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Herbert Jost-Hof / J. Martin Faulkner

Vintage-Glamour

Geschichte als totales Designprinzip

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-012-3

Korrektorat: Berenike Schaak

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2015

www.omnino-verlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Vorworte der Autoren

Herbert Jost-Hof: Der Beginn eines Abenteuers

J. M. Faulkner: Bekenntnisse eines Überzeugten

I. Die Vintage-Bewegung in England – Eine Spurensuche

1. Am Anfang war das Wort – Vintage im historischen Kontext

1.1 Vintage verstehen – Eine Begriffsdefinition

1.2 Die Ursprünge des Phänomens – Von den 1960er-Jahren bis heute

2. Zeichen, nicht nur an der Wand – Die Symbole der Vintage-Bewegung

2.1. Ein Satz mit unzähligen Variationen – Keep calm and carry on

2.2 Heimweh mit Zuckerguss – Die Cupcakes

3. Die Säulen der Nostalgie – Über die Quellen der Vintage-Begeisterung

3.1 Vintage-Pioniere – Die Vorreiter

3.2 Vintage (er)leben – Tanz und Bühne

3.3 Vintage zeigen und propagieren – Der Einfluss der Medien

3.4 Vintage-Design und Mode – Look und Glamour der Vergangenheit

3.5 Vintage kaufen und verkaufen – Der Gebrauchtwarenmarkt

3.6 Vintage bewegen und bewegt sein – Autos und Eisenbahnen

3.7 Vintage darstellen und vermitteln – Lebendige Geschichte

II. Klare Standpunkte – Gespräche über die Vintage-Szene

1. Dawn – Historikerin, Lehrerin und Künstlerin

2. James und Shona – Inhaber eines Modegeschäfts

3. Len – Zeitzeuge und Veteran

4. Lisa – Kuratorin der Kostümsammlung im Museum Norwich

5. Natasha – Archäologin, Anthropologin und Historikerin

6. Paula – Buchhalterin und Vintage-Anhängerin

7. Rob – Vintage-Unternehmer

8. Ruth – Kuratorin der Kostümsammlung im Museum Norwich

9. Tracey – begeisterte Vintage-Anhängerin

10. Heidi – PR-Leiterin eines Museums

11. Sabine – Übersetzerin in Paris

III. Theorien und Erklärungen – Gedanken zur Urteilsfindung

1. Überzeugungstäter und Mitläufer – Menschen in der Vintage-Szene

2. Mode, Markt und Postmoderne – Zur ‚Physik‘ der Vintage-Bewegung

2.1 Aspekte der Postmoderne – Die Geschichte als Baukasten

2.2 Gesetze der Mode – Leben zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung

2.3 Prinzipien des Marktes – Die Dynamik sich selbst verzehrenden Feuers

3. Vintage aus Überzeugung, Frustration oder einer Laune – Die soziologische Sicht

4. Das andere postmoderne Leben – Außerhalb der englischen Vintage-Szene

Anhang

Danksagung

Abbildungsnachweis

Quellenverzeichnis

Online-Artikel

Anmerkungen

Vorworte der Autoren

Herbert Jost-Hof: Der Beginn eines Abenteuers

Eines Tages im Sommer 2013 betrat ich in der hessischen Kleinstadt, in der ich wohne, den Copy-Shop, machte die von mir benötigten Kopien und als ich an der Kasse stand, war ich doch sehr erstaunt, dort u. a. das Angebot eines Schokoladenriegels mit der Aufschrift Keep calm and eat chocolate (etwa ‚Bewahre die Ruhe und iss Schokolade‘) vorzufinden.

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Herbert Jost-Hof in einer Bibliothek auf der Spur des Phänomens Vintage.

Was mich daran überraschte, war nicht der Umstand, dort Süßigkeiten kaufen zu können. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der Post-Filialen Reisegutscheine anbieten und in der man an jeder Tankstelle nicht nur seinen Wagen mit Benzin, sondern auch sich selbst mit Sekt und anderem Alkohol betanken kann. Nein, meine Verwunderung galt der Aufschrift dieses Riegels und ihres Layouts, das eindeutig eine der unzähligen Varianten des in England enorm verbreiteten Slogans Keep calm and carry on (etwa ‚Bewahre die Ruhe und mach' weiter‘) darstellt.

Er ist inzwischen zu so etwas wie einem der Symbole der britischen Nostalgie-Bewegung geworden, weshalb er auch in diesem Buch entsprechende Würdigung erfahren wird. Also hatte es dieses Zeugnis eines in Deutschland wenig bis gar nicht bekannten Phänomens nun auch zu uns geschafft, obwohl die meisten Menschen hier kaum von seinem Ursprung oder seiner Bedeutung wissen. Was übrigens auch für mich selbst gegolten hätte, wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht schon eine gewisse Zeit lang mit der Betrachtung der englischen Vintage-Szene befasst gewesen. Was, wie die meisten Dinge im Leben, durchaus nichts mit Zufall zu tun hat.

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Ein Schokoriegel mit Botschaft: Keep calm and eat chocolate.

Tatsächlich glaube ich, es war unvermeidlich, dass mein englischer Partner (John) Martin Faulkner und ich uns dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Wenn auch unser Interesse an dem Gegenstand auf unterschiedlichen Motivationen beruht und wir ihn aus verschiedenen Perspektiven betrachten, erscheint es fast natürlich, dass wir uns auf jenen Prozess einließen, der schließlich den Ihnen vorliegenden Text hervorgebracht hat.

