Gunter Pirntke (Herausgeber)

Karl Emil Franzos

Der Pojaz

Impressum

Covergestaltung: Alexandra Paul

Digitalisierung: Gunter Pirntke


2012 andersseitig.de

ISBN: 978-3-95501-086-7





andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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Vorwort

»Bilde, Künstler, rede nicht!« Jedes Dichterwerk soll sich selbst erläutern. Bedarf es erst einer Erklärung, so taugt es nichts. Zudem nützt alles Erklären nichts. Ist das Werk lebensfähig, so lebt es durch die eigene Kraft; ist es als Krüppel zur Welt gekommen, so nützt ihm das Mäntelchen eines Vorworts nichts. Im Gegenteil, das Mäntelchen schadet nur. Ungeduldig zerrt der Leser an dem Gewande:«Laß mich doch selbst sehen, wie das Kind gewachsen ist!«

Dies Vorwort also soll meinen Roman weder erläutern, noch verteidigen. Es soll nur einige äußere Umstände anführen und daneben einiges sagen, was ich schon lange auf dem Herzen habe und am besten bei dieser Gelegenheit vorbringen kann.

Ich bin am 25. Oktober 1848 auf russischem Boden geboren, im Gouvernement Podolien, in einem Forsthause dicht an der österreichischen Grenze. Ich glaube nicht, daß man je die Absicht hegen wird, an diesem Hause eine Gedenktafel anzubringen; sollte aber einst irgend ein Freund meiner Schriften auf diesen Gedanken kommen, so wird er ihn nicht verwirklichen können. Das Haus steht nicht mehr; über die Stelle, wo ich zur Welt gekommen bin und die ersten Wochen meines Lebens verbracht habe, geht heute der Pflug; der gerodete Wald ist Ackerland geworden. Vor 45 Jahren wohnte dort ein wackerer deutscher Förster aus Westfalen, der meinem Vater treu anhing, weil er ihn in schwerer Krankheit am Leben erhalten hatte. Den Dank dafür trug der Mann nun ab, indem er die Familie seines Lebensretters treulich aufnahm. Denn der Spätherbst 1848 war eine böse Zeit in Ostgalizien; die Polen erhoben sich und gingen damit um, den vereinzelten Deutschen im Lande dasselbe Los zu bereiten, wie es ihre Posener Landsleute den Preußen ein halbes Jahr vorher zugefügt oder doch zuzufügen versucht. Zu den Bedrohten gehörte auch mein Vater, denn erstlich stand er als Bezirksarzt in kaiserlich königlichen Diensten, und zweitens hatte er sich immer als eifriger Deutscher betätigt. Jeden Tag regnete es Drohbriefe; auf dem flachen Lande war bereits der Aufruhr offen erklärt; im Städtchen erwartete man stets den Überfall. Man riet meinem Vater, zu flüchten; er war nicht der Mann, seinen Posten zu verlassen. So schickte er denn nur meine Mutter, die mich eben unter dem Herzen trug, und meine älteren Geschwister über die Grenze in jenes Forsthaus. Dort also bin ich, wie gesagt, zur Welt gekommen, vorzeitig; meine arme Mutter war ja in tödlicher Angst und Sorge um den Gatten. Die Gefahr ging gnädig an ihm vorbei; schon im November war der Aufstand der Polen zu Ende, und sie konnte heimkehren. Man sieht, ich bin deshalb in Rußland zur Welt gekommen, weil mein Vater sich als Deutscher fühlte und danach handelte.

Auch bei meiner Erziehung. Das deutsche Nationalgefühl, das mich erfüllt, das auch ich mein Leben lang betätigt habe, ist mir von Kindheit auf eingeprägt worden. Ich war noch nicht drei Käse hoch, als mir mein Vater bereits sagte: »Du bist deiner Nationalität nach kein Pole, kein Ruthene, kein Jude – du bist ein Deutscher.« Aber ebenso oft hat er mir schon damals gesagt: »Deinem Glauben nach bist du ein Jude.« Mein Vater erzog mich wie mein Großvater ihn erzogen, in denselben Anschauungen, sogar zu demselben Endzweck, ich sollte meine Heimat nicht in Galizien finden, sondern im Westen. Und auch die Gründe, die meinen Vater dazu bewogen, waren dieselben.

Ich besuchte die einzige Schule des Städtchens, die im Kloster der Dominikaner; dort lernte ich Polnisch und Latein. Im Deutschen unterrichtete mich mein Vater selbst. Für das Hebräische hatte ich einen besonderen Lehrer. Dieser Mann war zugleich der einzige meiner Czortkower Glaubensgenossen, mit dem ich bis in mein zehntes Jahr in nähere Berührung kam. Meine Mitschüler, meine Spielgefährten waren Christen. Ich betrat selten ein jüdisches Haus, nie die Synagoge. Religiöse Bräuche sowie die Speisegesetze wurden im elterlichen Hause nicht gehalten. Ich wuchs wie auf einer Insel auf. Von meinen Mitschülern schieden mich Glaube und Sprache, und genau dasselbe schied mich von den jüdischen Knaben. Ich war ein Jude, aber von anderer Art als sie, und ihre Sprache war mir nicht ganz verständlich.

In diesen Eindrücken meiner Kindheit wurzelt vielleicht das Beste, was ich habe: die Fähigkeit des Beobachtens. Ich war von allen anderen geschieden, ein anderer als sie. Aber was ich nun war, wußte ich ganz genau, dafür hatte mein Vater gesorgt. Ich war ein Deutscher und ein Jude zugleich. Von beiden hörte ich nur das Beste und Edelste, was mich zur Treue, ja zur Begeisterung entflammen konnte. Bewarf mich zuweilen ein Judenknabe mit Kot und schimpfte mich einen Abtrünnigen, so wurde mir gesagt: »Er ist deshalb doch dein Bruder, grolle ihm nicht! Er weiß nicht, was er tut.« Freilich durfte ich den Bruder nicht näher kennen lernen, aber dazu hatte ich auch geringe Lust, und bescheidene Annäherungsversuche, die ich machte, fielen übel aus: die kleinen Kaftanträger prügelten und verhöhnten mich. Begegnete ich aber nur einem von ihnen, so lief er mir davon. Das mißfiel mir beides, stimmte mir auch nicht zu der Geschichte der Makkabäer, die mir mein Vater so begeistert zu erzählen pflegte.

So standen die Dinge in meiner Knabenzeit in Czortkow. Ich hatte viel Begeisterung für das Judentum, aber einen sehr dürftigen Einblick in das reale Leben der Juden um mich her.

