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Elazar Benyoëtz

Fraglicht

Aphorismen 1977–2007

 

 

 

 

 

 

 

Elazar Benyoëtz

Fraglicht

Aphorismen 1977–2007

 

 

 

 

 

 

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1. Auflage 2010
© 2010 by Braumüller Literaturverlag
in der Braumüller GmbH, Servitengasse 5, A-1090 Wien

 

 

 

 

 

Coverbild: Metavel
ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-010-4

 

E-Book-Ausgabe © 2010
ISBN 978-3-99200-023-4
E-Book: Print Web Software GmbH

 

 

 

 

Immanuel, mein Sohn,
»reite für die Sache der Treue,
der gebeugten Wahrhaftigkeit …«
Ps. 45,5

 

 

Prosamen

 

 

Kommt man aus Jerusalem, muss man König gewesen sein

 

»Einsichtsvolle und verständige Lehre / habe ich in diesem Buche aufgezeichnet, / Jesus, der Sohn des Sirach, aus Jerusalem.«

 

Sirachs Buch fand eine weite Verbreitung und war beliebt; die Schule aber, aus der er gekommen war und die er mit guten Lehrstücken bereichert hatte, verzichtete auf ihn; Kohelet, der gegen die Schule und gefürchtet war – blieb in der Bibel fest und machte Epoche

 

»Heute ist die Idee einer Verabredung des Autors mit seiner Epoche sehr verbreitet; ich glaube aber, es ist gar nicht nötig, dass der Autor diese Verabredung einhält.«

Jorge Luis Borges

 

Die Buchstaben sind immer tot, im Schreiben werden sie einbalsamiert und ins Leben gerufen

 

Alles, was Erfolg begehrt, verheißt oder hat, macht Sprüche

 

Wer in der Sprache lebt und mit vielen Worten im Streit liegt, weiß die Antwort zu schätzen, die man sich für immer schuldig bleibt

 

Die Sprüche Salomos sind repräsentativ, die Worte Kohelets nicht; abwegig geht er an uns heran, setzt nichts voraus, nimmt nichts vorweg, legt jedes Wort auf die Goldwaage, ehe er es in den Mund nimmt. Denn Besseres hat er nicht zu tun, als Lechzen nach Welt und Haschen nach Wind

 

»Ich – Kohelet – bin König gewesen – über Israel – in Jerusalem.«

So wird der Hinfälligkeit die Krone aufgesetzt.

Würdelos ist alles Dafürhalten.

Was er sich als König erlaubte, muss er nun Satz für Satz leisten.

Sogar das eigene Buch muss er für sich einnehmen.

Seine Feder in Königsblau tauchend,
pflegt er seinen entthronten Stil

 

Hat die Weisheit verspielt, kann Ironie ihr nicht beistehen

 

Mit dem Verspielen, rutscht man ins Vermeintliche ab.

In der Meinung verkommt der Gedanke.

Meinungsfreiheit zeitigt nichts Königliches.

Was Meinungsfreiheit beteuert,
wird Aphoristik nicht billigen

 

Der Aphoristiker beginnt an dem Punkt,
wo er mit seiner Weisheit am Ende ist

 

Der Vergeblichkeit aller Mühe im Leben
muss die Vergeblichkeit aller Mühe im Denken
entsprechen.

Denken – in die Vergeblichkeit hinein

 

Was das Wort beleuchtet, muss ein Satz erhellen

 

Die Absicht des Autors ist die Zuständigkeit des Lesers

Autorität – die lautlose Bestimmung

 

Satz-um-Satz sucht der Prediger seine Worte zu bestimmen, in eine immer höhere Vernehmlichkeit zu heben. Sie bleiben ohne Sinn, denn alles ist eitel – bis auf das Wissen davon: das Wissen der Worte, um ihre Bestimmung.

Aussprüche, Aussagen sind unbestimmt und gesichtslos, so gültig wie gleichgültig.

