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»Oje, oje«, sagt Mama. »Wir kommen schon wieder zu spät.« Sie stopft Annas Frühstücksdose in den Rucksack. »Los, beeil dich, kleine Schnecke.«

»Geht nicht«, sagt Anna.

Sie macht gerade Knoten in ihre Schuhbänder. Bei so was kann man sich nicht beeilen.

Mama knöpft Annas Jacke zu. Das kann Anna nun wirklich selber.

»Wir nehmen heute Marie mit zum Kindergarten«, sagt Mama.

»Warum?«, fragt Anna.

»Maries Mama ist krank«, sagt Mama.

»Warum?«

Anna hält Mama die Füße hin.

Schleifen kann sie nämlich noch nicht. Nur Knoten.

»Warum, warum!«, sagt Mama. »Sie ist erkältet.«

»Erkältet? Ist doch nicht schlimm«, sagt Anna. Sie ist oft erkältet. Das macht ihr überhaupt nichts.

Mama seufzt nur und bindet zwei wunderbare Schleifen. Ganz ohne hinzugucken.

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Marie kann auch schon Schleifen machen. Sagt sie. Aber Marie hat ja auch einen großen Bruder. Außerdem wird sie in zwei Tagen schon fünf. Marie ist Annas allerbeste Freundin. Jedenfalls meistens. Und sie wohnt in der Wohnung nebenan.

Anna klingelt dreimal.

Damit Marie auch weiß, wer da ist.

Trotzdem dauert es ziemlich lange, bis die Tür aufgeht.

So lange, dass Mama schon ganz zappelig wird.

»Hallo«, sagt Marie.

Das klingt gar nicht so wie sonst. Ganz traurig klingt das. Maries Augen sind rot, wie die von einem Kaninchen.

Maries Mama hat auch rote Augen. Aber ihre Nase ist noch röter. Ihre Haare sind ganz strubbelig, und in jeder Hand hält sie ein zerknülltes Taschentuch.

»Tschüs, Marie«, sagt sie.

Das klingt, als ob sie eine Wäscheklammer auf der Nase hätte. Marie sagt gar nichts. Marie läuft einfach die Treppe runter. Ganz schnell. Was soll das denn?

Anna stürmt hinterher. Nicht mal die Stufen zählt sie.

An der Haustür holt sie Marie ein. Anna hat nämlich viel längere Beine als Marie. Jede Menge Meter länger.

Dafür ist Marie stärker. Marie kriegt ganz allein die schwere Haustür auf.

»He, ihr beiden, wartet!«, ruft Annas Mutter.

Marie wartet nicht.

Marie stemmt die Haustür auf und läuft raus. Draußen lehnt sie sich an die Hausmauer.

Marie weint.

Ganz leise. Nur die Tränen laufen runter. Tropf, tropf. Furchtbar.

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Ganz komisch wird Anna davon.

»Hör auf, Marie«, sagt sie. »Bitte.«

Sie streichelt Marie die Backe. Aber nur kurz. Die ist nämlich ganz nass und glitschig.

Marie schnieft und wischt sich über die Augen.

»Also wirklich«, sagt Mama, als sie aus der Haustür geschnauft kommt. »Hab ich nicht gesagt, ihr sollt warten?«

Dann sieht sie Maries verheulte Augen.

»Aber, Marie, was ist denn?«, fragt sie erschrocken.

»Mama kann mir keine Geburtstagsfeier machen«, schnieft Marie. »Nur im Bett liegen kann sie. Wegen ihrer blöden, doofen Verkältung.«

Wie verrückt dreht sie an ihren dünnen Zöpfen rum.

»Ach, das ist doch nicht so schlimm«, sagt Annas Mutter.

Anna findet, dass das scheußlich schlimm ist. Keine Geburtstagsfeier. Was soll es denn Schlimmeres geben? Eine Erkältung ist bestimmt nicht schlimmer.

Mama nimmt Marie an die eine und Anna an die andere Hand und schiebt sie zum Auto.