Am Beginn unseres Projekts erschienen viele Dinge noch vage. Es gab Ideen und Theorien in Hülle und Fülle und wir wussten von Anfang an, wir würden eine Menge recherchieren und eine Reihe von Menschen befragen müssen, die in unterschiedlicher Form Teil der Vintage-Bewegung sind oder ihr nahestehen. Mit jeder neuen Information, jeder neuen Meinungsäußerung, die uns erreichte, wurde der Gegenstand zunehmend komplexer und interessanter. Als wir uns schließlich mit dem Einfluss der (Massen-)Medien befassten, kamen wir an einer Person und ihrem Werk nicht vorbei: Agatha Christie. Sie ist nicht nur unerreicht in ihrem Erfolg als Kriminalschriftstellerin. Niemand anderem ist es gelungen, die Essenz des Britisch-Seins so einzufangen und zu transportieren, wie sie es in ihren Geschichten getan hat. Seit Jahrzehnten leben Millionen und Abermillionen Menschen in England und der ganzen Welt mit den von ihr geschaffenen Bildern und Vorstellungen typischer englischer Kultur in ihren Herzen und ihren Köpfen. Das ist ein bedeutender Teil des großen Vermächtnisses dieser ungewöhnlichen Frau.

Mit dem insgesamt so anheimelnden, obwohl immer wieder von Morden erschütterten ländlichen Idyll einer Miss Marple und mit der hohen Kunst des Tötens in der gepflegten Atmosphäre der Englischen Oberschicht, in der Hercule Poirot stets aufs Neue zum Einsatz seiner berühmten grauen Zellen animiert wird, hat sie einen zeitlosen und höchst attraktiven, das Publikum und seine Phantasie vereinnahmenden und prägenden Entwurf britischer Realität geschaffen, der wesentlich mit der Zeit der 1920er bis 1950er-Jahre verbunden ist. Bei eingehenderer Betrachtung ihrer unsterblichen Kriminalisten stießen wir zu unserem Erstaunen auf eine gewisse Parallele zu unserer eigenen Arbeit an diesem Buch. Miss Marples Genialität beruht darauf, dass sie ein Insider ist, hingegen ist Hercule Poirot als Belgier ein Außenstehender. Miss Marples Brillanz beruht auf ihrer Intuition, die sich auf ihre Erfahrung mit ihren Mitmenschen stützt, Poirots hingegen auf seinem Verstand. In gewisser Weise sind unsere Voraussetzungen und Ansätze ähnlich … Martin ist Engländer und ich bin Deutscher … er war ein Teil der Vintage-Bewegung und ist so durchaus emotionaler beteiligt, während ich sie mit dem distanzierten und sachlicheren Blick eines interessierten Forschers betrachte …

Anders als Mrs. Christies findige Charaktere nehmen wir nicht in Anspruch, diesen von uns übernommenen Fall zu lösen. Es bleibt Ihnen überlassen, sich einen Eindruck von der Vintage-Bewegung zu verschaffen und sich vielleicht auch über dieses sehr interessante soziale Phänomen ein Urteil zu bilden. Im ersten Teil des Buches werden wir so zunächst einige Facetten der überaus lebendigen, großen und vielgestaltigen Vintage-Szene aufzeigen. Es ist jedoch unmöglich, all ihren Protagonisten männlichen oder weiblichen Geschlechts gerecht zu werden, all ihren Motiven nachzuspüren, ihre Stimmungen und Meinungen wiederzugeben. Selbst wenn in diesem Zusammenhang etwas Ähnliches wie die üblichen Verdächtigen existieren sollten, wären das noch immer zu viele, um sie alle hier zu zitieren.

Martin Faulkner kann aufgrund seiner persönlichen Vorgeschichte und seiner Interessen aus persönlichem Erleben berichten und wird das hier auch tun: Überall dort, wo im ersten Teil des Textes Passagen in einer anderen Typografie gedruckt sind, spricht er gewissermaßen direkt zu Ihnen, um Sie an seinen Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken teilhaben zu lassen. Wir werden Ihnen Definitionen, Fakten und Interpretationen präsentieren, manchmal auch sehr persönliche Stellungnahmen, die auf eigener Wahrnehmung und Erfahrung beruhen.

Im zweiten Teil werden wir Ihnen einige Menschen vorstellen, die wir interviewt und zu ihren Erlebnissen, Meinungen und Einschätzungen befragt haben. Der dritte Teil des Buches ist gewissermaßen der Theoriebildung gewidmet. Es geht darum, einige wichtige Begriffe des wissenschaftlichen Diskurses einzuführen und die Vintage-Bewegung zu ihnen in Bezug zu setzen. Wir erachten das als erforderlich, um zu erklären, wie diese Bewegung im heutigen England zu verstehen ist, welche Rolle sie spielt für die Menschen, die sich ihr in unterschiedlichem Maße und in verschiedener Form angeschlossen haben und worin ihre gesamt-gesellschaftliche Bedeutung besteht.

John Martin Faulkner: Bekenntnisse eines Überzeugten

Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, mich an diesem Projekt zu beteiligen, war ich zunächst besorgt, dass es nicht genügend Material gäbe, um solch ein Buch zu füllen. Was ließ sich schon sagen über die Vintage-Bewegung, das nicht allein durch ihre bloße Existenz für den Beobachter und erst recht den Beteiligten ganz und gar offensichtlich war? – Wie sehr ich mich irrte!

