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Holger Rust

UND DIE MORAL
VON DER
GESCHICHT’…

 

Fabrikanten, Bosse
und Manager in
Literatur und Unterhaltung

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Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN Print 978-3-86881-438-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-411-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-816-3

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INHALTSVERZEICHNIS

Erstes Kapitel

Wirtschaft im Kopf: Man sollte wieder mal ein Buch lesen, und zwar eines, das in der Welt der Wirtschaft spielt

Zweites Kapitel

Die Moral von der Geschieht’? Trau Fabrikanten, Bossen, Unternehmern nicht, und denen nicht, die reich sind

Drittes Kapitel

Jeder will reich sein: Deshalb will jeder Lottomillionär werden, denn Lottomillionäre zahlen keine Steuern

Viertes Kapitel

Wunderwelt des Geldes: Geld macht glücklich, leider meist die anderen, weshalb das Volk nur am Schaufenster steht

Fünftes Kapitel

Ungerechter Mammon: Zu ebener Erde und im ersten Stock – das ist seit Jahrhunderten das Motiv in der Literatur

Sechstes Kapitel

Zwischen den Zeilen: „Geld, Macht, Habgier, Korruption“ versprechen die Buchverlage. Das Versprechen halten sie

Siebtes Kapitel

Bildschirmbösewichte: Ein „Tatort“-Kommissar beklagt sich bitter, daß man solche Typen bei ihren dreckigen Geschäften auch noch schützen muß

Achtes Kapitel

Kämpfer für Gerechtigkeit: „Columbos Engagement ist vor allem die befriedigende, fast universale Auseinandersetzung ‚Arm gegen Reich‘“

Neuntes Kapitel

Realität als Vorbild: Am Ende einer dramatischen Karriere fällt ein Medienzar von Bord seiner Yacht und ertrinkt

Zehntes Kapitel

Gordon Gekkos Generation: Yuppies – oder: Wie aus dem Nichts die Guten und aus denen die Bösen wurden

Elftes Kapitel

Aufstand der Unternehmer: Wie US-Konzerne versuchten, gegen die kapitalismuskritische Fernsehserie „Dallas“ vorzugehen

Zwölftes Kapitel

Althergebrachte Grundmotive: Ein Testament für die Ewigkeit, Vermächtnis für die Unterhaltungsindustrie der Jahrtausende

Dreizehntes Kapitel

Bibelsprüche: Nur das einfache Leben bietet Rettung vor der Versuchung des schnöden Mammons

Vierzehntes Kapitel

Gesundes Volksempfinden: Wie die biblischen Weissagungen als Gewißheiten in die Weisheit des Volkes eingehen

Fünfzehntes Kapitel

Akademische Variationen: Auch die Soziologie ist nichts anderes als die alte Erzählung von der Ungerechtigkeit des Reichtums

Sechzehntes Kapitel

Klassenlagen: „Atlas bundesdeutscher Obszönitäten der Reichtumsund Verarmungspolitik, journalistisch brillant aufgearbeitet.“

Siebzehntes Kapitel

Sumpflandschaften: Jetzt wissen wir endlich, daß es hinter den Mauern der Elfenbeintürme auch nicht anders aussieht

Achtzehntes Kapitel

Mütter und Lehrer: Wie die Wirtschaftserziehung in der Schule bislang auf eine Kultur der Unternehmensgründungen vorbereitete

Neunzehntes Kapitel

Alles Absahner: Statistische Befunde darüber, wie die Jungen und Mädchen über Wirtschaft und Unternehmer denken

Zwanzigstes Kapitel

Einfache Erzählung: Märchenhafte Wirtschaftserziehung – oder: Die Inszenierung der Welt als Fabel vom bösen Verkäufer

Einundzwanzigstes Kapitel

Vom Reichtum gezeichnet: In Comics sind Reiche so verderbt, daß sie selbst beim Schiffeversenken noch betrügen

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Naturbelassene Charaktere: Tarzan als Prototyp des edlen Wilden und als Gegenbild zum degenerierten Manager

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Böse Mädchen: „Brich die Regeln, lebe nach deinen eigenen Gesetzen, schwimme immer gegen den Strom!“

Vierundzwanzigstes Kapitel

Edel sei der Reiche: Er hat trotzdem keine Chance. Man glaubt ihm auch die edelsten Motive nicht

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Selber schuld? Warum hackt eigentlich alles ständig auf den Unternehmern herum? Weil sie zu laut jammern

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Die Moral von dieser Geschieht’: Wie am Ende Nutzwert und Vergnügen ihre höchst vergnügliche und nutzbringende Synergie entfalten

Erstes Kapitel

WIRTSCHAFT IM KOPF

Man sollte wieder mal ein Buch lesen, und zwar eines, das nicht in der Welt der Wirtschaft spielt

Man sollte wieder einmal ein Buch lesen.

Das schlechte Gewissen nagt.

Denn man hat schon lange kein Buch mehr gelesen.

Dabei gibt es so viele neue.

Die Autoren schreiben mittlerweile offensichtlich schneller, als man lesen kann.

Es ist schon eigenartig mit diesen Büchern. Eigentlich meint man ja – man hat es gelernt –, daß ein Buch das Ergebnis eines langen und mühsamen Prozesses intensiven Nachdenkens sei, in einsamen Nächten von verzweifelten Autoren auf eine kleine Ewigkeit hin geschrieben, eine schmerzliche Geburt nach langer intellektueller Schwangerschaft sozusagen. Es heißt doch immer, daß ein Mann drei Dinge in seinem Leben zu tun habe: einen Sohn zu zeugen (mittlerweile darf es auch Tochter sein), ein Haus zu bauen (mittlerweile darf es gern auch ein Unternehmen sein) und einen Baum zu pflanzen – in neuerer Zeit: ein Buch zu schreiben.

Das dürfen inzwischen auch Frauen.

