Tracie Peterson



Titelschriftzug





Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer,
E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das
E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book Shop, gekauft hat.
Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von
uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und
dem Verlagswesen.

Bestell-Nr. 395.147

ISBN 978-3-7751-7071-0 (PDF)
ISBN 978-3-7751-7026-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5147-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2010
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch
Titelbild: shutterstock.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002
und 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.




Für Deb und Brian,
denen ich genussreiche Stunden am Radio,
gemeinsames Lachen und jede Menge Ermutigung verdanke!

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

Anmerkungen

1

Mai 1879, Montana

»Miss Gwen! Miss Gwen! Kommen Sie, schnell!«

Gwendolyn Gallatin blickte von ihrer Näharbeit auf und legte den Kopf schief – eine Bewegung, mit der sie unbewusst den Hund der Familie, Major Worthington, nachahmte. Die Hintergrundgeräusche einer ausgelassenen Feier, akzentuiert von gelegentlichen Gewehrschüssen, die von draußen hereindrangen, hatten sie schon den ganzen Abend begleitet und jetzt war sie höchst überrascht, in dem ganzen Krawall plötzlich ihren Namen zu hören.

Ein etwa vierzehnjähriger Junge kam durch die Vordertür hereingestürmt. Er blieb abrupt stehen und rang nach Luft. Blondes Haar fiel ihm ins schmutzige Gesicht. »Miss Gwen!« Er war so atemlos, dass er kaum reden konnte.

»Du meine Güte, Cubby, was ist denn los?« Gwen legte ihre Arbeit beiseite und stand auf. Aus der Küche kamen ihre Schwestern Lacy und Beth herbeigelaufen.

»Euer ... euer Vater«, stieß Cubby hervor, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Er ist erschossen worden. Mein Vater sagt, ihr sollt ganz schnell kommen.«

Zutiefst entsetzt schlug Gwen die Hand vor den Mund und sah panisch zu ihren Schwestern hinüber. Lacy, die jüngste der drei, die noch nicht einmal 20 war, rannte als Erste zur Vordertür. Sie trug einen langen Hosenrock, der ihr etwas mehr Bewegungsfreiheit ließ, doch Beth war ihr, obwohl sie sehr viel damenhafter gekleidet war, dicht auf den Fersen.

»Rasch, bring uns zu ihm, Cubby«, sagte Gwen, doch ihre Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen. Mit Beinen, die sich anfühlten wie Bleiklötze, folgte sie ihren Schwestern.

»Er liegt auf der Straße, vor Papas Saloon.« Cubby rannte den Mädchen nach; Gwen war unmittelbar hinter ihm.

Als sie eintrafen, hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge gebildet. Lacy kniete neben ihrem Vater im Schmutz. Gwen sah, wie Beth dem älteren Mann ein spitzengesäumtes Taschentuch auf die Brust presste. Als sie näher kam, machten die Menschen ihr bereitwillig Platz. Sie sah das aschfarbene Gesicht ihres Vaters und hörte das leise Gemurmel der umherstehenden Männer, größtenteils derbe Cowboys, die nach Schweiß und Bier stanken.

»Gwennie«, flüsterte ihr Vater, als sie sich neben ihn kniete.

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Er fühlte sich bereits kalt an. »Wir bringen ihn ins Haus«, befahl sie ihren Schwestern.

»Nein«, sagte ihr Vater. Sein Atem ging mühsam. »Mit mir ist es ... zu Ende.«

»Unsinn, Vater. So schlimm ist es auch wieder nicht, angeschossen zu werden«, sagte Lacy resolut und schob eine Strähne ihres rotblonden Haars zurück, die sich gelöst hatte.

Beth weinte leise, doch ihr Vater schüttelte langsam den Kopf. »Nicht weinen, Bethy. Ich gehe jetzt in den Himmel.« Er lächelte seine Töchter kraftlos an und schloss die Augen. »Dass ihr mir ... nicht immer ... so dünnen Kaffee kocht, Mädchen.« Und dann war er tot.

Gwen sah ihren Vater an, als erwartete sie noch mehr. Bestimmt hatte er nur vor Schmerzen die Augen geschlossen. Er konnte nicht tot sein.

Beth blickte zu Gwen hinüber. »Er atmet nicht mehr.«

Lacy schrie: »Vater! Vater!«

Das Ganze war wie ein böser Traum. Die Menschen redeten und gestikulierten und liefen durcheinander, doch Gwen selbst war wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen oder zu verstehen, was sie sagten. Ihr Vater war tot. Was um Himmels willen sollten sie jetzt tun?

»Ich nehme das in die Hand«, sagte Simon Lassiter und half Gwen aufzustehen. Sein Bruder Nicholas stand dicht neben ihr. Die Lassiter-Jungen waren schon immer gute Freunde der Gallatins gewesen.

Gwen blickte ihn an und sah den Kummer in seinen Augen. »Was sollen wir tun?«, fragte sie leise.

»Wir holen den Sheriff«, erklärte Lacy. Sie sah die umstehenden Cowboys an. »Wer von euch hat ihn erschossen?«

»Niemand hat ihn erschossen, Miss Lacy«, sagte Cubby und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht mit Absicht. Die Jungs haben einfach nur in die Luft geschossen. Sie haben gefeiert.«

»Cubby hat recht«, sagte der Vater des Jungen. Rafe Reynolds zog ruhig an seiner Zigarre und deutete dann auf die betrunkenen Männer. »Keiner von ihnen wollte George Gallatin verletzen.«

»Aber er ist tot«, sagte Lacy und sah Gwen an. »Irgendjemand muss doch dem Gesetz Genüge tun, auch hier draußen.« Sie fing an zu weinen. »Vater verdient Gerechtigkeit.«

Beth legte den Arm um Lacy und nickte.

»Ihr Mädchen geht am besten zur Pension zurück«, wies sie Simon an. »Wir bringen George in den Laden. Nick kann den Sheriff holen, während ich ihn ... für das Begräbnis ... vorbereite.«

Sein Blick wirkte, als stünde ihm ein Kampf mit einem Grizzly bevor.

»Ich hole seinen Anzug«, sagte Gwen. Sie schien plötzlich nichts mehr zu empfinden. Der Schock hatte sie betäubt. Lacy und Beth weinten, doch Gwens Augen blieben trocken. Weinen war sinnlos. Ihr Vater war tot, und das war ebenso sehr ihre Schuld wie die Schuld des Mannes, der das Gewehr abgefeuert hatte. Schließlich hatte sie ihn an diesem Abend aus dem Haus geschickt. Sie war verflucht.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, was geschehen ist«, sagte Lacy, als sie am offenen Grab ihres Vaters standen.

Sie war 19 und die jüngste der Gallatin-Mädchen, wie die drei genannt wurden. Lacy war ein Wildfang und schockierte die Leute häufig, weil sie zum Reiten Hosen trug, im Herrensitz ritt und auch mal aufs Dach kletterte und ein paar Dachziegel ersetzte. Sie war der Sohn, den ihr Vater nie hatte, und Gwen konnte sich, was die schwereren Arbeiten im und um Gallatin House betraf, immer auf sie verlassen.

»Dave Shepard sagt, es war ein Unfall«, erklärte Gwen und blickte über das offene Grab auf die Umstehenden, die am Begräbnis teilnahmen.

