gemurmel und erste Diskussionen darüber, was ich denn für eine Gestalt sei.

Vor dem Portal des Gotteshauses legte ich die Hände auf Simons Schultern. Die Wangen des Jungen waren so rot, sie schienen beinahe zu glühen. Schrammen zogen sich über seine Haut und das Haar war noch zerzauster als zuvor. Er blinzelte mich aus seinen hellgrünen, verweinten Augen an.

„Dein Großvater will, dass wir ins Pestland gehen und diesen geheimnisvollen Alchemisten finden. Es wird gefährlich werden, aber ich werde dich beschützen – so wie in der Kirche. Bist du bereit dafür? Willst du das tun?“

Er wischte sich mit der Ärmelspitze über die Nase und nickte. „Na ja – was bleibt mir anderes übrig?“

Ich lächelte anerkennend. Ein kluger, mutiger Junge. Er erinnerte mich immer mehr an mich selbst in diesen Jahren. Ich fuhr ihm durchs Haar. „Dann lass uns Proviant besorgen.“

Er senkte den Blick. „Ich … ich müsste noch etwas besorgen. Von zuhause. Es geht ganz schnell.“

„Ist das wirklich notwendig?“

„Nein, im Grunde nicht“, seufzte er. „Aber auf der anderen Seite ist es auch unersetzlich.“

Seine reife Wortwahl erstaunte mich. Was sollte es? Während er dieses Unersetzliche holte, konnte ich getrost auch allein auf die Suche nach Proviant gehen.

„Wir treffen uns bei Sonnenaufgang an der Fähre über die Ruhr. Weißt du, wo das ist?“

Der Junge winkte ab, als hätte ich ihn gefragt, wie der Name von Gottes Sohn lautete. „Durch das Schwanentor, dann dem Weg immer weiter nach Norden folgen. Nichts leichter als das.“

Ich zwinkerte ihm zu. „Guter Junge.“

Sein Gesicht formte etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte.

Wir liefen die Kirchentreppe hinab und trennten uns auf dem Burgplatz. Ich war fest entschlossen, den Alchemisten und sein wundersames Heilmittel zu finden. Am Ende lag es möglicherweise in meinen Händen, die Menschheit von der Geißel der Pest zu erlösen. Doch ich würde es nicht in meinem Namen tun, sondern im Namen Jaques de Molays und meiner Brüder, die vor mehr als vierzig Jahren verraten worden waren. Hingerichtet unter den absurdesten Anklagen, verteufelt von König und Papst.

Auf dem Weg zur Markthalle schien es mir, als würde ich die Schreie von Jaques de Molay hören, gerade in dem Moment, als die ersten Flammen ihn umzüngelten.

Da vernahm ich wieder die Stimme des Dämons:

ROTIDART! TRADITOR! Zermalmt wirst du werden, Verräter, zermalmt! In den drei Mäulern Luzifers, zusammen mit Judas Ischariot und den Cäsarmördern Brutus und Cassius!

Ich fröstelte. Rutschte beinahe in einer Pfütze aus. Konnte mich gerade noch auf den Beinen halten.

Ich spürte, dass Baphomet mir nahe war.

Näher als jemals zuvor.

5.

imageieh mal einer an, wenn das nicht unser Mönchlein ist!“

Der dicke Torwächter lachte, als er mich näherkommen sah. Die Zugbrücke war hinabgelassen, auch wenn der Morgen nur eine violett glimmende Verheißung am Horizont war. Ich hatte einen Beutel über der Schulter hängen, gefüllt mit Pökelfleisch, Brot und einigen Äpfeln – dem einzigen, was in der Markthalle noch feilgeboten wurde. In meiner Hand hielt ich einen Schlauch Wein.

„Wir mussten doch eine Ausnahme machen und die Zugbrücke früher hinunterlassen“, sagte die hagere Wache.

Ich blieb vor dem Torhaus stehen. „Dabei hatte ich euch nun eigens einen Schlauch Wein mitgebracht.“

„Können wir den trotzdem haben?“ Der Fette zeigte zum ersten Mal so etwas wie Interesse.

Ich umklammerte den Weinschlauch fester. „Nur, wenn ihr mir sagt, für wen ihr eine Ausnahme gemacht habt.“

Es interessierte mich, wen – oder was – die Wächter eingelassen hatten. Ich hielt jetzt, da sich Baphomet so plötzlich gemeldet hatte, alles für möglich. Die Angst kehrte zurück, fiebrig und pulsierend.

„Oh, ganz hohe Kirchenmänner“, sagte der Hagere voll Ehrfurcht.

„Jaja, übertreib’s nicht“, raunte der andere. „Irgendein päpstlicher Legat und sein Gefolge. Fünf Reiter in silbernen Rüstungen, mit feinen Verzierungen. Die Gesichter hätteste sehn’ müssen, Mönchlein. Engelsgleich, aber die Augen so flammend wie die von Dämonen. Einer davon noch dazu mit dunkler Haut, als hätte man ihn aus der Asche der Höllenfeuer geformt.“ Er kratzte sich im Schritt. „Krieg’ ich jetzt den Wein?“ Ich warf ihm den Schlauch zu.

