Nach der Tournee

Das waren also die Höhepunkte aus meinem Tournee-Tagebuch und ich hoffe, Anne hatte recht damit, dass auch andere Leute etwas Interessantes daran finden werden, was in diesen sieben Tagen passiert ist.

Am Tag nach unserem letzten Abend kamen wir alle mit sehr gemischten Gefühlen zurück. Es ist immer schön, nach Hause zu kommen, wo alles gemütlich und vertraut ist, aber wenn man in einer Gruppe unterwegs ist wie wir, entsteht dabei eine ganz eigene kleine Welt, und es ist irgendwie schade, dass es vielleicht nie wieder ganz genauso sein wird wie während dieser Zeit. Anne und ich verbrachten am Samstag des folgenden Wochenendes den Vormittag mit Zaks Witwe. Bernadette bestand darauf, jede Einzelheit von der Tournee zu hören, fast so, als wäre Zak tatsächlich leibhaftig bei uns gewesen und sie bekäme nun zu hören, was er alles erlebt hatte. Als wir ihr das Geld für die restlichen verkauften Bilder gaben, gab sie uns sofort alles zurück und sagte, sie möchte, dass es für die Kinderarbeit in der Gemeinde eingesetzt wird. So eine kluge und gute Frau, und so traurig ohne ihren Zak. Wir müssen in Kontakt bleiben.

Übrigens, die Gesamtkosten der ganzen Sache beliefen sich auf dreißig oder vierzig Pfund mehr, als wir zusammenbekamen, wenn wir das Geld von den Eintrittskarten mit der einen oder anderen großen, gänzlich unerwarteten und hochwillkommenen Spende von diversen Leuten in der Gemeinde addierten.

Thynn machte den idiotischen Vorschlag, das Defizit aus unseren eigenen Taschen auszugleichen, um dann überall erzählen zu können, wie wunderbar genau der Herr für unsere Bedürfnisse gesorgt hätte. Anne war deswegen ein bisschen sauer auf ihn und sagte, Gott hätte uns in aller erdenklichen Hinsicht durchaus gut genug versorgt, ohne dass wir die Bücher frisieren müssten, um ihn besser dastehen zu lassen. Leonard tat Buße und sagte, er sei ja derselben Meinung, aber ich weiß, dass er es insgeheim immer noch für eine geniale Idee hielt.

Barry schien es jedenfalls überhaupt nichts auszumachen, die Differenz auszugleichen. Wie er selbst sagte, hatte er damit gerechnet, dass sein Beitrag in die Hunderte gehen würde. Als ich ihn fragte, wie ihm unsere Tournee insgesamt gefallen hatte, machte er ein nachdenkliches Gesicht und sagte dann:

»Ich fange allmählich tatsächlich an zu glauben, dass es seine Berechtigung hat, gewissermaßen den gefühlsmäßigen Aspekten des Lebens gleichen Raum neben handfesteren theologischen Betrachtungen zu gewähren.«

Was er damit meinte, glaube ich, war, dass er allmählich entdeckte, dass Gefühle erlaubt sind. Ich hoffe jedenfalls, dass er das meinte. Ich glaube, das würde ihn wohl viel glücklicher machen. Übrigens, eine interessante Folge unserer Tournee ist, dass Barry uns seit unserer Rückkehr mindestens zweimal besucht hat, um Anne um Rat zu fragen. Erstaunlich! Wenn ich daran denke, wie kräftig sie ihm ein- oder zweimal unterwegs die Leviten gelesen hatte, finde ich das ziemlich bemerkenswert. Vielleicht liegt es daran, dass er weiß, dass Anne immer genau das sagen wird, was sie denkt, und nett zu ihm sein wird, sobald das tatsächlich möglich ist.

Leonard und Angels sind immer noch ein Herz und eine Seele und die gute Neuigkeit ist, dass beide einen Job in demselben Supermarkt bekommen haben, in den sie gegangen sind, um sich Videos anzuschauen. Angels sitzt an der Kasse, begrüßt jeden Kunden mit einem fröhlichen »Hallo!« und hält ihren Vorgesetzten mittels einer kleinen Glocke aus einer verwirrenden Vielzahl von Gründen auf Trab. Angels erzählt sehr lustig von ihrem Job. Sie wirkt jetzt schon viel entspannter, macht ganze Sache mit ihrem neu gefundenen Glauben und ist begierig, alles zu lernen, was es über die Nachfolge Jesu zu lernen gibt. Hin und wieder tanzt sie immer noch für die alten Leutchen im Clay House und sie sagt, wenn es gewünscht wird, könnte sie vielleicht auch einmal etwas in unserer Gemeinde machen, wenn die Zeit reif ist. Wir sehen sie oft abends und an den Wochenenden und schließen sie immer mehr ins Herz. Es ist ein bisschen so, als hätte man eine Tochter – stelle ich mir vor.

Leonards Job ist ganz anders. Er ist einer von diesen ganz besonderen und unverzichtbaren Leuten, die bei jedem Wetter auf den Parkplätzen und in der unmittelbaren Nachbarschaft auf Streife gehen, die herumstehenden Einkaufswagen einsammeln und zu langen Ketten zusammenstellen, um sie zurück zum Laden zu schieben. Er habe schon immer Lokomotivführer werden wollen, sagt er, und das sei so nahe daran, wie er wohl jemals kommen werde. Als Gerald neulich übers Wochenende kam und hörte, dass die beiden »jungen Liebenden« im Supermarkt arbeiten, fragte er Leonard bierernst, ob denn der Supermarkt auch eine spezielle Kasse für anglikanische Pfarrer und Vikare habe.