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John Martin Faulkner: Künstler und Therapeut, im Garten von Buckingham Palace.

Nachdem wir einmal begonnen hatten, erkannten wir rasch, die Büchse der Pandora geöffnet zu haben; und wir stellten fest, dass jeder Weg, dem unsere Recherchen folgten, zu einem anderen führte, an den wir vorher nicht gedacht hatten – mit Kreuzungen und Sackgassen, Einbahnstraßen, Doppelbödigkeiten, unerwarteten Verbindungen, woraus sich die Notwendigkeit ergab, auch auf die allerkleinsten und mitunter unwahrscheinlichen Hinweise zu achten. Dieser ganze Prozess hat mich wiederholt dazu geführt, meine eigenen Empfindungen gegenüber der Vintage-Szene zu überprüfen und hat mein Verständnis für ihre Ursprünge und für die Motivationen der an ihr beteiligten Menschen vertieft. Das wiederum hat sich als extrem nützlich dafür erwiesen, meine persönliche Rolle in der Szene und die meiner Arbeit für die Szene besser zu verstehen und in Folge dessen zu verfeinern. Es war höchst faszinierend und ich habe sehr viel daraus gelernt. Bedeutsam daran ist, dass ich nach 30 Jahren aktiver Mitgestaltung in der Szene mein Wissen, meine eigenen Motive und Ziele als bekannt annahm, wie man das eben so tut. Die Arbeit an dem Buch veränderte das und wurde in gewisser Weise für mich zu einem Stück Selbstfindung und -erkenntnis. Meiner Arbeit hat das gut getan, ein sehr willkommener Nebeneffekt, wie ich zugeben muss.

Aber vielleicht sollte ich Ihnen kurz umreißen, wer ich bin und wie ich dorthin gekommen bin, wo ich mich jetzt befinde. Ich wurde in einer Zeit geboren, die in Großbritannien das Ende einer Ära darstellte: die der Dampflokomotiven. Wir lebten in London, gleich neben dem größten Rangierbahnhof im Norden der Stadt, der entsprechend die nördlichen Express-Routen bediente. Da selbst noch in den 1960er-Jahren die bezahlbaren Vergnügungen rar waren für junge Ehefrauen von einfachen Seeleuten, wie meine Mutter eine war, gingen wir oft den steilen Hügel hinauf zur Brücke über die Bahngleise, wo wir uns dann bei gutem Wetter eine Weile niederließen und den Zügen zusahen, die kamen und gingen, darunter auch einige der letzten mit Dampf getriebenen Lokomotiven. Damals entfachte sich meine Leidenschaft zu Dampflokomotiven. Als ich vier Jahre alt war, bekam ich zu Weihnachten einen aufziehbaren Zug, zwei Jahre später eine elektrische Eisenbahn. Selbst in diesem Alter konnte ich erkennen, dass Dampfmaschinen etwas waren, was in eine Zeit gehörte, die man Vergangenheit nannte und die vor meiner Geburt lag. Ich weiß noch, wie sehr ich mir wünschte, in ihr zu leben. Wenn man einmal anfängt, sich ernsthaft in Bücher über Eisenbahnen zu vertiefen oder seiner Anlage Zubehör hinzuzufügen, bekommt man notwendigerweise einen Blick dafür, wie Dinge aussehen oder auszusehen haben – Häuser, Lieferwagen und andere Autos, Menschen. Ist man, wie ich es bereits als Kind war, zumindest ein wenig obsessiv, verspürt man natürlich den Ehrgeiz, all diese Details wirklich möglichst authentisch zu gestalten. Also befasst man sich ganz intensiv mit entsprechender Literatur und mit Fotografien von Zügen in Bahnhöfen und Landschaften. Die Tatsache, dass meine Eltern mich auch seit meiner frühen Kindheit mit Matchbox-Spielzeugautos beschenkten, führte unweigerlich zu einer ähnlichen Liebe für Oldtimer. Nun wurden Eisenbahn und Autos zwar nicht nur erfunden, um Menschen zu transportieren, aber wenn diese Menschen zu den Zügen und Autos passen sollten, mussten sie die richtige Kleidung der jeweiligen Zeit tragen. Sie ahnen schon, wohin das führt. Nehmen Sie als letzte Bedingung noch hinzu, dass ich schon immer gemalt habe, seit ich auch nur einen Stift halten konnte und später das Zeichnen zu meiner anderen großen Leidenschaft wurde, dann ist wohl klar, dass ich mich damit beschäftigte, Züge und Autos mit Menschen und allem Zubehör zu zeichnen und später auch damit, meine eigenen Modelle zu bauen. Das bis dahin noch sehr rudimentäre und eher beiläufige Interesse an Mode bekam eine Initialzündung, als ich neun Jahre alt war und zum ersten Mal den Film Thoroughly Modern Millie[1] sah, wodurch ich augenblicklich auf die Mode der 1920er-Jahre als Thema fixiert wurde. Ich erinnere mich, dass ich schon am nächsten Tag vor meinem Skizzenbuch saß und aus der Erinnerung Kostüme aus dem Film nachzeichnete, speziell die, die Julie Andrews getragen hatte. Dieser Film ist mir für immer ans Herz gewachsen und ich kann ihn auch heute noch sehen, ohne mich im Geringsten dabei zu langweilen. Bleiben wir bei den Verbindungen, dann ist das letzte Puzzle-Teilchen die Musik, die untrennbar mit Tanz und Mode verbunden ist. Meine Mutter war in den 1950er-Jahren aufgewachsen und liebte die Musik dieses Jahrzehnts. Dadurch, dass sie in meiner Kindheit diese Lieder zu Hause gespielt hat, nahm sie auch Einfluss auf meinen Musikgeschmack. Dergestalt früh geprägt und durch die Art, wie sich diese Musik mit meinen anderen Interessen harmonisch verbinden ließ, konnte ich wohl nie zeitgenössischer Pop-Musik etwas abgewinnen. Mein Geschmack schien vom Jahr meiner Geburt an rückwärtsgewandt und entwickelte sich über Rock'n'Roll, Swing, der Musik britischer Tanzorchester, frühem Jazz und Ragtime zur klassischen Musik hin. Als die Zeit nahte, die Schule zu verlassen, wusste ich, ich wollte Künstler werden; dementsprechend war eine Kunsthochschule die naheliegende Wahl. Ich spezialisierte mich auf Grafisches Design und Illustration. Es war nicht schwer zu entscheiden, mich auf die Reproduktion der Stile jener Zeiten zu konzentrieren, die ich kannte und so sehr liebte. Genau das tat ich, sobald ich genügend professionelle Erfahrung gesammelt hatte, um mich selbständig zu machen. Ich erstand einen Morris Minor aus den sechziger Jahren, der allerdings in dieser Form unverändert seit 1948 produziert worden war, was ihn für mich akzeptabel machte. Er ist die englische Variante eines amerikanischen Holzkombis aus den 1940er-Jahren. Natürlich begann ich auch, mich passend dazu im Stil der 1940er-Jahre zu kleiden. Dann kam eine unerwartete, jedoch in der Rückschau fast unvermeidliche Wendung: Meine Cousine Monica, mit der ich aufgewachsen war, wollte Tanzen lernen, um bei der Weihnachtsfeier der Firma, für die sie arbeitete, ihren Chef zu beeindrucken. Dummerweise hatte sie niemanden, der sie als ihr Tanzpartner begleiten würde. Ich war schrecklich schüchtern zu dieser Zeit und blieb lieber im Hintergrund. Doch meine Mutter gab mir einen Schubs und sagte: „Du magst doch Tanzmusik und wolltest immer lernen, wie man tanzt – warum nutzt du nicht diese Gelegenheit?“. Mir ist gut in Erinnerung, wie wenig mir diese Aufforderung gefiel. Auch wenn ich dem Argument widerwillig zustimmen musste, schätzte ich es überhaupt nicht, dergestalt in die Enge getrieben zu werden. Wir suchten uns also eine Tanzschule in der Nähe und ich war von Anfang an begeistert. Nachdem ich all die Jahre als Kind und Jugendlicher immer völlig unsportlich gewesen und jegliche Form physischer Ertüchtigung nach Möglichkeit vermieden hatte, war wohl niemand mehr überrascht, als ich selbst, in mir einen Tänzer zu entdecken, für den diese Art der Bewegung völlig selbstverständlich, natürlich und hochgradig motivierend war. Als Monica schließlich über ihre Katze stolperte und sich die Zehen brach, machte ich ohne sie weiter, mit immer größerer Begeisterung, bestand sämtliche Prüfungen und wurde zu einem professionellen Tänzer. So verdanke ich dieser Katze eine ganze Menge. Denn als Monica ausfiel, lernte ich die Dame kennen, die schließlich meine professionelle Tanzpartnerin werden sollte.