Beide, Männer und Frauen, haben sich also zumindest diesen neuen, dritten Teil des einstigen großbürgerlichen Ehrenkodex zu Herzen genommen: Sie schreiben Bücher in Serie. Und neben dem Schreiben scheinen sie auch noch mit den jeweils neuesten Methoden vertraut zu sein, wie man Firmen erfolgreich führt. Denn die Titel der in dieser ungeheuren Geschwindigkeit auf den Markt geworfenen Bücher enden in den meisten Fällen mit zwei Worten, zwei verführerischen Worten: „…für Manager“. Betrachtet man nur einmal die verhaltenstechnische Neuentdeckung des Jahrzehnts – die emotionale Intelligenz: Siebenundzwanzig Bücher in munterem Reigen – selbst der Urheber dieser Gefühlsschwemme, Daniel Goleman, produziert in geradezu zwanghafter Folge Bücher –, in denen immer wieder dasselbe steht. Nämlich das, was die Autoren in anderen Büchern gelesen haben. Fraktal nennt man das wohl, seit Gerd Gerken und Gertrud Höhler die Chaosforschung entdeckt (und gleich auch darüber Bücher geschrieben) haben. Fraktal heißt Selbstähnlichkeit. Auf die Wirtschaft umgelegt ist das zwar ein ziemlicher Unsinn, aber der eigene Markt der immer wieder gleichen Auslassungen läßt sich gut damit beschreiben. Gertrud Höhler hat übrigens ein Buch zur emotionalen Intelligenz geschrieben, das achtundzwanzigste.

Für Manager.

Was immer an Philosophen intellektuell zu exhumieren ist – für Manager. Die Klassik der Literatur, rauf und runter – für Manager. Jedes noch so kleine sozialpsychologische Theoremchen, das irgendeinem Wissenschaftler in den letzten vierzig Jahren einmal in einem Vortrag in einem Halbsatz entschlüpft ist – für Manager. Aufbereitet wie eine Sammlung von Kalendersprüchen oder Aphorismen oder Regelwerke mit Schnellesetips. Am Rand steht noch einmal das Notwendigste. Der Stil ist meist verkünderisch, zumindest aber pädagogisch. Denn die Leserschaft (also die Manager) bewegt sich ja offensichtlich auf dem intellektuellen Niveau zurückgebliebener Dreizehnjähriger. Deshalb sind diese Bücher oft in Schritte eingeteilt, die dann auch wieder einen Teil des Titels ausmachen: „Die zwölf wichtigsten Regeln des Marketing“, „Die sechs Hüte des Denkens“, „Sieben Geheimnisse des Erfolgs“ und so fort.

Doch irgendwie beschleicht den abstinenten Geist, der endlich wieder Nahrung aufnehmen will, das Gefühl, das seien keine richtigen Bücher. Das seien nur zusammengestoppelte Zitate, Kalendersprüche, Halbwahrheiten, intellektueller Modeschmuck.

So ist es.

Das sind die Bücher von heute: Suppenwürfel für die geistige Zwischenmahlzeit. Mit dem Versprechen eines kleinen Sättigungsgefühls. In allen Geschmacksrichtungen. Deshalb liest man die bereits vorgefertigten Querlesereien („Kant in neunzig Minuten“) noch einmal quer, so daß geübte Leserinnen und Leser es schaffen, „Kant in neunzig Minuten“ auf sechsunddreißig Minuten zu komprimieren.

Quickies.

Aber es bleibt das Gefühl der mangelnden Befriedigung – naheliegende Analogien sollen hier nicht weiter ausgeführt werden, können aber verdeutlichen, was gemeint ist.

Denn, das haben ernsthafte Psychologen herausgefunden: daß mehr Frustrationen durch Unterforderung als durch Überforderung entstehen, daß die Arbeitswelt mehr Unterforderte als Überforderte kennt und der Mensch dann am glücklichsten ist, wenn er sinnvoll gefordert wird und mit immer neuen Herausforderungen zu kämpfen hat. Das gilt wohl auch fürs Lesen. Denn das, was da für den schnellen Gebrauch in der U-Bahn oder der Business Class angeboten wird, stillt vielleicht den kleinen Hunger, niemals aber den großen Appetit.

Dazu kommt, daß die Moral dieser Geschichten eine sehr seltsame ist: Manager und Unternehmer werden offensichtlich für Idioten gehalten, die vor allem das nicht können, was ihr Beruf ist. Überhaupt hat man sich ein Buch eigentlich immer anders vorgestellt.

Gute Freunde raten zu guten Büchern

An dieser Stelle folgt dann der Ratschlag eines guten Freundes, regelmäßig, unausweichlich, und es ist immer derselbe: Fahr ein Wochenende in die Berge und lies ein Buch. Und in diesem Ratschlag schwingt ein Adjektiv mit, man braucht es eigentlich gar nicht mehr eigens dazuzustellen: Lies ein gutes Buch! Sehr schön. Also wählt man ein gutes Buch aus, greift wieder einmal zu Musils „Mann ohne Eigenschaften“, denn: Wenn schon ein gutes Buch, dann richtig.

Und scheitert wieder einmal daran.

Denn immer wieder laufen die Gedanken aus dem Ruder. Angst ergreift das furchtsame Managerherz, es könne etwas verpassen, während der Zeit des Lesens. Oder man kann es einfach nicht ertragen, diese seltsame Leere durchzustehen, die man Freizeit nennt oder Urlaub oder Muße, ohne daß man irgend etwas mit sich führt, das einen – und sei es noch so ein kleiner – Nutzwert besitzt. Man hat immer das Gefühl, die anderen eilen weiter, während man zum dritten Mal einen Absatz liest, ohne ihn wirklich aufzunehmen. Also liest man doch wieder Manager-Traktätchen mit vermeintlichem Nutzwert, mehrere auf einmal natürlich. Damit aber entsteht wieder das Gefühl, man müßte irgendwann einmal ein gutes Buch lesen.

Wie kommt man da raus?

Indem man die Bücher (und andere Unterhaltungsangebote) so auswählt, daß sie Spaß machen und gleichzeitig einem intelligenten Nutzwert unterworfen werden. Nutzwert: Dieses Wort ist ja die moderne Variante des altertümlichen Wörtchens der Moral von der Geschieht’. Was kann man anfangen mit der Sache? So lautete die Frage früher. Wo liegt der Nutzwert? lautet sie heute. Aber es ist dieselbe Frage. Und sie soll hier beantwortet werden: Der Nutzwert der Lektüre solcher Bücher liegt in der Moral.

Geht es nicht allemal um das alte moralische Dilemma des Geldverdienens?

Ja, es geht allemal um das alte moralische Dilemma des Geldverdienens. Natürlich gibt es eine Menge Bücher, die sich nicht um Wirtschaft drehen. Die meisten Bücher drehen sich nicht um Wirtschaft. Auch die meisten Filme, Comics, Theaterstücke und Fernsehserien drehen sich nicht um Wirtschaft. Aber wenn sie sich um die Wirtschaft drehen, wenn auch nur ein einziger Fabrikant, ein Unternehmer, ein Spitzenmanager, ein Reicher zu den personae dramatis zählt, dann steht die Wette zehn gegen eins, daß die Charaktere der Protagonisten von dubioser Dunkelheit sind.