»Nein«, sagte Leonard, »ich glaube nicht.« Gerald machte ein überraschtes Gesicht.

»Bei uns im Supermarkt gibt es das«, sagte er. »Ich gehe immer an dieses Kasse. Über dem Laufband hängt ein Schild: ›NUR FÜR ANGLIKANISCHE GEISTLICHE: NEUNUNDDREISSIG ARTIKEL ODER WENIGER.‹«

»Ach so«, erwiderte Thynn achselzuckend, als wäre das ein durchaus praktischer Vorschlag, »nein, so eine haben wir nicht, aber wir haben eine Kasse, wo manchmal Leute geheilt werden.«

Gerald zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Wirklich?«

»Ja, der Gang ist da besonders breit und es hängt ein Schild dort, auf dem steht, diese Kasse sei nur für behinderte Kunden gedacht. Deshalb ist dort nie so viel los wie an den anderen Kassen. Ich habe schon oft gesehen, wie Leute furchtbar humpeln, wenn sie ankommen, um ihre Einkäufe zu bezahlen, und dann, sobald sie an der Kasse vorbei und um die Ecke bei den Zeitungen sind, sind sie plötzlich geheilt.«

»Ach so«, sagte Gerald. »Ja, ich glaube, ich verstehe …« Leonard und Angels sparen kräftig für ihre Hochzeit. Das Haus, in dem er wohnt, hat Leonard von seiner Mutter geerbt, sodass das schon einmal geregelt ist, aber abgesehen davon haben die beiden keine zwei Pennys, die sie aneinanderreiben können. Aber irgendwie wird sich schon alles regeln. Meine einzige nagende Sorge war, ob Angels Leonard noch wird haben wollen, wenn ihr Leben allmählich wieder in die Reihe kommt und der erwachsene Mensch, der sich so lange in ihr versteckt gehalten hat, wieder zum Vorschein kommt. Sie zu verlieren, könnte Leonards Ende sein. Fragte Anne, wie sie darüber denkt.

Sie sagte: »Erstens, Schatz, ist das eigentlich gar nicht unser Bier. Das müssen Gott und Leonard und Angels unter sich ausmachen, und wenn wir dabei irgendwie helfen können, werden wir natürlich wie der Blitz zur Stelle sein, oder? Aber wenn du meine Meinung hören willst – also, ich glaube, sie bleiben zusammen. Es ist ein langer Weg zurück für Angels und ich glaube, sie hat entschieden, dass Leonard derjenige ist, mit dem sie die Reise machen will. Sie braucht Geborgenheit. Ich schätze, die beiden werden miteinander klarkommen.«

Ich bete, dass Anne recht behält.

Soweit wir es beurteilen können, scheint Gerald in seiner Gemeinde einen Treffer nach dem anderen zu landen, obwohl er uns auch von einem Missgeschick berichtet hat.

Eines Nachmittags besuchte er ein älteres Ehepaar namens Mr. und Mrs. Jenkins, und nachdem er etwa eine halbe Stunde dort gewesen war, lud ihn die Dame des Hauses ein, noch auf ein wenig Schinken und Salat zu bleiben.

»Oh nein«, sagte Gerald höflich, »ganz herzlichen Dank, aber Sie haben mich ja nicht erwartet und werden wahrscheinlich nicht genug da haben. Ich esse gern zu Hause.«

Doch Mrs. Jenkins, eine Frau von der Sorte, die sagt, sie könne am Mittwoch nicht kommen, weil »ich da meine ehrenamtliche Arbeit mache«, hörte nicht auf, ihn zu nötigen und zu versichern, es sei reichlich Schinken da, bis Geralds Widerstand schließlich erlahmte und er die Einladung annahm. Mr. Jenkins schaute nur trübsinnig zu und sagte nichts. So wurde Gerald am Esszimmertisch ein Teller mit Schinken und Salat serviert und er hatte gerade angefangen, sich darüber herzumachen, als er merkte, dass weder Mr. noch Mrs. Jenkins selbst etwas aßen. Beide saßen sich am Tisch gegenüber und starrten ihn ausdruckslos an, während er sich den Schinken schmecken ließ.

Gerald erstarrte mitten im Kauen.

»Äh, essen Sie nicht mit mir?«, erkundigte er sich nervös.

»Nein«, sagte Mrs. Jenkins mit einer fast genussvollen Melancholie, »das ist unser Abendessen, was Sie da essen.«

Gerald fehlen selten die Worte, aber dieses haarsträubende Erlebnis, sagt er, machte ihn sprachlos, besonders, da er den Mund noch halb voll mit dem Schinken hatte, den seine Gastgeber so großzügig geopfert hatten, damit der junge Herr Vikar etwas zu essen bekam.

Wir vermissen Gerald sehr, aber immerhin kommt er ja jede zweite Woche oder so vorbei und kürzlich ließ er nebenbei die faszinierende Neuigkeit durchblicken, dass da möglicherweise eine Person weiblichen Geschlechts sich seiner besonderen Aufmerksamkeit erfreut. Kann gar nicht erwarten, sie kennenzulernen, wer immer sie ist. Ich hoffe nur, sie wird sich als eine Spur weniger energisch und aggressiv entpuppen als Elsie Burlesford, die eine Zeit lang Geralds Freundin war, als er noch hier zu Hause wohnte. Aber das werden wir wohl abwarten müssen.