Wir wurden Ruby Fox und Johnny Martin, die originäres Entertainment im Stil Hollywoods boten u. a. im Auftrag der berühmtesten Hotels und Clubs in London und in bedeutenden TV-Produktionen wie etwa Poirot.

Eine weitere bizarre Wendung des Schicksals brachte mich später zusammen mit meiner nächsten professionellen Tanzpartnerin, Miss Dawn Purkiss, der Gründerin und Direktorin der Tanz- und Theatercompagnie Baroque' n' Roll, der ich mich als Erster Tänzer und künstlerischer Direktor anschloss. Die Gruppe deckt mit ihrem Repertoire Tänze aus 500 Jahren ab, von 1485 bis 1960. Unser Einsatzgebiet reichte von First Class Hotels über private Veranstaltungen und Kostümfeste bis zu Museen und Unterrichtseinheiten in Schulen.

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J. M. Faulkner als Johnny Martin, Pionier der Vintage-Bewegung, in den 1980er-Jahren.

Obwohl ich heute nicht mehr als Tänzer auftrete, bin ich noch immer im Bereich Bildung und Erziehung in vielfältiger Weise aktiv. Dazu gehören Vorträge zu kulturgeschichtlichen Themen anlässlich wissenschaftlicher Veranstaltungen wie des Internationalen Symposiums der Costume Society 2013 in Norwich, aber auch speziell produzierte historische Programme für Veranstaltungen wie Village At War (Dorf im Krieg) des Museums Gressenhall sowie die Beratung von öffentlichen Einrichtungen wie der Textilsammlung des Museums der Stadt Norwich.