Einen tieferen Einblick gewann ich erst in Czernowitz, wo ich das Gymnasium besuchte, allmählich und stückweise, von Jahr zu Jahr mehr. Nun, wo mein Vater nicht mehr war – ich habe ihn bereits 1858 verloren –, begriff ich erst recht, unter welchen Kämpfen sein Leben vergangen, in welchen Anschauungen er mich erziehen gewollt. Wie es ohne jenen festen Grund, den er gelegt, ohne jene Begeisterung, die er in mir entflammt, mit mir gekommen wäre, könnte ich mit Bestimmtheit nicht sagen, denn vielleicht hätten mich zwei Grundzüge meines Wesens, die auch ich mir nachsagen darf, weil sie niemand übersehen kann, der meine Schriften oder mich kennt – vielleicht hätten, sage ich, mein Pflichtgefühl und mein Gerechtigkeitssinn mich annähernd denselben Weg einschlagen lassen, den ich gegangen bin. Aber gut war es doch, daß mein Vater jenen Grund legte. Denn je näher ich das nationalorthodoxe Judentum kennen lernte, desto mehr fühlte ich mich durch seine Auswüchse im tiefsten Herzen verwundet und fremdartig berührt. Auch entging mir zwar das Poetische an vielen seiner Formen nicht, aber ihren Zauber können sie doch nur auf einen voll üben, dem sie zugleich ein Stück Kindheitserinnerung bedeuten. Dies war bei mir nicht der Fall.

Es war ganz ausgeschlossen, daß ich, meines Vaters Sohn und frühzeitig auch durch das Leben zum vollen Pflichtgefühl erzogen, jemals daran denken konnte, meinen Glauben zu wechseln. Aber ebensowenig dachte ich daran, daß das Judentum in meinem Leben eine bestimmende Rolle spielen, daß ich jemals innerhalb der engeren Genossenschaft meiner Glaubensbrüder bestimmte Ideen zur Anschauung bringen sollte. Ich wollte Jude bleiben, auch hier meine Pflicht tun, das war alles. Und vollends fiel mir damals nicht bei, daß in mir ein Erzähler, ein Kulturschilderer des Ghettolebens stecken könnte. Mir schwebte ein anderes Ziel vor Augen, ich wollte klassische Philologie studieren und Professor werden.

Das Ziel schien gar nicht zu verfehlen; ich war fleißig, hatte Neigung für das Fach, hatte schon als Schüler eine Arbeit geleistet, welche die Aufmerksamkeit auf mich lenkte: eine Übersetzung der lateinischen Eklogen des Vergil ins Griechische, in die Sprache Theokrits (den dorischen Dialekt). Freilich war ich sehr arm, aber die Regierung gab mir ja gewiß ein Stipendium. Auch der Landeschef der Bukowina, ein wohlwollender Mann, war dieser Ansicht und unterstützte mein Gesuch auf das wärmste.

Die Entscheidung ließ lange auf sich warten. Endlich wurde ich eines Tages zum Landeschef berufen. Der gute Mann war in sichtlicher Verlegenheit.

»Ihre Eignung steht außer Zweifel, aber –«

Der Gedankenstrich bedeutete das Taufbecken. Einem Juden wurde das Stipendium nicht gegeben, es hatte auch keinen rechten Sinn, denn ich wollte ja eine Universitätsprofessur erreichen, und die war ja dem Juden unmöglich. Es war im Sommer 1867, vor der liberalen Ära.

Mit meiner religiösen Überzeugung Handel treiben, das ging natürlich nicht. Auf das Stipendium mußte ich also verzichten. Und damit auch auf die klassische Philologie. Ein armer Junge wie ich, der Mutter und Schwestern zu versorgen hatte, durfte keinen Beruf wählen, der keine Aussicht auf Versorgung bot.

Ich beschloß also, Jura zu studieren, und tat's.

Das schreibt sich leicht hin, aber wieviel Schmerz, wieviel schlaflose Nächte zwischen jeder dieser Zeilen stehen, weiß nur, wer selbst in ähnlicher Lage war. Indes – dies Selbstverständliche würde ich nicht erwähnen, wenn es nicht zur Sache gehörte. Mein Judentum hatte mir bisher weder Vorteil, noch Schaden gebracht. Nun brachte es mir Schaden, den schwersten, den ein Mensch erleiden kann, legte mir ein furchtbares Opfer auf: den Verzicht auf den Beruf, für den ich mich selbst bestimmt, von dem damals ich und andere meinten, daß er am besten für mich tauge.

Derlei wirkt auf den Menschen verschieden, je nach seiner Anlage. Der eine kann das Opfer nicht bringen, ihm scheint der Glaubenswechsel das leichtere Opfer. Der andere verzichtet zwar, beginnt aber innerlich sein Judentum als ein Unglück zu empfinden und zu – hassen. Den dritten aber beginnt sein Glaube eben deshalb näher anzugehen, wärmer zu interessieren, weil er ihm ein solches Opfer hat bringen müssen.

Dies Letzte war bei mir der Fall. Ich wurde kein Frommer im Lande, aber mein Interesse für das Judentum, das Gefühl meiner Zusammengehörigkeit mit den armen Kaftanjuden in der Czernowitzer »Wassergasse« wurde ungleich stärker als bisher.

Es ging mit der Juristerei besser, als ich gedacht; ich begann, mich mit dem Studium zu befreunden. Da kam mir um meines Judentums willen ein neuer, großer Schmerz.

Eine Liebesgeschichte. Ich war kaum 21 Jahre alt. Aber es traf mich doch recht hart, als mir das Mädchen sagte: »Mir bricht das Herz, aber Sie sind ein Jude...«

Das Herz brach ihr übrigens nicht. Aber auch mir nicht. Weh freilich tat es mir, recht weh. Und in dieser Stimmung schrieb ich meine erste Novelle, »Das Christusbild«, das die Liebe eines Juden und einer Christin schildert, und wie das Vorurteil des Weibes stärker ist als seine Liebe. Freilich bereut sie, aber die Reue kommt zu spät.

Ich schrieb die Geschichte binnen drei Tagen, im halben Fieber. Unwillkürlich, ohne nachzusinnen, verlegte ich den Schauplatz in mein heimatliches Czortkow und ließ auch sonst Jugenderinnerungen hineinspielen.

An den Druck dachte ich nicht. Ein Zufall bestimmte mich, das Manuskript ein halbes Jahr später an die damals verbreitetste deutsche Revue zu senden, die »Westermannschen Monatshefte«. Die Redaktion nahm es sofort an und verlangte eine neue Arbeit aus »diesem interessanten Stoffkreise«.

Ich war darüber ebenso erfreut wie erstaunt; daß der Stoffkreis »interessant« sei, daran hatte ich nicht gedacht. Aber ebensowenig daran, dieser ersten Novelle eine weitere folgen zu lassen. Ich wollte ja Jurist werden.

