cover
e9783641121952_cover.jpg

Inhaltsverzeichnis

Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Copyright

e9783641121952_i0002.jpg

Der Raum, in dem sich das Fernaufklärungsteam versammelte, war ebenso karg und auf Zweckmäßigkeit abgestimmt wie das Team selbst. Wände, Boden und Decke bestanden aus schmucklosem, mattgrauem Plastahl, und es gab weder Schränke noch Tische oder irgendwelche sonstigen Gegenstände, die auf menschliche Existenz hindeuteten; in den beiden gegenüberliegenden Wänden befand sich je eine Tür aus massivem Plastahl wie im Sicherheitstrakt einer Bank. Das alles diente der Sicherheit, schließlich konnten Energiepacks ebenso wie Munitionsbehälter beschädigt werden, und Unfälle waren nicht ausgeschlossen. Unfälle mit Energiepacks hatten, gelinde gesagt, katastrophale Folgen.

Ebenso war selbstverständlich niemand daran interessiert, dass den Soldaten Unfälle widerfuhren. Aber besser ein FAT verlieren als einen ganzen Stützpunkt. Zumindest dachte der Rest des Stützpunkts so.

Ferret war der Erste im Raum, er trug eine gedrungen wirkende Punch-Gun. Vier andere folgten ihm mit Gravkarabinern und diversen persönlichen Waffen, die offiziell nicht erlaubt waren, aber nur wenige hatten den Mut, den Angehörigen eines FAT das Recht auf diese Waffen abzusprechen. Überwiegend waren es Pulser, es gab aber auch noch einen Granatwerfer und ein paar großkalibrige Pistolen. Dagger kam als Letzter herein, eine spezielle Scharfschützenversion eines Gauss-Karabiners hing lässig in seiner Hand.

Ein lockeres Wortgeplänkel begleitete sie, und Ferret machte sich über Thor lustig, weil der sich mit Dagger in einem Wettschießen angelegt hatte. »Hey, hast wohl vor, dich für die Olympiade zu bewerben?« Er lachte laut, als Thor zusammenzuckte.

Thors Konto war um fünfhundert Credits leichter geworden. Dabei war er sich hundertprozentig sicher gewesen, dass er mit normalen Waffen besser schoss als Dagger. Der Karabiner des Scharfschützen war schließlich schrecklich teuer und eine Maßanfertigung, die stundenlang abgestimmt werden musste, bis man richtig damit umgehen konnte. Er würde sich wahrscheinlich tagelang über das Ergebnis ihres Wettschießens ärgern und musste zu allem Überfluss noch damit rechnen, bis in alle Ewigkeit damit aufgezogen zu werden.

Dagger hatte wie vereinbart einen standardmäßigen Gravkarabiner dazu benutzt, auf fünfhundert Distanz zehn Schuss, so schnell er den Abzug betätigen konnte, ins Schwarze zu jagen, und dann zehn weitere auf tausend Meter Distanz – und das fast genauso schnell. Auf die Tausender-Distanz war ein Schuss danebengegangen  – also in den nächsten Ring. Wie es aussah, hatte er sich kaum Zeit zum Zielen genommen, hatte bereits in dem Augenblick, in dem er den letzten Schuss abgegeben hatte, kehrtgemacht und seine Position verlassen, noch ehe das Ergebnis auf dem Bildschirm angezeigt worden war. Seine Gesichtszüge waren unbewegt geblieben, bis er von dem einen Schuss gehört hatte, der danebengegangen war, und dann hatte er angewidert den Mund verzogen. Der Mann schoss geradezu übermenschlich genau. Man sah das auch an seinen Bewegungen; sie waren schnell, aber fließend, ohne jeden Ruck. Bei Scharfschützen kam es ebenso darauf an, den Feind zu beschleichen wie exakt zu treffen, und es gab kaum einen Menschen, der sich darauf besser verstand als er.

Thor zuckte erneut zusammen, als die anderen wieder zu lachen anfingen. Schließlich kam Gun Doll ihm zu Hilfe und tönte: »Okay, jetzt wird’s allmählich langweilig.« Daraufhin wechselten sie das Thema.