Gestern Abend sagte ich zu Anne: »Wäre es nicht toll, nächstes Jahr noch eine Tournee zu machen, zusammen mit Gerald und, äh …«

»Der Person weiblichen Geschlechts?«, half Anne mir aus.

»Ja. Wäre das nicht famos, alle zusammen auf Tour zu gehen? Leonard und Angels und du und ich und Gerald und …«

»Dingsbums.«

»Gerald und Dingsbums und Barry, falls er wieder das Geld lockermacht.«

»Adrian!«

»Aber es wäre doch herrlich, es noch einmal zu machen, oder, Anne?«

»Ja«, sagte Anne, »das wäre es.«

ADRIAN PIASS

Das Tour-Tagebuch

des frommen Chaoten

ADRIAN PIASS

Das Tour-Tagebuch
des frommen Chaoten

Aus den Englischen von Christian Rendel

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

Wie alles begann

Freitag, 10. September

Samstag, 11. September

Sonntag, 12. September

Mittwoch, 15. September

Donnerstag, 16. September

Freitag, 17. September

Samstag 18. September

Sonntag, 19. September

Montag, 20. September

Dienstag, 21. September

Mittwoch, 22. September

Donnerstag, 23. September

Nach der Tournee

Wie alles begann

Anne scheint der Meinung zu sein, es wäre eine gute Idee, einige der Tagebucheinträge, die ich im Zuge unserer soeben abgeschlossenen siebentägigen Vortragstournee verfasst habe, der staunenden Öffentlichkeit zu präsentieren. Auf halber Strecke hatten wir einen Tag frei, sodass es eigentlich nur sechs Abendveranstaltungen und das eine oder andere Nebenprogramm während des Tages waren, aber wir hatten in vieler Hinsicht eine Menge Spaß.

Andererseits war ich mir nicht sicher, ob das Ganze interessant genug wäre, um andere daran teilhaben zu lassen, und vielleicht hätte ich auch mit ihr darüber debattiert, aber das hat ja nun eigentlich nicht viel Sinn. Ihre Bilanz zeigt, dass sie bis zum heutigen Tag mir gegenüber mit beängstigender Unerbittlichkeit ausnahmslos im Recht ist. Gemeinsam scheinen sie und Gott sich ihren Adrian Plass genau dahin manövriert zu haben, wo sie ihn haben wollen. Nicht, dass ich mich beschweren wollte, wie ich eilends hinzufüge. Ich bin lieber mit Anne verheiratet als mit irgendjemandem sonst auf der Welt und im Großen und Ganzen waren wir immer sehr glücklich miteinander.

Wohlgemerkt, nicht jeder würde das bestätigen. Vor ein paar Monaten übernachtete ein gläubiges Ehepaar aus Amerika bei uns. Sie hießen Todd und Wilma Valance, waren beide ausgesprochen kräftig und gesund, lächelten mit vor lauter Weisheit und Einsicht gekräuselten Augenwinkeln und hatten tiefe, aufrichtige Stimmen und riesige, blendend weiße Zähne. Nachdem wir uns von ihnen verabschiedet hatten, fanden wir auf dem Tisch in unserer Diele ein Buch mit dem Titel: »Wo ist Gott, wenn die Ehe auseinanderbricht?«. Der Umschlag zeigte ein Bild des platonischen Ideals von Mann und Frau, wie sie einander hingebungsvoll in die Augen schauen. Wenn ich’s recht bedenke, hatten die beiden Porträts starke Ähnlichkeit mit den Valances. Auf das erste Blatt hatte einer unserer Gäste geschrieben: »Von Todd und Wilma, mit Agape-Liebe und der Glaubenszuversicht, dass sich in den kommenden glücklichen Tagen die Sonne von Neuem über die lange Nacht eurer Beziehung erheben möge.«

Anne lächelte und sagte: »Oje, so weit ist es schon mit uns gekommen. Ich schätze, wir müssen uns eine UV-Lampe und zwei falsche Riesengebisse zulegen. Du nennst dich Buzz und ich könnte Lois heißen. Was meinst du?«

Wir lachten ausgiebig über Todd und Wilma und ihre beeindruckende Gabe der Entmutigung, aber dann fragte ich doch noch Anne, was die beiden ihrer Meinung nach auf den Gedanken gebracht haben könnte, dass unsere Ehe auf Grund gelaufen sei.

»Na ja«, sagte sie, »sie haben einfach nicht erkannt, dass unsere Ehe inzwischen eine Ebene erreicht hat, die sie sich nicht einmal erträumen können. Ich meine, denk bloß mal daran, dass wir heutzutage mitten im Streit eine Pause zum Kaffeetrinken und Klönen einlegen, bevor wir uns weiter gegenseitig anschreien. Das nenne ich Fortschritt in einer Beziehung.«

Wie auch immer, Todd und Wilma mögen denken, was sie wollen: Gott hat uns beiden eine glückliche Ehe geschenkt und er hat mir eine Frau gegeben, die voller sehr guter Ratschläge steckt, auch wenn ich die nicht immer hören will.

