Anmerkungen

1. Williams, R.: Open to Judgment (London: Dartman Longman and Todd, 1994).

2. Plass, A.: Gesprengte Mauern (Moers: Brendow, 1995).

3. Donne, John: Erstürme mein Herz. Elegien, Epigramme, Sonette. Englisch – Deutsch (Frankfurt: Verlag Neue Kritik, 2000).

4. Lucas, J.: Creating a Prodigal-friendly Church (London: Zondervan, 2008).

5. Jerome, J.K.: Three Men in a Boat (London: Penguin Pupular Classics, 2007).

6. Copyright Francis Day and Hunter, 1933.

VIERUNDZWANZIG

Lieber Jeff,
ich bin sehr erleichtert, dass Du ebenso wie ich das Handwerkern den Handwerkern überlässt. Früher kam ich mir immer so dämlich vor gegenüber Leuten, die aus dem Effeff konstruieren und reparieren und bauen und umbauen und dekorieren können. Du kennst das sicher. Sie führen einen durchs Haus und erklären unter ausschweifendem technischem Gestikulieren, was für Wunder sie seit dem Einzug darin vollbracht haben.

»Wir haben Folgendes gemacht«, erläutern sie mit irritierend gelassener Versunkenheit. »Wir haben das obere Stockwerk des Hauses genommen und einfach mit dem unteren vertauscht. Sehen Sie, was ich meine? Das habe ich in zwei Tagen mit einem Freund gemacht. Diese Woche dann haben meine Frau und ich die Wände um neunzig Grad gedreht, sodass die Fensterseite jetzt nach Süden zeigt statt nach Osten. Das erhöht den Wert um mindestens fünfzigtausend. Alles, was man dazu braucht, sind ein paar Profilstahlträger, ein paar Dachlatten und ein Stanzgerät. Nächsten Monat reißen wir sämtliche Innenwände heraus, streichen frisch an und bauen im Haus eine viertelgroße Nachbildung des Alamo, sodass Jean anfangen kann, Fremdenzimmer an amerikanische Touristen zu vermieten.«

Hmm. Ich habe einmal einen Stecker ausgewechselt. Mit einer Führung durch mein Haus könnte ich nicht sehr viel Eindruck schinden.

»Wir haben hier Folgendes gemacht«, würde ich erläutern, während ich auf einen hässlich verfärbten Streifen an der Tapete neben einem Fenster deute. »Wir haben es völlig ignoriert, dass schon seit einiger Zeit Wasser hereinkommt, wenn es regnet. Auf diese Weise, wissen Sie, können wir hoffen, dass das Problem irgendwann verschwindet, ohne dass wir etwas dagegen tun. Und in ein paar Monaten dann haben wir vor, in Panik zu geraten und einen wahnwitzigen Betrag dafür auszugeben, dass irgendein durchtriebener Handwerker so tut, als hätte er es in Ordnung gebracht, obwohl wir es praktisch umsonst selbst hätten machen können, gleich nachdem es angefangen hatte. Das ist jedenfalls die Absicht dahinter …«

Nein, meine Einstellung zu diesen Dingen hat sich verändert. Heutzutage hole ich den durchtriebenen Handwerker gleich, wenn das Problem auftritt.

Ich schätze, der Trick ist, sich seinen Begrenzungen zu stellen, damit man sich darauf einstellt, in ihnen sowohl zu arbeiten als auch zu leben, und zu akzeptieren, dass es ab und zu passieren kann, dass Gott auf beängstigende und übernatürliche Weise möglich macht, dass Wunder geschehen, die jeden Horizont sprengen. Jeff, Du hast in einem früheren Brief erwähnt, dass es nötig ist, die Verantwortung für das Offensichtliche zu übernehmen, was immer Gott auch mit dem Rest vorhaben mag.Wie lautete noch die Botschaft des Herrn an Dich, als Dir auf der Autobahn das Benzin ausging? »O einfältiger Tor, wer da fahren will, sehe zu, dass er seinen Tank rechtzeitig fülle«, richtig? Daran musste ich neulich denken, als mir der Text eines unvergesslichen Varieté-Songs von Gracie Fields in die Hände fiel. Als ich in der Lehrerausbildung war, haben wir ihn einmal in einer Radiodokumentation über Jack the Ripper verwendet. Lass mich Dir den Text zitieren. Es ist ein großartiger Song, auch wenn er es nie ins anglikanische Gesangbuch schaffen wird.

Heaven will protect an honest gel,

An an-gi-el will guard you, little Nell.

