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Gewidmet Joachim Kersten:

Anwalt der Literatur, Fürsprech der Literaten

Inhalt

Motto

Das Genie schlummert noch

Liebesfähigkeit heißt Alleinsein: Lou Andreas-Salomé

Gott – und meine Seele ist ein Weib vor Dir

›Malte‹ – Splitter vom Lebensbaum

Rilke und Rodin – eine homoerotische Ehe

»Wie hasse ich dieses Volk« – der politische Rilke

Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang – die ›Duineser Elegien‹

Ein müde gewordener Falter – die Himmel von Akt und Zeugung werden fahl

Epilog

Anhang

Zitatnachweis

Benutzte Literatur

Zeittafel

Anmerkungen zu den im Buch genannten Summen und Honorarbeträgen

Personenregister

Autor

Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids.

Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.

Rainer Maria Rilke,

Duineser Elegien. Die zehnte Elegie

Das Genie schlummert noch

War er eine Rose, die eine Rose im Knopfloch trug, ein »poetischer Kunstglasbläser und Zierathämmerer« (wie ein Kritiker ihn nannte) – oder ein strenger Wortmeißler, der seinem Credo »Dinge machen aus Angst« folgte? War er ein »überschminktes Frauenzimmer«, wie sein Kollege Georg Heym ihn verspottete, und »ein bißchen dumm«, was Gottfried Benn argwöhnte – oder war er ein formsüchtiger Kunstkenner, der ganz früh die Bedeutung von Thomas Mann, das Genie der Picasso und Cézanne erkannte, in Worten geradezu demütiger Ergriffenheit sich dem Schönen als Geschmackskategorie verweigerte, um das Gran Wahnsinn im Kunstwerk zu preisen? War er eine »mit großem Aufwand rotierende Bedeutsamkeitsmaschine«, haltlos, beliebig, aus deren absichtlich Ungefährem »die großen Formeln herausrauschen« – oder ein sich Leben und Liebe Versagender, um jene Gedichte zu schaffen, deren bohrender Schmerz uns noch heute frieren macht? War er ein Feintäschler, wie das französische Wort Portefeuilleur eingedeutscht wurde; also ein Preziosenfabrikant, der seine kostbar zurechtgeschliffenen Diamanten in mit edlem Samt ausgeschlagenen Saffianschatullen feilbot – oder ein Sternenfänger, dessen unermeßlicher Hunger nach Licht eine in Finsternis darbende Welt heller machte? Selbst Lobpreisende wie Stefan Zweig sprachen von »erlauchter Goldschmiedekunst«, und er selber erläuterte gelegentlich erlesene Begriffe wie »Rauten« mit dem Hinweis auf prachtvoll angeordnete Brillanten, Perlen und Rubine.

Zeitgenossen priesen und höhnten ihn. Willy Haas, der eine Generation jüngere Prager, erzählt, weder er noch irgend jemand seiner Umgebung habe auch nur den geringsten Berührungspunkt mit Rilke gehabt, und alles, »was Rilke in seinem Werk und in seinem Leben getan hat, um irgendwelche uradelige Abstammung anzudeuten oder dem Leser zu suggerieren, ist etwas, was mir, und ich glaube uns allen, furchtbar auf die Nerven gegangen ist«.

Der Schriftsteller Hans Egon Holthusen dagegen zählt die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus neben Valérys Charmes und dem Ulysses von James Joyce zu den maßgeblichen und horizontbildenden Meisterwerken der modernen Literatur; während eine seiner vertrauten Damen, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis, Lyrikgeschenke mit einem »es ist Entzückendes darunter und alles ist reizend« wie Konfektpräsente quittiert – zum Hauptwerk der Elegien heißt es: »Das entzückende kleine Buch kommt zu Ihren anderen Manuscripten in dem kleinen chinesischen Möbel in der Bibliothek; eine Sienesische Madonna süß und verträumt hält darüber Wache