Und wenn ich darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass diese Tournee schon manches Bemerkenswerte an sich hatte, über das es sich zu schreiben lohnen könnte. Das Bemerkenswerteste war vielleicht, dass unser Sohn Gerald uns begleiten und sogar selbst an den Abenden etwas sagen konnte. Gerald ist zurzeit Vikar in einer lebhaften Gemeinde in London. Eigentlich hatte er uns während seines Urlaubs für eine Woche besuchen wollen, bevor wir abreisten, um dann während der Tour noch eine Woche lang allein unser Haus zu hüten.

Doch durch eine weitere Besonderheit konnten wir es uns leisten, die Kosten dafür zu übernehmen, dass Gerald mit uns kam. Ein neues Mitglied unserer Gemeinde, ein Mann namens Barry Ingstone, den wir bisher nur vom Sehen kannten, wollte unbedingt mit seiner christlichen Druckerei unsere Tournee sponsern, damit, wie er es in einem Brief an mich ausdrückte, »in diesen unseren Zeiten das Evangelium gepredigt und Seelen für Gott errettet werden mögen«. Die ersten Worte sollen wohl so viel wie »jetzt« heißen. Seine Vorstellung war, dass er die Kosten für die Tournee übernehmen würde und wir ihm alles erstatten würden, was wir durch Kartenverkäufe oder Sammlungen einnahmen. Für eine etwaige Differenz würde er dann aufkommen.

So wichtig diese Zielsetzung auch war, muss ich ehrlicherweise zugeben, dass meine ersten Gedanken, als ich diese Worte las, nichts mit Gerald zu tun hatten. Sie betrafen die rein eigennützige, zutiefst wunderbare Aussicht, dass wir nicht privat bei den Leuten würden übernachten müssen! Wenn die Finanzierung ausreichte, würden wir alle sieben Nächte in Gasthäusern und kleinen Hotels verbringen können, bis auf die eine in der Mitte, wo wir nahe genug der Heimat sein würden, um am frühen Morgen nach Hause zu kommen und uns einen Tag und eine Nacht freizunehmen.

Was für eine Erleichterung!

Ich sollte vielleicht erklären, dass ich – nun, sagen wir – unterschiedliche Erfahrungen mit privaten Übernachtungen bei den Leuten gemacht habe, in deren Gemeinden ich sprach. Manchmal war es prima. Oft aber nicht. Anne kann das viel besser als ich. Sie sagt, ich mache immer ein Riesenbrimborium um Dinge, die doch eigentlich ganz einfach seien. Kann ja sein, aber das liegt daran, dass diese Dinge mir nun einmal so viel Kopfzerbrechen machen.

Das fängt schon damit an, sich in einem fremden Badezimmer fertig machen zu müssen. Entsetzlich! Ich finde das unerträglich.

Zum Beispiel erinnere ich mich, wie ich einmal im Norden bei einer Familie namens Davenport übernachtete. Es waren nette Leute. Doch, sicher, es waren furchtbar nette Leute, aber – nun ja, sie waren nun einmal ganz und gar nicht meine Familie, wenn Sie wissen, was ich meine.

Am Abend zuvor hatte ich erfahren, dass außer mir nur noch drei Leute im Haus übernachteten. Da war zuerst Geoff Davenport, der Vater, herzlich, gutmütig und sehr darauf bedacht, dass ich mich bei ihm wie zu Hause fühlte und tat, was immer mir beliebte. Dann war da die Mutter, Vera Davenport, eine clevere, sehr effiziente Frau, die darauf bestand, dass ich mich entspannte, vorausgesetzt, wie ich argwöhnte, dass ich in ihrem unglaublich sauberen und aufgeräumten Haus nichts kaputt machte oder durcheinanderbrachte. Und schließlich war da die Tochter, Sally Davenport, ein ausgelassenes, hübsches Mädchen von etwa vierzehn Jahren, das viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um die Existenz anderer Leute, geschweige denn meine, mehr als ganz am Rande wahrzunehmen. Sie schien mehr oder weniger höflich allem zuzustimmen, was ich sagte, ohne je von sich aus etwas zum Gespräch beizusteuern. Nur drei Leute. In Worten: drei. Mehr waren nicht da. Ich schwöre es.

Als ich am Morgen nach meinem Vortrag in dem nahezu perfekten Gästezimmer der Davenports erwachte, blieb ich noch einen Augenblick liegen und lauschte. Ein Blick auf den reich verzierten Gästewecker neben mir verriet mir, dass es erst sieben Uhr war. Eine tiefe, tickende Stille lag über dem Haus.

Großartig!

Rasch stieg ich aus dem Bett, machte dabei so wenig Geräusche wie möglich und beglückwünschte mich dazu, dass ich vor allen anderen Hausbewohnern wach geworden war. Wenn ich mich beeilte, konnte ich ins Bad gehen, meine Dusche nehmen und sicher wieder zurück im Gästezimmer sein, bevor einer der anderen auch nur aufgestanden war. Schnell ging ich noch einmal den Lageplan der Zimmer im Obergeschoss durch, den ich mir am Vorabend im Geiste gezeichnet hatte. Links von mir befanden sich zwei Zimmer, eines davon ein weiteres Gästezimmer, das andere Geoffs und Veras Schlafzimmer, und zu meiner Rechten kamen das Bad und Sallys Zimmer.

Es war unabdingbar, auf dieser Etappe der vor mir liegenden Reise keinen Fehler zu machen, ermahnte ich mich streng. Um sieben Uhr morgens, nur mit einem Handtuch um die Lenden, auf Zehenspitzen in das Zimmer der heranwachsenden Tochter meines Gastgebers zu schleichen, war vielleicht doch nicht genau das, was Geoff sich vorgestellt hatte, als er mich so leutselig aufforderte, zu tun, was immer mir beliebte.