In solchen Büchern geht es um die Konfrontation von Geschäft und Lebenssinn.

Es geht um die letzten Fragen, manchmal auch um die vorletzten.

Es geht um Ethik.

Es geht um persönliche Konflikte, um Raffgier, um tragische Verstrickungen und Läuterungen, um Tod und Teufel.

Die Vergeblichkeit des emsigen Tuns

Und sehr schnell wird klar, was sich da in der Literatur abspielt. Sehr schnell wird deutlich, daß da eine ganz andere Welt, eine Gegenwelt inszeniert ist, nicht nur, weil die, die schreiben, Muße haben und ob der graugesichtigen Sklaven hohnlachen, die an die Bürosessel und Konferenzstühle gefesselt sind; weil die, die schreiben, sich noch einmal im Bett umdrehen, bis die Inspiration sie ereilt; weil die sich, wenn der gestreßte Manager Meetings über sich ergehen läßt, in einer lauschigen Gartenlaube an den Laptop setzen und mitunter sogar Millionen verdienen mit etwas, das man nicht einmal anfassen kann; weil die, die schreiben, wissen, daß das Publikum diese Inhalte will: böse Reiche, intrigante Unternehmer, mobbende Manager, Abgründe. Eben erst ist wieder einer dieser Bestseller mit großem Werbeaufwand lanciert worden: John Le Carré, der einst die Düsternis menschlicher Abgründe in den unergründlichen Tiefen der Politik und der Spionage fand, findet sie nun im Reich der Hochfinanz, „Single & Single“. Diese Motive gibt es schon lange. Sie sind sorgsam aufbereitet und kommen aus immer derselben Schubalde, mit nur geringfügiger Modifikation: Mammon, und die, die ihn scheffeln.

Schaut doch hinein in die Bibel, vor allem ins Neue Testament. Schaut hinein in die Romane der Klassiker und in die Bestseller unserer Tage. Schaut hinein mit wachem Geist in die seltsamen Auslassungen des gegenwärtigen Weltgeistes (der sich seltsam ermattet zeigt), in die Filme und Fernsehserien, die Theaterstücke und Comics. Denn wenn man erst einmal aus der Lektüre der Bücher den Gedanken der „intellektuellen Wertschöpfung“ destilliert hat, läßt er sich leicht auch auf Fernsehen und Kino anwenden, auf „Columbo“ und die 67 Mörderinnen und Mörder, die er gefangen hat, auf Marcello Mastroianni in „Dolce Vita“ und David Niven in „Bonjour Tristesse“, auf „Derrick“, „Dallas“, „Dynasty“, oder Filme, deren bekanntester wohl „Wall Street“ sein dürfte, der Film über den verbrecherischen Broker Gordon Gecko und die Yuppies, jene Brut geldgieriger Youngsters, die nicht nur in Romanen und Filmen vorkamen, sondern auch in der Wirklichkeit eine kollektive Biographie hinlegten, wie sie sich nur ein Romanautor hätte ausdenken können. Denn auch das wird klar: Manchmal kommt die Wirklichkeit den Büchern, den Filmen, den biblischen Mahnungen und Sprüchen sehr, sehr nah. In einigen Kapiteln dieses Buches wird man nicht mehr wissen, ob ein Roman erzählt wird oder das, was gestern erst geschehen ist.

Überall das Motiv des „ungerechten Mammons“. Das Motiv vom „Kamel, das eher durchs Nadelöhr geht, als daß der Reiche in das Reich Gottes kommt“, das Motiv der „Unzufriedenheit“, das Motiv von den Händlern, die das Haus des Herrn verunreinigen, überall Gier, Karrierismus und am Ende – am Ende die Leere.

Überall das Motiv des „Jedermann“, das jährlich, vom Wiener Regisseur Gernot Friedl inszeniert, auf dem Domplatz in Salzburg die Vergeblichkeit des emsigen Tuns beschwört, besucht vor allem von Leuten, die sehr viel Geld haben und großen Wert darauf legen, später als Repräsentanten von Reichtum und Kultur in den gehobenen Klatschblättern abfotografiert zu sein. Die nun zusätzlich noch sommers nach Hamburg fahren, um diese neue Fassung von Michael Gatz zu sehen, den „Hamburger Jedermann“, der in der einmaligen Kulisse der Speicherstadt nun schon im sechsten Jahr in der Produktion des Hamburg Art Ensembles in einem tristen Existenzialismus versinkt.

Erster Exkurs

Der Hamburger Jedermann

Das Stück

Das Volksstück, das wir seit 1906, als Friedrich von Holweck ein uraltes Motiv des Theaters aufgriff und modernisierte, unter dem Namen „Jedermann“ kennen, zählt heute vor allem in der Fassung von Hugo von Hofmannsthal zu den besinnlichen Elementen der Festspielkultur. In Salzburg. Oder in einer besonders aparten Bearbeitung, in der der Teufel am Ende die Seele nicht bekommt, im „Hamburger Jedermann“.

Es ist die letzte (oder vielleicht auch vorletzte) der Jahrhunderte umfassenden Inszenierung vom hartherzigen Reichen, der für Geld seine Seele verpfändet. Von 1477, dem Jahr der mutmaßlichen Niederschrift eines Volkstheaterstücks, über die erste nachweisliche Druckfassung im Jahre 1495, über französische und englische Adaptionen und die 1905 eröffnete Fassung „Wir alle“ und Hofmannsthals „Jedermann“ 1911 bis eben hin zu dieser Hamburger Aufführung 1998 spannt sich der Bogen des immer wieder faszinierenden Motivs. Den letzten Weg gehst du allein.

Das letzte Hemd hat keine Taschen, wie Hans Albers sang.

Da wenden sich Reichtum, Freundschaft, Werbung, Markt, Leistung, da wendet sich alles ab, was das Leben des Reichen begleitet hat, der Jedermann ist, aber eben mit dem Attribut des Reichtums ausgestattet wird, damit um so dramatischer deutlich wird, daß sich niemand der Verantwortung wird entziehen können, sosehr er auch auf die Macht des Diesseitigen, des Materiellen vertrauen mag. Der „Hamburger Jedermann“ hält noch eine besondere Delikatesse bereit: Es gibt kein Jenseits, kein Endgericht, keinen Gott. Es ist die existenzialistische Variation des alten Motivs. Nicht einmal zur Hölle fährt der Reiche mehr. Es ist sinnlos. Und Jedermann würde unbegleitet sterben, wären da nicht ein paar einfache Leute. Aber noch lebt er und enthusiastisch stimmt er zu, als der Teufel nur seine Seele für die Speicherstadt verlangt.