Zu den Abenteuern des Biographen gehört auch, daß selbst das Äußere seines Helden von Zeitgenossen und Augenzeugen ganz widersprüchlich dargestellt wird. Während viele, die Rilke begegneten, seine dunkel glühenden Augen unter dem dichten braunen Haarschopf bewunderten, berichtet Hedwig Fischer – die Gattin des großen Verlegers Samuel Fischer – von dem »blonden, blauäugigen« Gast, den sie 1897 in ihrer Berliner Wohnung Burggrafenstraße 3 zu Ehren eines Leseabends von Carl Hauptmann empfing – ein »zarter, stiller, gutaussehender Mensch in hochgeschlossener, schwarzseidener Weste, über der an einer Kette ein Kreuz hing«. Sie hat auch einige Briefe des Dichters aufbewahrt, in denen mal poetisch von der »Dufthungersnot« der Rosen erzählt wird, mal die Hoffnung aufscheint, ob der reiche Verleger ihm – 1908 wohl »ein ruhiges Arbeitsjahr in Paris zu erleichtern« vermag, und der inzwischen 46jährige auch mal ungewohnt kokett davor warnt, man möge ihm die »reizend gewordene« Tochter Tutti besser nicht vorstellen, da er »ihr am liebsten nachstellen würde«.

Stefan Zweig, einfühlsamer Porträtist, eine Art Seelenschnecke, berichtet trefflich von der leisen, geheimnisvollen Unsichtbarkeit, die Rilkes Lebensform ausmachte; ein bei Gesellschaften oft unbemerkter lautloser Gast mit ein wenig slawischen Gesichtsformen, leicht melancholisch niederhängendem blonden Schnurrbart, die blauen Augen eher abwesend lächelnd: »[…] die Stille wuchs gewissermaßen um ihn, wohin er ging und wo er sich befand. Da er jedem Lärm und sogar seinem Ruhm auswich dieser ›Summe aller Mißverständnisse, die sich um seinen Namen sammeln‹, wie er einmal so schön sagte , netzte die eitel anstürmende Woge der Neugier nur seinen Namen und nie seine Person. Rilke war schwer zu erreichen. Er hatte kein Haus, keine Adresse, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wußte im voraus, wohin er sich wenden würde. Für seine unermeßlich sensible und druckempfindliche Seele war jeder starre Entschluß, jedes Planen und jede Ankündigung schon Beschwerung Jean Cocteau wird es eines Tages bereuen, das Unauffällige mit dem Unbedeutenden verwechselt zu haben; er begrüßte den vermeintlichen Domestiken im Atelier Rodins schlichtweg nicht.

Bis auf unsere Tage tönt das Echo auf Rilke und sein Werk vielfach gebrochen. Während Gottfried Benn in einem Brief an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke 1950 »Ich hasse im Augenblick den Reim« – attestiert, »mein Urteil ist, dass Rilke als Letzter das Raffinierte und das Sacrale des Reims noch einmal zusammenfassen konnte«, wehrt sich der Lyriker Thomas Kling, Jahrgang 1957, gegen Rilkes »Illustrationssüchtigkeit«, seine »Überinstrumentierung«, seine »sagenhaften Kitschattacken« und findet sich in einer »manierierten Konditorei« bedient.

Dem konträr erzählte Günter Grass dem Autor dieses Buches, daß er Rilke – ausgerechnet – in Kalkutta gelesen habe und die Textur seiner »Zunge zeigen«-Gedichte sich ganz stark dem Malte verdanke; tatsächlich, liest man Grassens Schreckenshymne auf eine Stadt der Erbarmungslosigkeit (immer auf den Ton »Jetztzeit Letztzeit« eingestimmt) unter diesem Aspekt, scheint eine deutliche Anlehnung durch.