»Natürlich hat Dave das gesagt«, antwortete Lacy mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Ich habe mit ihm und Sheriff Cummings gesprochen. Beide halten es für einen unglücklichen Zufall.«

Beth betupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Wir können nicht beweisen, wer es war. Die Männer haben gefeiert und fast alle haben dabei auch in die Luft geschossen, hat Rafe gesagt.«

Lacy kreuzte die Arme vor der Brust. »Das glaube ich ihm genauso, wie ich glaube, dass Major Worthington keine Küken tötet.«

Gwen warf einen Seitenblick auf den Hund, der seit über zwei Stunden treu am Grab seines Herrn saß. »Das bringt uns nicht weiter.« Sie blickte ihre Schwestern an, sah den tiefen Schmerz in ihren Augen und fragte sich, ob sie ihr wohl die Schuld am Tod ihres Vaters gaben. Sie jedenfalls tat es.

»Ich werde Hilfssheriff Shepard sagen, was ich von ihm halte«, sagte Lacy und stapfte davon, wobei sie vorsichtig ihren Rock schürzte, denn der Weg war nass und voller Schlamm.

Beth sah Gwen an. »Ich gehe ihr besser nach.«

»Ja.« Gwen wusste, wie Lacy mit Dave Shepard und anderen Männern, die ihr im Weg standen, umspringen würde. Lacy war erst fünf gewesen, als ihre Mutter bei einer Geburt starb, und schien einen ständigen Groll gegen alle Welt zu hegen, vor allem jedoch gegen Männer.

Beth eilte Lacy nach. Simon Lassiter trat zu Gwen. »Es tut mir so leid, was mit deinem Vater passiert ist, Gwen.«

Gwen nickte. »Ich weiß, Simon. Du hast einen schönen Sarg gemacht. Was bin ich dir dafür schuldig?«

»Gar nichts. Nick und ich wollten ihm auf diese Weise die letzte Ehre erweisen.« Er senkte den Blick. »Er hat es nicht verdient, einfach so abgeknallt zu werden.«

»Nein, das hat er nicht«, sagte Gwen. »Wirklich nicht. Wenn ich ihn nicht zu dir geschickt hätte, damit er die Messer schärfen lässt, wäre er noch am Leben.«

Simon sah sie an. »Es war nicht deine Schuld, Gwen. Du kannst dir doch nicht die Schuld daran geben!«

»Ich weiß«, antwortete sie, weil sie wusste, dass er diese Antwort erwartete. Sie wollte sich auf keine Diskussion darüber einlassen, dass er unrecht hatte, deshalb nickte sie nur.

Gwen sah den Mann an, der vier Jahre älter war als sie. Er würde sie nicht verstehen, auch wenn sie versuchte, es ihm zu erklären. Ihr Leben stand ganz im Zeichen des Todes. Jede Sekunde ihres Daseins war ihr schmerzhaft bewusst, dass Menschen sterben konnten.

»Hast du mir zugehört?«, fragte Simon.

Gwen schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich war ganz in Gedanken.«

»Ich habe gefragt, ob ich dich nach Hause bringen darf«, wiederholte Simon. »Nick und ich werden das Grab schließen und ich möchte nicht, dass du dabei bist. Ich finde es nicht gut, wenn du dabei zusiehst.«

Gwen blickte in das offene Erdloch. Die Holzkiste mit den sterblichen Überresten von George Gallatin stand neben dem Grab. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen.

»Nein, ich kann gut allein gehen. Tu, was du tun musst, Simon. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Bevor sie ging, warf sie noch einen Blick auf das Grab rechts neben dem ihres Vaters. Harvey. Sie dachte daran, wie gut ihr Vater und ihr Ehemann sich verstanden hatten. Sicher würde es ihnen gefallen, dass sie jetzt auch im Tod zusammen waren. Leider konnte sie um keinen der beiden weinen. Ein Leben des Verlusts und der Sorgen hatten ihren Tribut gefordert. Sie hatte keine Tränen übrig.

Gwen ließ den Kopf sinken und machte sich auf den Heimweg. Im Weggehen hörte sie noch, wie Simon und Nick den Sarg ihres Vaters ins Grab hinunterließen. In diesem Grab lag ein Stückchen ihres Herzens, so wie in den Gräbern all der anderen Menschen, die sie verloren hatte. Manchmal hatte sie Angst, dass nichts mehr von ihrem Herz übriggeblieben war.

Harvey hätte ihr gesagt, dass sie töricht war. Er war so voller Leben gewesen. Harvey hatte weder an Flüche noch an Pech geglaubt. Er schien sein Leben wie im Eiltempo zu leben. Vielleicht war er ja deshalb so jung gestorben – sein Leben war einfach aufgebraucht.

»Manchmal möchte ich diesem Mann einen Kinnhaken geben«, erklärte Lacy, während sie und Beth sich zu Gwen gesellten.

»Was hat Hilfssheriff Shepard denn jetzt wieder getan?«, fragte Gwen nachsichtig und schob die Erinnerung an den Mann, den sie geliebt hatte, energisch beiseite.

»Es geht nicht darum, was er getan hat«, berichtete Lacy, »sondern um das, was er nicht getan hat. Er will nicht einmal nach dem Mörder unseres Vaters suchen.«

»Du darfst nicht ungerecht sein, Lacy. In dieser Nacht standen über ein Dutzend Männer um Vater herum und alle waren betrunken, weil sie das Ende des Roundups1 gefeiert haben. Da kannst du nicht erwarten, dass Hilfssheriff Shepard herausfindet, wessen Kugel Vater getroffen hat.«

Ihre kleine Schwester blieb abrupt stehen. »Nun, irgendjemand muss es schließlich herausfinden. Dann wird es wohl an mir hängenbleiben.«

Gwen nahm den Arm ihrer Schwester. »Bitte, hat das nicht Zeit? Vater ist noch nicht einmal unter der Erde. Mrs Shepard ist im Haus und bereitet den Leichenschmaus vor. Wir müssen uns wenigstens kurz zeigen.«

Lacys unnachgiebiger Gesichtsausdruck verschwand. »Entschuldige, Gwen. Natürlich kann ich noch warten. Ich habe nicht nachgedacht.«

Gwen strich Lacy über den Arm und ging auf das Haus zu. »Es gibt so viel zu überlegen. Vater hat uns alles hinterlassen, aber die Frage ist doch: Wollen wir es überhaupt haben?«

»Was meinst du damit?«, fragte Beth.

»Ich meine die Pension. Gallatin House. Sollen wir sie weiterführen? Es war das Einzige, was Vater zuwege gebracht hat. Das Einzige ...« Ihre Stimme brach; sie musste sich anstrengen weiterzureden. »Das Einzige, mit dem er Erfolg hatte.«

Beth legte Gwen den Arm um die Taille. »Er hatte den Erfolg verdient. Die Leute mochten ihn und die Arbeit hat ihm große Freude gemacht.«

Sie näherten sich dem länglichen Gebäude von der schlammigen Straße her, auf der die Wagen fuhren. Als das Haus in Sicht kam, blieben sie erst einmal stehen. Durch den Regen, der letzte Nacht gefallen war, sah alles wie frisch gewaschen aus. Die Regentropfen glitzerten im jungen Gras wie Diamanten in der Mittagssonne.