Merksätze

Jedermann, der von sich behauptet, nicht einmal aufgeschreckt zu sein, hätte ihm jemand seine Seele, das Ding, „vom Arsch geleckt“, überlegt nicht lange, als es darum geht, seine Seele für „die ganze Speicherwelt“ einzutauschen.

„Die Sache gilt. Ich brech den ganzen Schutt da weg.

Hier geht es um Milliarden!

Es knallen meine Chancen!

Jeder Tag macht mir Avancen!

Und ich sag: Na dann!

Der Name ist Jedermann!“

Es ist eine interessante Variation, Impuls zum Gespräch: Wo es keinen Gott außer dem Geld gibt, gibt es keinen Teufel, nur den Verlust.

Wo bleibt der Sinn?

Wo war er in den alten Fassungen?

So beginnt man zu sammeln, die „Jedermann“-Variationen vom 12., 13. Jahrhundert und so fort bis heute. So durchforstet man die Literatur nach diesem Motiv und summt immer wieder einmal das Lied vom letzten Hemd von Hans Albers, wahlweise auch „La Paloma“. Auch darin heißt es ja sehr tief und metaphorisch: Einmal muß es vorbei sein.

Wo man mit dem Sammeln begonnen hat, gibt es kein Halten mehr. Denn plötzlich wird klar: Das Jedermann-Motiv findet sich ja nicht nur in den verschiedenen Adaptionen des Theaterstücks. Es ist modifizierter Kerngedanke in Hunderten von Büchern und Filmen. Jedermann lauert in jeder Buchhandlung hundertfach.

Erstes Buch einer Unternehmensbibliothek

Stellen Sie sich also vor, Sie haben eine Unternehmensbibliothek zu füllen, in der es um die moralischen Auseinandersetzungen mit der Wirtschaft geht, weil Sie fortan das intellektuelle Kapital Ihrer Mitarbeiter (davon hört man jetzt so viel) etwas pfleglicher behandeln wollen. Weil alle etwas lesen sollen, mit dem sie auch in der Freizeit nicht ganz aus dem Berufsleben gescheucht werden. Und da Sie gewohnt sind, ohnehin alles selber zu machen, müssen Sie, weil Vorbild, auch alles selber gelesen haben. Etwa Sinclair Lewis, Martin Walser, John Grisham, Tim & Struppi, das Lukasevangelium, Jean-Jacques Rousseau, Saul Bellow, Heinrich von Kleist, Bohumil Hrabal, Heinrich Mann, Ken Follett, Friedrich Dürrenmatt, Peter Turrini, das Alte und das Neue Testament, David Lodge und Paul Theroux, Armistead Maupin, den Autor der berühmten Stadtgeschichten aus San Francisco, Cesare Pavese und immer wieder Jedermann, Jedermann, Jedermann, und dann wieder zur Erleichterung Peter Mayle, der Sonderbares über die Exzesse der Reichen zusammengetragen hat; und auch Autoren, die kaum jemand kennt und die man als eigene Entdeckungen zum Thema lesen kann, was sich eventuell in Festreden am Ende ganz gut macht. Auch zu diesem Zweck läßt sich dieses Buch lesen. Es ist also wieder eines dieser Bücher, die nicht an und für sich Buch sind, sondern Medium: Buch über Bücher. Aber: Dieses Buch wird den Kompromiß inszenieren. Es geht um den Impuls, selber zur Literatur zu greifen und sie nicht aus den wenigen Zeilen, die hier zur Verfügung stehen, komprimiert für den zitierfähigen Gebrauch zu entnehmen. Zwar sind Merksätze, Titel und Kurzbeschreibungen eingestreut, Informationen über Autoren und Romane, über Theaterstücke und anderes, ja. Und immer wieder möchte der Autor die Leserinnen und Leser durch Exkurse zu besonders lesenswerten oder besonders drastischen oder besonders bekannten oder besonders zu Unrecht unbekannten Büchern einen Augenblick aus dem Fortgang der Gedanken reißen, um sie an literarischen Beispielen in aller Verdichtung noch einmal zu spiegeln. Irgendwo muß man ja anfangen mit dem Lesen. Am besten gleich hier.

Man kann natürlich über diese kleinen Exkurse hinweglesen.

Oder man spart sie sich auf für später, überfliegt sie fürs erste nur und behandelt sie als eine abschließende Anthologie, die man noch einmal im Zeitraffer liest, weil sie ja das Buch insgesamt noch einmal in sich tragen. Denn die „Merksätze“, hintereinander weggelesen, ergeben eine eigentümliche neue Lektüre. Mit demselben Ergebnis, mit derselben Einsicht.

Zweites Kapitel

DIE MORAL VON DER GESCHICHT’?

Trau Fabrikanten, Bossen, Unternehmern nicht, und denen nicht, die reich sind

Dieses Buch faßt die Einsichten zusammen. Dieses Buch zieht die Bilanz. In diesem Buch wird die Moral von der Geschicht’, und zwar von dieser Art Literaturgeschichte, gezogen. Und die Moral ist diese: Wir leben in einer eigenartigen Welt, in der junge Menschen händeringend aufgefordert werden, Unternehmen zu gründen. Gleichzeitig aber werden in der mächtigsten kulturellen Instanz unseres Alltags – der Unterhaltung – mit wohligem Schauer Raffgier, Bösartigkeit, Korruption, Intriganz, Rücksichtslosigkeit, Borniertheit und Kleinbürgerlichkeit, Verschwendungssucht, Unmenschlichkeit der Bosse, der Fabrikanten, der Unternehmer und der Reichen im allgemeinen inszeniert. Und wir? Wir sitzen mit ebenso wohligem Schauer davor. Und manchmal sehen wir die Leute, die in diesen Büchern, Filmen, Comics, Theaterstücken und Spruchweisheiten überführt werden, gar im Spiegel.

Wenn wir reich sind, sind wir natürlich durch Arbeit reich geworden (wie sonst?). Aber offensichtlich kann man niemandem erklären, wie man durch Arbeit reich wird. Also müssen die, die vorgeben, durch Arbeit reich geworden zu sein, irgendwie mit dem Teufel im Bund stehen. Immer wieder, ob Kino, Fernsehen oder Buch, ist es das eine Motiv: Das Böse kommt auf reichen Sohlen – oder auch umgekehrt: Reich wird man nur, wenn man mit dem Bösen einen Pakt hat und die alte biblische und die alte philosophische Weisheit verdrängt, daß das wahre Glück im Stillen liege, so wie es auch der Volksmund sagt und wie es vor zweitausend Jahren Lukrez besang, und wie es danach so viele immer wieder betonten, bis es zur volkstümlichen Wahrheit in den Sprüchen der niederen Stände wurde, die ein weiteres Studienfeld darstellen.