Wer nun also war dieser Rilke, der nicht Rainer hieß noch edlen Geblütes war? Der am 4.Dezember 1875 in Prag als einziger Sohn einer wenig glücklichen Ehe Geborene wurde kurz vor Weihnachten auf die Namen René Karl Wilhelm Johann Josef Maria getauft; noch der Feldwebel machte sich später bei der Einberufung des unglücklichen Soldaten lustig: »Was, Maria hoaßen’s? I hoaß doch aa net Mizzi Obwohl Rilke in späteren Jahren mit rührendster Verbissenheit anhand von Petschaften, Siegeln und allerhand dubiosen Dokumenten seine vornehme Abstammung zu beweisen trachtete: Vater Josef war bescheidener Beamter bei der Turnau-Kralup-Prager Eisenbahngesellschaft, eine anfängliche militärische Laufbahn 1859 hatte er als Offiziersanwärter am italienischen Feldzug teilgenommen, kurzfristig gar als Kommandant des Kastells von Brescia endete rasch. Die wenig jüngere Mutter Sophie, die sich gerne in das prätentiöse Phia umtaufte, aufgewachsen in einem ansehnlichen Barockpalais in der Prager Herrengasse, sah ihre 1873 geschlossene Ehe von Beginn an als Mesalliance, die sie bereits nach elf Jahren durch Trennung von dem gescheiterten Offizier beendete, von nun an im eleganten Schwarz verwitweter Erzherzoginnen in Wien lebend. Nach dem Tod einer Tochter erzog sie den Sohn als Mädchen sie ließ ihm lange Locken wachsen, er trug bis zum 5. Lebensjahr Mädchenkleider, spielte mit Puppen und Puppenstube; noch in die Kadettenanstalt brachte er eine Aussteuer mit Wäsche voller Rüschen mit, am Hals ein kleines Medaillon an dünner Goldkette, die ihm ein hohnlachender Unteroffizier herunterriß »er spürte den Schnitt noch beim Erzählen«, berichtet die spätere Freundin Hertha Koenig. Die mehr und mehr in religiösem Obskurantismus versinkende Mutter sie hat den berühmten Sohn um knapp fünf Jahre überlebt verzärtelte das Ersatz-Tochter-Kind bis in die Vorpubertät. Sie war mit dem Zwölfjährigen zu Solbädern in Salzburg, als sich der Adjutant eines österreichischen Prinzen bei ihr melden ließ mit der Anfrage seiner Herrschaft, ob der Sohn dem gleichaltrigen Prinzen Nachhilfeunterricht geben und mit ihm spielen möge. »Es ist mir eine große Ehre«, beschied sie den Sendboten, »aber ich bedaure. Mein Kind ist zart und muß sich erholen

Wir müssen schon hier zwei so frühe wie tiefe, die Existenz bestimmende Prägungen Rilkes festhalten. Die Frau als Bedrohung, umschwärmt zwar in der Entfernung, gefürchtet als Gefahr in realer Gegenwart; da der Dichter Rilke Weiblichkeit als die wahre Voraussetzung zur Produktivität sah, verriegelte er seine Pforten vor dem Weib Welt. Hoch bedeutsam ein Brief Rilkes aus dem Jahre 1913, als er nach langjähriger Trennung die rechtsgültige Scheidung von seiner Frau Clara erwägt. Das Dokument findet sich in dem 2007 erschienenen Band seines Briefwechsels mit der Vertrauten (und Karl-Kraus-Geliebten) Sidonie Nádherný von Borutin, den der Rilke-Forscher Joachim W. Storck mit kenntnisreicher Akribie herausgegeben hat. Man darf ihn als ein Röntgenbild ansehen, so präzise diagnostiziert Rilke seinen Befund, daß eine Frau nicht »Konkurrent« sein darf und daß es für sie nur »Schmerz und Abschied ohnegleichen bedeutet«, wenn sie entdecken muß, »daß Kunst-Arbeit und Leben irgendwo ein Entweder-Oder ist«. Einigermaßen herrisch weist er die Bildhauerin Clara Westhoff aus seinen Bezirken aus: »Es ist in Clara sehr viel vom Mädchen, darum immer wieder sehr viel Sehnsucht danach, ein Frauen-Leben zu haben, und doch, wo sie sich unterwirft, da ist sie sofort mehr Jünger als Frau, mehr Schüler und Anhänger und das nicht im stärksten Sinn, sondern eher in dem des Aufgebens und der Nachahmung. […] Daß sie freilich an mich gerieth, ist besonders schwer; da ich weder der Künstlerin in ihr noch dem, was sich nach einem Frauendasein drängt, recht günstig zu sein vermochte.« Schon in einem Tagebucheintrag aus Bremen, 31.Dezember 1907, hält Harry Graf Kessler fest: »Abends kamen Rilkes zu Tisch. Sie hat Etwas Grosses und Einfaches, Willensstarkes, fast Männliches; er erscheint wie der femininere von Beiden. Wenn er beim Sprechen zusammengekauert mit übergeschlagenen Beinen und Armen auf seinem Stuhle sitzt, hat man von seinem dünnen Körper und seiner leisen, immer fast bittend klingenden Stimme einen Eindruck wie von einem unschönen jungen Mädchen