Dagger äußerte sich immer noch nicht, als Ferret einen Schalter antippte und Tische und Sitze aus dem Boden wuchsen. Sie waren von sterilem Grau, wie alles andere im Raum. Gun Doll lehnte sich mit ihrer schlaksigen Gestalt gegen die Wand und betätigte mit dem Ellbogen einen Schalter – immer noch die klobige Sturmkanone in beiden Händen –, worauf von allen Seiten dröhnende Musik auf sie einpeitschte. Es war eine der ätzenden Tanzmelodien, die sie mochte, aber immerhin nicht so laut, dass Beschwerden gekommen wären. An den Wänden flackerten Hologramme mit Einsatzbildern. Eines davon zeigte eine erschütternde Schneise der Zerstörung: zerdrückte Hover-Panzer, ebensolche Raketenhaubitzen, zur Unkenntlichkeit verunstaltete Kampfbots. Es fing links bei einer Landekapsel an und endete auf der rechten Seite in der überlebensgroß wirkenden Gestalt eines wie aus Stein gemeißelten Unteroffiziersdienstgrads mit dem schwarzen Barett eines FAT-Kommando. Die Karikatur hielt einen schweren Gravkarabiner mit beiden Händen, trug einen automatischen Granatwerfer auf der einen Schulter und einen leichten Mörser auf der anderen; der Kampfharnisch war über und über mit Messern und Äxten aller Art behängt, und aus einer Brusttasche lugte ein Teddybär. Darunter stand »Entschuldigung, ich bin bloß auf der Durchreise«. Ein anderes Hologramm zeigte einen auf schreckliche Weise gescheiterten Einsatz mit zertrümmerten Panzeranzügen, die über die gesamte Landschaft verteilt waren, abgestürzten Shuttles, einem Hagel von Artilleriegeschossen, die den Schlamm aufspritzen ließen, und überall herumwimmelnden kleinen Killerbots. In der Mitte konnte man einen Typen mit Majorsstreifen sehen, der an ein Ferndistanz-Komm tippte. In der Sprechblase stand »Ich mag es, wenn ein Plan richtig klappt«. So betrachtet war der gebotene Kunstgenuss recht zahm, zumal wenn man ihn mit Stücken verglich, die in den Netzen herumgeisterten und sich über die Abkürzung FAT lustig machten … »Fast Alle Tot« oder manchmal auch nicht gerade authentisch »Fettarschtunten«. Die Leute sagten das allerdings nicht zu FAT-Mitgliedern, wenn sie ihnen in einer Kneipe begegneten, es sei denn, sie waren sehr gute Freunde. Aber Aufklärungstätigkeit mitten in feindlichem Territorium setzte ohnehin ein ziemliches Maß an Masochismus voraus, deshalb waren die FATs einigen Kummer gewöhnt. Und außerdem konnten sie nicht nur einstecken, sondern auch ganz gut austeilen. Letzteres sogar meistens mit Zuschlag.

Die munteren Reden verloren etwas an Schwung, als sie anfingen, ihre Waffen vor sich auszubreiten und zur Reinigung auseinander zu nehmen. Das Team starrte vor Schlamm, Schweiß, Dreck und allen möglichen zerfetzten Vegetationsresten; die Waffen waren lediglich vom Gebrauch schmutzig. Ein guter Soldat pflegte seine Waffen, schließlich hing sein Leben davon ab. In Anbetracht von Piraten, wilden Posleen, die als Überbleibsel des Krieges, der die Menschheit fast ausgelöscht hatte, immer noch zugange waren, und der neuen Bedrohung durch die Kleckse mussten diese Soldaten jederzeit mit einem neuen Einsatz rechnen. Also pflegten sie ihre Waffen, weil sie den Unterschied zwischen dem Überleben und einem eiskalten E-Mail an ihre überlebenden Angehörigen darstellten.

Die Halterungen der Waffen waren mit einer chamäleonartigen Oberfläche beschichtet, die Farben und Muster von allem annahm, was sich in ihrer Umgebung befand; kaum dass sie auf dem Tisch lagen, veränderten sie sich und wurden fast unsichtbar. Ferret fluchte und meinte: »Die Oberfläche bleibt praktisch ewig aktiv, selbst wenn der Saft nicht mehr zum Schießen ausreicht.« Er drückte einen Schalter, um ein neutrales Grau aufzurufen.