Auch da nämlich, in den Spruchweisheiten des Volkes aller Generationen, kommt der Reiche, kommen die Händler und Unternehmer nicht gut weg.

Wundert man sich darüber, daß es an der Mentalität fehlt, Unternehmen zu gründen? Wer solches tut, gerät doch sofort in Verdacht!

Auch deren Handlanger geraten ins Kraftfeld des Bösen („Dienstleister“ würde man wohl heute sagen), die Werber und Anwälte, Ärzte, alles Gangster, Erpresser, Intriganten, gefühllose Spekulanten, ja Ehebrecher, denen Macht und Geld über alles geht. Selbst im „Faust“ wird die Medizin vom Teufel zu nichts anderem hervorgehoben als … aber lassen wir das an dieser Stelle. Es wird an geeigneterer Stelle (und zwar auf Seite 275) darüber zu reden sein, wobei hier nur soviel verraten werden darf: Der tiefere Sinn des ganzen „Faust“ besteht darin, daß die reine Ausrichtung auf den Nutzwert geradewegs in Hölle führt. Was sich hier schon aus dem „Faust“ festhalten läßt, ist, daß allein die unschuldige Tugend die schuldige Gier nach immer mehr erlösen kann, daß die Katharsis immer ein reiner Mensch ist, der meist so aussieht wie Isabel Adjani oder, in männlicher Version, Tom Cruise.

Es ist eben eine Frage der Ehre.

Auf den rechten Pfad gebracht, wenn überhaupt, wird der Reiche also durch Außenseiter, durch gute Geister, wie im Märchen. Fäuste (oder wäre es besser zu sagen: Fauste?), die mit Mephistopheles den Bund auf ihre Seele geflochten haben, aber nur um des – wie es so schön heißt – „schnöden Mammons“ willen, der weiteren Mammon erzeugen soll und so fort, bis man, wie Dagobert Duck, nicht einmal mehr mit dem Zählen nachkommt, Fäuste also werden durch reine Jungfrauen (die sie oft geschändet haben) oder durch naive, aber pfiffige Neffen immer wieder an die Wahrheit des Lebens gemahnt: Menschen sind es, die im Mittelpunkt stehen.

Humankapital!

Dessen Wert wird in der Literatur am Ende dann doch immer höher geschätzt als der schnöde Mammon.

Medien-Tycoons und Tagelöhner

Dieses Buch wird eine Menge Beispiele dafür geben, mit über fünfzig Büchern, Stücken, Comics, Märchen, Bibelzitaten und Sprüchen. Denn irgendwie muß man mit der Moral von der Geschieht’ ja umgehen lernen. Modern gesagt: Es gibt offensichtlich ein PR-Defizit, wenn diese schaurig-schönen Schwarten und Streifen so unausrottbar das tiefe Lied vom bösen Unternehmer singen.

Und doch: daß das alles so wahrscheinlich klingt, hängt damit zusammen, daß die Geschichten in den Büchern den Geschichten, die das Leben schrieb, so ähnlich sind. Abenteuerliche Karrieren, Aufstieg und Fall, sicher auch Intrigen und Machtkämpfe – es braucht nur einen geschickten Autor, der alles ein wenig überzeichnet, die eine oder andere miese Figur in das Szenario einfügt, das eine oder andere Verbrechen erfindet und ansonsten abschreibt, was im Leben passiert. So nämlich wird das Publikum die Wirklichkeit wiederfinden, zu großen Teilen sogar, und die kriminellen Einzelheiten, die es ja in der Wirklichkeit manchmal auch gibt, werden in die abenteuerliche Geschichte eingewoben. Und so entsteht ein literarisches Ganzes, das nicht fiktiv und auch nicht wirklich ist, aber für wirklich gehalten wird.

In der Wirklichkeit geht es manchmal um abenteuerliche Geschichten von Revolutionen gegen das Kapital. Um die Geschichte des Aufstands der amerikanischen Unternehmen gegen das Image, das ihnen in Fensehserien wie „Dallas“ angedichtet wurde (von dem sie allen Ernstes behaupteten, das sei das Werk linksintellektueller Revolutionäre), bis sie in einem beispiellosen Showdown erkennen mußten, daß sich das Publikum sein Lieblingsbild vom bösen Unternehmer nicht nehmen läßt. Um die Geschichten von Verschwörungen und geldgierigen Yuppies, dann wieder auch von Medien-Tycoons, wie Robert Maxwell, der sich vom Tagelöhnersohn zum Weltbeherrscher emporarbeitete, und Rupert Murdoch, der sich eben anschickt, den deutschen Fernsehmarkt auszuhöhlen, oder um manche Vorgänge in der Schweiz (und andernorts), die sehr nah an dem sind, was Gottfried Kellers „Martin Salander“ schon vor mehr als hundert Jahren beobachtete.

Und so wird vieles, was in den Romanen und Filmen vorkommt, plausibel, weil man es ja aus der Wirklichkeit kennt. Weil man es so sehen will. Denn nichts prägt (und das wird die Geschichte Yuppies zeigen) die Wirklichkeit so sehr wie die Vorstellung, die die Menschen von ihr haben. Und eines ist sicher: Dem breiten Publikum gefällt es gut. Das breite Publikum kennt nur schwarz und weiß. Die moralischen Differenzierungen, die im Charakter des Reichen in der klassischen Literatur immer noch für mehrere Ebenen sorgten, auch für existenzialistische Verstrickungen, werden in der volkstümlichen Aufbereitung der Motive entsorgt.

Da geht es zur Sache.

Gut und Böse.

Arm und Reich.

Reichtum durch Arbeit?

Noch einmal: Es geht darum, daß sich niemand erklären kann, wie man durch Arbeit reich wird.