Ich hatte bereits die Klinke meiner Zimmertür heruntergedrückt und schob sie unter äußerster Konzentration Millimeter für Millimeter auf, als mit einem lauten Krachen die Tür des Schlafzimmers von Geoff und Vera aufflog.

Mit zusammengebissenen Zähnen verschloss ich meine Tür wieder, so lautlos ich es vermochte, und hüpfte voller Schrecken zurück in den sicheren Hort meines Bettes. Auf einem fremden Treppenabsatz unangezogen Leuten zu begegnen, die ich kaum kenne, ist für meine Begriffe so ziemlich der absolute Abgrund.

Elend hockte ich auf dem Bett und legte mir eine klar durchdachte, vernünftige Vorgehensweise zurecht. Okay, sagte ich mir, offensichtlich ist eine Person auf dem Weg ins Badezimmer. Wenn die fertig ist, kommen noch zwei andere. Angesichts dessen werde ich also einfach ganz still hier auf meinem Bett sitzen bleiben und warten, bis alle anderen Bewohner des Hauses fertig sind mit Duschen und Zähneputzen und was sie sonst noch alles morgens tun, und dann, wenn kein Zweifel mehr besteht, dass sie nach unten gegangen sind und die Luft rein ist – bin ich an der Reihe. Scheint doch ganz einfach zu sein.

Aber dann fing sie an: die endlose, unerklärliche, ununterbrochene Wanderung menschlicher Wesen von einem Ende des Korridors zum anderen und wieder zurück. Mir schien, als wäre aufgrund einer gewaltigen Naturkatastrophe in Geoffs und Veras Schlafzimmer ein riesiger Flüchtlingsstrom unterwegs über den Korridor in die Sicherheit des Badezimmers. Als der Strom versiegte und sich schon Hoffnung in mir regte, meine Stunde könnte nun gekommen sein, kamen sie plötzlich aus Sallys Zimmer, einer nach dem anderen, ganze Horden von Menschen, die ins Badezimmer stapften, Wasser laufen ließen, mit allem möglichen Zeug klapperten, husteten, gurgelten, wieder herausstapften, Türen aufrissen und zuknallten und es mir unmöglich machten, mein Zimmer zu verlassen. Soweit ich es ermessen konnte, musste der Korridor vor meiner Tür erfüllt sein von einer wogenden, drängenden Masse ungewaschener und gewaschener Menschen, die unerklärlicherweise ein Haus durchströmten, das noch am Abend zuvor nur drei Personen beherbergt zu haben schien.

Als ich mich schon allmählich damit abfand, den Rest meines Lebens in diesem Gästezimmer zuzubringen, trat plötzlich Stille ein, gefolgt von einem vorsichtigen Klopfen an meiner Tür.

»Bad ist frei!«, flötete Vera Davenport mit der Unbekümmertheit einer vollkommenen Gastgeberin.

»Oh, ja, gut, danke!«, gurgelte ich zurück.

Argwöhnisch öffnete ich meine Tür mit äußerster Behutsamkeit und spähte in beide Richtungen den Korridor entlang. Niemand in Sicht. Die Flüchtlinge und all die anderen Horden waren verschwunden. Mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven trat ich meine Reise zum Ende des Korridors an und hatte es schon fast erreicht, als sich die Zimmertür direkt neben mir zu öffnen begann. Ich stürzte mit einem kleinen Aufschrei ins Badezimmer, knallte die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel herum.

Nachdem ich mich so weit erholt hatte, dass ich mich umschauen konnte, machte ich die beunruhigende Entdeckung, dass das Badezimmer der Davenports so perfekt war, wie ich es befürchtet hatte. Wie konnte es auch anders sein? In diesem Badezimmer funkelten tausend kleine Lichtpunkte. Es schimmerte. Es glänzte mich selbstgefällig an. Stumm forderte es mich heraus, ich möge es nur wagen, dort irgendetwas zu tun, was dazu führen würde, dass es weniger sauber und hygienisch war als vor meiner Ankunft. Es gab nur eine Richtung, die dieses Paradebad von seinem gegenwärtigen Zustand aus nehmen konnte: abwärts. Offensichtlich war Vera Davenport hier gewesen, nachdem die anderen fünfzehntausend Mitglieder ihrer Familie fertig waren, und hatte alle besudelnden Spuren menschlicher Aktivität durch Wischen und Scheuern und Sprühen beseitigt. Ich versuchte, mir innerlich eine Fotografie des Zimmers zu machen, bevor ich die Dusche betrat, um sicherzugehen, dass ich es genau so zurückließ, wie ich es vorgefunden hatte. Als ich fertig war, schrubbte ich wie ein Derwisch auf jeder Fläche herum, die ich, soweit ich mich erinnern konnte, berührt hatte, und wusste dabei doch, dass ich mir Mühe geben konnte, so viel ich wollte, eine Tatsache würde unverrückbar bestehen bleiben: Dieses Badezimmer würde, nachdem ich es verlassen hatte, weniger perfekt sein als vor meinem Eintritt.