Darauf wird genau einzugehen sein. Letztlich aber bleibt beides – Weib wie Welt – der Feind. Bis hin zum Wunsch, ungeboren zu sein. Die Duineser Elegien sind durchzogen von Akkorden der Sehnsucht zurück in dieses Einst; zum Knaben träumt er sich zurück, da »eine Mutter erst nichts und dann alles gebar«, heißt es in der sechsten Elegie; in der siebenten »O einst tot sein […] Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen« und überdeutlich dann in der achten Elegie:

O Seligkeit der kleinen Kreatur,

die immer bleibt im Schoße, der sie austrug;

o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,

selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schoß ist Alles.

Geburt als Schändung, Dasein als Schandmal, Welt als Schmach: es ist jenes rasende Feuer der Selbstverbrennung, der pränatalen Wunschphantasie, die die Hochliteratur des frühen 20.Jahrhunderts bis hinab zum Chanson in ein bengalisches Licht der Irratio tauchte. »O daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümp’chen Schleim in einem warmen Moor«, betet Gottfried Benn, und der Antipode Brecht ruft seinen verruchten Abenteurern in der gleichnamigen Ballade zu »Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben / Wo es stille war und man schlief und war da?« Das kennt man sogar im rauchigen Raunen der Marlene Dietrich, »Man hat uns nicht gefragt als wir noch kein Gesicht, ob wir leben wollten oder lieber nicht«.

Die eigene Existenz verfluchen heißt Fluch dieser Welt und dem Schoß, der beides gebar. Den schauerlich-schönen Schock von Gustave Courbets Bild »Der Ursprung der Welt« – eine weit geöffnete Vagina –, 1866 gemalt und nach abenteuerlichen Odysseen durch diverse Sammlungen 1988 erstmals öffentlich präsentiert (heute im Musée d’Orsay), konnte Rilke noch nicht erfahren haben. Das Grauen vor der Mutter aber – so wörtlich zu Lou Andreas-Salomé –, »vor ihrer zerstreuten Frömmigkeit […] vor all diesem Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich«: das verfolgte ihn ein Leben lang. Die Frömmelei als Ersatz für die gescheiterte Offizierskarriere des Mannes, recte: der Ehe; als Ersatz für die früh gestorbene Tochter; als Ersatz dafür, daß »Maria« nur ein Sohn geworden. Es gibt eine recht gnadenlose Charakteristik dieser religiösen Scheinwelt aus der Feder von Rilkes Schwiegersohn Carl Sieber: »Aufsichnahme eines eingebildeten Leidens und daraus sich ergebend das Hilfesuchen bei Gott oder besser bei der Kirche, die die katholische war. (Auch das pflegen enttäuschte Damen von Welt zu tun.) […] Es ist falsch, die Religiosität Phia Rilkes als Quelle für ihre Lebenskraft zu bezeichnen. Devotion kann keine Kraft geben, und es gibt Tagebücher von ihr, die auch nicht die Spur eines warmen Gottvertrauens, geschweige denn eines Hilfeholens aus göttlichen Quellen erkennen lassen. Seite für Seite wiederholen sich die Schilderungen von immer neuen Kirchen, die sie aufsuchte wie Museen, und deren Gnadenmittel sie genoß wie Bilder