Dieses Motiv greift ja die akademische Kritik auf, in den späten sechziger Jahren, die der Gruppe der Achtundsechziger ihren Namen gaben. In ihren Theorien verdichtete sich das neutestamentarische Verdikt, wie sie meinten als Auseinandersetzung mit der Saturiertheit der Nachkriegsbundesrepublik. Aber sie waren keineswegs die ersten. Man braucht sich nur einmal Gottfried Kellers „Martin Salander“ etwas genauer anzuschauen, um zu sehen, wie bereits fast einhundert Jahre vor der Bewegung der Achtundsechziger und ihrer Nachfahren, der Grünen, eine nahezu wortgetreue Kapitalismuskritik vorweggenommen wurde, die auch die Konsequenzen für die Umwelt einbezog. Martin Salander, ein Kaufmann alter Schule, von Gottfried Keller erfunden. Aber einer, der durch seinen einwandfreien Charakter im Umfeld der Habgier und des Egoismus immer wieder um sein Vermögen gebracht wird. Ein ehemaliger Lehrer, der die Moral der stillen Zufriedenheit predigt, obwohl er durch harte Arbeit in Übersee zu einem Vermögen gekommen ist. Ein Schulmeister der alten Werte, die Gottfried Keller in der Schweiz der Gründerjahre mit Füßen getreten sah.

Wo man für Geld alles tat.

Das ist schon fast visionär und stärkt die Motivation, zumal es ja auch einen guten Reichen gibt, der allerdings bescheiden ist und nie verzweifelt.

Zweiter Exkurs

Gottfried Keller: Martin Salander

Der Autor

Gottfried Keller (1819 bis 1890) war der Autor der berühmten „Leute von Seldwyla“ und des „Grünen Heinrich“. Er wurde in der Schweiz als Sohn eines Drechslers geboren, besuchte die Armenschule, wechselte später an eine Industrieschule, die er aber verlassen mußte. Er beschloß, Maler zu werden, was ihm eine Existenz wie aus dem Klischee bereitete: in völliger Armut seiner künstlerischen Mission lebend. Seine Gedichte, die auch politisch motiviert waren, brachten ihm schließlich ein Reisestipendium ein. Das ermöglichte ihm, in Berlin und in Heidelberg Geschichte, Philosophie und Literatur zu studieren. 1861 wurde er Erster Staatsschreiber von Zürich, was ihn finanziell unabhängig machte. Kellers Leitmotiv ist pädagogisch und umfaßt die Menschenbildung zum Staatsbürger. Dieses Motiv drückt sich am stärksten in seinem letzten Werk aus, das hier skizziert wird – allerdings da schon in tiefem Pessimismus, der aus der Einsicht in die Raffgier und Korruption der Menschen entsteht.

Der Roman

„Martin Salander“ erschien 1886, zu jener Zeit also, in der sich auch die bis dahin agrarisch verträumte Schweiz modernisierte und die Literatur auf diesen rückhaltlosen Strukturwandel erschreckt und warnend reagierte. Es war die Zeit, in der Emile Zola seine zwanzigbändige Chronik der Familie Rougon-Macquard schrieb (präzis: von 1871-1893) und seinen Roman „Geld“, der dem „Martin Salander“ sehr ähnlich ist. Dieser Salander zählt zu den Guten. Aber die Umgebung, in der er lebt, ist geprägt von betrügerischer Unmoral. Verhältnisse, die, wie Walter Boehlich im Vorwort der Ausgabe des Rowohlt Verlages schreibt, „einen fast grenzenlosen und menschenverachtenden Egoismus befördern“. Es ist „die Schweiz im Gründerfieber, im Taumel der Spekulation und der Bereicherung einzelner auf Kosten aller“. Im übrigen ist diese auf Kosten anderer, ja sogar das Leben anderer zerstörende Habsucht auch das Kernmotiv des berühmten Romans von Alexandre Dumas: „Der Graf von Monte Christo“.

Martin Salander ist durch einen vermeintlichen Freund, Louis Wohlwend, um sein und das Vermögen seiner Frau geprellt worden. Um wieder zu Geld zu gelangen, geht er nach Südamerika, von wo er nach sieben Jahren reich zurückkommt, nur um ein weiteres Mal um den größten Teil seines Vermögens gebracht zu werden, wieder von Wohlwend, der offensichtlich mit dem ersten erschacherten Geld betrügerische Bankgeschäfte finanziert hat. Ein drittes Mal gerät der rechtschaffene Salander in die Fänge des brutalen Egoisten und Bankrotteurs, doch kann er sich diesmal wehren. Und doch umgibt ihn das düsterste Szenario menschlicher Habgier, Eitelkeit und Unbesonnenheit, eine Atmosphäre, in der selbst Söhne nicht davor zurückschrecken, die öffentlichen Gelder, die ihre Väter zu verwalten haben, für ihre dubiosen Geschäfte zu verlangen. Es ist hochinteressant, viele Motive der späteren Gesellschaftskritik wiederzufinden – bis hin zum ökologischen Raubbau, wo ganze Wälder gefällt werden, um das Holz zu verkaufen, und Martin Salander vor den Schlammmassen warnt, die nun ungebremst den Berg hinuntergespült werden könnten.

Merksätze

„‚Siehst du‘“, sagt Salander zu seiner Frau, „‚das sind sechsunddreißig Contos de Reis, etwas über zweimalhunderttausend Franken nach unserem Geld! Um Lebens und Sterbens willen habe ich dein Zugebrachtes daruntergesetzt (…)! Vom Ganzen aber übergab ich drei Vierteile einem angesehenen Bankhause in Rio und erhielt dafür die Anweisung auf Schadenmüller und Comp. (…). Woraus besteht aber diese Compagnie Schadenmüller? Aus einem einzigen Mann, und der heißt Louis Wohlwend.‘“

Aber Louis Wohlwend ist wieder einmal im Konkurs. Und die Bank in Rio de Janeiro einfach verschwunden. Der Verdacht liegt nahe, daß Wohlwend das Geld ins Ausland geschleust hat. Währenddessen kämpfen die Söhne des Statthalters mit dem Vater um öffentliches Geld, das sie für ihre Geschäfte verwenden wollen. „Eben stand die Kiste offen (…), in einer Abteilung lag in Rollen Geld nebst einem Pakete Banknoten und obenauf ein mit den betreffenden Zahlenangaben beschriebener Zettel. Der ältere Sohn schritt unverweilt nach der offenen Kasse und ergriff den Zettel, indem er rief: ‚Hier ist mehr als genug für den Augenblick! Der vierte Teil sogar genügt, und später wird sich Rat schaffen lassen!‘“ Doch der Vater versucht, ihn an dieser Unterschlagung zu hindern, „stürzte sich dazwischen und hielt ihm den Arm fest; der zweite Sohn sprang herzu, dem Bruder zu helfen, und es rang nun der alternde Mann in Todesängsten mit den Söhnen, die sich nicht scheuten, den Vater unsanft hin und her zu stoßen“.