Nun fing ich aber doch an, über den »interessanten Stoffkreis« zu grübeln. Die Gestalten der Heimat wurden mir lebendig. Ich hatte sie einst, als sie leibhaftig vor mir gestanden, sehr nüchternen Blutes angesehen. Nun aber verklärte sie ein Zauber, der Zauber der Ferne. Ich studierte an der Universität Graz, war der einzige Jude an der Hochschule, ja in der Stadt, sah das ganze Jahr lang keinen Juden. Und während ich so grübelte, war eine zweite Novelle fertig: »Der Shylock von Barnow«.

Nun folgte eine lange Pause. Ich geriet, weil ich während des deutsch-französischen Krieges in einer Kommersrede meiner Sympathie für die Deutschen kräftigeren Ausdruck gab, als der neutralen österreichischen Regierung recht schien, in einen politischen Prozeß, dann nahm mich der Abschluß meiner Studien in Anspruch. Als ich fertig war, da fühlte ich, daß ich zum Advokaten nicht taugte, nur der Richterberuf zog mich an.

Aber ich war ein Jude –

Man errät leicht, daß auch dieser Gedankenstrich ein Taufbecken bedeutet. Aber wenn ich schon als Jüngling nicht geschwankt, so noch weniger als Mann.

Aber leben mußte ich ja, und so wurde ich Journalist, schrieb politische Artikel und schnitt mit der Schere die schönsten »Vermischten Notizen« zusammen.

In meinen Freistunden aber schrieb ich Novellen. Bald solche aus dem jüdischen Leben, bald solche aus dem deutschen Leben Es war derselbe Drang, der mich zu beiden führte: ein künstlerischer Drang. Ich wollte darstellen, was ich empfand, dachte, erfand. Aber nicht ins Blaue hinein. Ich konnte nur ein Leben schildern, das ich gesehen. Und so spielen meine ersten Novellen entweder in Graz oder in Czortkow, dem »Barnow« meiner Novellen.

Es ist nicht meines Amtes, darüber zu sprechen, was meinen Büchern zu ihrem Erfolg verholfen hat. Nur eins darf ich darüber bemerken, ohne den guten Geschmack zu verletzen: es waren Bücher, die nicht bloß den Juden, sondern auch den Christen aller Länder gleich verständlich waren.

Nun aber glaubte ich, meiner eigenen künstlerischen Entwicklung etwas anderes, etwas Neues schuldig zu sein: einen Roman aus dem östlichen Ghetto.

Dieser Roman liegt hier vor. Der Plan dazu ist sehr alt, über zwanzig Jahre. Aber ich zögerte immer wieder, ihn auszuführen. Ich fühlte mich aus verschiedenen Gründen noch nicht reif dazu. Endlich glaubte ich, nicht länger zögern zu sollen.

Warum ich so lange zögerte?

Erstlich deshalb, weil es sich eben um einen Roman handelt, während ich bisher aus diesem Stoffkreis nur Novellen geschrieben. Das ist aber nicht bloß bezüglich des äußeren Umfanges, sondern auch bezüglich des inneren Wesens der Arbeit ein Unterschied. Die Novelle schildert einen eng begrenzten, und zwar nicht bloß durch den Raum, sondern auch durch das Problem begrenzten Ausschnitt aus einem bestimmten Leben; der Roman aber soll, sofern er diesen Namen verdient, ein Spiegelbild dieses gesamten bestimmten Lebens sein. Wer einen Ausschnitt schildert, braucht nur diesen zu kennen, zu einem Gesamtbild gehört Beherrschung des gesamten zu schildernden Lebens in seinen sämtlichen oder doch wichtigsten Beziehungen. Ich zögerte, bis ich mir sagen konnte, daß ich genug vom äußeren und inneren Leben des Judentums wußte, um an dieses Werk schreiten zu können. Oder mit einem Worte: ich wollte die jüdische Volksseele tiefer als bisher ergründen lernen.

Das also ist der erste Unterschied dieser Arbeit von meinen bisherigen. Ein zweiter betrifft die Tonart dieses Werkes.

Ich möchte mich als Künstler nicht selbst analysieren. Das ist Sache der Kritiker, die ja auch ihre Arbeit eifrig genug verrichten und noch ferner tun werden, einige vivisezieren mich sogar. Ich will daher nicht eingehend erörtern, daß und warum die Tonart meiner früheren Schriften sich zwischen Tragik und Komik bewegte. Dieser Roman schlägt eine andere Tonart an: die humoristische. Warum erst dieses Werk? Nun, vielleicht muß man älter geworden sein, mehr erfahren und mehr gelitten haben, um das »Lächeln unter Tränen« zu erlernen... Aber auch nach anderer Richtung, nicht bloß der subjektiven meiner Darstellung, sondern auch der objektiven des Inhaltes, darf ich diesen Roman einen humoristischen nennen. Er sucht dem Leser die Fülle jenes eigentümlichen Witzes und Humors nahe zu bringen, der im Ghetto des Ostens zu finden ist, und darf darum keine der Formen vermeiden, in denen sich dieser Witz bewegt, also auch in Formen des Wortspiels nicht.

Und nun ein dritter, vielleicht der größte Unterschied: die Tendenz.

Ich glaube, auch in meinen ersten Schriften meine Pflicht gegen meine Stammesgenossen erfüllt, nicht gegen, sondern für sie, nicht zu ihrem Schaden, sondern zu ihrem Heil gewirkt zu haben. In dieser Zuversicht haben mich auch meine chassidischen Schmäher und Angreifer nicht wankend gemacht. Als ich zuerst das Wort ergriff, da gab mir ein Jude dieser Richtung, ein Mann namens Dr. Lippe in Jassy, den Rat, mich baldigst taufen zu lassen, denn das Judentum hätte für einen Mann meiner Gesinnungen keinen Platz. In milderer Form ist dasselbe oft genug von jüdischer Seite über mich geäußert worden. Ich habe es lächelnd ertragen, weil ich mir sagte: »Dies ist der beste Beweis, daß du deine Pflicht getan hast. Wärest du so töricht, so ungerecht, so feig gewesen, deine Waffen nur gegen die äußeren Feinde des Judentums zu kehren und nicht gegen die inneren Gegner einer gesunden Entwicklung, so wären diese Herren mit dir zufrieden gewesen, aber sonst niemand anders und am wenigsten dein eigenes Gewissen.« Und auf diesem Standpunkt blieb ich stehen.

Freilich, ein Gesamtbild läßt sich dem Leser ungleich schwerer verständlich machen als ein Ausschnitt. Aber ich habe mich bemüht, meinen Roman so zu schreiben, daß er von jedem Leser, gleichviel welchen Bekenntnisses, auch wenn er nie einen Juden des Ostens selbst gesehen hat, verstanden werden kann.