When these rich men tempt you, Nelly,

With their spark-el-ling Moselly,

Say »Nay! Nay!« and do be very care-fu-el!

And if some old bloated blasé roué swell

»I’ll kiss you, we’re alone in this hotel;«

Breathe a prayer he shall not do it

And then biff him with the cruet,

Then Heaven will protect an honst gel!6

Der Himmel beschützt ein ehrliches Mädchen,

Ein Engel wird dich behüten, kleine Nell.

Wenn diese reichen Männer dich verführen wollen, Nelly,

Mit ihrem prickelnden Moselwein,

Sag »Nein, nein!« und sei sehr vorsichtig!

Und wenn ein alter aufgeblasener Wüstling flüstert,

»Ich werde dich küssen, wir sind allein in diesem Hotel«,

Dann hauche ein Gebet, dass er das bleiben lässt,

Und dann zieh ihm mit dem Messkännchen eins über,

Dann beschützt der Himmel ein ehrliches Mädchen!

Ich kann mich irren (habe ich da gerade in der Ferne ein Donnergrollen gehört?), aber ich vermute, es gibt Momente, in denen selbst Jesus, wenn man ihn fragte, sagen würde:

»Nun, ja, die andere Wange hinhalten und ernstliches Gebet sind natürlich die besten Möglichkeiten, aber gewisse

Situationen erfordern zusätzliche, praktischere Lösungen. Benzin in Autos zu füllen, die nicht mehr fahren, wenn man es nicht tut, ist ein Beispiel. Ein anderes könnte hin und wieder durchaus sein, neben dem Beten jemandem gut gezielt mit dem Messkännchen eins überzuziehen.Vielleicht wäre es auch gar keine schlechte Idee, der Habgier, der Armut, der Krankheit und der Ungerechtigkeit mit einer Art metaphorischem Messkännchen eins überzuziehen – aber zitiert mich damit bloß nicht!«

Ich frage mich, ob Gott wohl genug davon hat, immer zitiert zu werden, Jeff. Ich glaube, mir ginge es so, wenn ich er wäre.Wie oft ist in den letzten zweitausend Jahren die Bibel schon benutzt worden, um Gottes Wesen, seinen Willen und sein kreatives Handeln verfälscht darzustellen? Wir haben das natürlich alle schon getan. Ich jedenfalls. Es macht mir sogar regelrecht Angst, daran zu denken, wie oft meine eigene Interpretation mancher Verse oder meine Missverständnisse über die Vielseitigkeit des Heiligen Geistes wohl schon Menschen von Jesus wegstatt zu ihm hingeführt haben. Das muss ihn auf die Palme bringen. Das tut es auch, wie wir wissen.

Als die Jünger diensteifrig einen Haufen Kinder wegschicken wollten, die unbedingt in die Nähe dieses großartigen Mannes wollten, der immer so viele Geschichten erzählte und dauernd die Leute verzauberte, ließ die Reaktion des Meisters keinen Raum für Zweifel. Acht Wörter im zehnten Kapitel des Markusevangeliums hallen durch die Jahre bis zu uns und erinnern uns daran, wie dumm und arrogant es ist, uns einzubilden, wir könnten je völlig sicher sein, welche Absichten Gott in irgendeiner Situation hegt.

»Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig.«

Ich glaube, das geht ihm auch heute noch oft so. Dir ist im Laufe unseres Briefwechsels vielleicht aufgefallen, dass es mich wütend macht, wenn selbst ernannte Hüter des heiligen Gesetzes eine kleine, scharfkantige Scherbe aus der Heiligen Schrift hervorholen und sie einer armen, sündigen Seele ins Herz bohren, die nicht so sehr ein Handlanger Satans ist als vielmehr ein Kind, das es dringend nötig hat, zu Jesus zu kommen. Es gibt eine Episode aus der Fernsehserie Cadfael , bei der mir immer wieder die Tränen kommen. Der Mönch untersucht den Tod eines Mädchens, das ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat und dann Selbstmord begeht, nachdem der Priester, bei dem sie um Absolution bat, sie grausam verstoßen hat.

»Sie war nichts als eine unnütze Hure«, sagt der Priester zu Cadfael.

»Sie war ein Kind! «, entgegnet Cadfael mit Empörung und Trauer in seiner Stimme.

Später am Abend sucht der Mönch still einen Winkel des ungeweihten Bodens auf, in dem das Mädchen begraben liegt, und steckt ein winziges silbernes Kruzifix in die frisch aufgewühlte Erde ihres unmarkierten Grabes.

