Fußnoten

Darf ich mich lächerlich machen und zugeben, dass ich Gides Art, den Leib anzuschwärmen, nicht mag? Er verlangt von ihm, seine Begierden zurückzuhalten, um seine Wollust noch zu steigern. So gesellt er sich zu denen, die im Sprachgebrauch der Freudenhäuser die Verschrobenen und Kopflastigen genannt werden. Auch das Christentum will die Begierde nicht gestatten. Es sieht eher eine Erniedrigung darin. Mein Freund Vincent, Böttcher seines Zeichens und Jugendmeister im Brustschwimmen, hat eine noch klarere Sicht der Dinge. Er trinkt, wenn er durstig ist; begehrt er eine Frau, so versucht er, ein Schäferstündchen mit ihr zu erleben, und wenn er sie liebte, würde er sie sogar heiraten (was jedoch noch nicht vorgekommen ist). Anschließend verkündet er stets: »Nun geht’s mir besser« – womit er knapp und nachdrücklich die Sättigung rechtfertigt.

Siehe Fußnote 1

Minotaurus (Anm. d. Red.).

Hochzeit des Lichts

Der Henker erdrosselte den Kardinal Carrafa

mit einer Seidenschnur, die zerriss: Er musste zweimal von Neuem beginnen. Der Kardinal sah den Henker an, ohne ein Wort zu sagen.

Stendhal, Die Herzogin von Palliano

Hochzeit in Tipasa

Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens suchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem. Kaum kann ich am Rande der Landschaft die schwarze Masse des Chenouagebirges erkennen, das sich aus den dorfumschließenden Hügeln erhebt und in ruhig gewichtigem Rhythmus vorrückt, um sich im Meer niederzulassen.

Wir kommen durch das Dorf, das bereits am Rande der Bucht sichtbar wird. Eine Welt von Gelb und Blau tut sich auf und hüllt uns ein in den bittersüßen Sommergeruch der algerischen Erde. Rings branden die Bougainvillerosen über die Mauern. In den Gärten leuchtet das noch blasse Rot der Hibiskusbüsche, wuchern die dichten, rahmfarbenen Teerosen und blühen in schmalen Reihen die hohen blauen Schwertlilien. Alle Steine sind heiß. Als wir aus unserem dottergelben Autobus steigen, machen die roten Wagen der Schlachter grade ihre morgendliche Rundfahrt und rufen mit ihren Trompetensignalen die Einwohner aus den Häusern.

Links vom Hafen führt eine Treppe aus ungemörtelten Steinen zwischen Mastix- und Ginsterbüschen zu den Ruinen. Dann läuft der Weg weiter, vorbei an einem kleinen Leuchtturm und verliert sich in der Ebene. Bereits am Fuß dieses Leuchtturms wuchern derbe, dickblättrige Pflanzen mit violetten, gelben und roten Blüten hinab zu den Felsklippen, an denen das Meer mit Kussgeräuschen schlürft und saugt. Aufrecht in dem leichten Wind, unter der Sonne, die uns nur eine Gesichtshälfte erhitzt, sehen wir das Licht vom Himmel herabströmen auf die glatte Spiegelfläche des Meeres, das uns mit seinen schimmernden Zähnen anlächelt. Zum letzten Mal, ehe wir das Reich der Ruinen betreten, sind wir Zuschauer.

Denn schon nach wenigen Schritten überwältigt uns der Duft der Wermutbüsche. Ihre graue Wolle bedeckt die Ruinen, so weit das Auge reicht. Ihr Saft gärt in der Hitze und verbreitet über das ganze Land einen Duftäther, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Wir gehen der Liebe und der Lust entgegen. Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor. Ich möchte hier nicht allein sein. Oft bin ich hierhergekommen mit denen, die ich liebte, und habe auf ihren Gesichtern das leuchtende Lächeln der Liebe gelesen. Hier überlasse ich andern, an Maß und Ordnung zu denken, und gehöre ganz der ausschweifenden Ungebundenheit der Natur und des Meeres. Auf dieser Hochzeit der Ruinen und des Frühlings sind die Ruinen wieder Steine geworden, haben die ihnen von Menschen aufgezwungene Glätte verloren und sind wieder eingegangen in die Natur. Und die Natur hat verschwenderisch Blumen gestreut, die Rückkehr dieser verlorenen Kinder zu feiern. Zwischen den Fliesen des Forums erheben Heliotrope ihre weißen, runden Köpfe, und über die Trümmer – einst Häuser, Tempel und öffentliche Plätze – strömt das Blut der roten Geranien. Wie viel Wissen die Menschen wieder zu Gott zurückführt, so haben viele Jahre diese Ruinen ins Haus ihrer Mutter zurückgebracht. Heute gibt ihre Vergangenheit sie endlich frei; und nichts entzieht sie länger jener ewigen Kraft, die sie, wie alle fallenden Dinge, in sich zurücknimmt.