Berlin, 15. Juli 1893

Karl Emil Franzos

Karl Emil Franzos ist am 28. Januar 1904 aus dem Leben geschieden, ohne den »Pojaz« veröffentlicht zu haben. Was ihn bewogen hat, dieses Werk – wohl sein bestes und reifstes – mit dem er sich durch Jahrzehnte beschäftigt und das er im Jahre 1893, im Alter von 45 Jahren, auf der Höhe seiner Schaffenskraft vollendet hat, so lange zurückzuhalten, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel sei gesagt, zweierlei hatte kein Teil an dieser Zögerung: er hielt sein Werk keiner Änderung mehr bedürftig und hat auch tatsächlich seit dem Jahre 1893 nichts mehr hinzu und nichts hinweggetan, und er scheute nicht den Kampf mit den dunklen Mächten, die dies Buch vielleicht wieder gegen ihn aufgewühlt hätte. Denn bis zu seinem letzten Atemzuge blieb er ein Streiter für Recht und Licht.

Über sein Leben und seine Vorfahren hat Franzos in der »Geschichte des Erstlingswerkes« (1894), worin er autobiographische Aufsätze von neunzehn deutschen Schriftstellern über ihre dichterischen Anfänge vereinigt, in seinem Aufsatz: »Die Juden von Barnow« ausführliche, obiges Vorwort ergänzende Mitteilungen gemacht.

Wien, im Juli 1905

Ottilie Franzos

Inhalt

Impressum


Vorwort

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Letztes Kapitel


Erstes Kapitel

Der Held dieser Geschichte – und zwar in Wahrheit ein Held, wenn man diese Bezeichnung nicht einem Menschen, der mit Aufgebot aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele ringt, ungerecht weigern will – hatte auch einen heroischen Vornamen. Er hieß ›Sender‹, in welcher gedrückten, gleichsam ausgeknochten Form der stolze Name Alexander, den die Juden in einer glorreichen Zeit ihrer Geschichte von den Hellenen übernommen, unter ihren gequälten, geknechteten Nachkommen im Osten Europas fortlebt. Minder heldenhaft klingt sein Zuname: Glatteis, den irgend ein Zufall oder die Laune eines Beamten seinem Großvater zugeteilt hatte.

Aber wenige wußten, daß er so hieß, der Name stand eigentlich nur in seinem Geburtsschein, in seinem Konskriptionszettel und in dem Totenschein. In Barnow jedoch ward er nie anders genannt als »Sender der Pojaz« oder noch häufiger »Roseles Pojaz«. Denn die Rosele Kurländer draußen im Mauthause, am Eingang des Städtchens, hatte ihn aufgezogen, und er benahm sich so sonderbar: wie ein »Pojaz« meinten die Leute. »Pojaz« aber ist das korrumpierte Wort für »Bajazzo«.

Auch die Rosel war nur seine Pflegemutter. Sender war mit niemand im Städtchen verwandt, auch sonst mit keinem Menschen in der ganzen weiten Welt. Freilich war er in Barnow geboren und stand im Buch der Gemeinde verzeichnet. Die Leute hätten ihn nicht fortjagen dürfen, selbst wenn er ihnen zur Last gefallen wäre, wie die Scholle das Samenkorn, das ihr der Wind zugetragen, dulden muß, auch wenn es zum Unkraut wird. Aber deshalb ist es doch nur ein Zufall, daß es hier gehaftet und nicht eine Meile weiter. Er freilich hatte die Empfindung nicht, daß er nur so ein Korn im Winde gewesen, und als sie ihn spät genug überkam, bestimmte sie sein ganzes Leben. Den Leuten von Barnow aber war er immer ein Fremder, und es wunderte sie, daß er so lange unter ihnen blieb, denn seine Herkunft war ihnen ja allen vertraut.

Sein Vater, Mendele Glatteis, war ein »Schnorrer« gewesen, ein fahrender Mann, der rastlos umherzog und nichts, gar nichts sein eigen nennen konnte.

Es gibt sehr viele solche Nomaden unter den Juden des Ostens; tausend und abertausend verurteilen sich in dieser Weise freiwillig zur bittersten Armut, zum Verzicht auf all die Güter, die auch dem Dürftigsten das Leben schmücken und erträglich machen: Heimat, Weib und Kind.

Man sagt, der Hang zur Trägheit, die Arbeitsscheu erkläre diese Erscheinung, und hat dabei insoweit recht, als sicherlich kein »Schnorrer« zu einer geordneten Tätigkeit zu bringen ist. Da fruchten nicht Güte, noch Strenge, er würde lieber verhungern, als arbeiten. Aber darum allein brauchte er noch nicht durch aller Herren Länder zu ziehen; so schwer auch die Sorge ums tägliche Brot auf den Juden des Ostens lastet – die ärmsten Menschen der Erde finden sich gewiß im polnischen und russischen Ghetto –, so ist doch dort noch keiner verhungert, so lang die anderen leidlich satt wurden. Der Fleißige verwünscht den Bettler, aber wehe dem, der gegen den Bruder hartherzig sein wollte, er wäre geächtet. So kann der Träge nirgendwo besser fortkommen als dort, wo ihm die fromme Satzung unter allen Umständen den Unterhalt sichert; in der Fremde hat er nicht bloß mit der Polizei zu kämpfen, sondern auch mit den einheimischen Bettlern, die den Zugereisten grimmig verfolgen.

Es hat also noch andere Gründe, als die Trägheit, daß dennoch alljährlich, und zwar in unseren Tagen genau ebenso, wie vor hundert Jahren, Tausende von Ost nach West, von West nach Ost wandern, und daß vollends Hunderttausende innerhalb Halbasiens von der Leitha bis zur Wolga, von der Newa bis zum Bosporus ihr unstetes, armseliges Wesen treiben. Hier spielt die Wanderlust mit, die dies Volk einst noch weiter geführt, noch mehr zerstreut hat, als ohnehin durch seine furchtbaren Geschicke bedingt war, dann die Eitelkeit des »Schnorrers«, vor allem aber das Bedürfnis der seßhaften Leute nach dem Verkehr mit diesen fahrenden Gesellen.

Das klingt seltsam und dennoch ist es jener Grund, der das Schnorrertum forterhält. Auch der Jude Halbasiens weiß sehr wohl, daß es sich da um eine rechte Landplage handelt; er empfindet dies umso deutlicher, als er selbst nichts übrighat. Die fromme Satzung aber würde höchstens hinreichen, dem Fremden den Bissen Brot zu gewähren, nicht aber den freundlichen Empfang, der ihm wird, namentlich in kleinen Gemeinden, die abseits der großen Heerstraßen liegen. Nur die wohlhabendsten Leute des Ortes wagen es, dem eintretenden Vagabunden zunächst ein bärbeißiges Gesicht zu zeigen, aber auch sie lenken rechtzeitig ein, damit er ihnen nicht davongehe.