Es gibt keinen Zweifel: Gesetz ohne Gnade haut Dich einfach nur um. Gnade fängt Dich auf, wenn Du fällst, und gibt Dir einen Keks – und meistens auch einen Job.

Natürlich müssen wir alle Rechenschaft ablegen für das, was wir tun. Aber in all den Jahren, in denen ich Sündern begegnete und selbst ein Sünder war und bin, habe ich gelernt, dass es in Wahrheit nur einen Weg dahin gibt, wie es sein sollte , und der führt, wie Jesus deutlich bei seiner Begegnung mit der Frau am Brunnen gezeigt hat, geradewegs mitten durch das, wie es ist. Ein paar Beispiele.

Ein Freund von mir erzählte mir neulich davon, wie er in die Schulen geht, um dort über Drogen und Alkohol aufzuklären. Wenn er mit so einer Gruppe von Jugendlichen zusammenkommt, fordert er sie als Erstes auf, zu benennen und zu beschreiben, was ihnen am besten daran gefällt, mit diesen Dingen umzugehen. So weit kein Problem. Die Liste wächst rasch, und über jeden Punkt darauf wird begeistert geredet. Dann bittet er sie um Kommentare zu den unangenehmsten Aspekten, und das ist der Punkt, an dem die eigentliche Diskussion beginnt. Ein attraktives Mädchen bekennt unter Tränen, dass sie sich nur dann hübsch fühlt, wenn sie getrunken hat. Die anderen hören es mit Staunen und versichern ihr, dass sie immer wunderhübsch aussieht. Andere erzählen betroffen von Zeiten, in denen sie sich geschämt haben und das Gefühl hatten, stark abhängig von künstlichen Stimulanzien zu werden. Diese Diskussionen sind oft überraschend offen. Die meiste Arbeit tun die jungen Leute selbst, und die Freiheit, mit der sie die Wahrheit über diese negativen Elemente aussprechen und nach neuen Antworten suchen, wird größtenteils dadurch möglich, dass mein Freund gültige Wahrheiten über die positiven Auswirkungen von Alkohol und Drogen ebenfalls mit moralischer Neutralität akzeptiert.

Ebenso erinnere ich mich an einen Freund namens Rick, der mir gestand, er habe eine außereheliche Beziehung zu einer Frau begonnen, die etliche Meilen von seinem Zuhause in einer Stadt in Wales wohnte. Im Zuge seiner Arbeit kam er ungefähr einmal im Monat dort vorbei. Ich glaube, er rechnete damit, dass ich ihm eine Gardinenpredigt halten und die »Spielregeln« rezitieren würde. Stattdessen bat ich ihn, mir zu sagen, was an diesem Erlebnis so schön oder packend sei, dass es ihn dazu veranlasste, seine bislang glückliche Ehe dafür aufs Spiel zu setzen. Anfangs stotterte der Motor ein wenig, aber nach einer Weile kam er in Fahrt. Er redete über den Sex, das Neue daran, die köstliche Heimlichkeit, das Pläneschmieden, das erneute Entdecken, was es bedeutet, sich attraktiv zu fühlen.

»Gut«, sagte ich freundlich, »also, auf der einen Seite genießt du das alles sehr, und auf der anderen Seite hast du eine Ehe, die du erhaltenswert findest, wie ich weiß, und einen lebenslangen Glauben, der ganz klar deutlich macht, wie Gott über Ehebruch denkt. Er mag ihn nicht, oder? Aber niemand wird dich deswegen tyrannisieren. Gott nicht, ich schon gar nicht, niemand. Du hast wirklich die Wahl. Du bist ganz und gar frei. Du kannst diese Affäre weiterführen, aus all den Gründen, die du mir gerade genannt hast, und jede Minute davon genießen. Oder du gibst die Beziehung in Wales auf und gibst dich neu deiner Frau und Gott hin. Es liegt ganz bei dir, Rick.«

Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.

»Aber was würdest du tun?«

»Ich? Ich würde mich entscheiden, genau wie du es musst, aber ich weiß nicht, wie die Entscheidung ausfallen würde. Ich bin nicht du.Vielleicht würde ich mich ja für die walisische Option entscheiden.«

Dann zeigte ich ihm Erbarmen.