Heute fließen all die unterschiedlichen Vorlieben und Erfahrungen meines Lebens in meiner Arbeit zusammen und formen eine Einheit. Das ist ein gutes Gefühl und ich bin dafür sehr dankbar – nicht zuletzt, weil mich mein Weg nun hierher geführt hat, zur Arbeit an diesem Buch, das Sie in Händen halten und von dem ich hoffe, es wird Ihnen Freude bereiten und vielleicht auch ein paar Anregungen und Einsichten vermitteln.

I. Die Vintage-Bewegung in England – Eine Spurensuche

1. Am Anfang war das Wort – Vintage im historischen Kontext

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„Nur wo ‚Vintage‘ draufsteht …“ – Die Büchse der Pandora für alle, die sich mit dem Phänomen befassen.

Wenn Sie das Wort Vintage in Ihre Internet-Suchmaschine eingeben, wird Ihnen sogleich ein ebenso interessantes wie imposantes und aufschlussreiches Angebot von Definitionen und Verweisen präsentiert werden: Absolute Vintage, Vintage Home, vor retro, vintage als qualifizierende Altersangabe für Wein – hier liegt der Ursprung des Begriffs, der sich deshalb nicht wirklich ins Deutsche übersetzen lässt –, für Automobile, Definitionen von Jahresangaben, im Zusammenhang mit Möbeln, Shabby Chic und bezeichnenderweise sogar die Frage, ob die Begriffe Vintage und Antik die gleiche Bedeutung haben. Im Zusammenhang mit Kleidung hat sich eingebürgert, damit alles zu bezeichnen, was über 20 Jahre alt ist[2]. Geht es um Autos, werden Fahrzeuge mit diesem Begriff belegt, die zwischen 1919 und 1930 gebaut worden sind, je nachdem, wer das Wort benutzt. Weiter gefasst kann es alles von 1919 bis 1945 oder sogar 1960 einschließen – und dann haben wir da ja noch post-vintage, klassisch, von der Verwendung für Weine ganz zu schweigen. Es ist ziemlich verwirrend.

Wir als Autoren dieses Buches vertreten natürlich unsere eigene Meinung zu dieser Frage, die innerhalb unserer Ausführungen ihren Ausdruck finden wird. Klar ist, das wird niemand bestreiten, der die gegenwärtige Pop-Kultur in England beobachtet, dass Vintage sich zu einer Massenbewegung entwickelt hat[3], mit allen dazugehörigen bzw. daraus folgenden Konsequenzen. Während der letzten etwa zehn Jahre hat sich eine regelrechte Explosion der Vintage-Szene vor allem in England und sehr viel reduzierter auch in einigen anderen Ländern ereignet. In Großbritannien begann sie als eine zunächst in ihrem Umfang und ihrer Beachtung sehr beschränkte, etwas absonderliche, exzentrische, altmodische (soweit der Kleidungsstil und die Musik betroffen sind) Angelegenheit, die teilweise mitunter Elemente des Underground aufwies. Doch sie entwickelte sich bis heute zu einer inzwischen sogar stilistisch tonangebenden Mainstream-Bewegung von großer Bedeutung – nicht allein für ihre Anhänger[4], sondern für die gesamte populäre Kultur in England und damit auch für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Anders gesagt: Niemand mit einem Bewusstsein davon, was in England auf der Straße, in den Geschäften und in den Medien vor sich geht, kann die Existenz und Beliebtheit der Vintage-Szene leugnen. Sie ist allgegenwärtig und sie ist in vielerlei Hinsicht prägend, als signifikanter Einfluss auf Design und als Mode-Trend, als selbstgewählter Lebensstil von Enthusiasten und Puristen. Tatsächlich haben unsere Recherchen, zu denen nicht zuletzt auch eine Reihe von Interviews gehörte, zu unserem eigenen Modell dieses Massenphänomens geführt, das wir speziell im dritten Abschnitt des Buches darstellen und erläutern werden. Zuvor werden wir uns jedoch mit der Geschichte der Vintage-Bewegung beschäftigen und einige ihrer wichtigsten Einflüsse betrachten.