Als ich nach dieser Reise wieder nach Hause kam und Anne erzählte, was passiert war, lachte sie nur und sagte, ich müsse lernen, zwischen meinen Problemen und denen anderer Leute zu unterscheiden. Wenn Vera Davenport ein Badezimmer haben wollte, das so aussah, als wäre es noch nie benutzt worden, dann war das ihr Problem, nicht meines. Wenn ich es nicht mochte, am frühen Morgen in den Häusern anderer Leute herumzuschleichen, dann war das mein Problem, nicht ihres.

Ich musste ihr zustimmen und kam mir plötzlich sehr albern vor bei dem Gedanken, wie fieberhaft ich dieses Badezimmer poliert und versucht hatte, es auf einen unmöglichen Standard zu bringen, von dem sowieso niemand wirklich etwas hatte. Wenn ich das nächste Mal privat bei Leuten übernachte, bin ich entschlossen, die ganze Sache viel reifer und selbstbewusster anzugehen.

Aber Mann, war ich froh, dass wir in Hotels übernachten konnten!

Freilich hatte ich Barry Ingstones Angebot schon mehr oder weniger angenommen, bevor ich von einem Faktor erfuhr, der die Sache erheblich komplizierter machte. Er hatte nämlich vor, uns zu begleiten!

Als wir uns eines Samstagnachmittags trafen, um über die Tournee zu sprechen, setzte Barry gleich zu Beginn Anne und mich mit der Großzügigkeit seines Angebots in Erstaunen. Er sah aus wie Mr. Bean unter Beruhigungsmitteln, als er uns unter überraschend häufiger Anführung biblischer Verse erläuterte, er sei bereit, die Reisekosten in Form eines Mietwagens mit allen Spesen sowie die Unterbringung von sechs Personen – sechs! – zu finanzieren, je nachdem wie groß mein

»Team« sei.

Natürlich hatte ich kein eigentliches »Team«, aber ich fing einen Blick von Anne auf und entschied kurzerhand, dass Gerald und Leonard Thynn für die vor uns liegende Aufgabe unverzichtbar waren. Gerald haben wir immer gern bei uns und Leonard ist immer so einsam, wenn wir beide unterwegs sind. Ich kam mir ziemlich gierig vor. Behutsam deutete ich Barry gegenüber an, wir würden gern noch einen Projektor und eine Leinwand mitnehmen, falls das Budget es zuließ, um Dias zeigen zu können. An bestimmten Stellen der Vorträge, die ich geplant hatte, würde es hilfreich sein, gewisse Bilder auf einer großen Leinwand zu zeigen, doch ganz abgesehen davon, dass wir so unseren Abenden eine weitere Dimension geben konnten, hatte ich noch einen ganz bestimmten Grund, diesen Vorschlag zu machen.

Der alte Zak Chambers, ein Mitglied unserer Gemeinde, der erst im letzten Jahr mit Mitte achtzig gestorben war, war früher von Beruf Kunstmaler gewesen. Er hatte naturgetreue Aquarelle von Dorfkirchen und alten Mühlen und dergleichen produziert und, soviel ich weiß, alles verkauft, was er je gemalt hatte. Seit einem schweren Schlaganfall, den er vor einigen Jahren erlitten hatte, war Zak an den Rollstuhl gefesselt und konnte seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen. Wir alle dachten damals wohl automatisch, dass es nun mit seinem Malen vorbei wäre.

War es aber nicht.

Wie Zaks liebende, aber äußerst unverblümte Gattin Bernadette immer gern gesagt hatte, war er ein alter Sturkopf. Mit viel Mühe brachte er sich bei, mit der linken Hand zu malen, und die Ergebnisse waren – nun, sie waren außergewöhnlich. Es war, als hätte der alte Mann jetzt, ganz am Ende seiner Malerkarriere, eine ganz neue Freiheit gefunden. Er malte vor allem die Hügel, die man in der Ferne aufsteigen sah, wenn man sich ans hintere Ende seines Gartens setzte, aber das Interessante war, dass sein neuer, linkshändiger Stil Lichtjahre von dem alten entfernt war. Es waren keine abstrakten Bilder im eigentlichen Sinn, aber sie schienen geradezu lebendig zu sein vor Licht und Bewegung und aufregenden Möglichkeiten, wie unser Gemeindeältester Edwin es ausdrückte. Die Liebe dieses alten Mannes zur Natur leuchtete aus ihnen. Wenn er diese Bilder malte, spielte er richtig mit der Farbe. Anne meinte, er bereite sich auf den Himmel vor.

Ich hatte schon öfter daran gedacht, wie toll es wäre, ein paar Dias von Zaks späten Bildern zu machen und sie als Hintergrund zu Gedichten und Bibellesungen und dergleichen zu verwenden. Wenn Barry es mit dem Geld ernst meinte, war dies die Gelegenheit, das umzusetzen. Abgesehen davon konnten wir auch, falls Bernadette einverstanden war, ein paar Originale mitnehmen und sie bei den Veranstaltungen zum Verkauf ausstellen. Zaks Witwe war einigermaßen gut gestellt, sodass sie das Geld nicht nötig hatte, aber ich wusste, wie gut es ihr tun würde, zu wissen, dass die Bilder ihres geliebten Mannes geschätzt wurden und dass manche von ihnen sozusagen ein gutes neues Zuhause finden würden.

All dies erklärte ich Barry und wies ihn darauf hin, dass Leonard, wenn er uns begleitete, die Aufgabe übernehmen könne, die Leinwand aufzubauen und bei den Veranstaltungen die Bilder zu zeigen.