»Na schön, Rick, ich werde dir offen sagen, was ich denke. Wenn Jesus jetzt leibhaftig hier wäre, vermute ich, würde er sich neben dich setzen, seinen Arm um deine Schultern legen und dir ganz freundlich sagen: ›Rick, ich verstehe, wie aufregend das alles war, aber mein Freund, du bist mehr wert als das. Wenn du mir helfen und mitmachen willst bei dem, was in Zukunft zu tun ist, dann wirst du die schwere Entscheidung treffen müssen. Ich hoffe sehr, dass du das tust, weil ich dich liebe – dich und deine Frau. Und ich glaube, im Innern weißt du ganz genau, dass dein Abenteuer nur in Tränen enden kann. Aber letzten Endes liegt es bei dir.‹«

Wie Rick sich entschieden hat?

Kümmere Dich um Deinen eigenen Kram.

Noch ein letztes Beispiel, nur eine Kleinigkeit, die mir aber sehr geholfen hat. Es passierte in einer Gemeinde in den Midlands, die wir damals besuchten. Eines Abends fand im Gemeindesaal ein Wohltätigkeitsessen statt, auf das ich mich sehr freute. Ich esse gerne, ich unterhalte mich gerne, und ich höre wirklich gerne anderen Leuten zu, was sie zu sagen haben – meistens jedenfalls. Leider hatte ich diesmal, wie es schien, das kurze Streichholz gezogen, was die Sitzverteilung anging. Ich landete am Ende des Tisches gegenüber von William, einem Witwer aus unserer Gemeinde, der es irgendwie geschafft hatte, den Small Talk zur Kunstform zu erheben. Er hatte nichts zu sagen und wandte außerordentlich viel Zeit dafür auf, es zu sagen. Ich hatte die Nase gestrichen voll.Wie sollte ich es aushalten, anderthalb Stunden lang Williams endloses Geschwafel über den Farbton der Beize für seinen Gartenzaun oder seine Vorliebe für Wolldecken gegenüber »diesem neumodischen Federbettenkram« über mich ergehen zu lassen? Ich hatte das Gefühl, am liebsten sterben zu wollen.

Wie es in derartigen Situationen typisch ist, schienen die Leute am anderen Ende des Tisches ein wahres Feuerwerk witzsprühenden rabelaisschen Humors abzubrennen; ein Feuerwerk, an dem die Person auf dem Stuhl neben mir ihre helle Freude zu haben schien. Sie hatte mir zwei Minuten nach Beginn des gemeinsamen Essens den Rücken zugekehrt und gedachte offenbar so zu verharren, solange die verflixte Schar von Wildeanern mit ihrem Gelächter, ihrem Tischgetrommel und ihren kollektiven Heiterkeitsausbrüchen fortfuhr.

Ich kochte innerlich, während mein betagter Tischgenosse sich ungefähr zehn Minuten lang über die Temperatur seines Essens auf Rädern und die Größe eines neuen Spatens ausließ, den sich sein Nachbar kürzlich angeschafft hatte. Und dann, ganz plötzlich, fühlte ich mich schuldig. Da saß ich, ein Kerl, der ständig davon redete, jeder einzelne Mensch sei wichtig, und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass irgendein entsetzlicher Notfall (ein Erdbeben wäre nett gewesen) mich von der Bürde erlösen möge, noch weitere drei Tage lang William zuhören zu müssen. In Gedanken redete ich mit Gott.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich will mein Bestes tun, um William interessant zu finden. Bestimmt ist er das im Grunde auch …«

»Nein, ist er nicht«, sagte die andere Seite des Dialogs. »Er ist alt und langweilig, und du wärst verrückt, wenn du lieber ihm zuhören würdest, als oben am anderen Ende des Tisches zu sitzen. Darum geht es nicht.«

»Und worum geht es dann?«

»Nur mir zuliebe – mach dem alten William heute Abend das Geschenk deiner Aufmerksamkeit. Er ist mir wichtig, und du bist der Mann vor Ort. Das ist der Job, den ich heute Abend zu vergeben habe. Nimm ihn, oder lass es bleiben.« Ich nahm ihn. Er war immer noch langweilig, aber es war okay.

Jeff, ich liebe das, was Jesus in der Welt tut. Ich liebe seinen Realismus, seine Zuneigung zu den schrägsten Leuten, das Vertrauen, das er in uns setzt, dass wir die Gnade weiterfließen lassen, seine Beharrlichkeit gegenüber Heiligen und Sündern und die Hoffnung, die er denen schenkt, die auf so vielfältige Weise belastet und verirrt sind. Was für ein Privileg ist es doch, bei alledem mit dabei zu sein.Wir sind große Glückspilze, Du und ich, stimmt’s?