Am Wochentag ist er nur eben willkommen, aber am Festtag unentbehrlich – was wäre ein Sabbat ohne »Schnorrer«?! Denn es ist ein überaus dumpfes, stilles, eintöniges Leben, das der Jude in diesen Kotstädtchen des Ostens führt; noch gleichförmiger verbringt höchstens der slawische Bauer seine Tage, und der empfindet ihren Druck weit weniger, weil sein Geist ganz ungeweckt ist. Der Jude aber hat hebräisch lesen und schreiben gelernt; die Thora, der Talmud haben seinen Verstand bis zur Spitzfindigkeit geschärft, ihm einen heißen Wissensdurst erweckt, aber befriedigen kann er ihn nur immer aus derselben Quelle: dem uralten Wissen der Väter. Von der modernen Bildung hält ihn ja ebenso der Wille der Machthaber, wie der eigene fromme Wahn fern!

Nachdem er von Morgens bis zum Abend für die Notdurft des Lebens gesorgt, möchte er erfahren, was in der Welt vorgeht, ob sich der Deutsche und der Franzose vertragen; vor achtzig Jahren hat er wissen wollen, ob Napoleon noch nicht aus St. Helena zurückgekehrt ist, heute, ob Bismarck nicht wieder Reichskanzler ist, denn Napoleon wie Bismarck sind für ihn buchstäblich unsterbliche Menschen. Seine Zeitung will der Mann haben, und die gedruckte christliche nützt ihm nichts, weil er sie nicht lesen kann. Auch ist ihm nichts lieber, als ein guter Witz, ein »gleiches Wörtel«, das irgend eine schwierige Talmudstelle scharfsinnig erklärt oder doch so, daß man über die Auslegung lachen kann; auch nach Liedern oder Gassenhausern, nach einem »Spiel« ist er begierig. Und im Ghetto gibt es keinen gedruckten Anekdotenschatz, kein Konzert, kein Theater.

So hat es denn der Himmel gnädig gefügt, daß es dort wenigstens »Schnorrer« gibt. Denn der richtige Schnorrer ist alles zugleich: Witzbold, Sänger, Schauspieler, vor allem aber die lebendige, zweibeinige Zeitung. Vor den gedruckten hat diese Zeitung voraus, daß sie immer in jenem Format erscheint, das dem Abonnenten wünschenswert ist; will er in Kürze bedient sein, in Duodez; liebt er die Ausführlichkeit, in Folio. Auch kann man gleich fragen, wenn man etwas nicht versteht, und findet immer, was man finden will: wer Schnurren liebt, bekommt sie aufgetischt und die Staatsgeschichten nur als Anhang; der Politiker des Ghetto aber kann die längsten Leitartikel genießen, immer nur die hohen diplomatischen Affären, mit einem Feuilleton wird er nicht belästigt. Freilich lügt der Schnorrer oft, während in der gedruckten Zeitung immer nur die Wahrheit steht; auch ist seine Auffassung der Tatsachen oft eine subjektive, ja geradezu einseitige, während in jedem Leitartikel die einzige Meinung zu finden ist, die man als vernünftiger Mensch über ein Ereignis haben kann.

Aber dafür leistet er daneben auch noch Besonderes, was sogar ein Weltblatt nicht gewähren kann. Denn keine andere Zeitung singt und führt komische Soloszenen auf, und so viel Anekdoten auf einmal, wie er mitbringt, könnte auch keine bieten und erschiene sie dreimal täglich in der Größe eines Bettlakens.

Darum braucht der Jude des Ostens seine »Schnorrer«, und es gibt viele unter diesen Landstreichern, die sich die Kundschaft förmlich auswählen können und nicht für jeden zu haben sind, der sie als Gäste begrüßen will. Aber auch bei jenen, die er seines Besuches würdigt, bleibt der »Schnorrer« kaum länger als einen Tag, und selbst in einer größeren Stadt kaum länger als eine Woche. Die Unrast treibt ihn hinweg, aber auch die Klugheit, die Eitelkeit. Er will immer neu, anziehend, willkommen bleiben.

Man sieht, das »Schnorrertum« ist eine Erscheinung im Volksleben des Ostens, die so sehr an die eigentümlichen Verhältnisse wie an den Volkscharakter gebunden ist, daß man in aller Welt und Geschichte nichts Gleiches finden könnte.

Es läge ja nahe, an den »Schmieren«-Künstler zu denken, wie er bei uns in Deutschland von Dorf zu Dorf, von Flecken zu Flecken zieht, durch seine Talente die Leute rührt oder erfreut, und dadurch sein Brot erwirbt, wenigstens zuweilen. In der Tat verdankt auch er, wie der »Schnorrer«, die Möglichkeit, sein Dasein zu fristen, jenem dunklen Drang der Menschenbrust, der auch den Rohesten nicht fehlt, dem Drang, zuweilen aus der Tretmühle seines Lebens ins Freie, aus der platten Wirklichkeit in die Welt des schönen Scheins zu flüchten. Aber der »Schnorrer« ist unendlich vielseitiger und dann ist seine soziale Stellung eine ganz andere, eine viel schlimmere, sollte man denken. Denn der wandernde Komödiant bettelt nur, wenn er durch seine »Kunst« nicht genug verdient, während es beim Schnorrer selbstverständlich ist, daß man ihn beherbergt, beköstigt und zum Abschied eine kleine Wegzehrung reicht. In Wahrheit ist diese Stellung eine weit bessere. Der »Schnorrer« blickt nicht bloß in heimlichem Selbstgefühl auf den Seßhaften herab – das tut ja wohl auch der »Schmieren«-Künstler –, sondern läßt ihn auch oft genug seine Überlegenheit fühlen, und eine andere Behandlung, als die eines Ebenbürtigen, nimmt er höchstens von den Reichsten hin, in der Regel aber überhaupt von keinem. In seinen Augen ist eben Broterwerb keine menschenwürdige Beschäftigung, er dünkt sich nicht allein klüger, witziger, gebildeter – das ist er zumeist wirklich –, sondern auch vornehmer als seine Gönner; vollkommen gleich aber fühlt er sich ihnen schon durch die Satzungen des Glaubens, der nur Brüder kennt und keinen anderen Adel, als den der Gelehrsamkeit. Was gäbe der deutsche Dorfkomödiant darum, wenn er sich so fühlen dürfte, wie der »Schnorrer«!

Aber auch an den Hofnarren des Mittelalters darf man nicht denken, obgleich der Vergleich schon etwas zutreffender wäre: auch er war in allen Bedürfnissen von dem Herrn abhängig und durfte ihm dennoch die Wahrheit sagen. Aber der Hofnarr war deshalb doch ein gemieteter Diener, der »Schnorrer« aber ist ein freier Mann. Ihn drückt keine Sorge um Weib und Kind, um den kommenden Tag; erlebt er ihn, so werden sich auch Speise und Nachtlager für ihn finden, erlebt er ihn nicht, ein Grab auf dem nächsten Judenfriedhof. Wenn nur seine Feinde nicht wären, die Polizei und die einheimischen Bettler! Aber dann schiene ihm sein Leben eben gar zu schön, und etwas Trübsal muß jeder Mensch haben, schon der Abwechslung wegen...