Die Schwestern hatten miterlebt, wie ihr Vater in einem Beruf nach dem anderen versagte. Er hatte alles versucht, um reich zu werden und die Anerkennung seiner Mitmenschen zu gewinnen, doch ohne Erfolg. Aber George Gallatin war ein freundlicher Mann und ein guter Vater gewesen, der seine Töchter sehr geliebt hatte. Er war mit ihnen nach Gallatin in Montana gezogen, weil er glaubte, dass der Name ihnen Glück bringen würde. Gallatin House war das einzige seiner zahlreichen Projekte gewesen, das je von Erfolg gekrönt gewesen war.

»Er war ein guter Mensch«, sagte Gwen schließlich.

»Er war immer freundlich und hat nie die Stimme erhoben«, antwortete Beth.

»Papa hat nie jemanden von der Schwelle gewiesen«, fügte Lacy hinzu. Ihr Zorn schien verraucht, für den Moment. Sie seufzte schwer.

Gwen straffte die Schultern. »Nun ja, wir müssen uns ja nicht gleich entscheiden.«

»Ich habe nichts dagegen weiterzumachen«, antwortete Beth. »Meiner Ansicht nach sollten wir bleiben. Wo sollen wir auch hingehen – drei Frauen, ganz allein?«

»Genau die Tatsache, dass wir drei Frauen sind, die völlig allein stehen, ist Grund genug, woanders hinzuziehen«, entgegnete Gwen. »Denk doch an das, was Mrs Shepard mal gesagt hat: ›Eine alleinstehende, unverheiratete Frau in diesem Land ist wie Wasser für einen durstigen Mann.‹ Ich nehme an, das macht uns zum Wasserloch für eine ganze Herde durstigen Viehs.«

»Ich habe keine große Lust, ein Wasserloch zu sein«, sagte Beth stirnrunzelnd. »Und außerdem sind wir ja nicht völlig mittellos. Wir haben ein schönes Haus und gute Freunde, auch wenn wir Rafes Saloon in Kauf nehmen müssen und sein Bestreben, jedermanns Ruf im ganzen Umkreis zu ruinieren.«

»Außerdem verdienen wir gut durch den Vertrag mit der Postkutschen-Gesellschaft«, fügte Lacy hinzu. »Und auch das Abkommen mit den Frachtunternehmen bringt etwas ein.«

»Jedenfalls bis zum Ende des Sommers«, antwortete Gwen. »Der Vertrag mit der Postgesellschaft muss im August neu ausgehandelt werden, wie ihr wisst.«

»Dann lass uns doch bis dahin abwarten«, entgegnete Beth. »Es ist ja erst Mai. Der Sommer fängt erst an, in den kommenden Monaten können wir mit der größten Zahl an Gästen rechnen. Warum sehen wir nicht, was uns der Sommer bringt und wie wir mit der Arbeit zurechtkommen?«

»Ich wäre einverstanden«, sagte Lacy entschlossen. »So bleibt mir Zeit, Vaters Mörder zu suchen.«

Beth und Gwen blieben stehen und sahen ihre Schwester an. »Wie bitte?«, fragte Gwen, noch bevor Beth etwas sagen konnte.

Lacy zuckte mit den Schultern und blickte ihre Schwestern herausfordernd an. »Wenn das Gesetz sich nicht darum kümmert, werde ich es eben tun. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit.«

Gwen runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass der Sheriff Angst hat. Es gibt einfach keine Möglichkeit herauszufinden, wer Vater erschossen hat.«

»Dann sollte er alle hängen«, antwortete Lacy.

»Das ist nicht dein Ernst.« Das Entsetzen über das, was Lacy gesagt hatte, war Beths Stimme deutlich anzumerken. »Du kannst doch nicht wollen, dass unschuldige Menschen sterben.«

»Nein. Aber ich wollte auch nicht, dass Vater stirbt. Er war der Unschuldigste von allen. Er hätte nicht einmal ein Glas Alkohol in die Hand genommen, geschweige denn sich betrunken. Irgendjemand muss dafür bezahlen, dafür werde ich sorgen.« Damit stürmte sie los, aufs Haus zu, und gab weder Beth noch Gwen Gelegenheit zu einer Antwort.

Beth sah ihre ältere Schwester an und schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass sie wirklich Ernst macht, oder?«

Gwen seufzte. »Ich kenne Lacy. Wir sollten besser alle Stricke verstecken, die sich für einen Galgen eignen würden. Ich kann sie mir gut als Ein-Frau-Lynchmob vorstellen.«

»Ja«, sagte Beth und nickte. Auch sie ging weiter, auf das zweistöckige Blockhaus zu. »Du hast recht. Ich glaube, es war Vaters beste Idee überhaupt, als er vorschlug, ein Schloss an Lacys Zimmer anzubringen – von außen, nicht von innen.«

Gwen lächelte. »Wir sollten vielleicht die Lassiter-Brüder darum bitten.«

Spät abends, ihre Schwestern waren längst auf ihre Zimmer gegangen, kroch Gwen ins Bett und versuchte, nicht mehr an den hinter ihr liegenden Tag zu denken. Sie war dankbar, dass die nächste Postkutsche erst am Mittwoch erwartet wurde. So hatten sie noch einen Tag Zeit, sich um das Allernötigste zu kümmern.

Sie schlüpfte in die tröstliche Wärme der Daunendecke, zitternd von der eisigen Kälte im Zimmer. Mai in Montana bedeutete, dass man, sobald die Sonne unterging, ein Feuer anmachen musste, doch Gwen hatte sich heute nicht dazu aufraffen können.

Es fing wieder an zu regnen. Das leise, stetige Geräusch der Regentropfen am Fenster und auf dem Dach tröstete Gwen irgendwie. Sie überlegte kurz, ob sie beten sollte, aber es war lange her, seit sie das letzte Mal gebetet hatte. Ob Gott sich überhaupt mit jemandem abgab, der verflucht war? Früher hatte sie oft in der Heiligen Schrift Trost gesucht, doch was sie dort las, verfolgte sie bis in ihre Träume hinein und bestärkte sie noch in ihrer Überzeugung, dass sie verloren war. Hatte sie doch in vielen Kapiteln der Bibel gelesen, dass es so etwas wie Flüche wirklich gab, dass Gott Menschen, ja ganze Völker verflucht hatte, und zwar mehr als einmal.

Darüber hinaus schien es so, als ob Gott einem Menschen ein für alle Mal den Rücken zukehrte, wenn er ihn erst einmal verflucht hatte. Gwen konnte also kaum erwarten, dass Gott sich ihre Gebete anhörte, da er sie eindeutig verflucht hatte.

Sie verkroch sich tiefer unter ihrer Bettdecke und zog die Knie bis an die Brust hoch, so wie sie es als Kind gemacht hatte, wenn sie Angst hatte. Sie sehnte sich so nach Trost, hoffte verzweifelt, dass sich etwas ändern möge. Aber nichts schien sich je zu ändern.