Die Schwiegersöhne des Martin Salander sind auch nicht viel besser:

„Auf dem Hofe bewunderte Salander wieder das Buchenwäldchen und die dahinter emporwogenden Wipfelmassen des größeren Forstes, eine Umgebung, die nicht mit Geld zu bezahlen sei. ‚O ja, es macht sich nett!‘ sagte der Schwiegersohn. ‚Nur wird es nicht mehr lang so stehenbleiben (…). Der Wald (…) soll in ein paar Jahren geschlagen werden; die Holzhändler sind schon dahinter her. Da werd ich unsere Buchen auch drangeben, es geht in einem zu, und sie tragen ein schönes Geld ein.‘“ Martin Salander weist ihn auf die schöne Lage des Hauses hin und auf die Gefährdungen, die ein Kahlschlag am Berg anrichten würde, auch die Gefährdungen des Hauses. Ihm sei das „wurst“, antwortet der junge Mann. Dann werde eben „der ganze Schwindel“ verkauft.

Die Kritik am Kapitalismus ist ein Motiv, das ungebrochen in Schulbüchern weiterlebt.

Wenn überhaupt etwas über Wirtschaft darin steht.

Auch das ist ein Nutzwertimpuls: die Wirtschaftserziehung der Kinder.

Aber vielleicht meint man ja, das ist zu kompliziert für Kinder, und so beschränkt sich die Wirtschaftserziehung oft auf die bunten Bilder der Comics und Filme, und in den Comics und Filmen und in den neuen Romanen sieht man ja, wie es geht: Spekulation, kometenhafte Aufstiege, Wege – von Leichen gesäumt. Dazu kommen die Geschichten aus der Wirklichkeit, von sagenhaften Aktienvermögen in kürzester Zeit. Würde man in der Geschwindigkeit sparen, in der man heute spart, bräuchte es drei Menschenleben, um Summen zu verdienen, die manche Leute an einem Tag an der Börse gewinnen.

Das Mysterium der Millionen

So verdichtet sich das Unverständnis in einem Motiv, das alle Phantasien beherrscht: die mystische Zahl, die Million. Und das nicht nur beim Volk, sondern auch bei den Gebildeten. Die Armen im wirtschaftlichen Geiste verhalten sich ähnlich: die Intellektuellen. Mit der Behandlung ihres Verhältnisses zur Wirtschaft taucht eine Reihe höchst merkwürdiger Fragen auf: Warum (und seit wann) Studenten, die ja eigentlich studieren, um zur Elite aufzusteigen, Kapitalismuskritik üben. Warum und wann sich die ganze Situation so zuspitzte, daß aus der Idee einer umfassenden Bildungsreform die „Soziologisierung“ der akademischen Bildung wurde – fast monopolartig und mit perfektem Marketing, das alle Konkurrenzen technik- und wirtschaftswissenschaftlicher Natur eine Zeitlang vom Markt verdrängte, ja – in Mißkredit brachte. Da spielen dann sozialhistorische Erklärungen eine Rolle, auch politologische, volkswirtschaftliche, psychologische. Die Analyse ist hart. Sie ist die akademische Version der Romane von Sydney Sheldon, John Grisham oder Michael Ridpath – was nichts über die Qualität des einen oder des anderen aussagt. Die Intellektuellen drücken sich ein wenig gewählter aus, die Themen ihrer Geschichten sind etwas esoterischer. Aber im Grunde genommen steht dasselbe in den Büchern.

Auch in der akademischen Kritik blühten Verschwörungstheorien: Ölschock, Verknappung, Weltherrschaft. In diese Phase fiel die erste Auseinandersetzung mit den multinationalen Konzernen, damals gab es das Wort von der Globalisierung noch nicht. Nun wäre die amerikanische Wirtschaft nicht die amerikanische Wirtschaft – wenn sie nicht genial auf die Kritik reagiert hätte. Diese geniale Reaktion der Unterhaltungsindustrie, vor allem des Fernsehens, auf das allgemeine Unbehagen der späten Siebziger und die Rache des kleinen Mannes (vertreten durch reiche Produktionsunternehmen und deren Drehbuchschreiber) nahm die Kapitalismuskritik auf und inszenierte sie so, daß auch die Masse etwas damit anfangen konnte: „Dallas“, „Dynasty“, „Die Schönen und die Reichen“, „Columbo“… also die Zerstörung der Integrität des Reichtums durch das Netzwerk der Ausbeuter. Verkappte Ausländerfeindlichkeit? Der Ölscheich als Finsterling? Die Aufklärung über derlei Dinge versickerte, wie man weiß. Das Publikum wollte es so, das wurde vorhin bereits gesagt.

Es wollte sogar noch viel mehr davon.

Die achtziger und neunziger Jahre sahen eine begeisterte Wiederaufnahme des literarischen Motivs in der Bestsellerindustrie: Megaseller der amerikanischen Buchfabrikationen. Auch historische Ableitungen, für die Autoren wie Ken Follett stehen.

Dritter Exkurs

Ken Follett: Die Pfeiler der Macht (A Dangerous Fortune)

Der Autor

Ken Follett wurde 1949 geboren. Er war erst siebenundzwanzig, als er den Thriller „Die Nadel“ schrieb, der zu einem internationalen Bestseller und zu einem großen Kinoflim wurde. Follett hatte Philosophie am University College London studiert und war danach als Zeitungsreporter und Verlagsmitarbeiter tätig gewesen. Neun weitere Bestseller hat er nach seinem ersten Erfolg geschrieben. Er lebt mit seiner Frau (seit 1997 Abgeordnete der Labour Party im britischen Unterhaus) und ihren Kindern in Chelsea, London, und auf dem Land in Hertfordshire, so wie man gern leben möchte: schreibend, recherchierend, den Garten bestellend und mit geistigem Gut reich werdend, indem man darüber schreibt, auf welch unmoralische Weise andere reich werden.

Der Roman

„Die Pfeiler der Macht“ ist eine Familiensaga, die zwischen 1866 und 1892 spielt. Mehrere Männer der Familie Pilaster haben die Teilhaberschaft in der Bank, doch eigentlich hält Augusta alle Fäden in der Hand. Sie manipuliert Ehemann, Sohn und den Rest der Familie und setzt skrupellos ihre Pläne durch, um immer mehr Macht, Geld und Ansehen zu bekommen. Ebenso skrupellos wie sie ist auch Micky Miranda, der Freund ihres Sohnes Edward. Auch Micky scheut keine Hindernisse, um an Macht und Reichtum zu gelangen.