Freilich, nicht jeder »Schnorrer« fühlt sich so glücklich. An manchem nagt die Qual ungestillten Ehrgeizes, der Neid auf die begabteren Kollegen. So kann nur ein Dichterling den wahren Poeten hassen, wie der unfähige »Schnorrer« den echten, richtigen. Auch hier nützt der Fleiß allein nichts, und sogar die Streberei nicht auf die Dauer; das beste ist die »Gabe von oben«. Zum richtigen »Schnorrer« muß man geboren sein, wie zum Dichter.

Einer dieser Echten war der Vater des Sender, Mendele Glatteis, den sie nach seiner litauischen Geburtsstadt den »Kowner« nannten, denn von den »christlichen« Familiennamen, die ihnen durch den Willen der Regierung aufgezwungen worden sind, machen die Juden im Osten untereinander noch heute keinen Gebrauch, geschweige denn zu seinen Tagen; er war am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts geboren.

Der Wille der Eltern hatte ihn zum Talmudisten bestimmt, weil er früh treffliche Anlagen zeigte und schon als Zehnjähriger mit den Gelehrten über die schwierigsten Fragen, die sie beschäftigten, zu disputieren wußte. Seltsame Fragen! – Seit Jahrhunderten werden sie in jeder »Klaus«, wie die jüdischen Studierstuben des Ostens heißen, erwogen, gründlich, mit Aufgebot aller Geistesschärfe, aber noch sind sie nicht ganz gelöst.

Kein Wunder, die Fragen sind eben gar zu schwierig! Zum Beispiel, an welchem Tage Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis gepflückt hat. Ein Sabbat war es gewiß nicht, denn da darf man keine Früchte pflücken, aber welcher Wochentag?! Oder von welcher Art die Leiter gewesen ist, die Jakob im Traum gesehen hat? Natürlich keine Hängeleiter, die an den Wolken befestigt war und bis auf die Erde hinabreichte, denn es steht ja geschrieben, daß sie auf der Erde stand und mit der Spitze an den Himmel rührte. Aber war es eine Schiebeleiter, die zusammenzulegen war, oder bestand sie aus einem Stück? War sie aus Holz, aus Eisen oder aus was sonst? Und vor allem: wieviel Sprossen hatte sie? Das aber hängt mit der Frage zusammen, ob die Engel, die daran auf und nieder stiegen, lange oder kurze Beine hatten. Wie also waren die Engel gebaut? Darauf allein kommt es an, denn wohl wissen wir ja, daß sie Flügel haben, aber in jener Nacht machten sie keinen Gebrauch von ihnen, es steht ausdrücklich geschrieben: »Sie stiegen«. Daraus aber ergibt sich die weitere Frage: Warum stiegen sie, warum flogen sie nicht von Sprosse zu Sprosse? Und dann: »Der Herr stand oben darauf« heißt es in der Heiligen Schrift. Auf der obersten Sprosse also? Oder hatte die Leiter oben eine Plattform? Und wenn diese, wie breit war sie? Aber das sind im Grunde noch naheliegende Fragen im Vergleich mit jenen anderen, die für scharfe Augen zwischen den Zeilen der Heiligen Schrift stehen. Im Lobgesang Mosis wird der Herr gerühmt, weil seine Rechte die Ägypter ins Rote Meer versenkt. Was aber tat zu selbigen Zeit des Herrn Linke? Darüber steht nur eines fest, sie hat nicht etwa das Meer geteilt, denn das vollbrachte, wie geschrieben steht, der Atem des Herrn. Was also verrichtete sie, oder ruhte sie etwa ganz?...

Die Jahre kommen und gehen und werden zu Jahrzehnten, zu Jahrhunderten, immer neue Gebiete des Wissens tauchen auf und unzählige Arbeiter des Geistes mühen sich um sie und häufen sie höher und höher empor, im Osten aber grübeln sie noch heut' wie im Mittelalter über die Linke des Herrn, den Apfelbiß und die Himmelsleiter. Und das ist noch heute dort der einzige Weg, sich als »feiner Kopf« hervorzutun.

Das gelang auch unserem Mendele. Nachdem er den Körperbau der Engel auf den Zoll festgestellt und nachgewiesen, daß Gottes Linke in jenem Augenblick wahrscheinlich nichts getan, beschlossen die Eltern, ihren Einzigen zu einer »Leuchte in Israel« zu machen, und der große Rabbi von Kowno nahm ihn als Schüler in sein Haus auf.

Es ging zunächst alles gut. Mendele machte unerhörte Fortschritte, und darum sah der Gelehrte mild darüber hinweg, daß sich der Knabe viel in den Straßen umhertrieb, seine Mitschüler neckte und sogar ihn selbst nicht verschonte. Der Weise hatte nämlich die Gewohnheit, sich oft zu kratzen – vielleicht auch war es keine Gewohnheit, sondern er hatte jedesmal Grund dazu, und so oft er sich kratzte, tat es auch sein Lieblingsschüler und in ganz derselben Art. Aber Mendele behauptete, es geschähe nur, wenn es eben sein müßte, und erinnerte an den Talmud, wo die Freundschaft zwischen David und Jonathan dadurch veranschaulicht wird, daß es beide stets im selben Augenblicke gehungert und gedürstet habe. Die innige Sympathie, die ihn mit seinem Lehrer verbinde, äußere sich hier eben darin, daß es beide zu gleicher Zeit jucke. Der Rabbi zweifelte; indes, möglich war es doch, und so ließ er die Sache hingehen, so unangenehm ihm das Lächeln der anderen Schüler war.

Er nahm es sogar geduldig hin, als sich die Sympathie in immer deutlicheren äußeren Zeichen entlud. Nun mußte Mendele in derselben Sekunde husten, sich räuspern und schneuzen, wie der Gelehrte, ja, die Sympathie zwang ihn allmählich sogar, in demselben Tonfall, mit derselben heiseren Stimme zu sprechen. Ganz Kowno lachte, aber zu ändern war das nicht.

Da machte ein allerdings seltsames Ereignis dem Unterricht ein Ende.

Zu den schwierigsten Fragen, die der Talmud abhandelt, gehört auch die des Blutflecks im Ei; es ist für den Gläubigen genießbar oder nicht, je nach der Form des Flecks. Nun sind aber die Weisen des Talmuds trotz aller Mühe, die sie auf die Sache gewendet haben, zu keiner völligen Eintracht gelangt, und alle Formen haben sie ja auch unmöglich voraussehen können. So muß denn jeder Gelehrte, so oft er befragt wird, sein Hirn gehörig anstrengen und er wird oft befragt, weil eine sparsame Hausfrau lieber den Gang zum Rabbi macht, als das Ei zu opfern.