Die frömmelnde Bigotterie der Mutter, die sich einbildete, Jesus und Maria kämen sie täglich im Hotel besuchen, und als Abschiedsformel (etwa an der Bahn) ernsthaft sagen konnte »Jesus und Maria mit mir« – nicht: mit dir! –, festigte einerseits seine Idee einer »vorgeburtlichen Bestimmung«, härtete andererseits seine Abscheu vor jeglicher konfessionell-institutionell zementierten Religionsarchitektur und gab damit zugleich die Stützpfeiler ab für den Bau des eigenen Werks. Nicht zufällig spricht er in einem Brief an eine andere Gefährtin, Nanny Wunderly-Volkart, der er ein weiteres Mal das Hoffnungslose der Mutterbeziehung paraphrasiert, von »meinen beiden neuen Büchern als Versuch, irgendwie Leben und Tod in einer übergroßen Freude, die ohne Namen bleibt, zusammenzufassen«. Der Brief ist übrigens unterschrieben mit »Amen«. Schon im Gedichtband Mir zur Feier des Jahres 1899 findet sich ein traurig-haßvoller Abgesang:

Aber meine Mutter kam

ihnen Blumen geben.

Meine Mutter die Blumen nahm

alle aus meinem Leben.

Lou Albert-Lasard bewahrte ein anderes Mutter-Gedicht auf, das Rilke ihr schenkte, als sie aufbrach, den eigenen ungeliebten Vater zu besuchen; die Wahl der Worte – »Ach, wehe, meine Mutter reißt mich ein. / Da hab ich Stein um Stein zu mir gelegt / und stand schon wie ein kleines Haus « – untermauert die These vom Kunstbau als Wehr und Festung.

Die andere frühe Prägung – wohl gar als Kränkung empfunden – ist Rilkes gesellschaftliche Ortlosigkeit. Sie ist wohl Ursache seines Adelsticks; noch die Liebhaberausgabe von 300 bibliophilen Exemplaren der 1899 (nach seiner ersten Rußlandreise) entstandenen Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke trug »sein« Familienwappen, eher eine Chimäre; doch es sollte jene adlige Herkunft beglaubigen, die es nicht gab, nach der er jedoch mit puerilem Eifer forschte, sogar in Verse implantierte: »Des alten lange adligen Geschlechtes / Feststehendes im Augenbogenbau« heißt es im Selbstbildnis von 1906 (in der Nachbarschaft des berühmten Gedichts Der Panther). Auch die Demütigung, daß es der reich gewordene Bruder des Vaters, der Advokat und Landtagsabgeordnete Jaroslaw Rilke – 1873 mit Wappen, Wahlspruch und dem Titel Rilke Ritter von Rüliken in den erblichen Adelsstand erhoben –, daß es also dieser Onkel war, der ihm das Studium finanzierte, hat der früh poetisierende Kadett nie verwunden. Schon die Schulzeit war Verhängnis und Heimsuchung gewesen. Was 1906 mit Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törless literaturfähig wurde, begann für den elfjährigen René im September 1886: nach kurzen Grundschuljahren kam er auf die Militärunterrealschule St. Pölten, 1890 auf die Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen – er sollte werden, was der Vater nicht geschafft hatte: Offizier. Rilke hatte den Vater und dessen Wunsch, der Sohn möge eine bürgerlich-solide Laufbahn einschlagen, nicht nur respektiert; er hing zärtlich an ihm. »Ich beklage den Verlust meines geliebten Vaters«, schrieb er am 15.März 1906 an Rodin aus Prag, wohin er sofort nach der Todesnachricht aus Berlin an das Totenbett geeilt war und wo er eine rührende Todesanzeige aufgab:

Rainer Maria Rilke gibt in seinem eigenen wie im Namen seiner Frau Clara geborenen Westhoff und seiner Mutter Sophia Rilke geborenen Entz und im Namen sämtlicher Verwandten die schwere und traurige Nachricht von dem Ableben seines herzensguten, lieben Vaters, Herrn

Josef Rilke,

Oberinspektor der k.k. priv. Böhmischen Nordbahn, welcher nach kurzem schweren Leiden, versehen mit den heiligen Sterbesakramenten, am 14.März I.J., 5 Uhr früh, entschlafen ist.