Gorilla, einer der Technikspezialisten, wandte ein: »Nein, ewig hält die zwar nicht, aber doch eine ganze Weile. Die Oberfläche ist klein, und um sich hier anzupassen, braucht sich nicht viel zu verändern. Aber ich würd’s nicht auf den Versuch ankommen lassen, einen Tarnanzug so lange zu verlassen. Andererseits ist der natürlich wesentlich leichter zu entdecken.«

»Bring doch deiner Oma bei, wie man den Posleen in den Hintern kriecht«, erwiderte Ferret. »›Der erfahrene Kundschafter verlässt sich auf Täuschung und sein Geschick, aber nicht auf technisches Gerät.‹« Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder seinen Waffen zu.

Die geschickten Finger der Soldaten hantierten mit den Waffenteilen ohne jede Mühe, ebenso wie sie das auch bei völliger Dunkelheit getan hätten. Die in stumpfer Farbe beschichteten Läufe mit den Gravbeschleunigern wurden in die Tischmitte geschoben, die Empfänger dem Rand zugewandt, wie es allgemein üblich war. In dem von diesen beiden Komponenten gebildeten Rahmen wurden die kleineren Teile wie Abzugsmechanismen und Visiere aufgereiht, wie ihre Besitzer sich das in vielen Jahren angewöhnt hatten. Die Punch-Guns waren von ziemlich schlichter Konstruktion: eine Energieeinheit, die sich herausziehen ließ und die man besser sehr ernst nahm, sowie der Rahmen. Jeder Soldat und jede Soldatin hatte eine ganz persönliche Art, die Teile auszulegen, aber alle waren das Produkt derselben Grundausbildung. Dagger saß allein an einem Tisch, und seine Art, mit seinem Scharfschützenkarabiner umzugehen, erinnerte fast an eine Liebkosung. So war Dagger: immer Mitglied des Teams und doch immer allein.

Thor klappte den Verschluss seines Gravkarabiners auf, starrte hinein und ließ dabei seinen leuchtenden Lichtball über den Tisch wandern, um die Waffe von der Seelenachse aus zu beleuchten. Dabei stieg ihm der beißende Geruch von verbranntem Metall in die Nase, und er stieß eine Verwünschung über das, was er sah, aus. Das Hauptproblem mit den Waffen war, dass sie Ausschussmunition benutzt hatten. Der Hersteller empfahl als Munition abgereichertes Uran, das mit einem Hexengebräu auf Karbonbasis beschichtet und einem winzigen Tröpfchen Antimaterie geladen war. Dieses Antimaterietröpfchen wurde durch geringfügige Energiezufuhr angeregt, während der Rest der Antriebsenergie von der Antimaterieauflösung geliefert wurde. Aber die Republik Islendia verfügte nicht über die Fabrikationsanlagen für die Herstellung so hochwertiger Munition, und deshalb wurden die Gravkarabiner extern mit Energie versorgt; als Munition stand überwiegend nur abgereichertes Uran mit Graphitbeschichtung zur Verfügung.

Das Problem war, dass sich der Kohlenstoff und anschließend auch das Uran in Anbetracht der unglaublich hohen Geschwindigkeiten lösten und auf Verschluss und Lauf des Karabiners eine Substanz ablagerten, die sich kaum von einer Uran-Karbon-Legierung unterschied. Und etwa ebenso mühsam zu entfernen war …

Thor holte eine Kapsel Mineralwasser aus seiner »Notration« aus dem Rucksack und hielt in seiner Arbeit inne. »Verdammter Mist!«, murmelte er, als seine Hand dabei auf etwas Hartes stieß, das sich keineswegs wie eine Trinkkapsel anfühlte. Er packte den Gegenstand und zog ihn heraus. Es handelte sich um einen Stein, etwa fünf Kilo schwer. Einfach ein Steinbrocken.

»Ihr Drecksäcke«, schimpfte er. Das war nichts Neues. Jedes Mal, wenn sie von einem Einsatz oder einer Geländeübung zurückkamen, stopfte ihm irgend so ein Schwachkopf einen Felsbrocken in den Rucksack. Inzwischen lagen bestimmt schon vierzig von den verdammten Dingern in seiner Kammer herum. Niemand wusste, weshalb er sie aufbewahrte. Er übrigens auch nicht, bloß dass es eben Andenken waren, irgendwie. Er hatte sogar einen von der Erde.

Alle lachten, bloß Dagger nicht, doch selbst der grinste. »Wieder einmal ein Felsbrocken für deine Sammlung, Thor«, meinte Gorilla.