Liebe Grüße und Gottes Segen, Adrian

Copyright

Cover

Titel

ADRIAN PIASS
& JEFF LUCAS

ANEKDOTEN
frommer Chaoten

ADRIAN PIASS
& JEFF LUCAS

ANEKDOTEN
frommer Chaoten

Aus den Englischen von Christian Rendel

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

EINLEITUNG: ADRIAN

EINLEITUNG: JEFF

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

Anmerkungen

EINLEITUNG: ADRIAN

Als Jeff und ich uns trafen, um über die Veröffentlichung unseres Briefwechsels zu sprechen, entdeckten wir eine gemeinsame Angst. Kurz gesagt ist es folgende: Mag ja sein, dass die Wahrheit uns frei macht, aber sie könnte auch leicht dazu führen, dass wir als Häretiker verbrannt werden – in rein metaphorischem Sinne, wie ich eilends hinzufüge. Die Sache mit Briefen zwischen Freunden ist die, dass es dabei keine Regeln gibt – außer denen, auf die die Schreiber sich geeinigt haben. Wir haben ausgelotet, was wir denken und fühlen und glauben und nicht glauben, auf eine Weise, die vielleicht in ein Erbauungsbuch nicht so recht passt. Aber manchmal muss man sich eben mit der Machete durch den Wald dieser unwegsamen, wunderbaren Welt hindurchschlagen, um den Weg zu finden, den man besser gleich von Anfang an eingeschlagen hätte. Für mich (und ich glaube, für uns beide) war dieser mühselige, arboreale Prozess sehr hilfreich, wenn auch manchmal ziemlich bedrückend. Ich habe irgendwo schon einmal die Bemerkung eines amerikanischen Schriftstellers erwähnt, der meinte, Schreiben sei ganz leicht; man müsse sich nur an die Schreibmaschine setzen und eine Ader öffnen. Das ist bei mir, Gott sei Dank, nicht immer so, aber der schmerzhafte Prozess, durch den die eine oder andere dieser aus dem Herzen kommenden Botschaften endlich zutage traten, lässt sich kaum besser beschreiben.

Trotz alledem werden die Leser in diesem Buch vergeblich nach dramatisch bizarren Häresien suchen. Wir sprechen uns hier nicht dafür aus, Menschenopfer als Standardaktivität bei Gemeindefreizeiten einzuführen, und wir plädieren auch nicht für mehr Toleranz gegenüber denen, die ihre Persönlichkeit gerne durch das Medium des gegenseitigen Massakrierens ausdrücken möchten. Stattdessen werden die Leser Spuren eines geistlich exzentrischen Ringens darum finden, den klaren Verstand, den Humor, die Barmherzigkeit und den kreativen Einfallsreichtum eines Gottes zu verstehen, der häufig aufs Katastrophalste als engstirnig, schlichtsinnig, humorlos und, um ehrlich zu sein, als langweilig missverstanden wird.

Ich habe über Jeffs Briefe eine Menge gelacht, nicht zuletzt, weil sie Schilderungen einiger hochnotpeinlicher Momente enthalten. Ebenso wichtig ist, dass ich ein wenig über sie geweint und viel aus ihnen gelernt habe. Wie könnte ich das auch nicht, wenn ich darin immer wieder einen Mut machenden Blick auf das traurige, aber lächelnde Gesicht Jesu erhaschen konnte?

Kommen Sie und gesellen Sie sich zu uns. Lauschen ist erlaubt. Sie sind uns sehr willkommen.

EINLEITUNG: JEFF

Es war eine geflüsterte Idee beim Abendessen. Adrian und ich besuchten gerade eine christliche Veranstaltung, die so unsäglich langweilig war, dass es uns vorkam, als wäre der Abend als Therapie für Leute gedacht, die an chronischer Schlaflosigkeit leiden. Unsere Blicke schweiften durch den Raum über die halb geschlossenen Augen und herabsackenden Schultern des Publikums, das sich verzweifelt bemühte, gegen den Schlaf anzukämpfen. Der betäubend eintönige Vortrag schien dazu angetan, die Telefonzentrale des Seelsorgenotrufs zum Absturz zu bringen. Da kam uns beiden der Gedanke, es könnte nützlich sein, uns einmal zu unterhalten. Doch damit war eine doppelte Schwierigkeit verbunden. Erstens sind wir beide ständig auf Achse, sodass wir fürchteten, unsere nächste Begegnung im Fleische (ich zögere, diesen Ausdruck zu verwenden, weil ich mir dabei immer vorkomme wie ein Nudist) könnte durchaus eines unserer Begräbnisse sein. Und dann würde unsere Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen, an sehr enge Grenzen stoßen, da ja einer von uns beiden in einer Fichtenholzkiste liegen würde. (Macht mir meine lieber aus Eiche. Fichte ist so was von aus den Achtzigern.)