Er hat dem Vater das Streben nach gesellschaftlicher Normalität nie verargt. Es gab Kämpfe, gewiß, um gegen starre Vorbehalte die dichterischen Ambitionen durchzufechten; das Stück »Vatermord« jedoch wurde nicht gespielt. Aber einem Lehrer, dem Generalmajor Cäsar von Sedlakowitz, der sich im Dezember 1920 bei dem inzwischen Berühmten erinnernd gemeldet hatte, färbte er dessen geschöntes Gedächtnis schwarz, antwortete voller Abscheu mit der Mahnung, er sei als zehn-, zwölf-, vierzehnjähriger Knabe körperlich und geistig mißbraucht worden, schrieb gleichsam eine Fibel des Entsetzens, in der die Worte Vergewaltigung, Not, Heimsuchung nicht fehlten – nicht besonnte, sondern abgelehnte Vergangenheit. Noch ein Autor unserer Tage, der Schmäh-Akrobat Thomas Bernhard, wußte seinen Wutschrei über die Zwangsjacke des österreichischen Erziehungssystems zu formulieren: »Die Lehrer sind die Handlanger des Staates und wo es sich wie bei diesem österreichischen Staat heute um einen geistig und moralisch total verkrüppelten handelt, um einen, der nichts als die Verrohung und Verrottung und das gemeingefährliche Chaos lehrt, sind naturgemäß auch die Lehrer geistig und moralisch verkrüppelt und verroht und verrottet und chaotisch. […] Ich selbst habe diese grauenhaften, engstirnigen, verluderten Lehrer gehabt, die eine ganz und gar niedrige Auffassung von den Menschen und der Menschenwelt haben, die niedrigste, vom Staat verordnete Auffassung, nämlich daß die Natur in den neuen jungen Menschen auf jeden Fall immer zu unterdrücken und schließlich abzutöten sei für die Zwecke des Staates

Gut möglich, daß die vielfache Erniedrigung – seelisch, geistig, körperlich, gesellschaftlich – jenes Ziergesträuch in Rilke hochranken ließ, das man getrost seine Adelssehnsucht nennen darf. Wie zierlich arrangiertes Spalierobst züchtete er an den Mauern seiner Verliese wahre Stilleben von Fürstinnen, Herzoginnen, Prinzessinnen, Gräfinnen und Baronessen, ein ganzes Edel-Treibhaus, in das er Hunderte und Aberhunderte seiner so peinlich-erwählten wie parfümierten Billette sandte; mal – Absender natürlich ein »Gut Böckel« bei Bieren/Westfalen – im verquetschten Ton des Kleine-Leute-Stolzes berichtend: »Auf den Nachbargütern sitzen meistens Geschwister einer zahlreichen Generation Ledebur, deren ich einige Schwestern von früher kenne, und von denen der eine Bruder mit einer Prinzeß Solms, einer Schwester der Großherzogin von Hessen, verheiratet ist.« – und mal sich grüßend gleichstellend auf kunstvoll gedrechseltem Schemel: »Von Ihren anderen Gästen bitte ich den Damen, der Prinzessin Caroline und der Prinzeß Carola, entsprechend empfohlen zu sein; ganz besonders herzliche Grüße aber nach Mzell, an die Prinzessin Gabrielle, diese schöne gesegnete Mutter, die nun wieder in der Fülle der Erwartung an Glanz und Klarheit mit ihren schönen Kindern wetteifern wird

Die im Laufe seines Lebens auf Abertausende von Seiten anschwellende Korrespondenz besteht zu großen Teilen nicht nur aus der Klage, seine Korrespondenz fresse ihn auf; sie hat auch höchst eigenartige Charakteristika. Zum einen sind es nur allzu oft Selbstgespräche, die in ihren teilweise wörtlichen Wiederholungen etwas Litaneihaftes bekommen. Die Briefe haben unterschiedliche Adressaten, aber nur einen Empfänger, und der heißt Rainer Maria Rilke. Eine Besonderheit dieses großen Monologs erschließt sich erst, liest man die – wunderbar ziselierte – Handschrift: Rilke hat zeitlebens in deutschen und lateinischen Buchstaben durcheinander geschrieben, oft in einem Absatz von e zu e, von s zu s wechselnd. Noch 1926 aus dem Sanatorium Valmont (beispielsweise in den Briefen an Lally Horstmann).