»Ist schon recht. Felsbrocken, Stücke von Kernbohrungen von den Pionieren, irgendetwas ist es immer. Über kurz oder lang werde ich mal verknackt, weil ich ein Stück heiligen rumakianischen Granit schmuggle oder irgendsolches Zeug. Aber dann sorg ich dafür, dass ihr für den Zoll aufkommt.«

»Das würdest du wohl auch müssen«, sagte Ferret. »Deine Knete hätte dann ja Dagger.« Darüber lachten sie alle, selbst Dagger.

Und dann ging die Hänselei wegen des Wettschießens wieder von vorne los.

»›Hi, ich heiße Thor und treff nicht mal ein Scheunentor. ‹«

»›Dagger, du solltest mich jetzt erschießen, ehe ich noch mal versuche, dich zu schlagen.‹«

»›Ich Thor, ich denken, ich gerade schießen.‹«

Dagger sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Thor sagte ebenfalls nichts und hoffte, dass sie das Thema wechselten, ehe es langweilig wurde.

Ferret setzte noch eine Bemerkung hinzu und hielt dann den Mund: »Gegen die Kleckse solltest du besser treffen als gegen Dagger.« Und damit wechselte das Gespräch zu ihrem möglichen nächsten Einsatz über. Dass es gegen die Kleckse gehen würde, stand außer Frage. Im Augenblick gab es sonst keine ernsthaften Bedrohungen, jedenfalls keine, die die besonderen Fähigkeiten von FATs erforderten. Die Frage war nur, ob es ein Stoßtruppunternehmen, ein Aufklärungseinsatz, ein verlustreicher Entführungsversuch oder irgendein neuer blödsinniger Plan der Schwachköpfe im Strategiestab sein würde.

Die so genannten Kleckse, die Tslek, waren erst in letzter Zeit als Feinde des lockeren Planetenbundes, den die Islendianische Konföderation darstellte, auf den Plan getreten. Es handelte sich um dunkle weiche Kreaturen ohne feste Form, die sich mittels Pseudopoden bewegten und diese auch als Werkzeuge benutzten. Bis jetzt gab es noch kaum Menschen, die einen Tslek aus der Nähe gesehen hatten – zumindest keine, die nachher darüber berichtet hatten. Einige weit entfernte Kolonien waren verloren gegangen, ihre Verwaltungszentren in glühende Gaswolken verwandelt worden, wie es hieß von kinetischen Waffen, allerdings solchen mit mehr Energie, als man sie einfach nur aus dem All abstürzenden Felsbrocken zuschrieb. Derartige Waffensysteme waren ähnlich wie Atom- und Antimateriewaffen bei den zivilisierten Rassen, insbesondere bei den Menschen, streng verboten. Die Schockwirkung dieser Überfälle hatte sich bei den ersten Berichten durch den Weltraum verbreitet, und das Oberkommando hatte sofort Aufklärungs- und Spezialeinheiten ausgesandt, um nähere Kenntnisse über das Wesen dieser neuen Bedrohung zu erfahren. Einige davon waren zurückgekehrt.

Die Tslek bewohnten eine nicht näher bekannte Zahl von Planetensystemen in den Randbereichen der von Menschen erforschten galaktischen Region. Bis jetzt hatten die Menschen erst einen Planeten gefunden, der von »zivilen« Klecksen bewohnt wurde, oder zumindest einem einigermaßen nennenswerten Anteil an Zivilisten, weil es doch recht schwierig war, den Unterschied zwischen militärischen und zivilen Klecksen festzustellen. Der Kommandeur des menschlichen Einsatzkommandos hatte als Vergeltungsmaßnahme eine Anzahl kinetischer Schläge abgesetzt und sich dann zurückgezogen. Im Augenblick herrschte eine Situation, die man in der Geschichte als »Sitzkrieg« bezeichnet hatte, also einer kriegerischen Auseinandersetzung, bei der die beiden Krieg führenden Parteien sich nur abtasteten. Aber in einem unechten Krieg konnte man genauso sterben wie in einem echten. Die Front war undefiniert und in ständigem Wandel begriffen, aber doch sehr real.

Bis jetzt waren die Kleckse im Vorteil; die Grenzen in jener Richtung waren mit Millionen toter Kolonisten festgehämmert worden. Falls es dazu kam – oder genauer gesagt, wenn ein Vorstoß der Kleckse eine der dichter besiedelten Welten erreichte –, würden die Verluste an Zivilisten gewaltig sein: in der Größenordnung von Milliarden.