1.1 Vintage verstehen – Eine Begriffsdefinition

Die Frage, was Vintage ist, lässt sich wohl nur beantworten, wenn man versucht, zwischen der sich natürlich vollziehenden Entwicklung und der öffentlichen Akzeptanz eines Stils oder einer Bewegung eine Art Ausgleich herzustellen. Dieses Gleichgewicht kann sich im Laufe der Zeit jedoch immer wieder verschieben: Erhält ein Stil oder eine Bewegung eine etwas größere Anerkennung, verändern sich auch seine Natur und seine eigenen oder ihm zugeschriebenen Definitionen und damit sogleich das, was per definitionem mit ihm assoziiert wird. So hat z. B. der Begriff Art Déco gar nicht existiert, bis in den 1960er-Jahren eine Neubelebung des Stils einsetzte und er wieder modern und damit auch diese Bezeichnung geprägt wurde[5]. Zuvor hatte sich die Bezeichnung ausschließlich auf die Pariser Ausstellung Arts Décoratifs von 1925 bezogen[6] und vieles von dem, was wir heute unzweifelhaft mit dem Ausdruck Art Déco belegen, war Stromlinienform, Moderne, Bauhaus, Modernismus – alles unterschiedliche und eigenständige Design-Bewegungen. Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass nicht alles, was in den 1920er- und 1930er-Jahren entstand, Art Déco ist[7] und nicht alles, was Art Déco ist, aus den 1920er- und 1930er-Jahren stammt. In Amerika beispielsweise, wo Design und Produktion weniger vom Zweiten Weltkrieg beeinflusst waren, wird Art Déco als bestimmend von 1920 bis 1950 wahrgenommen. In England war sein Einfluss in der Vorkriegszeit eher zufällig als absichtlich spürbar, dafür jedoch noch immer präsent in den Fünfzigern und den frühen Sixties. Hinsichtlich Kunst und Design hat er seine Ursprünge, besonders auf dem Europäischen Kontinent, bereits um 1909 oder sogar schon früher, wenn man nicht nur seine frühesten auffindbaren Ausdrucksformen, sondern seine Manifestation in den Arbeiten von Designern wie Mackintosh und der Wiener Sezession berücksichtigt, obwohl diese dem Jugendstil zugerechnet werden. Ähnliches gilt für den Gebrauch des Begriffs Antiquität innerhalb des Antiquitätenhandels. Normalerweise muss ein Gegenstand wenigstens 100 Jahre alt sein, um das Etikett antik rechtmäßig zu tragen. Je weiter die Zeit also voranschreitet, desto mehr Dinge, die einst modern waren, werden antik. Die Beschleunigung in der Weise, wie wir neue Artikel und neue Stile produzieren und konsumieren, hat zur Folge, dass überall diese 100-Jahre-Regel immer weiter reduziert wird und Gegenstände, die deutlich jüngeren Datums sind, heute durchaus als antik akzeptiert werden. Dies gilt insbesondere, wenn sie auch als Stücke von klassischem Design angesehen werden, was als akzeptabler Wertmaßstab erachtet wird. Die Parallele hierzu im Kontext der Kleidung ist, dass wir vor 25 Jahren post-antike Garderobe als zeitgeschichtlich bezeichneten und mit Vintage und Retro alles gemeint war, was sich nach 1950 entwickelt hat. Jetzt sind diese Grenzen erheblich verwischt. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass heute die Moden schneller wechseln, als die Gesellschaft als Ganzes sie so aufnehmen kann, wie sie es in der Vergangenheit getan hat. Von etwa der Wende des 19. Jahrhunderts bis ungefähr zu den 1980er-Jahren hielt sich jede unterschiedliche und klare Mode für etwa ein Jahrzehnt, bevor die Zeit reif für den nächsten Wechsel war.

Doch seit den 1980er-Jahren haben sich Kleidermoden, visuelle Kunst und Ausstattungsdesign aufgesplittert und ihre Richtung verloren, wobei sie sich heftiger Anleihen, insbesondere bei den Stilen der Vergangenheit, bedienten. Mag sein, das ist ein Zeichen dafür, dass wir unsere Identität und das Verständnis für unseren Platz in der Geschichte verloren haben, etwas, was früher selbst in Zeiten großer Traumata, sozialer oder politischer Umbrüche einfach nicht geschehen ist. Wenn überhaupt ein Effekt auftrat, so schien er sogar in einer Stärkung der visuellen Identität der Gesellschaft zu bestehen. Das frappierendste Beispiel hierfür ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die eine unglaublich starke, sofort erkennbare visuelle Identität hervorbrachte. So ist die Popularität des Vintage-Stils vor allem auf die 1940er-Jahre fokussiert, was auf den ersten Blick sehr ironisch wirkt, aber auch darüber Aufschluss gibt, wie unsicher und instabil unsere Gegenwart und Lebenswelt empfunden wird: mit ihrem Klima aus wirtschaftlicher Rezession, Umweltzerstörung, Auflösung der biologischen und sozialen Geschlechter-rollen und -identitäten und Generationszugehörigkeit, der unsicheren Arbeitsmärkte und politischen Ungereimtheiten. Vielleicht kann aus dem Rückbezug zu einer Zeit stärkerer Identität gefolgert werden, dass die Essenz der subtilen und authentischen Bedeutung des Begriffs Vintage nicht die Idee einschließen muss, den Ursprung des jeweiligen Gegenstands oder des Stils an sich in einer anderen Zeit zu verorten. So dass es eher darum geht, ihn als Manifestation klassischen, ästhetisch ansprechenden Designs und hochwertiger Verarbeitung zu erkennen, egal aus welcher Periode er stammt. Das bedeutete dann, es geht um den diesen Vorgaben entsprechenden, in ihm verkörperten Geist, um Vorstellungen von Schönheit, Funktionalität, Eleganz und Qualität.

Bis vor kurzem wurde der Begriff Vintage im Zusammenhang mit Kleidung mehr in Amerika als in England benutzt. Hierbei hat sich vor allem bei Kleidungsstücken die Bedeutung ‚mehr als 20 Jahre alt‘ eingebürgert.

Doch diese Definition bezieht sich tatsächlich eher auf den Modetrend der angesagten Geschäfte: eine Vermischung aus wiederaufbereiteten Stilen und Modeeinflüssen der Vergangenheit plus kommerziellen Recyclings oder Upcyclings, wie es jetzt genannt wird, von Secondhandkleidung, das oft sogar eine Überschneidung aufweist zu jenem Stil der 1980er-Jahre, den wir noch als Grunge kennen.