Es ist nicht Spiegelschrift, aber der Schreibende scheint vor einem Spiegel zu sitzen, nicht mit Streusand die zumeist lila Tinte löschend, sondern mit Puder. Diese so selbstverordnete wie selbstbezügliche Elegantheit macht nicht einmal halt, geht es um Kunst. So schreibt Rilke 1916 an Oskar Kokoschka:

Mein lieber Freund,

So viel Gutes von Ihnen, der Brief, die Übersendung der schönen Ölberg-Zeichnung, die mir etwas von dem großen Eindruck, den mir das begonnene Ölberg-Bild gemacht hat, in einem lieben Sinne eigenthümlich macht.

In diesen Zusammenhang gehört, daß Rilke sogar Liebesbriefe gelegentlich ohne Anrede abfaßt; allenfalls ein »Ma chère et belle Amie« sich gestattet. So etwa viele an Adelmina Romanelli, zwischen 1907 und 1908 mal aus Capri abgeschickt, mal aus »Oberneuland bei Bremen«, mal aus Venedig – noch in ungewohnt »entflammter«, hastig hingeworfener Handschrift (erst später, als die Beziehung ›neutral‹ wird, erkennt man die gewohnten Schriftzüge). Ein Brief aus dem November 1907 datiert »Dimanche Matin« – liest sich so ziel- wie zügellos, auch namenlos:

Moi non plus: je n’ai pas d’adieu. J’emporte votre Âme et je la montrerai à Dieu et aux Anges. Elle sera dans l’Univers. Les fleurs s’y regarderont émerveillées et les oiseaux y viendront boir. Elle sera heureuse. Mon cœur continue de vous contempler tout à genoux. Je vous aime. J’entends les cloches

à vous infiniment R.M.

Ohne Frage: Rilke hatte sich von Beginn an ein ehernes Gesetz gegeben, dessen Paragraphen verklammerten seine Kunst. Doch ebenso fraglos ist, daß er es zu hüten suchte durch edle Gebärde. Nicht selten die eines Oberkellners. So lautet auf die Eingangsfrage unserer Fährtensuche »Wer war dieser Mann?« die Antwort: Geck, Gaukler und Genie.

Das Genie schlummert noch. In den ersten lyrischen Versuchen klingt noch nicht der hohe Ton ganz eigener Wort-Saiten, unnachahmlich, betörend ihre Sphärenmusik. Vorerst rauscht die gefältelte Seide eines Silbenkonfektionärs. Das ist nicht das frivole Urteil eines beckmesserischen Biographen; der ist in guter Gesellschaft: von Rilke. Der selber nämlich hat später hart über seine Anfänge geurteilt, sogar den Cornet noch »versinfizierte Prosa« genannt und viele Gedichte für Zusammenstellungen die sein Verleger Kippenberg anregte nicht zugelassen. In einem Brief an den Literaturhistoriker Hermann Pongs spricht er von »überstürzten Jahren«, »Nichtigkeiten«, die er lediglich aus Drang nach Anerkennung nicht in den Tischschubladen gelassen habe. In einer (die vielen Schreibfehler lassen vermuten: selbstgetippten) Antwort an einen Fragesteller ist er noch rigoroser:

Ihre Fragen, geehrter Herr, muss ich – so sehr ich das bedauere, mit völligem Versagen beantworten.

Die Sache ist die: Der Vorrath des kleinen Buches »Leben und Lieder« ist, soviel ich weiss, schon vor mehreren Jahren ausgekauft worden, ich besitze selbst kein Exemplar davon.

Von den drei Dramen-Versuchen, welche Sie nennen, wovon zwei allerdings als Manuscript gedrückt, sind aber verschollen und auch von der Wienerschrift des dritten (Früfrost genannten) Drama’s ist mir die Spur verloren gegangen.