»Und jetzt will Lacy es mit der ganzen Welt – oder zumindest mit unserer Gegend hier – aufnehmen und den Mann suchen, der Vater getötet hat. Die arme Beth geht auf die Barrikaden wegen Rafes leichten Mädchen und ich stecke mittendrin und weiß nicht, was ich tun soll.«

Das Leben in Montana war eigentlich gar nicht so schlecht, das musste sie zugeben, wenn es auch ein paar nicht zu unterschätzende Hindernisse auf dem Weg hierher gab – vor allem die Berge, die man überqueren musste, was ganz und gar nicht einfach war. Sie dachte an Harvey Bishop und lächelte. Harvey war ihr Ritter in schimmernder Rüstung gewesen oder doch zumindest ihr Minnesänger, der durch das Land gezogen war und das Leben liebte. Er war schnell und völlig überraschend in ihr Leben getreten und hatte es genauso wieder verlassen. An dem Tag, an dem er und Gwen geheiratet hatten, hatte er die Masern bekommen. Zehn Tage später hatte Gwen an seinem Grab gestanden.

Sie blickte zur Zimmerdecke und versuchte, sich an Harveys Gesicht zu erinnern, doch sein Bild war verblasst. Alle hatten gesagt, sie solle ihren Mädchennamen behalten und nicht Harveys Namen annehmen; immerhin war die Ehe nie vollzogen worden. Schon das war eine Quelle ständiger, größter Verlegenheit für Gwen. Vor ihrer Heirat hatte sie sich über die derben Anspielungen geärgert, die eine Braut sich pausenlos anhören musste. Doch jetzt, da jeder wusste, dass sie die Hochzeitsnacht nicht erlebt hatte und sie deswegen bemitleidete, schien alles noch viel schlimmer.

»Ärgere dich doch nicht über die Leute, Gwennie«, hatte ihr Vater gesagt. »Sie sind es nicht wert. Harvey war ein guter Mensch, nur das zählt. Ob du nun meinen Namen behältst oder seinen trägst, spielt keine Rolle für mich. So oder so – ich liebe dich.«

Gwen war sicher, dass ihr Entschluss, ihren Mädchennamen zu behalten, richtig gewesen war. Hier in Bozeman kannte sie fast keiner. Es war einfacher, wenn alle drei Mädchen unter dem gleichen Namen auftraten. So brauchte sie nicht laufend Erklärungen abzugeben. Von Zeit zu Zeit fragte sie sich, ob Harvey wohl gekränkt wäre, wenn er wüsste, dass sie nicht den Namen Bishop trug, aber sie dachte nie wirklich darüber nach.

Als sie endlich einschlief, grübelte sie noch im Traum darüber, was die Zukunft wohl bringen mochte.

Lacy wanderte bis weit nach Mitternacht rastlos in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hatte schon oft in ihrem Leben versagt, aber diesmal würde sie nicht versagen.

Ich werde Vaters Mörder finden. Ich gelobe, dass ich ihn finde. Ich werde nicht ruhen, bis ich ihn gefunden habe. Und wenn ich lügen und betrügen muss, um mein Ziel zu erreichen, werde ich auch das tun. Am Ende werde ich Gerechtigkeit erfahren.

Sie wusste, dass ihr Vater und ihre Schwestern ihr Vorhaben niemals billigen würden, doch das war ihr egal. Das Haus wirkte leer ohne den großen Mann mit dem lauten Lachen, der die drei Mädchen großgezogen hatte. Ohne ihn war die Zukunft ohne jeden Glanz.

Sanft strich sie über den weichen Flanell des Nachthemds ihres Vaters. Sie hatte Gwen und Beth nicht gesagt, dass sie es an sich genommen hatte, aber die beiden würden es verstehen. Dann zog sie ihr eigenes Nachthemd, das einen weiblicheren Schnitt hatte, fester um sich, schlüpfte aus dem Zimmer und stieg leise die Treppe hinunter. Major Worthington schlief sicher bei Gwen. Gwen war in das Schlafzimmer ihres Vaters umgezogen, in dem der Hund zu schlafen pflegte. Sie hatte gemeint, es sei jetzt nicht mehr nötig, dass sie und Beth sich ein Zimmer teilten.

Insgeheim glaubte Lacy jedoch, dass sie es nur getan hatte, weil sie verzweifelt eine Rückzugsmöglichkeit suchte, um den Verlust bewältigen zu können.

Von draußen auf der Veranda hörte man ein raues Maunzen. Calvin J. Whiskers, ihr sandfarbener Tigerkater, tat lautstark kund, dass die Nacht zu kalt war, um sie draußen zu verbringen. Lacy öffnete die Tür und sah auf den Kater hinunter. Er maunzte erneut, als wollte er sagen, dass es höchste Zeit war, dass ihm jemand aufmachte.

»Es ist nicht meine Schuld, dass du für Lassiters Julia den Romeo gespielt hast. Dein Liebesleben ist erfüllter als das aller Menschen im Umkreis von 15 Kilometern.«

Calvin marschierte an ihr vorbei, ohne sich in irgendeiner Form dazu zu äußern. Lacy lächelte. Sie ließ die Tür offen und trat auf die Veranda hinaus. Die Nachtluft war durch den Regen empfindlich kalt geworden. Sie schlang die Arme um sich und schauderte.

Als sie ans andere Ende der Veranda ging, sah sie, dass es auch im Saloon still geworden war. Ohne die Cowboys, die am Wochenende kamen, und die Postkutschenreisenden gab es nicht genügend Besucher, um Rafe und seine Mädchen zu beschäftigen.

Lacy sah auf die Straße hinaus, dorthin, wo ihr Vater gestorben war. Sie versuchte, die Stelle in der Dunkelheit auszumachen, doch sie konnte nichts sehen.

»Es ist ihnen völlig gleichgültig«, flüsterte sie in die dunkle Nacht hinein.

2

Gallatin House, wie es genannt wurde, lag an einer Kreuzung des Postkutschennetzes auf der Strecke von Bozeman nach Butte und Helena beziehungsweise Richtung Süden nach Norris und Virginia City. Es war nicht unmöglich, die riesige Weite Montanas zu durchqueren – nur zeitraubend und gefährlich. Die Schlacht am Little-Bighorn-Fluss war noch keine drei Jahre her, und die Indianerkriege, die sich an die schreckliche Niederlage angeschlossen hatten, waren allen noch lebhaft in Erinnerung.

Die Familie Gallatin genoss einen guten Ruf bei der Postkutschen-Gesellschaft wie auch bei den lokalen Frachtunternehmen. Bei ihr konnte man sich auf saubere Betten ohne Läuse, gute, üppige Mahlzeiten und nette Bedienungen freuen, die bereit waren, sich geduldig die weitläufigen Geschichten müder Reisender anzuhören. Und für einen oder zwei Extra-Dollar wurden einem sogar die Socken und das Hemd gewaschen und gebügelt, bevor die Postkutsche am nächsten Morgen weiterfuhr. Es gab nur wenige Einrichtungen, die sich solcher Annehmlichkeiten rühmen konnten. Ganz zu schweigen von der heißen Quelle, die auf dem Grundstück sprudelte. Für einen wundgerittenen Cowboy oder einen von der Kutsche gnadenlos durchgerüttelten Reisenden war ein langes Bad in dem warmen, heilkräftigen Wasser die reinste Erholung. Die Quelle machte Gallatin House zu einem gesuchten Refugium, vor allem bei den ortskundigen Reisenden und Frachtkutschern.