Merksätze

„Was immer sie besitzt – sie will stets mehr: mehr Geld, einen besseren Posten für ihren Mann, eine höhere gesellschaftliche Stellung für sich selbst. Der Grund (…) liegt darin, daß sie sich noch immer nach dem sehnt, was Strang ihr hätte bieten können: ein Adelsprädikat, ein Haus mit ruhmreicher Vergangenheit, unendliche Muße, ein Leben in Reichtum und ohne jede Arbeit.“ Auf der anderen Seite wird die Welt der Arbeiter gezeichnet, derer, die schuften, um diesen Reichtum zu erwirtschaften, in den Gruben des Miranda-Clans, wo die Aufseher mit Peitschen und Pistolen ausgerüstet sind und zur Aufrechterhaltung der Disziplin rücksichtslos davon Gebrauch machen. „Arbeiter – darunter Frauen und Kinder –, die angeblich zu langsam arbeiteten, wurden ausgepeitscht, und konnten sogar erschossen werden“, sollten sie versuchen, vor Ablauf des Vertrages ihren Arbeitsplatz zu verlassen.

Auch im Film nimmt man sich des Themas immer wieder an: in den modernen Streifen nach dem Muster von „Wall Street“ und „Hudsucker“ bis hin zum neuesten James-Bond-Film, in dem nun die Medien, die wesentlich zu diesem Genre beigetragen haben, zum Objekt werden: Ein neuer Citizen Kane bedroht die Welt, um Schlagzeilen verkaufen zu können. Aber es sind nicht nur die Filme und Bestseller, auch die populären Klassiker pflegen das Motiv. „Der Graf von Monte Christo“ von Alexandre Dumas ist das Opfer von raffgierigen Bankiers, Staatsanwälten, Ehrenmännern. Verschwörungen sind Treibstoffe für große Romane. Für historische Romane, wie jenen von Follett, in denen sich die Kontinuität des Bösen beweist. Sollte man Folletts Werke als „trivial“ abtun, kann man zu anderen Historienwerken greifen, von ähnlich voluminöser Ausstattung. Zum Beispiel zu Lawrence Norfolks „Lemprières Wörterbuch“. Es ist ein Wirtschaftsroman, ein politischer Roman, der Roman einer Jahrunderte währenden Verschwörung, ein Bestseller.

Vierter Exkurs

Lawrence Norfolk: Lemprières Wörterbuch (Lemprière’s Dictionary)

Der Autor

Lawrence Norfolk ist ein vergleichsweise junger Mann für einen Roman, der, quantitativ gesehen, schon fast Handkesche Ausmaße hat. 1963 geboren, arbeitete er nach einem Studium am King’s College in London als Dozent, als Kritiker im Times Literary Supplement und als freier Mitarbeiter an einer Reihe von Nachschlagewerken, was ihn offensichtlich zu „Lemprières Wörterbuch“ inspirierte. Die Kritik reagierte begeistert.

Der Roman

Im London des späten 18. Jahrhunderts stößt der junge John Lemprière auf ein finsteres Labyrinth wirtschaftspolitischer Verwirrungen und Verbrechen, die mit einer Geheimgesellschaft in Zusammenhang stehen. Diese Geheimgesellschaft, die „Cabbala“, entstanden aus den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts, hortet seit Hunderten von Jahren unermeßliche Reichtümer. Ein Vorfahre Lemprières ist in diese Geschichte verstrickt. Lemprière selbst hingegen ist in einem Testament als Erbe eingesetzt. Doch Finanzverschwörungen, Geheimbünde, Morde, trunksüchtige Aristokraten und ihre Exzesse und natürlich die Verschwörung der Geheimgesellschaft, die die wirtschaftliche Macht in Europa will, machen den Antritt dieses Erbes zu einer lebensbedrohenden Spurensuche. Dabei spielt das Wörterbuch, das Lemprière schreibt, eine zentrale Rolle.

Der Roman erinnert ein wenig an die ausufernden Erzählstrukturen des „Foucaultschen Pendels“ und der „Insel des vorigen Tages“ von Umberto Eco. Man muß sich schon konzentrieren beim Lesen, dafür bietet das Buch ein breites Sittenbild und Wirtschaftsbild des London, wie man es aus den Illustrationen von William Hogarth kennt. Und zudem ein Bild der wirtschaftlichen Katastrophe der Belagerung von La Rochelle, von unermeßlichem Reichtum und von gescheiterten Warentermingeschäften.

Merksätze

„‚Die folgenden Jahre brachten alles, was wir uns erhofften, und mehr. (…) Wir hetzten die Holländer (…), und unsere Handelsstationen waren solche Füllhörner, daß sie von Gewürzen, von Seide und Edelsteinen, von seltenen Erzen und Silber und Gold überquollen.‘“ Die Männer, so wird Lemprière erzählt, wurden sagenhaft reich, aber auf den Reichtum folgten Intrigen, Korruption und Raub. Märkte brachen zusammen und Vermögen vergingen. Lemprière hört diese Geschichte vom Aufstieg und vom Fall von zwei Seiten, aber „wo Alice de Veres Stimme in Düsternis und Mutlosigkeit versunken war, da hob sich die des Führers erregt. Erneut wand und krümmte sich Thomas de Vere unter der Last seines Scheiterns, verfolgten ihn seine Gläubiger wie hungrige Hunde, versanken seine Finanzen im Abgrund der Tollkühnheit des Unterfangens.“

Ein anspruchsvoller „Dallas“-Plot, im historischen Gewand gewissermaßen. Und ein Bestseller. Wollte man böswillig sein, müßte man wohl die Diagnose stellen, daß derart wirtschaftsfeindliche Bücher die Kinder perfekt auf die Fernsehserien wie „Dallas“ oder „Dynasty“ einstimmen. Denn die Botschaft ist die gleiche. Und Menschen, das haben die sich rasant seit den späten sechziger Jahren vermehrenden Sozialpsychologen immer gesagt, tendieren dazu, solche Informationen zu suchen, die in ihr Weltbild passen. Es ist daher, vor allem vor dem Hintergrund des Kapitels 11 höchst erstaunlich, daß plötzlich in „Dallas“ genau jene Pädagogen, die dasselbe Weltbild verbreiteten, die Apotheose der industrialisierten Kultur und ihrer Manipulationsmaschinerie sahen.

Aber es gibt noch eine Menge anderer seltsamer Widersprüche.

Drittes Kapitel

JEDER WILL REICH SEIN

Deshalb will jeder Lottomillionär werden, denn Lottomillionäre zahlen keine Steuern