Barry schleuderte noch ein paar Bibelverse um sich wie Granatsplitter und meinte, das wäre kein Problem. Ich schüttelte ihm die Hand und juchzte innerlich vor Begeisterung, endlich einmal ein paar Veranstaltungen »richtig« machen zu können.

In diesem Moment ließ Barry die Bombe hochgehen. Er würde mit uns kommen!

Er wolle Anteil an der Freudigkeit der Verkündigung haben, sagte er, und mit eigenen Augen sehen, wie das Brot, das er aufs Wasser warf, während unserer siebentägigen Tournee und danach zu ihm zurückkehren würde.

Natürlich waren wir einverstanden. Was blieb uns auch anderes übrig? Was hätten Sie getan? Um es weniger biblisch, aber ebenso treffend auszudrücken: Barry war der Pfeifer, und es war sein gutes Recht, zu bestimmen, welche Melodie er spielen wollte. Also sagten wir Ja.

Tief im Innern, glaube ich, war meine Hauptsorge nicht so sehr Barrys Sucht nach Schriftzitaten, so lästig uns diese Gewohnheit auch voraussichtlich werden würde, sondern die Angst davor, was passieren würde, wenn Gerald ihm begegnete. Man kann nie wissen, was mein Sohn anstellen oder sagen wird, wenn er es mit Leuten wie Barry zu tun hat. Wir konnten nur beten, dass alles gut klappen würde.

Noch am selben Tag schaute ich bei Bernadette vorbei, um sie zu fragen, was sie von meinem Plan hielte. »Gebauchpinselt« dürfte eine treffende Beschreibung ihrer Reaktion sein. Ich glaube, wenn sie zehn Jahre jünger wäre, hätte sie darauf bestanden, mit uns zu kommen. Wir verbrachten ein paar sehr angenehme Stunden damit, die Bilder zu sichten und uns zu überlegen, wie viel wir von den Leuten, die sie »adoptieren« würden, dafür verlangen sollten. Bernadette sagte, ihr Enkel, ein halbprofessioneller Fotograf, würde die Dias für uns herstellen, sodass auch das geklärt war.

Leonard war natürlich außer sich vor Freude, uns wieder einmal auf einer Tournee zu begleiten, als er von alledem hörte, und gab mächtig damit an, mit welcher traumwandlerischen Leichtigkeit er den Diaprojektor und die Leinwand handhaben würde, die wir mieten wollten. Wie Sie später sehen werden, war diese Zuversicht vielleicht ein wenig verfrüht.

Übrigens hatte eine weitere höchst bemerkenswerte Sache, die passierte, mit Leonard zu tun und sie führte dazu, dass noch eine weitere Person zu meinem »Team« dazustieß. Ihr Name war – aber nein, jetzt ist gerade der richtige Moment, um damit anzufangen, Ihnen Einblick in meine Tagebucheinträge zu geben. Unsere Tournee sollte am 17. September beginnen und der erste Eintrag entstand genau eine Woche vorher am Freitag. Zwischen dem ersten und dem zweiten Eintrag traf Gerald ein, und wie immer war es so, als wäre er nie weg gewesen.

Freitag, 10. September

Heute Morgen rief Leonard Thynn im Büro an, hat mich schier umgehauen. Er sagt, er hat eine Freundin! Nicht zu fassen! Fragte ihn, wie sie heiße.

»Sie heißt Angels Twitten«, sagte Leonard, der sich schon lange nicht mehr so aufgeregt angehört hat. »Also, wenn wir heiraten, dann heiße ich Leonard Twitten, oder?«

»Nein, Leonard, normalerweise nimmt die Frau den Namen des Mannes an. Also, wenn ihr heiraten würdet, hieße sie …«

»Leonard Twitten?«

»Nein, die Frau behält ihren Vornamen, übernimmt aber den Nachnamen des Mannes. Verstehst du?«

»Ach, jetzt kapiere ich. Das wusste ich nicht. Ja, ich verstehe.« Kurze Pause, während die Zahnräder in seinem Hirn leise surrten.

»Adrian, ich hab’s jetzt verstanden, aber – wie soll ich denn ohne Nachnamen auskommen?«

Umklammerte den Hörer fester.

»Nein, Leonard, du hast überhaupt nichts verstanden. Du behältst doch deinen Nachnamen.«

»Aber du sagtest doch gerade, die Frau übernimmt ihn.«

»Ja, ich weiß, aber ich meinte doch nicht – hör mal, ist es nicht sowieso noch ein bisschen früh, um ans Heiraten zu denken, Leonard? Du kennst die Dame doch bestimmt noch gar nicht so lange. Seid ihr schon mal – du weißt schon – ausgegangen und so?«

»Klar, wir haben gestern Abend ‘ne Riesensause gemacht.«

»Was habt ihr denn unternommen – was Besonderes?«

»Ja, wir hatten wirklich einen sehr netten Abend, vielen Dank. Wir sind mit dem Bus zu Tesco’s gefahren und haben uns die Videos angeschaut.«

»Wirklich? Ich weiß, es gibt ein Café bei Tesco’s. Aber dass man da auch Videos schauen kann, wusste ich nicht.«

»Na klar, gestern haben sie zwei richtig gute gezeigt. Eins hat mir besonders gefallen; das lief am Ende von dem Gang mit den Haushaltswaren und handelte von einem neuen Wischmopp, der doppelt so viel Schmutzwasser aufnimmt, wegen so einem revolutionären neuen Schwammgewebe, das größer als normal ist, wenn es trocken ist, aber viel, viel kleiner, wenn es nass ist.«