Der Geistreiche lässt seine Worte fallen; aufgehoben, abgeklopft, niedergelegt werden sie Aphorismen. Aphoristik ist aber nicht das Resultat einer Auswahl; sie geht voraus und sucht zu bestimmen

 

»Ich war eine streitbare Ästhetin und eine kaum verhohlene Moralistin. Zwar verlegte ich mich nicht gerade auf das Verfassen von Manifesten, doch meine ununterdrückbare Vorliebe für aphoristische Aussagen konspirierte mit meinen unerschrockenen, kämpferischen Absichten.«

Susan Sontag

 

Ein Gedanke, der den Satz zu sprengen scheint, ist zu fett

 

Ein Aphoristiker sagt so viel, als sich denken lässt,
und nicht mehr, als man sich ausmalen kann

 

»Zündet ein Wort, setzt ein Satz in Brand, ist das Gesicht seines Sprechers im Lichte dieser Flamme zu sehen.« Serafjah Elohabi

 

Kohelet schließt das Hohe aus und redet sich keine Tiefe ein. Alles Mehr ist ein Verdruss. Er hat sein Maß in sich, nicht in Gott, nicht in der Dichtung.

Er reitet seinen Gedanken 222 Verse lang und ist mit ihm schon über den Berg

 

Wie soll ich wissen, was ich will,
wenn sich alles sagen lässt

 

Alles hat seine Zeit; alles hat seinen Preis;
und alles ist noch nicht alles.

Das Wissen ist grenzenlos beschränkt,
das Wissenswerte zeitlich nicht zu packen.

Wissen tut not, Wissen tut weh: Es ist ein Schmerz,
zu wissen, wie es ist; es ist ein Leid, zu sehen, wie es kommt

 

Jedem Gedanken den Schmerz des Gedachten zugrunde legen

 

Es muss gesprochen werden, damit alles da sei

 

Die Sprache besagt, dass es Ansprechbares gibt,
das anders weder zu ergründen noch zu erreichen wäre.

Die Schöpfung ist das eine, die Welt das andere.

An die Schöpfung kommen wir bildlich heran – im Rahmen der Zeit; wir fallen aus dem Rahmen und bleiben nicht im Bild: So kommen wir zur Welt.

Die Welt ist unser, doch nur mit Worten der Dichtung zu haben.

Über unsere Vergänglichkeit kommt die Welt auf die Schöpfung zurück.

Vergänglichkeit – das Bedauern der Dauer

 

Finden macht das Suchen leichter

 

Er hat seine Sache auf sich gestellt,
sein Denken gegen sich gerichtet.

Er wollte damit nichts gewinnen,
er hatte ja alles, und konnte darum sagen,
dass alles eitel sei.

Was er verloren gab, das konnte er im Auge behalten.

Nicht spricht er: »Höre Israel«,

nicht sagt er: »Ihr habt gehört«,

seine Einleitungen heißen »ich sah«,

seine Ausführungen: »und siehe!«

 

Es gibt das Geschehen, die Zeit, die Sonne
und Kohelets erglühten Augapfel

 

Die Schönheit des Misserfolgs
ist der Weisheit letzter Schluss

 

Das Denken ist ein Gestrüpp,
die Denkwege sind heillos überwuchert.

Aus dem Dickicht treten dicke Bücher
und walzen die Worte platt

 

Was nicht in die Breite geht,
wird nicht zu Ansehen kommen

 

Wäre ich kein Aphoristiker,
ich hätte viel zu sagen

 

Jerusalem, 28. Adar 7570 / 24. März 2010

 

Worthaltung
Sätze und Gegensätze

Sei nicht schnell mit deinem Munde,
und lass dein Herz nicht eilen,
etwas zu reden vor Gott: denn Gott ist
im Himmel, und du auf Erden;
darum lass deiner Worte wenig sein.