Wie viele Stunden habe ich damit verbracht, den Wermut zu zertreten, die Ruinen zu streicheln und das aufreizende Gemisch aus schwirrenden Stimmen und Düften tief in mich einzuatmen! Begraben unter den Gerüchen der wilden Kräuter und dem einschläfernden Geschrill der Insekten hebe ich Herz und Augen gegen die unerträgliche Größe des gluterfüllten Himmels. Es ist nicht leicht, der zu werden, der man ist, und die eigene Tiefe auszuloten. Beim Anblick aber der überdauernden Chenouaberge füllte mein Herz sich mit seltsam beruhigender Gewissheit. Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein und erfüllte das eigne Maß.

Ich kletterte auf verschiedene Hügel, und jeder hielt eine Belohnung für mich bereit: hier den Tempel, dessen Säulen die Bahn der Sonne messen und von dem aus man das ganze Dorf, seine weißen und rosigen Mauern und seine grünen Lauben überblickt, dort die Basilika auf dem Osthügel, um deren gerettete Mauern, ausgegraben in weitem Kreis, lauter Sarkophage stehen, größtenteils eben erst aus der Erde geholt und halb ihr noch zugehörend. Einst bargen sie Leichen; jetzt wachsen Salbei und Goldlack in ihnen. Sainte-Salsa ist eine christliche Basilika; blickt man aber durch irgendeine Öffnung ins Freie, so dringt alsbald das Lied der Welt herein: die Hügel mit ihren Zypressen und Kiefern, oder das Meer, das seine weißen Hunde kaum zwanzig Meter von hier den Strand hinaufhetzt. Der Hügel, auf dem Sainte-Salsa steht, ist oben flach, sodass der Wind kräftiger durch ihre Säulengänge weht. Unter der Morgensonne wiegt sich ein großes Glück im Raume.

Wie arm sind Menschen, die Mythen brauchen. Hier trifft man die Götter wie Ruhepunkte im Lauf der Tage. Ich sage: »Dies Ding ist rot und jenes blau und jenes grün. Hier ist das Meer und dort das Gebirge, und dort sind Blumen.« Wozu brauche ich von Dionysos zu reden, um zu sagen, wie gern ich die Mastixkügelchen unter meiner Nase zerdrücke. Ist jener alte Hymnus wirklich der Demeter geweiht, an den ich dereinst ohne Bedauern denken werde: »Glücklich der Sterbliche auf Erden, der diese Dinge sah.« Sehen! Auf dieser Erde sehen! – Wie könnte man diese Lehre vergessen? Bei den Eleusinischen Mysterien genügte es, nach innen zu schauen. Ich aber weiß hier und jetzt, dass ich nie nahe genug an die Dinge der Welt herankommen werde. Nackt muss ich sein und muss dann, mit allen Gerüchen der Erde behaftet, ins Meer tauchen, mich reinigen in seinen Salzwassern und auf meiner Haut die Umarmung von Meer und Erde empfinden, nach der beide so lange schon verlangen. Und dann der Schock im Wasser, das Steigen der dunkelkalten klebrigen Flut; das Untertauchen und das Sausen in den Ohren, die strömende Nase und der bittere Mund; das Schwimmen, die wasserglitzernden Arme, die sich auftauchend in der Sonne bräunen und mit einer Drehung aller Muskeln wieder eintauchen ins Meer; das über meinen Leib hinströmende Wasser; der schäumende Tumult, den meine Füße entfesseln – und der verschwundene Horizont. Zurückgekehrt an den Strand, werfe ich mich in den Sand, gebe mich der Erde hin, fühle aufs Neue das Gewicht meines Fleisches und meiner Knochen und wage, betäubt von der Sonne, in langen Pausen einen Blick nach meinen Armen, wo aus der tröpfelnden Nässe trockne Hautstellen auftauchen mit Salzstaub und blondem Haarflaum.