Nun begab es sich also, daß Mendeles Mutter plötzlich von diesem Mißgeschick so oft ereilt wurde, wie keine andere Hausfrau; fast jeden zweiten Tag brachte Mendele in ihrem Auftrag ein Ei zum Rabbi. Und immer hatte der Blutfleck höchst seltsame Formen, die dem Gelehrten die Entscheidung umso schwerer machten, als er sehr kurzsichtig war. Die Sache wurde immer unheimlicher; bald hatte der Fleck die Gestalt eines Kreuzes, bald eines Fragezeichens, bald eines Buchstabens. Die Henne der Frau Chane Glatteis schien geradezu verhext!

Eines Tages aber brachte Mendele nach längerer Pause ein Ei zur Schule, dessen Blutfleck wohl unerhört gestaltet sein mußte, denn der Knabe war selbst in sichtlicher Erregung und verfolgte die Bewegungen des Rabbi mit Spannung. Langsam beugte sich der große Gelehrte auf das Ei nieder, blickte es an und fuhr entsetzt zurück, brachte den Fleck noch einmal dicht vor die Augen und schnellte dann bleich und erregt empor.

»Das war noch nie da, seit die Welt steht!« schrie er. »Diese Henne muß ich sehen!«

Der Wunsch war begreiflich. Der Blutfleck hatte diesmal die Form einiger hebräischer Buchstaben, die zusammen das Wort »Esel« bildeten. Ein so merkwürdiges und verruchtes Tier hatte die Welt noch nicht gesehen.

»Ich will Euch die Henne bringen, Rabbi«, sagte Mendele dienstfertig.

»Nein, da seh' ich selbst nach!« rief der Rabbi und eilte zur Mutter seines Schülers.

Mendele begleitete ihn dicht vors Haus, dort drückte er sich und ging spazieren.

Als er heimkam, empfing ihn unter einem Hagel von Schlägen und Vorwürfen die Kunde, daß ihn der Rabbi aus seiner Schule ausgeschlossen, weil er sein Spiel mit dem Heiligsten getrieben. Denn wohl hatte Frau Chane eine Henne, aber dies brave Tier legte immer Eier ohne Blutflecken. Die hatte Mendele mit roter Farbe auf den Dotter gemalt und schließlich auch, durch den Eifer und die Kurzsichtigkeit des großen Gelehrten immer kühner gemacht, die sonderbare Huldigung.

Noch einen Versuch machten die Eltern des damals zwölfjährigen Knaben, ihn jenem frommen Beruf zuzuführen, zu dem ihn seine seltenen Gaben zu bestimmen schienen. Sie vertrauten ihn dem berühmten Talmudisten Rabbi Meyer in Wilna an, der neben dem Ruf großer Gelehrsamkeit auch den einer besonders festen Hand hatte.

In der Tat schien der Rabbi mit Mendele leicht fertig zu werden, und als sich die wachsende Sympathie des Schülers für den Lehrer auch hier in ähnlichen Formen zu äußern begann wie in Kowno, nahm dies bald ein Ende. Denn so oft diese geheimnisvolle Kraft den Knaben trieb, den Rabbi Meyer durch Nachäffung zu verhöhnen, erwachte sie auch in diesem und zwang ihn, dem geliebten Schüler eine ungeheure Maulschelle zu geben. Kein Wunder, daß sich die Sympathie immer seltener äußerte, immer geringer wurde und schließlich in Haß umschlug.

Das ging so bis zu Mendeles dreizehntem Geburtstag fort. An diesem Tage, der im Leben eines jeden jüdischen Knaben einen wichtigen Einschnitt bildet – er wird da konfirmiert und fortab beim Gottesdienst als Erwachsener mitgezählt –, schien sich auch in Mendele eine große Veränderung vollzogen zu haben: der Zorn gegen den strengen Lehrer schlug in sanfte Ergebung, der Haß in Liebe um. Es ist Sitte, daß jeder Lehrer seinen Schüler zu diesem Geburtstage so reich, als ihm irgend möglich, beschenke; auch Rabbi Meyers Geschenk war sehr wertvoll, aber nur in moralischem Sinne. Er hielt dem Knaben nämlich eine sehr lange Mahnpredigt, worin er ihm mit Sicherheit prophezeite, daß er einmal hoch über allen anderen Menschen enden werde, am Galgen. Einen anderen Knaben hätte dies vielleicht erbittert. Mendele aber schien wohl tief zerknirscht, sagte dann aber mit vor Rührung zitternder Stimme: »Ihr habt recht, Rabbi, ich habe kein ander Geschenk verdient. Aber weil ich nun heute dreizehn Jahre alt geworden bin und da Geschenke üblich sind, so schenk' ich Euch was! Verschmähet es nicht, obwohl es wenig ist!« Sprach's, wischte sich die Tränen aus den Augen und überreichte dem Rabbi je eine Büchse jener beiden Salben, die auch der ärmste Jude des Ostens nicht entbehren kann.

Der strenggläubige Jude darf nämlich sein Haupt nicht dem Schermesser beugen, Bart und Wangenlöckchen wachsen, wie ihnen beliebt, und dürfen sogar nie gekürzt werden; im Gegenteil, ihre Länge und Dichtigkeit ist der schönste Schmuck des Frommen und er, der sonst wahrlich auf sein Äußeres nicht viel Pflege, ja nicht einmal allzuviel Wasser wendet, gebraucht doch eine Salbe, die den Bartwuchs befördert. Die andere Salbe aber dient dem entgegengesetzten Zweck: das Haupthaar völlig zu entfernen, denn auch dies gebietet die Mode. Durch einen anderen, als einen völlig kahlen Scheitel würde sich der Fromme entstellt fühlen, und da er sich nicht rasieren lassen darf, so reibt er das Haupt von Zeit zu Zeit mit dieser scharfen Mixtur ein, die zwar anfangs keine Beschwerde macht, darin aber gehörig auf der Kopfhaut brennt. Beide Salben sind weiß und haben metallischen Glanz; um einer Verwechslung vorzubeugen, wird die Ätzsalbe immer in runden, die Bartsalbe in eckigen Büchschen verkauft.

Rabbi Meyer war über das Geschenk betroffen, sogar ein wenig beschämt, dann jedoch machte er, ehe er ins Lehrzimmer ging, von beiden Salben Gebrauch. Mendele aber gönnte sich einen Ferialtag und trollte sich seiner Wege.