Auch Mainstream-Mode-Labels haben Vintage-Kollektionen aufgelegt. Der Begriff, mit dem diese Dinge richtiger bezeichnet werden sollten, ist Retro – das heißt: heute produziert, aber mit Referenzen an den Stil der Vergangenheit versehen. Ist es eine Kopie oder so eindeutig dem Erscheinungsbild einer bestimmten, vergangenen Zeit nachempfunden, dass es als Original durchgehen könnte, dann ist dies eine Reproduktion. Für einen Gegenstand jedoch, der tatsächlich aus einer früheren Epoche stammt, aber noch eindeutig post-antik ist, verwendet man in der Regel die Bezeichnung Vintage. Wo genau und wann der entscheidende Zeitpunkt angesetzt wird, der die Klassifizierung als Vintage rechtfertigt, bleibt Ansichtssache. Doch selbst wenn man großzügig ist, sind 20 Jahre in der Vergangenheit ein wenig willkürlich. Sicher, wenn wir uns eines Adjektivs bedienen, das ursprünglich dazu genutzt wurde, die Exzellenz von Weinen und Automobilen einer bestimmten Zeit zu beschreiben, dann muss das Wort Vintage das Konzept eines Klassikers zum Ausdruck bringen. Das heißt, es muss eine Güte von andauerndem Wert, gutem Geschmack und zeitloser Qualität beschreiben, deren herausragende Erscheinung von allen Moden unberührt bleibt.

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„Klassisch“ oder „vintage“ – oder beides: ein Rolls Royce von 1929.

Vintage also, sofern es um Kleidung, eine bestimmte Lebensart, Inneneinrichtung, Produktgestaltung, Musik, Geschmack und Stil generell geht, lässt sich definieren als einen verkürzenden Ausdruck für etwas, das aus der Zeit von 1918 bis 1963 stammt und diese wiederbelebt bzw. nachempfindet. Dabei seien die geneigten Leser stets daran erinnert, dass es hier um eine Betrachtung der Verhältnisse in England geht. Hinsichtlich des Stils, des kulturellen Wandels, technischer Innovation und Stabilität, lässt sich erkennen, dass die Viktorianische Ära[8] eine sehr deutlich konturierte Periode war. Gleiches gilt für die ihr nachfolgende, wesentlich kürzere Epoche, die Ära König Edwards[9]. In den 1920er-Jahren stoßen wir dann auf eine augenfällige Veränderung in Aussehen, Haltung und Geist, die bis zur nächsten größeren kulturellen Revolution in den 1960er-Jahren weit-gehend unverändert fortbestand. Diese wiederum begann etwa 1964 mit jener Moderevolution Mary Quants, mit dem Massenerfolg des Minirocks und des Chelsea Looks und mit den Beatles. Und es sind oftmals wirklich diese Zeit, die jeweiligen Qualitäten und Werte, ihre Lebensweise, ihr Stil etc., wonach es Menschen, die sich in der Vintage-Szene bewegen, wirklich verlangt. Bei allem, was danach kam und als zeitgenössisch verstanden wird, ist einfach noch nicht genügend Abstand gegeben, um es als vintage zu bezeichnen. Und wenn dieses Verlangen nach etwas, das wir als besser empfinden als die Gegenwart, einen hohen Grad an Nostalgie enthält, so ist vielleicht die deutsche Bedeutung des Wortes Nostalgie hier mehr als zutreffend: Heimweh, die Sehnsucht nach etwas Vertrautem. Uns erscheint in der Tat Nostalgie sehr viel klarer zu definieren, worum es in dieser Bewegung geht. In England sind bisher die Begriffe nostalgic und vintage immer klar getrennt benutzt worden. Vielleicht, da Vintage als mit mehr Stil versehen und cooler erschien. Nostalgie war immer eher jenes Gefühl, das Mütter und Großmütter für altmodische Sachen empfanden. In einem populären Verständnis bezieht sich Vintage auf das vordigitale Zeitalter und beschreibt ein Gefühl der Sehnsucht und Rückbesinnung nach Heimat und der Suche nach den eigenen Wurzeln. Vielleicht aber wurde Nostalgie auch nur in solch inflationärem Maß benutzt (ähnlich wie heute Vintage), dass die wahre Tiefe seiner Bedeutung verlorenging. Vintage im Kontext dieses Buchs ist modern aber nicht zeitgenössisch, vergangen aber nicht alt-modisch, charmant aber noch immer stylish und definitiv klassisch. Es erscheint uns dabei nicht als Zufall, wenn in einem populäreren Verständnis (z. B. einfach ‚älter als 20 Jahre‘) Vintage sich wirklich auf das vor-digitale Zeitalter bezieht.

Die Vintage-Bewegung, auch wenn sie sich selbst entsprechender Errungenschaft bedient, ist – so eine unserer Thesen – eine Reaktion auf jene Gesellschaft, die dieses digitale Zeitalter hervorgebracht hat. Ein Gedanke, der, wie wir zeigen werden, ein tieferes Verständnis dafür vermittelt, warum dieses Phänomen überhaupt existiert, vor welchem Hintergrund und mit welcher Motivation es entstehen konnte und was es schließlich ausgelöst hat.

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Vintage, so weit das Auge sieht: Ausstellung im „50er-Jahre-Museum“ in Büdingen (2014).

Bei all dem stellt sich jedoch die Frage, aus welchen Gründen wir uns nur so stark zu einer vergangenen Epoche wie der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingezogen fühlen, die durch so viel Gewalt, extreme Belastungen, Härten, Gefahren und Traumata geprägt ist.