Die beiden sagten mir noch etwas, als ich den Torbogen durchquerte, aber ihre Worte klangen in meinen Ohren viel zu blechern, als dass ich sie hätte verstehen können.

Ich schluckte trocken. Der päpstliche Legat. Nun war mir nicht nur Baphomet direkt auf den Fersen, sondern auch die Häscher des Vatikans. Ich fluchte so gotteslästerlich, dass es für drei Anklagen als Ketzer gereicht hätte.

Schnellen Schrittes ließ ich das Torhaus hinter mir und folgte der matschigen Straße gen Norden. Weißbirken drohten als riesige Blattungetüme auf den Feldern, von denen viele brachlagen oder auf denen Gruben für Massengräber ausgehoben wurden. Westlich von ihnen fraß sich der Rhein als matt schimmernder Wurm durch das Land, tobend unter einer titanischen Wut. Davon völlig unbeeindruckt zogen Nebelbänke über ihn hinweg, umwaberten mich wie meine Furcht und die Geheimnisse der vergangenen Nacht.

Warum war ich – ausgerechnet ich – von der Pest verschont worden? War es Baphomet, der mich von der Plage befreit hatte, damit ich weiter seinem teuflischen Spiel ausgeliefert war? Oder hatte Gott einfach einen furchtbaren Sinn für Humor? Wie auch immer – ich sollte diese Chance nutzen, um jenen gottgesandten Alchemisten zu finden.

Nicht für mich. Nur für euch, meine Brüder, nur für euch.

Nicht mir, o Herr, nicht mir, sondern eurem Namen gib Ehre …

Jaques de Molay, Großmeister der Templer, schlurfte aus dem Nebel. Der Blick seiner Augen bohrte sich wie ein Armbrustbolzen in meinen Leib. Sein Bart war lang und ungepflegt, seine Wangen eingefallen – genau wie am Tag der Hinrichtung. Ich schreckte zurück, strauchelte und stürzte in das Farngestrüpp am Wegesrand. De Molay starrte auf mich hinab und ich rechnete damit, dass er mich nun bespucken und als Verräter beschimpfen würde. Stattdessen sagte er mit breitem rheinischen Dialekt: „Watt treibst du da, du Galgenkrähe?“

Ich atmete erleichtert aus. Ohne die Schleier meiner verqueren Gedanken erkannte ich, dass der Mann dem Templer nur oberflächlich ähnelte. Die Gesichtszüge waren völlig anders proportioniert, die Körperhaltung unterschied sich deutlich. Selbst mit der Gewissheit des Todes war Jaques de Molay noch stolziert, den Rücken durchgedrückt und die Schritte raumgreifend. Der Rücken der Gestalt vor mir krümmte sich hingegen wie ein Birkenast.

„Ich … bin nur ausgerutscht.“ Ich rappelte mich auf und lächelte dem Fremden flüchtig zu. „Weiterhin eine gute Reise, mein Sohn.“

Ich sah zu, dass ich verschwand und ließ den Kerl zurück. „Komisches Volk ist auf den Straßen …“, hörte ich ihn noch murmeln.

Wenn ich weiterhin so schleppend vorankam, würde der päpstliche Legat mich bald einholen. Pietro di Tremante gehörte zu den hartnäckigsten Vollstreckern des Heiligen Stuhls. Er würde in Duisburg so lange nachforschen und Bürger befragen, wenn nötig auch mit Gewalt, bis er wusste, wohin ich verschwunden war. Da mein Auftreten in der Salvatorkirche alles andere als unauffällig ausgefallen war, würde dies wohl nicht lange dauern.

Mit hastigen Schritten wanderte ich weiter. Der Nebel verdichtete sich und raubte die Sicht auf das Schwemmland des Rheins. Seine erdige, frische Luft war nach dem Gestank der pestschwangeren Stadt eine Wohltat und sättigte meine Lungen mit Kraft. Ab und an hörte ich das heisere Rufen einer Krähe, nur selten kreuzten ein Fuhrwerk oder andere Wanderer meinen Weg. Ich hatte das Gefühl, gut voranzukommen, auch wenn mich die Nebelwand nicht sehen ließ, ob es zutraf.

Du folgst dem Lauf des Höllenflusses Kokytos, dröhnte Baphomets Stimme in meinem Schädel. Von seinen Wassern hast du schon längst getrunken, Verdammter. Nun kommst du zum Styx! Der Fährmann erwartet dich. Vergiss nur nicht sein Fährgeld!

Ich stöhnte auf. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Zum ersten Mal sah ich den Nebel um mich herum als direkte Bedrohung an, fühlte mich verloren in seiner grauen Endlosigkeit.