Kohelet 5,1

 

Du hast nichts zu vertreten
und nichts zu verteidigen,
es gibt dich nur in der Worthaltung:
Du hältst das Wort
oder du hältst dich nicht.

Moriel Namoga

 

Denken – Scheinwerfen

 

Die Aufgabe des Denkens –
denkbar machen.

 

Nach dem Eindeutigen verlangen –
nach dem Tode suchen.

 

Die Idee wird von ihrem eigenen Schatten
behelligt.

 

Die Endlichkeit ist ein Vorwurf
des Gedankens.

 

Im Gedanken zeigt sich
die Vorläufigkeit des Denkens.

 

Von der Sprache beseelt,
vom Gedanken begeistert.

 

Die Grenze, die man kennt,
hat man bereits überschritten

 

Offenes Denken – offensives

 

Zu Ende denken,
heißt zu früh erlahmen.

 

Was nicht trifft,
trifft auch nicht zu.

 

Eine geistvolle Behauptung
verzehrt alle Beweiskraft.

 

Richtig verstehen –
anders verstanden.

 

Die Vernunft reicht nicht aus,
sie genügt aber

 

Ein Gedanke zu seiner Zeit
in seiner Sprachstunde

 

Wie man sich denkt,
so stellt man sich vor.

 

Auf Erfahrungen
kann man sich nur berufen,
niemals stützen.

 

Der Kurzsichtige geht
mit jedem Schritt zu weit.

 

Seiner Sache sicher –
ihrer Kritik gewiss

 

Kritik: unerbaulicher Baustoff des Geistes

 

An einem Standpunkt
ist nur der Punkt objektiv.

 

Feststellen – bloßlegen.

 

Der Aphoristiker spricht seine Gedanken frei
und verfolgt sie nicht.

 

Die Entwicklung geht weiter,
das Entwickelte unter.

 

Das Endgültige wäre auch das Ende
der Gültigkeit

 

Im Recht – außer sich

 

Die Urteilskraft erwacht im Grauen
der Nachdenklichkeit.

 

Urteile – Gefolterte:
sie werden gefällt und vollstreckt,
verhängt und vollzogen.

 

Das Urteil wird nicht allein in der Sprache,
sondern auch aus ihr und von ihr gesprochen.

 

Mag ein Ding noch so viele Seiten haben,
am Ende ist jede doch nur die andere

 

Wahrheit Worttrefflichkeit

 

Was man falsch findet,
hat man falsch gesucht.

 

Es ist unmöglich, sich und zugleich
die Wahrheit über sich zu kennen.

 

Seiner bewusst werden –
sich ins Gewissen beißen.

 

Wohin man sich begibt,
dahin wird man gerichtet.

 

Das Gewissen bekundet sich
im Ungewissen

 

Die Schuld ist dein,
wo du sie nur erblickst

 

Wahrheit ist beim Bewährten,
nicht beim Bewahrenden.

 

Was wirken will,
kann nicht auch bleiben wollen.

 

Der Mensch – Vorläufer seiner Ahnen.

 

Ungehorsam, Schamlosigkeit, List und Lüge
sind paradiesischen Ursprungs

 

Erfahrungen ungebildete Erkenntnisse

 

Die nackten Tatsachen erfüllen uns mit Scham.

 

Die Stärke eines Menschen – die Blöße,
die er sich selber gibt.

 

Der Garten Eden war Gottes Paradies;
mit der Vertreibung Adams
verlor er seinen Gärtner.

 

Man wünscht sich nicht,
man sehnt sich nur zurück

 

Kajin die lebhafteste Erinnerung an Gott

 

Im Traum bleibt alle Überlieferung wach.

 

Der Untergang seiner Götter
macht den Menschen mündig,
das Vergessen ihrer Namen –
sprachlos.

 

Der gefundene Gott
ist immer der verlorene,
nie der gesuchte.

 

Denkbild: der Baum der Erkenntnis
und jede steht auf einem anderen Blatt

 

Der gute Geist bedarf unser,
der böse will uns haben

 

Das Gute ist eine vom Bösen
geschützte Zone.