Hier begreife ich den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe. Es gibt nur diese eine, einzige Liebe in der Welt. Wer einen Frauenleib umarmt, presst auch ein Stück jener unbegreiflichen Freude an sich, die vom Himmel aufs Meer niederströmt. Wenn ich mich jetzt gleich in die Wermutbüsche werfe und ihr Duft meinen Körper durchdringt, so werde ich bewusst und gegen alle Vorurteile eine Wahrheit bekennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird. Spiele ich nicht und verspiele hier mein Leben – ein Leben, das nach heißen Kieseln schmeckt und sich betäubt an dem girrenden Branden des Meeres und dem Geschrill der Grillen, die jetzt zu singen beginnen. Die Brise ist frisch, der Himmel ist blau. Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: Ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Und doch hat man mich oft genug gefragt, worauf ich denn so stolz sei. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt mir, dass ich, geduldig wie eine schwierige Wissenschaft, die so viel wichtiger ist als all die Lebenskunst der andern, lerne: zu leben.

Kurz vor Mittag kehren wir zurück durch die Ruinen und gehen in ein kleines Hafencafé. Wie wohltuend dieser schattige Saal und dieses große geeiste Glas mit grünem Pfefferminzlikör: Der Kopf schwirrt uns von den Zimbelschlägen des Lichts und seinen grellen Farben! Draußen blendet das Meer und die glühende staubige Straße. Ich sitze am Tisch und versuche mit meinen zwinkernden Augen das farbige Flimmern des weiß glühenden Himmels auszuhalten. Mit schweißnassen Gesichtern, aber frischen Gliedern genießen wir in unsern leichten Leinenkleidern nach hochzeitlicher Weltumarmung das Glück der Ermattung.

Das Essen in diesem Café ist schlecht; dafür herrscht Überfluss an Früchten, vor allem an Pfirsichen, deren Saft uns beim Hineinbeißen übers Kinn läuft. Die Zähne in der Frucht, höre ich mein Blut dumpf in den Ohren klopfen, und meine Augen trinken die Fülle des Lichts. Das Meer schläft in der ungeheuren Mittagsstille. Jedes schöne Wesen hat den natürlichen Stolz seiner Schönheit; und die Welt atmet heute diesen Stolz aus allen Poren. Und angesichts ihrer Pracht – warum sollte ich meine Lebensfreude verleugnen, selbst wenn ich nicht alles unter sie befassen kann? Es ist keine Schande, glücklich zu sein. Heutzutage aber ist der Dummkopf König, und ich nenne jeden einen Dummkopf, der sich vorm Genießen fürchtet. Man hat uns so viel vom Stolz gesprochen: der Sünde Satans. Gebt acht, hieß es, ihr richtet euch und eure lebendige Kraft zugrunde. Ich habe seitdem in der Tat begriffen, dass ein gewisser Stolz …Zu andern Zeiten aber kann ich’s nicht lassen und sage aus vollem Herzen Ja zu jenem Lebensstolz, den diese ganze Welt mir einreden will. Wer in Tipasa sagt »ich sehe«, sagt auch »ich glaube«; und warum sollte ich verleugnen, was meine Hände berühren und meine Lippen liebkosen können! Ich fühle nicht das Bedürfnis, ein Kunstwerk daraus zu machen, sondern will nur erzählen, was nicht dasselbe ist. Tipasa kommt mir vor wie eine von jenen Romanfiguren, die man beschreibt, um mittelbar eine bestimmte Haltung zur Welt zu kennzeichnen: Wie jene legt es sein männliches Zeugnis ab. Heute ist es meine Romanfigur, und meine trunkene Lust, es zu umwerben und zu beschreiben, wird so bald kein Ende finden. Leben wie Zeugnis ablegen: Jedes hat seine Zeit. Schöpferisch arbeiten hat auch seine Zeit, was sich nicht ebenso von selbst versteht. Mir genügt es, wenn ich mit meinem ganzen Leibe leben und mit meiner ganzen Seele Zeugnis ablegen darf. Tipasa erleben, Zeugnis ablegen – das Kunstwerk kommt später, wie unsere Freiheit es will.