Sonst hatte dieses gottverlassene Fleckchen Erde nicht viel zu bieten. Knapp 100 Meter entfernt lag noch Rafes Saloon, sehr zum Leidwesen der Gallatin-Mädchen, und neben dem Saloon die Schmiede und der Mietstall der Lassiters, beides sehr ordentlich und gepflegt. Die Lassiters hatten ebenfalls einen Vertrag mit der Postkutschen-Gesellschaft, und zwar für die Versorgung der Pferde und die Bereitstellung frischer Gespanne. Im Laufe der Jahre hatten sie ihren Tierbestand beträchtlich aufgestockt und standen mittlerweile in dem Ruf, ausgezeichnete Miet- und Verkaufspferde anzubieten.

Darüber hinaus lagen ganz in der Nähe noch mehrere Ranchs und ein paar kleinere Gehöfte, gerade genug, dass immer wieder der Ruf nach einem Kaufmann, einem Arzt und einem Bürgerrat laut wurde. Dabei besaß der Ort noch nicht einmal einen Namen, sondern war lediglich unter der Bezeichnung »Gallatin House Postkutschenstation« bekannt. Das war denn auch der Grund, warum Gwen all das Gerede über Bürgerkomitees für ziemlich töricht hielt.

Gwen hatte schon in großen und in kleinen Städten gelebt, sie kannte den Lärm und das Geschrei in den Minenstädten und die Geschäftigkeit von St. Louis und Denver, doch ihre kleine Postkutschenstation war ihr ans Herz gewachsen. Hier bekam man alles, was man brauchte – irgendwann jedenfalls. Der Schlüssel für das Leben in Montana war Geduld.

Gwen dachte bei sich, dass wahrscheinlich alles einfach so weitergehen würde wie zuvor. George Gallatin hatte den Lassiter-Brüdern angeboten, wann immer sie wollten zu den Mahlzeiten in sein Haus zu kommen, und sie hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Die beiden sorgten gut für die Gallatin-Pferde, ganz zu schweigen von vielen alltäglich anfallenden Arbeiten wie dem Schärfen von Messern, der Pflege von Werkzeugen und Pferdegeschirren und dergleichen mehr. Es war ein Tauschgeschäft, mit dem alle zufrieden waren, denn die Brüder hatten keine Frauen im Haus, die für sie sorgten.

Vor allem Beth schien die Aufmerksamkeiten zu genießen, die Simon und Nick ihr erwiesen. Gwen war zuversichtlich, dass ihre Schwester eines Tages einen der beiden heiraten würde, auch wenn sie im Moment für keinen von beiden auch nur einen Blick übrig hatte. Sie war 22 und in ihren Vorstellungen über Ehe und Romantik war kein Platz für rußgeschwärzte, verschwitzte Schmiede. Davon abgesehen hatten die beiden jungen Männer dichtes schwarzes Haar und braune Augen, mit denen sie ein Mädchenherz durchaus zum Schmelzen bringen konnten. Vor allem aber waren sie tadellos erzogen, pflegten jeden Samstag ein Bad zu nehmen und benutzten bei Tisch ihre Servietten.

Gwen lächelte auch jetzt unwillkürlich, während sie ihr gegenübersaßen und sich große Mühe gaben, gesittet ihr Frühstück einzunehmen, ohne etwas zu verschütten oder zu zerbrechen.

»Wir haben gehört, dass wir Besuch von einem Agenten der Eisenbahngesellschaft kriegen sollen«, verkündete Simon, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte.

Gwen holte die Kanne, um ihm nachzuschenken, doch er winkte ab. »Wollen sie eventuell Schienen hierher verlegen?«

»Möglich ist es«, antwortete Simon. »Immerhin kreuzen sich hier mehrere wichtige Straßen. Die Straße von Bozeman wird immer häufiger benutzt; ihnen ist klar, dass wir durchaus Potenzial haben. Wir wissen, dass die Gleise durch Bozeman und Butte verlaufen sollen, da scheint es nur natürlich, dass sie auch hier oder doch ganz in der Nähe vorbeiführen.«

Nick lachte. »Mein Bruder ist geradezu ein Genie, wenn es um Spekulationen geht.«

Gwen lächelte, doch es war Beth, die fragte: »Glaubst du, die Eisenbahn wird hier alles ändern?«

»Manches wird sich schon ändern«, gab Nick zu.

»Wenn die Eisenbahn da ist, wird die Postkutsche nicht mehr gebraucht werden«, meinte Lacy.

»Doch«, entgegnete Simon. »Nicht jeder kann sich den Zug leisten, und außerdem fährt der Zug nicht überall hin. Er gelangt nur dorthin, wo auch Gleise verlegt sind, und das ist beileibe nicht überall. Die Postkutsche wird immer gebraucht werden. Sie ist vielleicht ein bisschen langsamer und weniger komfortabel, aber wenn die Eisenbahn erst einmal da ist, werden die Preise fallen.«

»Dann wird auch dein Verdienst sinken«, sage Gwen geistesabwesend.

»Nein«, antwortete Simon und schüttelte den Kopf. »Mit den niedrigeren Preisen wird die Zahl der Reisenden zunehmen. Wahrscheinlich werdet ihr in Gallatin House sogar anbauen müssen.«

Gwen lächelte. »Das hat Vater auch immer gesagt. Er meinte, eines Tages würde die Gegend hier so dicht besiedelt sein, dass man keinen Fuß mehr auf den Boden bekommt. Er wollte an der Nordseite anbauen.«

»Es wäre gut, wenn ihr es so einrichten könntet, dass ihr nachts keine Fremden im Haupthaus schlafen lassen müsst. Als euer Vater noch gelebt hat, wart ihr sicher«, sagte Nick mit einem Seitenblick auf Beth, »aber jetzt sieht es anders aus.«

»Wir können nicht alle Gäste in den Anbau stecken«, antwortete Gwen. »Dort gibt es nur vier Zimmer, und das reicht nicht aus, wenn die Postkutsche voll ist. Und die Fahrer lassen wir sowieso immer im Haus schlafen; ihre Kammer liegt oben.«

Simon steuerte ebenfalls seine Überlegungen bei: »Nick hat trotzdem recht. Ihr solltet euch überlegen, wie ihr das ändern könnt.«

»Keine Sorge, Vater hat das alles wohlbedacht. An der Tür zu unserem Flur haben wir ein Schloss. Wenn wir nachts abschließen, kann niemand herein. Das genügt.« Gwen stand auf und begann abzuräumen. »Wir Gallatin-Mädchen sind außerdem höchst erfinderisch. Lacy kann ausgezeichnet mit dem Gewehr umgehen, Beth schwingt die größte Bratpfanne, als sei sie nicht schwerer als ein Buch, und ich habe mein Bügeleisen.« Sie lächelte. »Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen um uns zu machen und auf gar keinen Fall solltet ihr euch einfallen lassen, zu einem Mitternachtsimbiss hereinzuschleichen.«

Lacy schien zum Glück nicht auf das Gespräch geachtet zu haben, denn sonst, das wusste Gwen, hätte sie sich eingemischt und den Männern gesagt, was sie von ihren Bedenken hielt. Sie hasste es, wenn man sie für schwach und hilflos hielt. Um sicherzugehen, dass ihre jüngste Schwester den Mund hielt, dachte sie sich eine Aufgabe für sie aus.