 

Um Mut zu fassen,
bedarf es des Übermuts.

 

Noch die kürzesten Arme reichen aus,
die ganze Verlassenheit des Menschen
zu umschließen.

 

Den Menschen verschonen –
seine Meinung teilen;
den Menschen achten –
ihn auf den Gedanken bringen.

 

Die freie Meinung verhindert
den verbindlichen Gedanken

 

Offenheit kann entwaffnen,
aber nicht im Kampf

 

Was man nicht meistert,
muss man beherrschen.

 

Schwäche bittet um Verständnis,
Stärke erzwingt es.

 

Glaub’ an Menschen nicht,
die nur des Glaubens sind.

 

In Frieden gelassen –
im Ungewissen.

 

Wer sich auf Hoffnungen verlässt,
wird von der Hoffnung verlassen

 

Ausgänge täuschen Auswege vor

 

Hoffnung –
ein im Nu erlöschender Einblick.

 

Was kommen muss, kommt –
nicht, was kommen müsste.

 

Recht behalten – Gerechtigkeit
verhindern.

 

Das Versagen der Theorie –
das Versprechen der Ideologie.

 

Die Bestimmung des Menschen –
seine Entmündigung

 

Demagogie sprachverlassene Rede

 

Was man sich sagen lässt,
lässt man sich am wenigsten ausreden.

 

Despotisch – infamos.

 

Alle – der größte Niemand.

 

Gewalt – handgreifliche Ohnmacht.

 

Der Letzte steht am anderen Anfang:
erst vom Vorletzten hinauf
lassen sich die Menschen radikalisieren.

 

Die jeweilige Hoffnung
ist die jeweilige Sichtweite

 

Das Recht, das man behält, verjährt im Nu

 

Mit der Fragwürdigkeit
wächst die Verantwortung.

 

Es liegt in der Beschaffenheit der Gewalt,
dass sie alles erlangt, was ihr unerreichbar
bleiben muss.

 

Alle Siege werden davongetragen.

 

Frieden gibt es nur dann, wenn die Menschen
nicht bloß gegen den Krieg, sondern auch
gegen das Siegen sind

 

Triumphieren versiegen

 

Zwangsläufig – fahnenflüchtig.

 

Freiheit – Exil.

 

Hoffnung – verklärtes Unglück.

 

Kein Mensch sieht sich gern besiegt,
umso freudiger erobert.

 

Einen Menschen
seiner Meinung wegen lieben,
heißt die Liebe missachten

 

Wer zum Schweigen gebracht wird,
verstummt nimmer

 

Der kleine Sünder sucht den Anwalt,
der große findet den Richter.

 

Die Rechnung der Hoffnung
geht immer auf:
in Gottes Erbarmen.

 

Wenn man etwas falsch macht,
hat man sich deshalb noch nicht geirrt.

 

Manche Entgleisung rettet vor der schiefen Bahn

 

Wer das Einfache nicht tun kann,
muss das Außerordentliche leisten

 

Die eigene Not – die eigene Note.

 

Was ich verlieren kann, kann mir auch
gestohlen bleiben.

 

Die Eigenschaften sind gerade nicht
das Charakteristische an einem Menschen.

 

Erscheinung ist vor-bildlich.

 

Man kann sich vergänglichen, wie man sich
vergegenwärtigen kann

 

Sich verwirklichen vervielfachen

 

Man bleibt nicht, der man ist;
man ist, der man bleibt.

 

Solange man schweigt,
hat man noch etwas zu sagen.

 

Das Schweigen bedrückt
mehr als das Reden,
denn es wiegt auch schwerer.

 

Schweigen – einprägen;
Reden – verdrängen.

 

Man versteht das Schweigen anderer nur,
sofern man es erträgt

 

Kein Schweigen ist fruchtbarer als das Zuhören

 

Geht man unter die Menschen,
verliert man sein Übergewicht.