1.2 Die Ursprünge des Phänomens – Von den 1960er-Jahren bis heute

Die 1960er-Jahre waren höchst bedeutend für die Entstehung dessen, was wir heute als Vintage-Bewegung bezeichnen. Aufgrund der erschütternden kulturellen und sexuellen Revolutionen, die sich damals vollzogen, waren sie vielleicht auch der Beginn einer Gegenrevolution, eines Rückzugs zu allem, was vertraut und sicher war – um an Werten und Stilen festzuhalten, von denen man bereits sehen konnte, dass sie bald überholt und verschwunden sein würden[10].

In der Regel muss immer eine gewisse Zeit vergehen, bevor etwas wiederbelebt werden kann, bevor es sich durchsetzen kann, bevor der Moment gekommen ist, wo das nostalgische Interesse in einem ausreichenden Maß vorhanden ist. Diese Zeitspanne scheint in England durchgehend etwa 25 bis 30 Jahre zu betragen. Das ist eine Generation. Dabei entwickeln die Jüngeren eine Sehnsucht zu etwas Vergangenem hin, das sie jedoch nicht selbst erlebt haben. Das war in Großbritannien und wohl auch in Amerika schon immer so: In den 1940er-Jahren war man verrückt nach der Vaudeville-Zeit und der Jahrhundertwende, in den Fünfzigern wandte man sich den 1920er-Jahren zu. Das belegen nicht zuletzt Filme wie Singing in the Rain[11] und Billy Wilders Klassiker Some like it hot[12]. Ein bestimmter Zyklus hierfür wurde bereits vor Längerem erkannt und schon in den 1980er-Jahren diskutiert.

Demnach wird ein Stil, dessen sich unsere Eltern vielleicht aus ihrer Kindheit erinnern, zunächst als etwas Altmodisches betrachtet, das man so schnell wie möglich hinter sich lassen sollte. Es vergehen dann einige Jahre und er wird schließlich als anheimelnd empfunden, bekommt etwas von einer Kuriosität, vielleicht etwas Exzentrisches, worüber man sich möglicherweise lustig macht. Dann, nach einigen weiteren Jahren, beginnt man ihn als klassisch anzusehen, da seine eleganteren Eigenschaften die Assoziation des Altväterischen überdecken – und er wird nun vielleicht als ein wenig elitär und speziell wahrgenommen. Schließlich, wenn sozusagen eine entsprechende Zahl an Menschen diesen Stil wiederentdeckt hat, kann es sein, dass auch die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam wird, die Zahl derer, die sich ihm anschließen, rapide ansteigt, er somit ein Revival erlebt und schließlich wieder als cool gilt. Lässt sich die aktuelle Vintage-Bewegung also als etwas verstehen, das ein Ausdruck des üblichen Zyklus der Wiederbelebung darstellt, dann können wir ihre Wurzeln in den frühen 1960er-Jahren entdecken und sie mit dem Revival des Art Déco identifizieren. So sind auch die ersten Pioniere dieser Wiederbelebung wie The Temperance Seven, The Pasadena Roof Orchestra oder das Modelabel Biba überwiegend eine Reaktion auf die kulturelle und sexuelle Revolution, die dem aufkommenden digitalen Zeitalter teilweise sehr skeptisch gegenübersteht.

The Temperance Seven wurden 1955 in England gegründet. Sie spielten leichten, humorvollen Jazz und populäre Musik aus den zwanziger und dreißiger Jahren sowie das Revival des eher am Mainstream orientierten Traditional Jazz der gleichen Zeit. In einer großen Öffentlichkeit erlangten sie 1961 Ruhm mit ihrer Cover-Version von You're Driving Me Crazy, die zum Hit wurde. Ihr Ansatz hatte etwas Parodistisches, er präsentierte eine Art Ulkversion der Zwanziger und Dreißiger. The Pasadena Roof Orchestra, das heute noch bekannt, beliebt und aktiv ist, wurde 1969 gegründet und spezialisierte sich mehr auf eine ernsthafte, den Geist der Zeit wiederbelebende Hommage an die Hits der 1920er- und 1930er-Jahre und auf Swing.

Vier Jahre später wurde das Palm Court Theatre Orchestra ins Leben gerufen, als eine Art Verschmelzung der Ansätze seiner beiden Vorreiter. Man kann sie als „die Großen Drei“ der 1960er- und 1970er-Jahre bezeichnen, als die 1920er- und 1930er-Jahre in England wirklich groß in Mode waren. Mit den 1980ern und der Zeit danach setzten sich die 1940er-Jahre als Einfluss auf die Popkultur durch, der seinen Höhepunkt zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts erreichte.

Mit seinem 1968 erschienenen Buch Art Déco of the 20s and 30s[13] hat der Historiker Bevis Hillier ein Interesse an dieser Periode und ihrem Design ausgelöst, das seitdem anhält und sogar bis heute exponentiell gewachsen ist, indem er einen Stil, der zuvor weitestgehend unbeachtet geblieben war, definiert hat.

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Aschenbecher in klassischem Art Déco Design.

Damit kann Hillier heute als einer der Initiatoren des Phänomens Vintage-Bewegung angesehen werden. Er erkannte, dass Art Déco als formgebendes Design-Prinzip nicht nur Architektur und Technik beeinflusste, sondern tatsächlich alle gestalteten Produkte seiner Zeit, von der Kleidung bis zum Laternenpfahl und vom Möbel und der Tapete bis zur Puderdose. Damit bestätigte er ihn als die starke soziale Kraft, die er verkörperte.

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