»Lacy, könntest du bitte in die Küche gehen und uns noch ein paar Brötchen holen?«

Lacy blickte auf und schien nur langsam aus ihren Gedanken zurückzufinden. »Wie bitte? Oh natürlich. Ich gehe.« Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Ihr Gesicht wirkte verblüfft, als frage sie sich, wozu um alles in der Welt sie Brötchen wollte.

»Wir müssen ein bisschen aufpassen, was wir sagen. Lacy ist in dieser Hinsicht ziemlich empfindlich«, sagte Gwen leise. »Wenn jemand auch nur andeutet, dass wir nicht selbst für uns sorgen können, fühlt sie sich angegriffen.«

»Tut mir leid, Gwen. Ich habe nicht nachgedacht«, sagte Nick. »Nächstes Mal passe ich besser auf.«

Zu Gwens Überraschung klopfte es plötzlich an der Vordertür, und Rafe Reynolds walzte herein, als gehörte das Haus ihm. Der schmuddelige, ungepflegte Mann war über einen Meter achtzig groß und ausgesprochen muskulös. Wie Gwen vermutete, vom Bierkasten-Heben, aber ganz sicher war sie nicht. Sauber rasiert und mit einem ordentlichen Haarschnitt hätte er vermutlich recht attraktiv ausgesehen, aber seine Manieren würden dann immer noch zu wünschen übrig lassen.

»Wie ich sehe, habt ihr es richtig nett hier zusammen. Drei Mädchen für zwei Jungs. Aber jetzt bin ich ja da, das gleicht das Ganze ein bisschen aus.«

In diesem Augenblick kam Lacy zurück. Sie verzog das Gesicht und knallte den Brotteller auf den Tisch. »Was wollen Sie hier?«

Nick und Simon runzelten die Stirn. Gwen wusste, dass Rafes Auftauchen nichts Gutes für ihr friedliches Frühstück verhieß.

»Und das um diese Stunde«, fügte Beth höhnisch hinzu. »In den vier Jahren, seit wir hierher gezogen sind, habe ich nie erlebt, dass Sie vor dem Mittagessen aufgestanden sind.«

Rafe lächelte sie böse an und winkte ab. »Ich wusste nicht, dass Ihnen etwas daran liegt. Hätte ich gewusst, dass Sie mich beobachten, hätte ich mir ganz bestimmt die Mühe gemacht.«

Beth wurde rot vor Zorn und Gwen sah, dass auch die Lassiter-Brüder unruhig wurden. »Genug, Mr Reynolds. Was wollen Sie?«

»Ich bin gekommen, um Ihnen ein gutes Angebot zu machen.«

Gwen runzelte die Stirn und sah ihre Schwestern an. »Was für ein Angebot?« Bitte lass ihn nicht vorschlagen, mich heiraten zu wollen. Er muss doch wissen, dass ich ihn nie akzeptieren würde.

»Wir haben nichts, das von Interesse für Sie wäre«, sagte Lacy mit zusammengekniffenen Augen.

»Ich dachte, nachdem Ihr Vater in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist«, begann Rafe, »werdet ihr Mädchen jetzt wohl überlegen, was ihr mit eurem Haus anfangt.«

Natürlich, dachte Gwen. Er will die Postkutschenstation kaufen. »Nein, tut mir leid. Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht.«

»Das sollten Sie aber. Ihr habt keinen Mann, der die schwere Arbeit für euch erledigt. Ganz allein werdet ihr nicht lange durchhalten.«

»Nick und ich werden ihnen helfen, wenn es nötig ist«, sagte Simon fest.

Lacy schlug krachend mit der Hand auf den Tisch. Gwen war zuerst verlegen, weil Lacy eine Hose trug statt eines Hosenrocks, merkte aber rasch, dass das wohl ihre geringste Sorge zu sein brauchte, was ihre Schwester betraf. Lacy gab Rafe ebenso große Schuld am Tod ihres Vater wie dem Todesschützen selbst, und Gwen war sicher, dass er das im nächsten Moment zu hören bekommen würde.

»Wir können durchaus selbst für uns sorgen«, sagte Lacy und starrte dem Saloonbesitzer schnurgerade in die Augen. »Auf keinen Fall sind wir auf die Hilfe eines Mannes angewiesen, der mitverantwortlich für den Tod unseres Vaters ist. Und selbst wenn wir daran dächten, das Haus zu verkaufen, würden wir es im ganzen Leben nicht an Sie verkaufen. Wir sind gute Christen und würden Geschäfte, wie Sie sie machen, niemals unterstützen.«

»Sie sind sogar so eine gute Christin, dass Sie Hosen statt eines Kleides tragen«, sagte Rafe lachend. Er strich sich das dichte braune Haar zurück und hob die Hände. »Aber glauben Sie bloß nicht, dass es mir etwas ausmacht zuzusehen, wie Sie die Straße auf und ab flanieren und sich präsentieren. Cubby ist zwar allmählich auch schon interessiert, aber ich denke, er weiß noch gar nicht, was er mit diesen Reizen anfangen soll. Ich könnte ihn zwar zu meinen Mädchen schicken, aber ...«

»Mr Reynolds!«, rief Gwen. Simon und Nick waren aufgesprungen.

»Rafe, das reicht«, sagte Simon. »Die Damen sind an solches Gerede nicht gewöhnt. Verschwinden Sie.«

Rafe war nicht der Mann, der Befehle von anderen annahm, schon gar nicht von einem Jüngeren. Doch da Nick neben seinem Bruder stand, konnte Gwen in seinem Gesicht lesen, dass er sich entschieden hatte. Er würde gehen.

»Ich muss mich entschuldigen, meine Damen. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Und ich hoffe, dass Sie über mein Angebot nachdenken.« Er tippte sich spöttisch an die Stirn, als ob er einen Hut trüge, und marschierte dann mit vier langen Schritten hinaus.

Gwen sah Lacy an und schüttelte den Kopf. »Weißt du jetzt, was ich gemeint habe?«

»Ich werde nicht zulassen, dass dieser Widerling über mein Leben bestimmt. Außerdem ziehe ich, wenn ich nach Bozeman gehe, immer einen Rock an.« Lacy hob trotzig das Kinn und fügte hinzu: »Ich arbeite zu schwer, um die ganze Zeit ein Kleid zu tragen. Wenn ich ein zartes Frauchen wäre, das den ganzen Tag nur rumsitzt, würde man mich nur im Ballkleid sehen.« Sie ging mit entschlossenen Schritten zur Hintertür. »Falls mich jemand sucht, ich bin ganz damenhaft beim Holzhacken.«

Die Hintertür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, noch bevor Gwen antworten konnte. Sie wandte sich wieder dem Frühstücksgeschirr zu. Beth half ihr.