 

Gespräch: eine gegenseitige Einführung
in eine Fremde Sprache.

 

Ein freier Geist bedient sich der Sprache nicht,
die er beherrscht.

 

Die meisten Fragen wollen gar nicht beantwortet,
sondern nur durchschaut werden.

 

Man lernt von jedem Menschen
mehr als er wissen kann

 

Im Recht sein
im Schattenreich der Liebe stehen

 

Nicht nur im Glauben,
auch im Unglauben
unterscheiden sich die Menschen.

 

Moralpredigten –
versäumte Selbstgespräche.

 

Im guten Gefühl weiß man sich geborgen,
im bösen Gedanken sicher.

 

Man kann sich sehen lassen,
solange man sich nicht zeigt

 

Was man von sich denkt,
denkt man nicht bei sich

 

Wer das Gute nicht tun kann,
tut sein Bestes.

 

Hat man nichts zu sagen,
gibt man zu verstehen.

 

Wo nichts geschieht,
wird viel erzählt.

 

Der Arme lebt
von den Gegebenheiten.

 

Man hat nichts zu suchen,
wo man nichts verloren hat

 

Der Eine will die Ewigkeit,
der Andere seine Kurzweil

 

Wer mit der Zeit geht,
ist rasch zu Ende.

 

So mancher verarmt
an seinen Ersparnissen.

 

Notpfennig – Jammertaler.

 

Die Vorstellung eines Weltuntergangs
erleichtert das Sterben: es heißt dann
Entrinnen, nicht Scheiden

 

Aufrichtig in Fragestellung

 

Man antwortet nicht auf eine Frage,
man antwortet dem Fragenden.

 

Entweder geneigt oder aufrichtig.

 

Das Alter macht nicht freundlicher,
nur geneigter.

 

Demut verlangt, dass man schamlos
von ihr rede.

 

Es ist schwer, sein Wort zu geben
und doch zu halten.

 

Demut – Seligkeit, aus der Wonne
gewonnen

 

Not macht wendig

 

Dem Können offenbart sich
das Unmögliche.

 

Sich beschweren – erleichtern.

 

Ehrgeizig – verwilldet.

 

Wie pathetisch ist schon
ein Gedankenstrich.

 

Intellektuell: wenn- und aberwitzig.

 

Trefflich ist ein Aphorismus,
der hinhaut und nicht zuschlägt

 

Ein Seher, mit dem psalmodierenden Blick

 

Phantasie ist dem Einen gegeben,
weil er nicht alles sehen kann,
dem Anderen, damit er nicht alles
sehen muss.

 

Gesuchtheit – Literarität.

 

Alles kann lächerlich gemacht werden,
außer dem Lachen.

 

Phantasiebild: in höchster Klarheit geschaut,
darum zu sehen unmöglich

 

Könnte man nur alles lieben, was man liebt

 

Verliebtheit:
Veilchenlied im Weilchenland.

 

Die Geliebte:
keine ist ihr ähnlich,
aber jede erinnert an sie.

 

Sie malt sich aus,
was er sich eingebildet.

 

Er sah sie nicht, drum konnt’ er sie durchschauen.

 

Treue ist einfach nicht möglich,
weil sie zweifach gilt:
dem Bild und dem Abbild,
dem Wesen und dem Abwesen

 

Liebe schließt noch das Ausgeschlossene ein

 

Liebe entwaffnet nicht, sie
überwältigt nur.

 

Weiß man sich geliebt,
glaubt man sich gelobt.

 

In der Liebe gibt es Missverständnisse,
doch keine Missverstandenen.

 

Jede Liebe kennt ihre Nachtwandlung
und ihr Morgengrauen

 

Für Liebe bereit –
auf Abschied vorbereitet

 

Die Liebe erhebt
den ihr Verfallenen.

 

Ins Herz schließen –
erinnern.