Es gab Hinweise, die auf den Erkenntnissen von Aufklärungsschiffen beruhten, wonach die Kleckse einen Angriff mit einer großen Flotte auf die Kernwelten planten. Die Menschen hatten sich mehr oder weniger damit abgefunden, die damit verbundenen Verluste hinzunehmen. Normalerweise ließ man eine Gruppe angreifen und schlug dann mit leichten Verbänden von hinten zu, um die Nachschublinien der Angreifer abzuschneiden. Die Frage war nur, wo der Angriff erfolgen würde. Die Erde und die Kernwelten würden sich damit vielleicht abfinden, aber die Republik Islendia legte keinen Wert darauf, das Einfallstor für den Feind zu bieten.

Die Kleckse hatten dem Anschein nach dieselben Bedürfnisse wie Menschen: Wasserstoff zum Auftanken ihrer Schiffe, Ersatzteile, Sauerstoff, Wasser und frische Lebensmittel. Sie benutzten auch dieselben Antriebssysteme wie Menschen, den Energie sparenden »Talantrieb«, bei dem sich die interstellaren Raumschiffe auf ihren Reisen von Sternsystem zu Sternsystem der als Transitlinien bezeichneten »Täler« zwischen den Sternen bedienten, sowie den »Tunnelantrieb«, den die Menschen und ihre Verbündeten ursprünglich bei den feindlichen Posleen kennen gelernt hatten, die sich unter gewaltigem Energieaufwand mit Überlichtgeschwindigkeit »Tunnels« durch jede Weltraumregion bohren konnten. Das machte es notwendig, von Zeit zu Zeit Wasserstoff für ihre Talantriebe und Antimaterie für ihre Tunnelaggregate zu »tanken« und bei der Gelegenheit auch andere Verbrauchsgüter aufzunehmen. Einen Teil davon konnten Versorgungsschiffe nachliefern, der Rest, besonders Treibstoff, wurde zweckmäßigerweise und unter wesentlich geringerem Kostenaufwand unterwegs aufgenommen. Es machte immer noch mehr Sinn, Schiffe mit Nahrungsmitteln zu versorgen als »selbst welche anzubauen«; Pflanzen beanspruchten Platz, den man besser für Munition und Antrieb einsetzte, und waren darüber hinaus auch bei weitem nicht so gut zur Luftreinigung geeignet wie »mechanische« Recyclingsysteme.

Aus all diesen Gründen würden die Kleckse einen vorgeschobenen Stützpunkt zwischen ihrer Heimatregion und ihrem Ziel benötigen. Dieser Stützpunkt würde bestimmte Erfordernisse erfüllen müssen: er benötigte mehr als eine brauchbare Transitlinie, einen dem Jupiter ähnlichen Planeten als Treibstoffquelle und aller Wahrscheinlichkeit nach einen terraähnlichen Planeten für den Ackerbau.

Nicht, dass die Kleckse unbedingt einen Planeten der Erdklasse brauchten, aber die Wahrscheinlichkeit war immerhin so groß, dass es sich lohnte, darauf zu wetten. Ein solcher Planet erlaubte nicht nur den Anbau und die Verarbeitung nahrungswichtiger Bodenfrüchte, ohne dass es dazu besonderer Kuppeln bedurfte, sondern ein solcher Planet ermöglichte es auch den Truppen, sich unter erträglichen Umweltbedingungen auszuruhen. Darüber hinaus stellte die Biosphäre eine bemerkenswert gute Tarnung gegenüber Ausspähversuchen aus dem Weltraum dar; sie lieferte Atmosphäre, um Partikel abzulenken, und andere Lebensformen, zwischen denen man sich verstecken konnte.

Dumm waren die Kleckse allem Anschein nach nicht; wie es schien, benutzten sie im Allgemeinen dieselben Logiksysteme wie Menschen. Das bedeutete, dass sie diese Bedürfnisse ebenso gut erkannten wie die Menschen und auch erraten konnten, dass die Menschen dies wissen würden. Demzufolge waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf irgendwelche menschlichen Aufklärungseinsätze vorbereitet.