»Junge, Junge, die kann ganz schön Dampf ablassen, wenn sie erst in Fahrt gerät«, sagte Nick und schüttelte den Kopf. »Ich würde niemandem raten, sie zu heiraten, wenn er nicht gerade auf Krieg aus ist.«

Simon und Beth lachten und auch Gwen musste lächeln. »Wir sollten nicht so über Lacy reden. Vaters Tod macht ihr schwer zu schaffen. Sie ist tief verletzt, aber sie verbirgt ihre Gefühle, weil sie nicht schwach erscheinen will. Für sie ist Schwäche gleichzusetzen mit Verletzlichkeit ... und noch mehr Schmerz.«

Alle schienen zu verstehen, was sie meinte, und ließen sich Gwens sanften Tadel bereitwillig gefallen.

»Wir kommen heute Mittag zum Essen, weil die Postkutsche nicht vor Mittag eintreffen wird«, sagte Simon zu Gwen.

»Gut. Wir haben noch die Reste vom Leichenschmaus. Ich hoffe, das reicht euch.«

»Es ist Essen und ich muss es nicht zubereiten«, erklärte Simon grinsend. »Welcher Mann würde mehr verlangen?«

Beth beobachtete, wie Nick und Simon über den Hof zu Rafes Saloon gingen. Sie würden nicht auf einen Drink einkehren – zumindest jetzt nicht. Sie wusste allerdings, dass die beiden gelegentlich etwas Stärkeres tranken als Kaffee. Das war auch der entscheidende Grund dafür gewesen, dass sie Nicks Avancen zurückgewiesen hatte. Sie wollte keinen Ehemann, der seine Nächte mit seinen Saufkumpanen verbrachte, statt bei ihr zu bleiben.

Natürlich sagte Gwen ihr ständig, dass ihre Vorstellungen viel zu romantisch wären, und wahrscheinlich hatte sie sogar recht. Beth las für ihr Leben gern Liebesromane, meist spät nachts, wenn alle zu Bett gegangen waren. Sie träumte davon, von einem hochgewachsenen Helden befreit und entführt zu werden und eine leidenschaftliche, ewige Liebe zu finden.

Sie seufzte und fing mit dem Abwasch an. Eines Tages wird alles anders sein. Eines Tages werde ich den Mann meiner Träume finden und wir werden uns ineinander verlieben. Beth schloss die Augen und versuchte, sich diesen Mann vorzustellen.

»Du träumst ja schon wieder«, sagte Gwen, die gerade den Rest des Frühstücksgeschirrs hereinbrachte.

»Träume kosten nichts und tun niemandem weh«, antwortete Beth.

»Unsinn. Träume können dich teuer zu stehen kommen. Sieh doch nur, was sie Vater eingebracht haben.« Gwen stellte die Teller auf den Tisch neben Beth. »War er die ganze Zeit hier?«

Beth sah auf. »Wer?«

»Major. Er bläst schon tagelang Trübsal und ich habe mich gefragt, ob er die ganze Zeit hier am Herd liegt.«

»Er wartet auf Vater und darauf, dass er ihn mitnimmt auf seinen Morgenspaziergang«, antwortete Beth.

Gwen nickte. »Armer Hund. Er schläft jede Nacht ein Weilchen am Fußende bei mir im Bett, aber dann steht er auf und geht unermüdlich auf und ab, als erwarte er, dass Vater jeden Augenblick durch die Tür kommt. Das Klicken seiner Krallen auf dem Fußboden macht mich noch wahnsinnig.«

»Vielleicht sollten wir ihn ein paar Nächte lang draußen auf der Veranda anbinden.«

Gwen nickte. »Vielleicht. Mal sehen, ob er sich nicht auch so beruhigt.«

Doch die Tage vergingen und Major schien immer einsamer und trübsinniger zu werden. Er schlief nicht mehr in Gwens Zimmer, sondern wanderte die ganze Nacht durchs Haus und suchte seinen Freund. Die Tage verbrachte er meist auf dem Friedhof, wo er treu Wache am Grab seines Herrn hielt. Gwen versuchte alles Menschenmögliche, um ihn zu bestechen und sein altes, fröhliches Wesen wiederzubeleben, doch schließlich gab sie auf. Offenbar mussten Tiere auf ihre ganz eigene Weise trauern, und man musste ihnen die Zeit dazu lassen.

Ihr Kater ging weiterhin seinen Geschäften nach und brachte regelmäßig Ratten, Mäuse und hin und wieder ein Erdhörnchen mit, die er auf die Verandatreppe legte. Gwen versuchte, sich nicht darüber aufzuregen, schließlich wollte er ihnen ja nur ein Geschenk machen, aber sie wollte keine verwesenden Tierleichen auf der Veranda haben, wenn die Postkutsche eintraf.

»Calvin«, schimpfte sie, als er wieder einmal einen Fang vor sie hinlegte. »Du solltest dir vielleicht mal ein bisschen Zeit nehmen und nachdenken, bevor du uns so was mitbringst.« Der Kater sah zu ihr hoch, als denke er über diesen Vorschlag nach, maunzte kurz und sprang dann auf seinen Lieblingsverandasessel, um ein Schläfchen zu machen. Offenbar wollte er sich in Zukunft daran halten.

Gwen fegte die Veranda fertig, packte dann die Maus und ging mit ihr ums Haus herum nach hinten. So machte sie es immer und Calvin wusste, wo er seinen Imbiss finden würde. Sie wollte gerade nach vorn zurückgehen, als Dave Shepard aus dem Saloon kam und ihr zuwinkte.

»Wie geht’s dir, Gwen?«

»Ganz gut, Dave, danke der Nachfrage.« Ihr ungezwungener Umgang miteinander war etwas ganz Natürliches, weil sie fast gleich alt waren und einander kannten, seit die Gallatins sich vor vier Jahren hier niedergelassen hatten.

»Hat Lacy sich wieder beruhigt?«, fragte Dave beiläufig.

»Nein.« Gwen zwang sich zu einem Lächeln. »Und ich habe das Gefühl, das wird sich auch nicht ändern, bis Sheriff Cummings etwas in der Sache unternimmt.«

»Ich nehme an, es bringt auch nichts, wenn ich mal mit ihr rede.«

Sie lachte. »Nein, ich glaube, das bringt absolut nichts. Lacy betrachtet dich als ihren Feind. Du kommst deiner Pflicht nicht nach – so sieht sie es jedenfalls.«

Dave schob seinen Hut zurück und nickte. »Ich weiß, dass sie so denkt, aber ich fürchte, sie lädt sich mehr auf, als sie tragen kann. Die Jungs, die in dieser Nacht im Saloon waren, sind eine raue Bande. Sie schützen sich gegenseitig und Lacy bringt sich nur in Gefahr, wenn sie nicht aufhört, Nachforschungen anzustellen.«

»Ich werde noch einmal mit ihr reden, Dave, aber ich kann nichts versprechen.«

»Na ja, einen Versuch ist es wert.«

Gwen war nicht überzeugt, aber sie sagte nichts mehr dazu. Stattdessen ging sie zur Veranda zurück und fragte nach Daves Familie.