»Leonard …«

»Das haben wir uns dreimal angeschaut. Meine Lieblingsstelle war die, wo diese Frau das Ende des Mopps hochhebt und anschaut, als könnte sie gar nicht glauben, wie viel Wasser der aufgesaugt hat. Angels mag am liebsten die Stelle, wo die kleine Tochter reinkommt und sagt: ›Meine Güte, Mami, wie hast du denn unseren Fußboden so glänzend sauber gekriegt?‹, und die Frau schaut sie an und sagt: ›Mit dem neuen Miracle Mop, Schätzchen, da brauche ich nur noch die halbe Zeit zum Bodenwischen.‹ Und das andere …«

»Leonard …«

»Das andere hatten wir beide schon mal gesehen, in der Mitte des ›Küche und Haushalts-Gangs. Da ging es um so ein spezielles Plastikteil, mit dem man Obst und Gemüse in alle möglichen verschiedenen Formen schneiden kann, indem man bloß immer ein anderes Plastikteil auf das Plastikteil steckt, das man in der Hand hat, zum Beispiel sternförmige Tomaten und so. Ach ja, und da kommt am Ende eine richtig gute Stelle – na ja, es kommt nicht mehr so gut, wenn man das Ende schon kennt, so wie wir, aber es ist wirklich verblüffend, wenn man es zum ersten Mal sieht, und es macht Spaß, sich die Gesichter der anderen Leute anzuschauen, die es noch nicht gesehen haben – wo es so aussieht, als wäre der Mann fertig, und dann sagt er plötzlich: ›Natürlich kann der Magic Multi-Cutter nicht Ihre Pommes frites schneiden, oder? Das wäre wirklich zu viel verlangt. Sind Sie da so sicher? Schauen Sie her!‹«

»Leonard …«

»Und dann, wenn man gerade denkt, nein, das ist nicht möglich – wenn man es noch nicht gesehen hat, meine ich –, steckt er ein neues Plastikteil auf das andere Plastikteil, schnappt sich eine große Kartoffel, und ehe du dich umsiehst, hat er einen Haufen Pommes auf dem Tisch und du weißt, dass der Magic Multi-Cutter sehr wohl Pommes frites schneiden kann! Ich könnte jedes Mal stehend applaudieren!«

»Aber ihr applaudiert nicht wirklich, oder, Leonard? Bitte sag mir, dass Angels und du nicht am Ende des Videos geklatscht habt.«

»Ach, komm schon, Adrian!«, sagte Leonard. »Ts-ts-ts!«, machte er, als hätte ich einen unaussprechlich abwegigen Gedanken geäußert. »Tesco’s ist ein Supermarkt und kein Theater. Man klatscht doch nicht im Supermarkt, oder? Es sei denn, man ist völlig übergeschnappt.«

»Nein«, sagte ich, »tut mir leid, Leonard – blöd von mir, ich weiß nicht, was mir in den Sinn gekommen ist. Also, Angels verbringt gern einen Abend im Supermarkt. Steht sie nicht auf Kino oder Essen gehen oder so was?«

»Na ja, unser Geld hat nur für den Bus gereicht und außerdem mögen wir Tesco’s, weil wir uns da zum ersten Mal begegnet sind. Gestern Abend war unser zehntes Jubiläum.«

»Was! Zehn Jahre? Warum hast du uns denn nie von ihr erzählt?«

»Zehn Tage«, korrigierte mich Leonard, »fünfzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten. Bei den Sekunden bin ich mir nicht ganz sicher. Ja, wir trafen uns um sechs Uhr an einem Dienstagabend bei Tesco’s im Wein- und Spirituosengang. Ich bitte Gott schon seit einer Ewigkeit, eine Freundin für mich zu finden, aber ich hatte ein bisschen Angst, und deshalb habe ich immer gesagt, er solle doch jemanden aussuchen, mit dem ich irgendetwas Großes gemeinsam habe. Tja, und das hat er auch. Es ist einfach super! Wir sind beide Alkoholiker.«

»Ihr seid beide …«

»Und an dem Tag, als wir uns trafen, dachten wir beide genau dasselbe. Wir standen nebeneinander und schauten uns die vielen verschiedenen Whiskysorten an und dachten: ›Das ist es, was ich am meisten will!‹ Und dann war es wie in einem von diesen Videos, ich meine jetzt nicht die über Mopps und Gemüseschneider. Ich meine die, die man sich im Kino immer nicht anschaut, weil das zu teuer ist. Wir drehten uns um und schauten einander an und – wie soll ich das sagen, Adrian – in ein und demselben Augenblick sahen wir beide etwas, was wir vielleicht noch mehr wollten. Es war wie Zauberei. Also, ich meine nicht Zauberei. Ich meine – du weißt schon – Zauberei. Darf ich morgen mit ihr vorbeikommen und sie dir und Anne vorstellen? Ich habe ihr gesagt, dass ihr meine besten Freunde seid.«

Brachte kaum einen Ton heraus.

»Ja, natürlich könnt ihr kommen, Leonard. Wir freuen uns darauf, Angels kennenzulernen. Kommt um sieben, dann können wir zusammen essen.«

»Okay. Ach, übrigens, ich habe ihr noch nicht gesagt, dass ich Christ bin. Will nicht gleich alles vermasseln. Also kein Wörtchen darüber, ja? Bis dann!«

Ojemine …

Samstag, 11. September