Unter mir das stetige Pflatsch-Pflatsch meiner Schritte, vor mir die Konturen eines Ufers – und von etwas anderem. Die Umrisse eines hochaufgeschossenen Menschen; zwei Ziegenhörner, die ihm aus der Stirn wucherten; ein Flügelpaar, das aus seinem Rücken ragte; das fahle Leuchten eines Halbmonds, der über seiner ausgestreckten Hand schwebte, ein Irrlicht im Nebel. Er war plötzlich erschienen, wie aus dem Nebel manifestiert. Nur wenige Schritte von mir entfernt.

Ich erstarrte. Was der zügige Marsch noch nicht vermocht hatte, bewältigte nun diese Erscheinung: Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich atmete stoßweise.

Baphomet beugte sich hinab, legte etwas auf die Straße. Er baute sich wieder zur vollen Größe auf und für einen Moment schien es mir, als würde er mich ansehen.

Durch den Nebel hindurch.

Durch mein Fleisch.

Geradewegs in meine Seele.

Dann verschlang ihn der Dunst.

Für einige Augenblicke stand ich einfach nur da, wobei es fast ein Wunder darstellte, dass mein schlotternder Körper dazu noch in der Lage war. Ab und an hatte ich Schatten auf Häuserdächern gesehen, glimmende Augen in engen Gassen. Hatte gemeint, einen Gehörnten in einer Menschenmenge zu sehen. Aber noch nie hatte sich Baphomet mir so nahe und deutlich gezeigt.

Zögerlich setzte ich einen Fuß vor den anderen, den Blick zu Boden gerichtet. Was hatte er auf die Straße gelegt? Ich erkannte im Dreck zwei Münzen, bückte mich und hob sie auf. Auf der einen Seite war das Profil eines Mannes abgebildet, auf der anderen stand etwas in einer Sprache, die ich nicht entziffern konnte, möglicherweise Griechisch. Trotzdem wusste ich nur zu gut um die Bedeutung der beiden Geldstücke. Sie waren der Obolus, der Preis für die Überfahrt ins Totenreich. Wollte Baphomet mir Angst einjagen? Verhindern, dass ich ins Pestland ging? Oder wollte er mich dorthin locken, um endlich sein Werk an mir zu vollenden?

Grimmig steckte ich die Münzen in meinen Geldbeutel. So leicht ließ ich mich nicht beirren. Die Schritte fester als zuvor setzte ich meinen Weg fort. Der Nebel klarte weiter auf und gab den Blick frei auf das Ufer der Ruhr. An die Straße schloss sich ein Steg an, gesäumt von einer Sandbirke, deren Äste müde in den Fluss hingen.

Ein Kahn ankerte am Steg, der noch nicht einmal diesen Namen verdient hatte. Er machte eher den Eindruck eines Floßes; notdürftig aneinandergebundene Stämme, ein langer Ast als Ruder. An der Birke lehnte ein großer Mann und nippte an seinem Becher.

„Seid gegrüßt, Reisender!“, rief er mit rasselnder Stimme. „Darf Euch Charon mit über den Fluss nehmen?“

Ich erstarrte, wenige Schritte vor dem Fährmann. Charon – dies war der Name des Fährmanns der Unterwelt. Und nur kurz zuvor hatte mir Baphomet die zwei Obolus überreicht. In mir erwuchs die Versuchung, von hier zu verschwinden und flussaufwärts nach einem anderen Fährmann zu suchen.

Während er grinste, vertieften sich Charons Falten wie neu aufgerissene Wunden. „Ist mir das letzte Mal vor Jahren bei ’nem Gelehrten aus Köln passiert, dass einer beim Hören meines Namens so zusammengezuckt ist. Der war so in Eile, der konnt’ mir nicht mal erklär’n, was da so Besonderes dran is’. Wenn du’s mir sagst, fahr’ ich dich umsonst rüber – auch wenn die Zeiten schlecht für mich sind.“

Ich atmete erleichtert aus. Ein gewöhnlicher Mann. Etwas schrullig und mit rheinischem Dialekt. Seine Augen funkelten amüsiert und nicht glimmend rot wie in der Sage. Seinen Kopf bedeckten lediglich einige Altersflecken, doch keine schlohweißen Haare.

„Woher habt Ihr den Namen, wenn Ihr noch nicht einmal wisst, was er bedeutet?“, fragte ich aus Vorsicht.

Charon machte sich an der Feuerstelle neben dem Steg zu schaffen. „Möchteste Tee?“

„Gern.“ Ich legte mein Bündel ab und setzte mich ins Gras, den Rücken gegen die Birke gelehnt. Bis Simon hier eintraf, konnte ich mir die Zeit ruhig so angenehm wie möglich gestalten.

„Mein Vater hat’n mir gegeben, den Namen. Und der hat’n von seinem alten Herrn. Und so weiter.“ Er holte einen weiteren irdenen Becher aus seiner Tasche, umfasste den Griff der Kanne mit einem Tuch und goß Tee ein.

„Charon – das ist in einer sehr alten Mythologie der Fährmann, der die Toten in die Unterwelt fährt“, erklärte ich.

„Na, dann weiß ich ja, bei wem jetzt meine ganzen toten Kunden sind“, lachte Charon und entblößte dabei mehrere Zahnlücken.