Das andere Problem ist: Wenn Christen sich zu laut unterhalten, besonders über heikle Glaubensfragen, dann gibt es so eine Sorte selbst ernannter Gedankenpolizisten, die gleich mit Blinklicht und plärrender Sirene zur Stelle sind, um die unglückliche geschwätzige Seele zu verhaften, unter Häresieanklage zu stellen und an Ort und Stelle in Flammen zu setzen. Den Geruch von brennendem Fleisch fand ich noch nie sonderlich verlockend, besonders, wenn es mein eigenes ist. Diese Befürchtung wirkt sich demzufolge etwas dämpfend auf jedes Gespräch aus. Leider bedeutet das, dass viele von uns in ihren eigenen Köpfen gefangen sitzen, eingemauert mit schwierigen Ängsten, Zweifeln und Theorien, ohne die Möglichkeit zu haben, sie zusammen mit allen anderen an die frische Luft und ins Licht der Sonne zu bringen. Das kann ein ziemlich klaustrophobisches Gefühl werden, und nach einer Weile fangen die Mauern im Kopf an, immer mehr zusammenzurücken und einem den Glauben zu einem schrumpfenden kleinen Paket zusammenzuquetschen. Wenn das zu lange so geht, fängt man irgendwann an, sich in Fantasien über einen groß angelegten Fluchtplan aus der Sekte zu ergehen. Wenn die Kirche sich in so etwas wie das Kriegsgefangenenlager Colditz verwandelt und das Wachpersonal mit Maschinenpistolen bewaffnet ist und Fischaufkleber an den gepanzerten Truppentransportern hat, wird es Zeit, einen Tunnel zu graben.

So fassten Adrian und ich den Plan, einen Briefwechsel zu führen. Das bringt natürlich seine eigenen Risiken mit sich, da er ein so brillanter Schriftsteller ist und ich zwar möchte, dass er gut dasteht – aber wenn er so gut dastünde, dass ich daneben wie ein Dorfdepp aussähe, wäre mir das auch nicht recht. Es gab Momente, in denen ich mir angesichts seiner Kunstfertigkeit mit Worten wie ein Bauer vorkam, aber das macht mir nichts aus. Ich kenne Adrian seit Jahren als einen warmherzigen, freundlichen, frustrierten, fröhlichen, traurigen, hoffnungsvollen Kerl, und dieser Austausch hat Spaß gemacht, war heilsam und ging ohne jeden Anflug von Druck vonstatten. Wir hatten die Möglichkeit, unsere Wäsche zu lüften, aber wir mussten sie hinterher nicht gleich säuberlich plätten und mit rasiermesserscharfen Bügelfalten versehen.

Nun also willkommen bei unserem Plausch. Schön, dass Sie sich einen Stuhl genommen haben.

EINS

Lieber Jeff,
in mir ist eine Erinnerung hochgekommen. Es geht um etwas, was mir vor zwanzig Jahren passiert ist, und ich möchte die Geschichte jemandem erzählen. Ich glaube, Du wirst es vielleicht verstehen. Du bist ja immer auf die Wahrheit aus, obwohl Du Christ bist. Außerdem möchte ich Dir von einer faszinierenden Begegnung erzählen, die ich erst vor ein paar Wochen mit einem christlichen Vortragsredner hatte, der behauptete, seinen Glauben verloren zu haben. In gewisser Hinsicht gehören die beiden Geschichten zusammen. Jedenfalls denke ich das.Vielleicht siehst Du es anders. Ich fange mit der Erinnerung an.

Neben dem neuen Supermarkt in unserem Städtchen befindet sich eine Kneipe namens »The Bandolier«, ein anheimelnd windschiefes Haus in Familienbesitz, das wohl aus der spätviktorianischen Zeit stammt. Während der letzten beiden Jahrzehnte ist im Innern eine Menge verändert worden, aber vor zwanzig Jahren gab es dort drei Schankräume. Zwischen der Saloon Bar, in englischen Wirtshäusern traditionell eine etwas elegantere, weniger turbulente Umgebung, und der Public Bar lag als Übergang oder vielleicht auch Pufferzone ein kleiner Verkaufsraum für Wein und Spirituosen, in dem ein teddybärförmiger Mann mit schütterem Haar tätig war, der jede Transaktion mit den unerklärlichen Worten »’n Schönen auch, Chef« abschloss. Die deutlich weniger elegante Public Bar war der Ort, wo man Darts, Billard und Domino spielen konnte. In diesem Teil der Kneipe konnte es bisweilen ziemlich laut und krakeelig zugehen, wenn auch meist auf eine gutmütige Art und Weise. Der dritte Schankraum, auf den es in meiner Geschichte vor allem ankommt, wurde »Snug« genannt. Er war klein, behaglich und im Allgemeinen sehr ruhig. Ein gemütlicher Ohrensessel von einem Raum und ein vorzügliches Außer-Haus-Wohnzimmer für Leute wie mich, die gern in einer Ecke sitzen und sich eines guten Buches und eines Glases Harveys Bitter erfreuen – eines süffigen Biers, gebraut von sterblichen Menschen, doch erdacht und erschaffen von Gott selbst.