Eine Stunde später merkte der Rabbi ein seltsames Brennen auf den Wangen, und als er in den Bart griff, blieb ihm ein Büschel Haare in den Händen. Entsetzt stürzte er in sein Wohnzimmer, die Ätzsalbe abzuwaschen, aber mit ihr ging auch der schöne lange Bart ab und das Antlitz des Würdigen glich nun der litauischen Heide, auf der nur ein wenig Gestrüpp und hie und da ein einzelner Stamm verraten, welcher herrliche Wald da einst gestanden. Nach einiger Zeit erwiesen sich auch die Haarwurzeln der Kopfhaut, die er bisher immer so schnöde mit Ätzsalbe behandelt, für die unverhoffte Labung dankbar und sproßten kräftig empor. Dies Unglück ließ sich ja gut machen, aber der Bart! Die vielen Besuche neugieriger und teilnehmender Verehrer, die den Rabbi zu besichtigen und zu trösten kamen, freuten ihn gar nicht, und Monate währte es, bis er wieder auf die Gasse zu treten wagte. Der Bart aber kam in alter Fülle nie wieder, niemals, und bis an sein Lebensende gab es ihm einen Stich durchs Herz, wenn man ihn bat: »Erzählet doch, was Euch Mendele Kowner zum Abschied verehrt hat!«

Denn Mendele hatte sich die Freude versagt, den Erfolg seiner freundlichen Gabe mit eigenen Augen zu sehen, und war auf Nimmerwiedersehen gegangen, aus dem Haus und aus der Stadt. Er wollte heimkehren und schlug den Weg nach Kowno ein, aber je näher er der Heimat kam, desto kürzer wurden die Tagereisen, desto länger der Aufenthalt bei gastlichen Glaubensgenossen, und in einer Schenke dicht vor Kowno besann er sich eines anderen und schlug den Weg nach Westen ein. Denn viel rascher als er war die Kunde jenes Streiches dieselbe Straße gezogen und wohin immer er gelangte, und als er den Ort, aus dem er kam, Wilna nannte, fragten ihn die Leute sofort nach Rabbi Meyers Bart, und obwohl einige dazu lachten, waren doch die meisten über den unerhörten Frevel an der heiligen Zier eines heiligen Mannes so entrüstet, daß er es vorzog, inkognito zu bleiben. In jener Schenke vor Kowno aber traf er einen Fuhrmann aus seiner Heimat, der ihm erzählte, seine Eltern hätten anfangs viel geweint, nun aber seien sie damit beschäftigt, biegsame Haselstauden in Essig zu legen, auch zwei Bambusrohre seien angeschafft und sonstige Vorbereitungen zu seinem würdigen Empfang getroffen. Da dachte Mendele, daß es ja nicht gleich sein müsse, machte kehrt und zog langsam der preußischen Grenze zu.

Was aus ihm werden sollte, war damals nach seinem Willen noch nicht entschieden, und hätte jemand dem übermütigen, aber klugen und gutherzigen Knaben auf jener ersten Wanderung gesagt, welches Lebensziel seiner harre, ihm wäre die Warnung nicht nahe gegangen. Er war ja guter Leute Kind, hatte etwas gelernt – warum sollte er ein »Schnorrer« werden?! Es fiel ihm gar nicht bei, er war nur eben der Meinung, daß den Haselstauden eine längere Beize nicht schaden würde, und wollte den Zorn seiner Eltern ausrauchen lassen, ehe er heimkehrte. Auch war es für ihn – wie für manchen vor und nach ihm, der die gleichen Pfade geschritten – eine große Verlockung, daß er nicht um Brot und Obdach zu sorgen brauchte.

Wie der Scholar des Mittelalters von einer Universität zur anderen, noch öfter ins Blaue hinein, sorgenlos durch ganz Deutschland ziehen konnte, weil ihm sein Barett und sein bißchen Latein die Türe jedes Pfarr- und Bürgerhauses öffneten, so genügt noch heute in Halbasien das Wort: »Ich bin ein Jeschiwa-Bocher« (Zögling einer Talmudschule), und die spitzfindige Auslegung irgend einer Bibelstelle, um dem Knaben, dem Jüngling jedes jüdische Haus, in das er tritt, zur gastlichen Stätte zu machen. Das Gegenteil wäre eine Sünde, denn wer in der Lehre forscht, dient dem Herrn, und wer ihn unterstützt, erwirbt den Himmel. Nicht einmal mit allzuviel Fragen wurde Mendele behelligt; sagte er den Leuten, er sei auf der Suche nach einer passenden Schule, so wunderten sie sich auch darüber nicht. Ein begabter »Bocher« wählt sich die »Jeschiwa« sorglich aus und bindet sich nie, ehe er sie persönlich kennen gelernt, ehe er weiß, was ihm dort an weiterer Ausbildung oder an Stipendien geboten wird.

Wenn Mendele so sprach, so log er freilich; er wollte zunächst keine neue Schule beziehen, ehe er nicht den Zorn der Eltern beschwichtigt hätte. Nur kam ihm das Wandern, der Verkehr mit den vielen fremden Menschen so ergötzlich vor, daß er die Heimkehr immer wieder aufschob, und als er gar ins Posensche gelangt war, gefiel es ihm dort so gut, daß er seiner guten Vorsätze ganz vergaß. Hier waren die Städtchen reinlicher, die Gemeinden wohlhabender, aber auch die Gelehrsamkeit vernünftiger; ohne es selbst recht zu empfinden, standen die dortigen Rabbinen ein wenig unter dem Einfluß des deutschen Geistes und beschäftigten sich lieber mit den wissenschaftlichen Problemen des Talmuds, als mit den Fragen über die Himmelsleiter. Das gefiel dem begabten Knaben, schon weil es ihm neu war, er blieb monatelang da und dort haften und lernte ernsthaft. Aber zu seinem Unglück war auch die preußische Polizei regsamer als die russische und schaffte ihn eines schönen Tages, da er keine Papiere hatte, über die Grenze.

Das rüttelte ihn auf; er schrieb an seine Eltern, ob er heimkehren dürfe.

Eine Antwort wurde ihm nicht.

Sie zürnten also noch schwerer, als er gedacht, und so traute er sich nicht heim, sondern wanderte ziellos im »Großherzogtum Warschau« umher, das die Laune Napoleons kurz vorher geschaffen hatte. Auch nun hatte er nicht Hunger noch Kälte zu leiden, zugleich stumpfte ihn die Gewohnheit gegen die Mühsal dieses unsteten Lebens ab. Dennoch regte sich ihm die Sehnsucht nach den Eltern immer stärker im Herzen und er beschloß, die Heimkehr zu wagen, auf die Gefahr, daß der Empfang noch so unfreundlich ausfalle.

Diesmal aber trat der Zufall dazwischen oder, wenn man will, das Schicksal.

Als Mendele im Frühling 1812 langsam aus dem Krakau'schen, wo er zuletzt verweilt hatte, nach Norden pilgerte, begegnete er den Kolonnen der »großen Armee«, die sich eben langsam nach Rußland wälzten. Es war später das Hauptstücklein des Kowners – und es hat ihn lange überlebt – zu berichten, wie er bei dieser Gelegenheit zufällig die Bekanntschaft des größten Mannes seiner Zeit gemacht und verstanden habe, sich ihm durch wichtige strategische Ratschläge unentbehrlich zu machen.