Also würden diese Einsätze äußerst unangenehm, brutal und von kurzer Dauer sein. Das war dem Team bewusst, und deshalb gaben sich seine Mitglieder alle Mühe, diese Erkenntnis durch Witzeleien zu verdrängen. Jeder Einsatz konnte ihr letzter sein, und die neuesten Erkenntnisse waren für ihr Überleben nicht gerade viel versprechend. In letzter Zeit waren einige Teams einfach verschwunden. Niemand wusste, wo sie geblieben waren oder was passiert war; Genaueres darüber zu erfahren war für ihren Einsatz nicht wichtig  – sie erhielten einfach die knappe Mitteilung, dass Team Soundso »vermisst, vermutlich gefallen« war.

Während das Team noch über die vermissten Kameraden sprach, tauchte der Teamkommandant auf, eine durchaus vertraute Gestalt, da er ja täglich mit ihnen zusammenarbeitete. Das Reglement verzichtete ausdrücklich auf Ehrenbezeigungen, falls nicht ein Offizier zugegen war. Soweit es die Disziplin erforderte, hielten sie sich hinreichend genau an die Vorschriften, waren dafür aber locker genug, um echte Kameradschaft aufkommen zu lassen. Was das Team dennoch dazu veranlasste, Haltung anzunehmen und zu verstummen, war die fremdartige Kreatur, die den Raum in Begleitung des Captain betrat. Ein Anblick, wie er sich menschlichen Augen so gut wie nie bot: ein Darhel. In Uniform.

Die Gruppe sträubte instinktiv die Federn. Obwohl der erste Kontakt mit den Darhel jetzt beinahe tausend Jahre zurücklag, waren diese immer noch alles andere als populär. Früher einmal hatten sie über die Menschen geherrscht, als wären diese Sklaven. Und auch heute noch ging ihnen der Ruf voraus, alles andere als vertrauenswürdig und ehrlich zu sein. Die wenigen Menschen, die mit ihnen zu tun hatten, hatten die Erfahrung gemacht, dass sie einfach nicht zu packen waren, wie Sand, und dazu gemein und bösartig wie Klapperschlangen; es schien ihnen einfach den größten Spaß zu machen, nicht nur Geld zu verdienen, sondern die Leute dabei auch schamlos übers Ohr zu hauen. Kein Mitglied des Teams hatte bislang unmittelbar mit Darhel zu tun gehabt, aber die entsprechenden Geschichten kannten sie alle.

Als die Darhel die Menschen vor den Posleen gewarnt hatten – gefräßigen interstellaren Geschöpfen, die ganze Planeten leer fraßen so wie ein Heuschreckenschwarm, der über einem Kornfeld niedergeht –, hatten sie den Menschen ihre Technologie und ihre Waffen zur Verfügung gestellt und dafür die strategische Erfahrung der Menschheit eingetauscht. Freilich hatten sie jene Technologie so rationiert, dass es zwar gelungen war, den Vormarsch der Posleen zu stoppen, zugleich aber bei den unzureichend ausgerüsteten menschlichen Streitkräften entsetzliche Verluste aufgetreten waren. Die Darhel hatten stets darauf beharrt, dass dies unvermeidlich gewesen sei, einfach eine Folge logistischer Unzulänglichkeiten, aber niemand konnte übersehen, dass am Ende beinahe achtzig Prozent der menschlichen Rasse vernichtet war. Und die überlebenden zwanzig Prozent waren fast hundert Jahre lang als Söldner und Kanonenfutter eingesetzt worden, während diejenigen Menschen, die man »aus Sicherheitsgründen für die Dauer des Krieges evakuiert« hatte, am Ende als verstreute Flüchtlinge in fremden Gesellschaftsformen assimiliert worden waren und dabei die Beziehung zur eigenen Rasse fast völlig verloren hatten. Natürlich hatten die Darhel der Menschheit großzügigerweise dabei geholfen, die Erde wieder aufzubauen und neu zu besiedeln, zu einem »vernünftigem Preis« freilich, einem Preis, den die Darhel festgesetzt hatten. Die Erinnerung daran war nicht gerade dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Und eigentlich hatten sie ihre technischen Errungenschaften gar nicht mit den Menschen geteilt, denn der größte Teil dessen, was schließlich in menschlichen Besitz übergegangen war, war den wenigen intakt gebliebenen Überresten des Kriegs ganz einfach nachgebaut worden.