 

Das Begehren der Liebe –
die Erinnerung.

 

Liebe unterliegt der Erinnerung.

 

Liebe fordert das Zeitliche,
das sie segnet

 

Erinnerung – Lebensfäden, Todesstricke

 

Am ersten Phantasiebild
befestigt sich die Erinnerung.

 

Erinnerung – vorläufiger Rückblick.

 

Erinnerung ist ohne Gedächtnis.

 

Das Gedächtnis hält die Erinnerung
nicht aus.

 

Die Erinnerung ist kein treuer Spiegel,
sie gibt aber ein wahres Bild dessen,
was sich nie widerspiegeln konnte.

 

Mit der Erinnerung geben wir den Toten
ihre Nahrung, mit der Sehnsucht
entziehen wir sie ihnen wieder

 

Gedächtnis – ein Vermögen;
Erinnerung – ein Schatz

 

Man muss sein Gedächtnis verlieren,
will man die Erinnerung finden.

 

Wer ein schlechtes Gedächtnis hat,
dem bleiben zuletzt
nur Erinnerungen zurück.

 

Was sich nicht vergessen lässt,
wird nicht mehr erinnert.

 

Ist man jung, sagt man: ›gedenke meiner‹;
ist man alt, sagt man: ›vergiss mich nicht‹.

 

Was nicht bestehen soll, bleibt in Erinnerung

 

Erinnert – ausgenommen

 

Erst in seinen Erinnerungen
ist der Mensch bei sich.

 

Alterserinnerungen sind Schlaflieder.

 

In der Erinnerung fordern die Toten
unser Leben.

 

Erinnerung ist das sich hier ansammelnde
Jenseits.

 

Erinnerung macht vergessen.

 

Eine alte Hand – nur noch ein Abdruck
der Erinnerung

 

Erinnerung – Heimholung

 

Der Geist ist seine eigene
Wirkungsgeschichte.

 

Des Gedankens Fluch:
die Erlösung vom Geliebten.

 

Seele – das Unwirkliche, das wirkt.

 

Glaube – Hörigkeit, Hellhörigkeit

 

Erst im Versagen wird der Mensch
ansprechbar

 

Man kann sich einem Menschen entziehen,
aber keinem seiner Worte.

 

Den Worten anderer
ist man ausgeliefert,
den eigenen preisgegeben.

 

Das Wort macht nicht nur aufhorchen,
es lässt auch aufblicken.

 

Der Ausdruck bestätigt das Sehen nicht nur,
er ergänzt es auch

 

Das gegebene Wort – das gesprochene;
das gehaltene Wort – das erhörte

 

Das erlösende Wort – das entbindende.

 

Ist mein Wort gefallen,
wie sollte ich nicht
zu ihm stehen.

 

Es gibt keine zuverlässigere Brücke
über einen Abgrund als ein Wort,
das ihm entstieg.

 

Was bleibt dem Menschen, wird ihm noch
sein Wort abgenommen

 

Halt ich das Wort, trägt es die Sprache

 

Das Wort bricht, wird es lange gehalten.

 

Wie weh ein abgeschnittenes Wort tut.

 

Sprechen: der Sprache sein Wort geben.

 

Mit großen Worten wird man kurzgehalten.

 

Das Geheimnis des Wortes –
seine offenbare Zweideutigkeit

 

Ein Wort lässt sich deuten, nicht aber eindeuten

 

Im Kindesmund gewinnt jede Wortwurzel
ihre Altersfrische.

 

Nicht nur das Wort, auch der Sinn
hat einen Klang.

 

Ein großes Wort kann oft gebrochen werden.

 

Dem Weisen offenbaren sich seine eigenen Worte:
das bezeugt der hohe Grad ihrer Anschaulichkeit.

 

Er verschließt sich der Welt
und vermacht sich der Sprache.

 

Worte spinnen, spannen und zerreißen
die Ewigkeit, die sie verheißen

 

Ein feuriges Wort hält sich über Wasser

 

Nicht am Wort gebricht’s dem Schweigen.