»Weißt du was«, sagt Mama zu Marie. »Dann feierst du eben eine Woche später.«

Eine Woche später. Eine Woche.

Anna guckt Marie an. Marie guckt Anna an.

»Wievielmal schlafen ist eine Woche?«, fragt Marie.

»Siebenmal«, sagt Annas Mutter.

Anna hält Marie sieben Finger vor die Nase.

Mit Zahlen kennt die sich nämlich nicht so aus.

»So viel«, sagt Anna.

Eine Woche ist furchtbar lange.

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Den ganzen Tag ist Marie traurig. Im Kindergarten muss sie Pola und Henrieke und Mandy Bescheid sagen, dass es kein Fest gibt.

Da fängt sie wieder an zu weinen. Und deshalb haut sie sich erst mal mit den Jungs. Die verhaut sie immer, wenn sie traurig ist.

Nach dem Kindergarten will Anna mit Marie im Hof spielen. So wie immer, bis zum Mittagessen. Aber heute will Marie nicht.

Nein.

Sie setzt sich mit ihrer Schildkröte auf den Balkon und flüstert ihr Sachen ins Ohr.

Anna steht auf ihrem Balkon und guckt zu Marie rüber.

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Aber das ist langweilig. Also geht sie zu Mama in die Küche.

»Marie ist immer noch traurig«, sagt sie.

Mama schält Kartoffeln. Anna mag keine Kartoffeln. Man kann ja nicht jeden Tag Nudeln und Pfannkuchen essen, sagt Mama.

»Frag Marie doch, ob sie mit dir in den Hof geht«, sagt Mama.

»Will sie nicht«, sagt Anna.

»Dann spiel mit David«, sagt Mama.

David ist Annas Manchmal-Freund. Er wohnt ganz unten im Haus.

»Ich will aber mit Marie spielen«, sagt Anna.

Sie hüpft über die Küchenfliesen. Nur über die schwarzen. Mama seufzt.

»Ich will, ich will«, murmelt sie.

Anna hüpft weiter. Jetzt sind die weißen dran. Das ist schwieriger, weil sie so klein sind. Rums, Anna stolpert gegen den Tisch und Mamas Blumenvase kippt um. Die mit dem klitzekleinen Fuß. Die, die immer umkippt. Schwapp, ist eine große Pfütze auf dem Tisch. Anna stippt den Finger rein.

»’tschuldigung«, murmelt sie.

Mama verdreht die Augen und wirft ihr einen Lappen hin. Anna wischt in der Pfütze rum. Die wird immer größer. Und plötzlich hat Anna eine wunderbare Idee.

»Mama«, sagt sie. »Wir können doch ein Fest für Marie machen.«

Mama nimmt Anna den Lappen aus der Hand.

»Mama«, sagt Anna noch mal. »Wir können doch für Marie ein Fest machen.«

Anna muss so oft Sachen zweimal sagen. Oder noch vielmal mehr. Als ob Mamas Ohren verstopft sind.

»Mama«, sagt Anna jetzt zum dritten Mal. »Wir können doch ...«

»Ja, ja«, sagt Mama. »Ich hab schon gehört.«

Sie wirft den nassen Lappen ins Waschbecken und zieht Anna auf ihren Schoß.

»Das ist eine sehr gute Idee«, sagt Mama.

Sie gibt Anna einen Kuss und kitzelt sie am Hals. Da, wo es am allermeisten kitzelt.

Anna kichert.

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»Ja, wirklich, eine sehr, sehr gute Idee«, sagt Mama.

»Und weißt du was? Wir könnten ein Hoffest machen. Das Wetter ist ja noch schön.«

Dann zupft sie an Annas Locken herum.

Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt.

»Wir könnten alle aus dem Haus einladen«, sagt Mama. »Und Oma Kittel würde bestimmt eine Geburtstagstorte backen. Was meinst du?«

»Bestimmt«, sagt Anna.

Ganz zappelig wird sie vor Aufregung. Sie hüpft von Mamas Schoß. »Ich lauf gleich rauf und sag ihr Bescheid, ja?«