Erlauben Sie mir aber dieser Nachricht die Anmerkung zuzufügen, dass ich alle jene Arbeiten für wertlos und unbezeichnend halte, dass ich sie, bestünden sie noch, auf alle Fälle dem Buchhandel, ganz besonders aber jenen entziehen würde, so an mir aufmerksamen und freundlichen Antheil haben.

In Ergebenheit begrüsst Sie:

Rainer Maria Rilke.

Hans Egon Holthusen, selber ein ausgewiesener Autor, hat sich in einer respektvollen kleinen Monographie gleichwohl jeden Ansatz zu Hagiographie untersagt und nicht nur Rilkes leichtfertiges Publizieren in allerlei banalen Blättern und Anthologien gerügt, auch dessen Devotheit gegenüber erhofften Vermittlern – irgendeine artikelschreibende Dame erhebt er schmeichlerisch kurzerhand zur Baronesse –, sondern unverhohlen verblüfft die Banalität des Jugendwerks konstatiert: »Nur mit Mühe würde man aus der Sprache und dem Gehaben des jungen René überzeugende Andeutungen einer künftigen Meisterschaft herauslesen können. In Hunderten von mittelmäßigen Gedichten scheint sich zunächst nichts weiter als eine zügellose Facilität des Versemachens zu dokumentieren, eine lyrische Redseligkeit, die irgendwelche Jedermannsgefühle in leere Sprachschablonen gießt und sich über das Niveau der poetischen Dutzendware jener Tage kaum irgendwo erhebt […] Verse wie diese:

Kaum will der Tag die Hügel krönen,

regt sichs zu Wulfsmoor schon im Tal:

heut soll Graf Erich sich versöhnen

mit Jutta, seinem Ehgemahl

Doch Kunst ist ein Wunder. Ließe sich das erklären – auch nur, wie und warum zu einem bestimmten Zeitpunkt Kunst entsteht –, dann gäbe es ein Rezept; man könnte das Wunder zwingen, Kunst herstellen. Was glücklicherweise nicht geht. Das Rilke-Wunder ist der Cornet. In einem Brief aus dem Herbst 1902, mit dem sich Rilke bei Rodin vorstellt – »Ich habe (ganz jung noch) zu schreiben begonnen« –, nennt er die Titel einiger seiner Bücher; spricht sogar von seinen dramatischen Versuchen – in seinem zweiten Stück, Im Frühfrost, hatte sich ein junger Schauspieler hervorgetan: Max Reinhardt –: in diesem ausführlichen Brief aus Worpswede nach Paris kommt der Cornet nicht vor. Das ist erstaunlich, denn das Manuskript war abgeschlossen im Herbst 1899 und in seinem Karatgehalt von Rilke durchaus erkannt; wenn er auch darauf bestand, den Text in einer einzigen Nacht niedergeschrieben zu haben: »Der Cornet war das unvermutete Geschenk einer einzigen Nacht, einer Herbstnacht, in einem Zuge hingeschrieben bei zwei im Nachtwind wehenden Kerzen.« Es ist auch wiederum nicht erstaunlich, weil das Buch im Druck noch nicht erschienen war, jene Liebhaberausgabe von 300 Exemplaren mit dem ominösen Familienwappen nur die Erstfassung präsentierte (Rilke erarbeitete bis 1906 mehrere Fassungen). Erst des Verlegers Anton Kippenbergs Idee im Jahre 1912 für eine neue Reihe, die »Insel-Bücherei«, brachte (anfangs zu Rilkes Entsetzen) den Durchbruch: der Cornet als Band 1 für 50 Pfennige mit einer Erstauflage von 10000 Exemplaren (400 Mark Autorenhonorar). Rilkes Werther war geboren. Ein Sensationserfolg begann. In drei Wochen waren 8000 Bücher verkauft, im selben Jahr weitere 20000, im März 1914 betrug die Auflage bereits 40000 ein Lyrikbestseller bis in unsere Tage, 1995 betrug die Auflage 1134000 gebundene Bücher (Anthologienachdrucke, Werkausgaben u.ä. nicht eingerechnet).