Am Ende hatte sich dieses Vorgehen freilich als schlimmer Fehler seitens der Darhel erwiesen. Sie hätten die Menschheit entweder sich selbst überlassen oder fair zu ihr sein müssen. Als sich herausstellte, dass sie keines von beidem getan hatten, war die Reaktion der Menschen … nun ja, eben menschlich gewesen. Einige Darhel hatten die sporadischen Vernichtungsprogramme überlebt, die die überlebenden Staaten praktiziert hatten. Einige …

Dieser Darhel hier war blass und hatte durchsichtige Haut und seine Pupillen waren wie die einer Katze. Die meisten Darhel hatten eine grüne oder purpurfarbene Iris, bei diesem hier war die Iris seiner Augen purpurfarben mit einem schmalen türkisfarbenen Rand. Sein Gesicht war ein typisches Darhelgesicht, schmal und irgendwie an einen Fuchs erinnernd; sein Haar ähnelte dem der Menschen, schwarz mit einem leichten Silberton und nicht etwa von metallischem Gold, wie man es seltener auch zu sehen bekam. »Gold« und »Silber« in Bezug auf Darhel-Haar bedeutete genau das, was diese Worte bezeichneten; das Haar war nicht blond. Darhel hatten spitze Ohren, die bei Belastung häufig zuckten, und Zähne wie Haie. Sie lächelten nicht sehr oft. Im Gesamteindruck erinnerten sie stark an die klassischen Elfen aus den Legenden der Menschheit. Dieser Darhel hatte seine Ohren unter Kontrolle und praktizierte ein Begrüßungslächeln, bei dem die Lippen geschlossen blieben. Dem Ausdruck seiner Augen nach konnte das Lächeln alles bedeuten … oder nichts.

Um alles noch schlimmer zu machen, trug der Alien die Rangstreifen eines Gunnery Sergeant. Die Frage war, ob er sich die Streifen auf politischem Wege oder auf die harte Tour verdient hatte. Beim Einsatz im Feld? Bei all der Verblüffung blieb beinahe unbemerkt, dass er über seiner linken Brusttasche auch das Abzeichen eines Sensat trug.

Nach Jahrtausenden der Bemühung fingen die Menschen endlich an, echte Fortschritte in außersinnlicher Wahrnehmung zu machen. Insbesondere das Militär hatte seit einiger Zeit damit angefangen, für eine Vielzahl von Zwecken Sensats einzusetzen. Sehr wenige konnten tatsächlich »Gedanken lesen«, aber viele waren fähig, selbst auf größere Distanz Emotionen zu fühlen. Und einige wenige waren imstande, auf vage Art die Zukunft vorauszuahnen.

Kein Wunder, dass man ihnen mit starken Vorurteilen begegnete. Obwohl nur wenige Sensats Gedanken fühlen, geschweige denn entziffern konnten, fürchtete sie doch jeder wegen der potenziellen Fähigkeit, in höchst private Tiefen seines Bewusstseins einzudringen. Jedes vernunftbegabte Wesen, das die Menschheit bis zur Stunde kennen gelernt hatte, hegte Gedanken, die es nicht ans Licht des Tages dringen lassen wollte. Deshalb waren die meisten nicht gerade erbaut davon, einen Sensat in unmittelbarer Umgebung zu wissen. Dabei konnten die meisten Sensats nur mit einiger Mühe Emotionen fühlen und darüber hinaus gelegentlich sehr starke und deutlich fokussierte Gedanken. Beispielsweise das letzte Bild eines Sterbenden. Dies alles machte die Leute nicht gerade glücklich.

Einige von ihnen fanden sich in den Fernaufklärungsteams. Gewöhnlich waren das Empathen, die beispielsweise einen Hinterhalt dadurch entdecken konnten, dass sie die »Auflauer«-Emotionen der Angreifer erspähten. Die Kleckse waren von den Sensats wahrnehmbar. Offenbar benutzten die Tslek außersinnliche Wahrnehmung als normales Kommunikationsmittel – das schloss man daraus, dass die Sensats einen Klecks auf mehrere Kilometer Distanz entdecken konnten.

»Hereinspaziert, Leute. Ich hoffe, es war eine gute Übung?«, begrüßte sie der Captain. Ein automatisches, wenn auch halbherziges Gemurmel war zu hören, während das Team ihn ignorierte und fortfuhr, den Darhel anzustarren.