Dort ließ ich es mir also an einem frühen Abend im Oktober wohl sein. Ich saß an einem kleinen Tisch in der Ecke und genoss die heilsame Kraft der Ruhe, die Qualität des Biers, die scharfe Frische der Jahreszeit und die meisterhafte Konstruktion von G. K. Chestertons Die Ehre des Israel Gow , meiner Lieblings-Pater-Brown-Geschichte.

Die einzigen anderen Gäste in der Bar waren zwei ziemlich schmuddelige ältere Männer (ganz im Gegensatz zu mir, der ich ein schmuddeliger Mann mittleren Alters war). Was das Bier anging, war ich damals ein Nipper und Genießer, doch diese beiden tranken für England. Sie waren leidenschaftliche Schlucker und Exer, und je mehr von dem goldenen Nass sie sich in die Hälse schütteten, desto heftiger stritten sie miteinander. Es wurde immer schlimmer, immer lauter, immer zusammenhangloser. Fäuste krachten auf Tische, Stühle ratschten über die Dielen, bis sich schließlich die anheimelnd bierige Atmosphäre vor Flüchen und Schimpfwörtern blau färbte und die beiden Streithähne sich auf ihre nicht mehr ganz standsicheren Beine erhoben, um ihre Meinungsverschiedenheit auf höherer Ebene weiter auszutragen.

Das gab dem Wirt sein Stichwort.

Dieser Zeitgenosse von eindrucksvoller Leibes- und Autoritätsfülle betrieb die Kneipe seit vielen Jahren. Tom war zu allen seinen Gästen freundlich und zuvorkommend, aber schlechtes Benehmen duldete er nicht. Wer Ärger machte, flog raus. So einfach war das. Er und ich hatten uns hin und wieder ein wenig unterhalten. Zu dieser Zeit unseres Lebens traten Bridget und ich (übrigens, liebe Grüße von uns beiden an Kay) fast jeden Abend spät in einer Fernsehsendung namens Join the Company auf. Ausgestrahlt im Süden Englands vor den Zeiten des Rund-um-die-Uhr-Fernsehens, war dies der letzte Programmpunkt vor dem kleinen, in die Ferne entschwindenden weißen Punkt, an den sich heute kaum noch jemand erinnert. Darin ging es um eine Gruppe von vier oder fünf Leuten, zumeist Christen, die um einen Tisch saßen und sich über Liebe, Tod, Sex, Krieg, Finanzen, Trauerfälle und andere Fragen unterhielten, die sich leicht in einem Zeitraum von nicht mehr als zehn Minuten besprechen lassen.Weil die Sendung erst so spät lief, bestand unser Publikum größtenteils aus Leuten, die an Schlaflosigkeit litten, aus Taxifahrern, Leuten, die gerade noch Snooker geschaut hatten und noch nicht dazu gekommen waren, ihren Fernseher auszuschalten, belustigten Studenten, Polizisten, Nachtwächtern, Leuten mit Depressionen und natürlich aus Kneipenwirten. Ich wusste, dass der Wirt des »Bandolier« sich diese mehr oder weniger christliche Sendung schon recht häufig angesehen haben musste, denn er hatte mich schon hin und wieder auf meine Mitwirkung dabei angesprochen.

Mit Getöse kam Tom ins Snug gestampft. Eine finstere Miene lag auf seinen großflächigen Gesichtszügen.