 

Sprache – die sich nahe legende Feme.

 

Leihst du der Sprache dein Ohr,
schenkt sie dir ihr Gehör.

 

Es fragt nach ihrem Ursprung nicht,
wer ihre Quellen rauschen hört.

 

Tiefsinn ist ein Geschenk der Sprache
an den Glücklichen,
in einem geistreichen Augenblick

 

Der größte Wortschatz ist auch nur eine Kerze
in der Hand des Schatzgräbers

 

Sprache – die Einverleibung der Seele.

 

Man wird zur Sprache wie zur Welt gebracht;
auf den Gedanken kommt man selbst.

 

Wir wissen nichts von der Sprache,
die uns kennt.

 

Noch ehe wir den Mund zum Sprechen öffnen,
öffnet die Sprache uns die Augen

 

Die Sprache bildet ein und denkt sich aus

 

Sprache – Gehalt des Seins
und Halt des Seienden.

 

Was mir die Sprache nicht zeigt,
wird mir Gott kaum offenbaren.

 

Die Sprache stellt den nicht abreißbaren
Zusammenhang her
zwischen Sein und Werden.

 

In der Sprache liegt geborgen
das helle Einst,
die Nacht von morgen.

 

Alles Leben heißt Sprache;
die Existenz ist stumm,
sie heißt Tod

 

Die Sprache zeigt an, was sich zeigen wird

 

Die Sprache beschwert die Dinge;
dadurch werden sie fassbar
und sind doch nicht aufzuheben.

 

Die Sprache erweitert die Sicht
und begrenzt die Ansicht.

 

Aus der Sprache lässt sich nichts wegdenken,
darum gibt es in ihr auch nicht Undenkbares.

 

Die Sprache behält ihre Glaubwürdigkeit dadurch,
dass keiner sagen kann, was er sagen würde.

 

Die Sprache überwinden
und zugleich aus ihr schaffen,
das ist das Paradoxon,
an dem Dichtung geprüft wird

 

 

Kritik der Sprache
ist ein Bei-Spiel des Gedichts

 

Der Ursprung des Gedichts
ist vorsätzlich;
der Ursprung des Gedankens
nachsätzlich.

 

Das Wort trifft,
der Satz betrifft nur.

 

Im Satz hält die Sprache
ihr Wort zurück.

 

Die Worte, die dem Dichter zufallen,
erzählen ihm von ihrer Abstammung
und von seiner Herkunft.

 

Der Dichter verjüngt sich
mit jedem Wort
und altert mit jedem Satz

 

 

Jeder Dichter hat sein Wohnwort

 

In jeder Dichtung gibt es Worte,
die als Selbstbildnisse des Dichters
erkannt werden wollen.

 

Der Dichter schützt
den Sinn der Worte
vor ihren Bedeutungen.

 

Dichtung – Gedenkworte.

 

Erinnerung ist die Idee vom eigenen,
undenkbaren Tod.

 

Das wahre Gedicht:
Vorgriff der Erinnerung,
zum Gedenkwort werdend

 

 

Das vollendete Gedicht:
im Sinn aufgehoben.

 

Das absolute Gedicht:
das sich entsätzende.

 

Das Wissen kann in einem Wort
nicht erschöpft werden,
aber vor einem.

 

Im Gedicht drückt sich
die letzte Entbehrlichkeit aus.

 

Das Gedicht ist im Gedicht
verborgen

 

 

Ausdruck – Einbild

 

Der Reim – unredliche Stimmigkeit.

 

Der Unmündigkeit Urgrund –
die gebundene Rede.

 

Je tiefer die Schau,
desto reimgefügiger wird sie.

 

Der Reim nimmt den Gedanken
ins Kreuzverhör.

 

Das Denken stellt das Gedachte,
der Glaube das Geglaubte in Frage.

 

Mystik – Silbengold