Der Captain war auf eine derartige Reaktion vorbereitet und sagte, um keine Zeit zu vergeuden: »Ich möchte Ihnen Tirdal San Rintai vorstellen.« Der Darhel nickte bei der Vorstellung und wartete geduldig. »Tirdal ist ein beschränkter Empath, ein Klasse Zwei, und hat einen Qualifikationskurs für FAT-Sensat mit dem Nebenzweig Sanitäter abgeschlossen. Er wird Sie beim nächsten Einsatz begleiten.«

Kurzes Gemurmel und kaum hörbare Bemerkungen, bis Dagger schließlich sagte: »Nehmen Sie’s nicht übel, Sir, Tirdal«, dabei nickte er dem Darhel kaum wahrnehmbar zu, »aber wir sind jetzt schon lange Zeit ein Team und gut aufeinander eingestimmt. Wir brauchen zu Beginn eines Einsatzes keine Fremden, und das ohne Vorbereitung und Trainingszeit. Das führt eher zu Pannen, als dass es hilfreich wäre.«

Der Captain fixierte Dagger. »So, das denken Sie also, wie? Sie wissen also, um was es bei dem Einsatz geht, ja?« Ehe Dagger auch nur den Kopf schütteln konnte, fuhr er fort und setzte sich damit über alle weiteren Einwände hinweg, die vermutlich kommen würden. »Also, kommen wir zu den Fakten: Wir haben einen Einsatzbefehl für ein Stoßtruppunternehmen auf einen möglichen Klecks-Planeten zur Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse sowie möglicherweise von Artefakten und Gefangenen. Das einzige Team, das je von einem solchen Einsatz zurückgekehrt ist, hatte einen Sensat mit. Also nehmen wir auch einen Sensat mit. Punktum. Tirdal ist verfügbar, ist ausgebildet und hat Sensat-Qualifikation der Ebene Vier. Er geht mit. Sind Sie damit einverstanden, Sergeant?« Er starrte dabei Dagger unverwandt an, und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass ihm Daggers Einwände bei jedem neuen Einsatz allmählich auf die Nerven gingen. Der Mann konnte schießen wie kein anderer und vermutlich einen Leoparden beschleichen, aber seine Einstellung zu Vorgesetzten ließ so manches zu wünschen übrig.

Dagger starrte den Captain ebenso unverwandt an und sagte dann mit fester Stimme: »Verstanden, Sir. Tirdal, willkommen im Team.«

Jetzt kam endlich Bewegung in Tirdal, und er trat vor und streckte die Hand aus. »Ich grüße Sie, Dagger. Ich bin sicher, wir können zusammenarbeiten.« Seine Stimme klang sonor und tief, und seine Hand packte fest zu, als Dagger sie nahm. Und dann drückte er fester zu, ein Griff, als müsste er Knochen zerquetschen, begleitet von einem violett-gelben Leuchten in seinen Augen, von dem Dagger den Eindruck hatte, als würde es sich in sein Gehirn bohren.

Dagger drückte ebenfalls mit aller Kraft zu. Er war nicht nur ein Scharfschütze mit den Meisterschaftsmedaillen mehrerer Planeten, sondern auch einer der Stärksten in einem Team sehr starker Männer. Aber dem Griff des Darhel war er nicht gewachsen. Sekunden später spürte er, wie der Darhel anfing zu drücken, es fühlte sich an, als wäre seine Hand in eine mechanische Presse geraten. Nach kurzem Kampf ließ sein Gesicht das Aufflackern von Schmerz erkennen, und der Darhel, wieder mit einem angedeuteten Lächeln, reduzierte den Druck.

Dagger ließ sich seine Überraschung äußerlich nicht anmerken, murmelte nur »Yeah, kein Problem« und gab sich alle Mühe, die Hand nicht in Reaktion auf den Schmerz zu schütteln, noch ganz im Bann der beunruhigenden Präsenz und der Kraft Tirdals.

»Ich freue mich darauf, mit euch zusammenzuarbeiten«, sagte Tirdal und nickte, ohne dass seine Augen mit ihren senkrechten Pupillen das Gesicht des Scharfschützen losließen.

Die anderen schüttelten ihm nun ebenfalls die Hand und stellten sich vor. Tirdal nickte jedem von ihnen nacheinander zu, sagte aber sonst kaum etwas.