»He, ihr beiden!«, donnerte er. »In meiner Kneipe wird nicht geflucht! Raus! Aber dalli!«

Dann stieß er zu meinem unaussprechlichen Entsetzen seine schinkengroße Hand in meine Richtung und gab, wie um seinem Vorgehen den letzten Rest an Rechtfertigung zu verleihen, die folgenden erschütternd unvergesslichen Worte von sich:

»Da sitzt ein frommer Herr in der Ecke. Raus!«

Mit einer solchen Urgewalt war nicht zu feilschen. Nach einer kurzen Dick-und-Doof-Szene, die sich noch in der Tür abspielte, schlurften die Missetäter hinaus in die frische Herbstluft, ohne ihre gegenseitigen Beschimpfungen zu unterbrechen. Daraufhin kehrte Tom, nachdem er die Beendigung der Affäre mit einem nachdrücklichen Nicken und einem Schlag beider Handflächen auf den Tresen besiegelt hatte, zu seinen Pflichten in der Public Bar zurück. Ich blieb in trostloser Einsamkeit zurück. Mein Band mit Kurzgeschichten lag ungelesen da. Von meinem großen Glas Harvey’s hatte ich noch nicht einmal genippt.

Ich war also ein frommer Herr, der in der Ecke saß. Dass Leute aus der Kneipe geworfen wurden, weil sie fluchten, lag teilweise an mir. Zweifellos hätte Tom genau das Gleiche getan, wenn ich gar nicht da gewesen wäre, aber ich spürte, wie mir die Wangen rot anliefen bei dem bloßen Gedanken, meine »Frömmigkeit« tauge lediglich als negative Motivation für Heiden, ihre Zunge im Zaum zu halten. So viel zum Thema herausforderndes Christsein, was? Die beiden alten Kerle, die mehr getrunken hatten, als gut für sie war, waren in die Finsternis hinausgeworfen worden, während ich mit meinem Bier und meinem Buch im warmen Snug bleiben durfte. Ich weiß noch, wie ich einmal einen Witz über einen irischen Christen gemacht hatte, der Bibeln aus China heraus schmuggelte und darüber staunte, dass die Grenzwachen sie wie durch ein Wunder nie zu bemerken schienen, aber im »Bandolier« war mir sozusagen dasselbe passiert. Das Leben des Evangeliums wurde auf den Kopf gestellt. Jesus geht in die Kneipe, und die Stammgäste fliegen im hohen Bogen hinaus. Ach je …

Die Sache ist die, Jeff. Mag sein, dass ich da auf ein bestimmtes Ereignis überreagiert habe, aber an diesem Tag wurde so eine Art Keim in meinen Verstand oder meinen Geist gesetzt. Es war der Keim der Entscheidung, dass ich weder in einem metaphorischen noch in sonst irgendeinem wesentlichen Sinn als frommer Herr in der Ecke enden würde. In der Kirche gibt es reichlich genug davon, ohne dass ich das Problem auch noch größer mache. Ich hoffe, wir werden noch in so mancher Kneipe zusammensitzen, Du und ich. Aber lass uns dann nicht fromm sein. Lass uns lediglich genauso gentlemanlike sein wie Jesus, und lass uns so viele Leute wie möglich zu uns in die Ecke einladen. Was meinst Du?

Und nun die zweite Geschichte, die noch nicht so lange zurückliegt.

Eines Tages rief mich ein Mann an. Ich war ihm noch nie begegnet und konnte mit seinem Namen nichts anfangen, aber er erzählte mir, er sei einige Jahre lang als christlicher Vortragsredner und Evangelist unterwegs gewesen, nachdem er sich vom Islam zum christlichen Glauben bekehrt hatte.

»Die Sache ist die«, sagte er. »Ich habe meinen Glauben verloren. Ich glaube das ganze Zeug einfach nicht mehr. Gott ist nicht gleich hinter der nächsten Ecke. Er greift nicht in unser Leben ein, und alles, was ich den Leuten jahrelang erzählt habe, war nur ein Haufen Unsinn. Ich dachte mir, dass wir beide uns vielleicht mal treffen und darüber reden könnten, was mit mir passiert ist.«

Ich stimmte ein wenig nervös zu, und so trafen wir uns in einem kleinen Café in der Nähe der Brighton Lanes, wo man hervorragend essen und Kaffee trinken kann. Mein neuer Freund (ich werde ihn Ted nennen) erzählte mir alles noch einmal, was er mir schon am Telefon erzählt hatte, und dann noch eine Menge mehr. Es hörte sich ziemlich nachdrücklich und endgültig an, wie er davon sprach, er habe sogar den Glauben an die Existenz Gottes völlig verloren. Die ganze Zeit über schrie ich, wie es in solchen Situationen meine Art ist, innerlich zu Gott und bat ihn, mir irgendetwas Dynamisches und Nützliches zu geben, was ich dem Mann sagen konnte.