Dave lehnte sich gegen einen Stützbalken und zuckte die Achseln. »Mutter arbeitet sich zu Tode. Sie ist sehr einsam, seit meine Schwestern in den Osten gegangen sind, die Arbeit wächst ihr über den Kopf. Sie näht und kocht unentwegt für unsere Helfer – und natürlich für meinen Vater und mich. Und wenn das Obst und Gemüse reif ist, um eingekocht zu werden, will sie sich auch noch darum kümmern.«

»Es ist sicher nicht leicht für sie, so ganz ohne weibliche Gesellschaft«, gab Gwen zu. »Ich werde übermorgen mal zu euch auf die Ranch hinausfahren; ich brauche Butter und Eier. Du kannst es ihr ja schon sagen, dann hat sie etwas, worauf sie sich freuen kann.«

Dave nickte. »Es wäre schön, wenn du Lacy mitbringen könntest. Ich glaube, Mutter könnte Wunder bei ihr bewirken.«

Gwen schüttelte den Kopf. »Lacy kämpft mit sich und dem Leben. Sie ist nicht mehr dieselbe, seit Mutter gestorben ist. Und offen gesagt, hat Vater sich immer so sehr einen Jungen gewünscht, dass er Lacy in ihrem unweiblichen Auftreten noch unterstützt hat.«

Lachend stieß Dave sich von dem Pfeiler ab. »Leider ist ansonsten nichts Maskulines an ihr, das ist das Problem. Wenn sie mehr wie ein Mann aussähe, würde sie nicht die Blicke aller auf sich ziehen. Als sie 15 oder 16 war, war es noch nicht so schlimm, aber falls du es noch nicht gemerkt hast – sie hat sich in letzter Zeit ein bisschen verändert.«

»Du jedenfalls scheinst es gemerkt zu haben«, entgegnete Gwen.

»Wer könnte das übersehen? Wie ich schon sagte, sie wird Schwierigkeiten bekommen, wenn sie nicht aufpasst.«

Gwen erinnerte sich an Rafes Kommentar vom Vortag. Auch er hatte in anzüglicher Weise von der Figur ihrer kleinen Schwester gesprochen. Sie dachte, dass es wohl Zeit wurde, etwas gegen Lacys Wildheit zu unternehmen.

»Ich rede mit ihr, Dave. Und ich frage sie, ob sie nicht mitkommen möchte zu deiner Mutter. Vielleicht kann sie ja mal mit ihr reden.«

»Ich sage Mutter, dass ihr kommt.«

3

Der Mairegen tauchte das Land in ein strahlendes, geradezu überirdisch schimmerndes Grün. Die Berge leuchteten fliederfarben mit schneeweißen Gipfeln, an denen sämtliche Kanten und Abbrüche scharf hervortraten. Der Talboden war getupft mit Flecken frisch umgegrabenen Ackerbodens und Bäumen, die, obwohl sie klein waren, dem allgegenwärtigen frischen Leben ihre eigenen Farben hinzufügten.

Für Gwen war dies die schönste Zeit des Jahres. Es war noch recht kühl, ja nachts sogar kalt, aber trotzdem warm genug, um die Blumen aufblühen und die Bäume ausschlagen zu lassen. Gwen tat ihr Bestes, dem Boden in der Umgebung der heißen Quelle einen Garten abzuringen – ein Unterfangen, das jedes Jahr aufs Neue der Fluch ihres Lebens war, denn der Boden war äußerst karg. Trotzdem mühte sie sich jedes Frühjahr wieder ab, aus dem scheinbaren Nichts heraus etwas zu erschaffen. Wenn nur die Wachstumsperiode etwas länger wäre, so dachte sie jedes Mal, könnte ich einen wahrhaftigen Festschmaus heranziehen.

Gallatin House war so angelegt, dass das Haupthaus die Mitte eines großen Hufeisens bildete. Der Hühnerstall und die heiße Quelle lagen auf der linken Seite des U, die Toilettenhäuschen, eins für die Männer und eins für die Frauen, und der Vorratsschuppen gegenüber, auf der rechten Seite. Der Hof in der Mitte war für die Gäste mit einer hübschen Sammlung selbst gemachter Stühle und kleiner Tische ausgestattet. So manche Nacht hatte Gwen hier gesessen und Trost darin gefunden, den sternenübersäten Himmel oder den sanften Schimmer des bernstein- und roséfarbenen Zwielichts über den Bergen zu betrachten.

»Gwen, da kommt gerade ein Frachtwagen herein«, rief Lacy von der Hintertür.

Gwen reckte und streckte sich, um ihren verspannten Rücken zu lockern, und winkte. »Ich komme. Hoffentlich ist es Joe, der uns einen hübschen Vorrat an Zucker und Mehl bringt.«

»Nicht zu reden von Tee und Kaffee«, fügte Lacy hinzu. »Wir haben fast nichts mehr, ich dachte schon, ich muss nach Bozeman fahren und etwas besorgen.«

Gwen war schon fast am Haus, als ihr die ziemlich eng sitzende Hose auffiel, die Lacy trug. »Lacy, ich muss dir etwas sagen, aber ich will keinen Streit anfangen.«

Ihre Schwester runzelte die Stirn und stemmte die Hände in die Hüften. »Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Ich habe die Küche genau so geschrubbt, wie du es mir gezeigt hast.«

»Das ist es nicht. Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst. Nein, es ist etwas anderes. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich dir das letzte Mal Kummer bereiten musste, weil ich dir etwas so Ernstes zu sagen hatte wie jetzt.«

»Dann sag es und fertig«, meinte Lacy und verschränkte die Arme.

»Du musst aufhören, Kniehosen zu tragen.« Gwen straffte ihre Schultern und hielt Lacys trotzigem Blick stand. »Die Männer reden schon über dich. Ihnen fallen deine ... wie soll ich es sagen ... weiblichen Attribute auf.«

Lacy lachte. »Die würden ihnen immer auffallen, egal ob ich sie unter Unterrock-Schichten vergrabe oder nackt die Straße entlanggehe. Sie fallen ihnen übrigens bei dir und Beth genauso auf. Es sind Männer, sie sind auf der Suche nach einer Ehefrau oder Gefährtin. Natürlich fallen ihnen diese Dinge auf. Wir sind praktisch die einzigen ledigen Frauen im Umkreis von 300 Kilometern.«

»Aber die Hosen stellen alles so deutlich heraus. Schau dich doch an – da ist kein einziger Zentimeter, der nicht klar definiert ist. Das war nicht schlimm, als du noch ein kleines Mädchen warst und keinerlei Kurven hattest. Aber jetzt hast du Kurven und ... nun ja ... Kurven.« Sie seufzte. »Ich mache mir Sorgen, dass du unziemliche Aufmerksamkeit erregst und die Leute deswegen schlecht von dir denken – oder auch von mir, weil ich dich so herumlaufen lasse.« Gwen wusste, dass Lacy ihr eigener Ruf egal war, aber sie würde nicht wollen, dass Gwen oder Beth beleidigt wurden.

Lacy, die den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet hatte, schloss ihn wieder und ließ plötzlich geschlagen die Arme hängen. Jetzt tat sie Gwen leid. Ihre Schwester war in so vielen Dingen noch ein Kind.

»Ein Hosenrock ist in Ordnung. Er hat wenigstens etwas mehr Stofffülle. Von mir aus kannst du Hosenröcke tragen«, beeilte Gwen sich zu sagen.

»Ok, ich kann aufhören, Hosen zu tragen, aber wenn es Winter wird, ziehe ich sie wieder an, wenigstens unter dem Rock. Sie sind wärmer als Unterröcke.«

»Das ist okay«, sagte Gwen lächelnd. »Danke, Lacy. Ich weiß, wie schwer alles für dich ist.«