 

Nie bin ich länger als einen Tag in Tipasa geblieben. Stets kommt der Augenblick, wo man eine Landschaft zu viel gesehen hat, wie es andrerseits lange braucht, bis man sie genug gesehen hat. Gebirge, Himmel und Meer sind wie Gesichter, deren Öde oder Pracht man nicht durch Sehen entdeckt, sondern durch Schauen. Indessen muss jedes Gesicht sich irgendwie erneuen, sonst sagt es uns nichts mehr. Wir beklagen uns, dass wir zu rasch ermüden, statt dankbar zu staunen, dass wir die Welt nur zu vergessen brauchen, um sie wie neu zu empfinden.

Gegen Abend ging ich zurück in den Park, und zwar in seinen gepflegteren, gartenähnlichen Teil neben der Autostraße. Die verwirrende Duft- und Farbenfülle war dahin; in der kühlen Abendluft beruhigte sich der Geist, und der entspannte Geist genoss jenes innere Schweigen, das eine Frucht gestillter Liebe ist. Ich setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie der Tag und die Erde sich friedlich erfüllten. Ich war satt. Über mir ließ ein Granatbaum seine Knospen hängen: lauter kleine, fest geschlossene Fäuste, in denen die Hoffnung des Frühlings schlief. Hinter mir blühte Rosmarin; sein Alkoholgeruch verriet ihn. Ferne Hügel traten in den Rahmenumriss der Bäume und noch ferner ein schnurschmaler Streifen Meer, den wie ein stilles Segel der helle Himmel überstieg. Eine geheime Freude füllte mein Herz: das Glück eines ruhigen Gewissens – jenes Glück des Schauspielers, der seine Rolle gut gespielt und so vollkommen in Klang und Gesetz verleiblicht hat, dass sich das fremde, fertig vorausgegebene Schicksal ganz und genau in seinem eigenen Herzen vollzieht und erfüllt.

Und eben dies empfand ich: Ich hatte meine Rolle gut gespielt. Ich hatte meine Menschenpflicht getan und hatte einen ganzen langen Tag in Freude verbracht; und war mir so auch nichts Ungewöhnliches gelungen, ich hatte doch ergriffenen Herzens jenem Lebenssinn gehorcht, der uns bisweilen befiehlt, glücklich zu sein. Wir finden alsdann die Einsamkeit wieder – und sind es zufrieden.

 

Die Bäume waren nun voller Vögel. Die Erde atmete leiser, und das Dunkel wuchs. Gleich wird es, mit dem ersten Stern, Nacht werden, und die strahlenden Götter des Tages werden ihren täglichen Tod erleben. Andere Götter werden kommen. Ihre verwüsteten Mienen werden düsterer sein, obschon auch sie aus dem Herzinnern der Erde stammen.

Das unermüdliche Aufschäumen der Wellen am Strande kam jetzt von weit her zu mir durch die von goldenem Blütenstaub erfüllte Luft. Meer, Land, Stille und die Gerüche dieser Erde – ich trank ihren Duft und ihren Atem und biss in die goldene Frucht der Welt und fühlte erschauernd ihren starken süßen Saft mir über die Lippen laufen. Nein, ich zählte nicht, noch die Welt; nur die schweigsame Eintracht unserer Liebe galt, und ich war nicht so eitel, diese Liebe für mich allein zu beanspruchen, sondern war mir mit Stolz bewusst, sie mit einer ganzen Rasse zu teilen, deren Größe in ihrer schlichten Einfalt wurzelt und die an den Ufern des Meeres das strahlende Lachen des Himmels aufrecht mit brüderlich-dankbarem Lächeln erwidert.

Der Wind in Djemila

Es gibt Orte, wo der Geist stirbt um einer Wahrheit willen, die ihn verneint. Als ich nach Djemila kam, wehte es, und die Sonne schien; aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt will ich nur sagen, dass eine drückende Stille über allem lag – reglos wie das Gleichgewicht einer Waage. Einige Vogelschreie, der gedämpfte Ton der dreigelochten Flöte, das Getrippel von Ziegen – all diese Geräusche brachten mir die Stille und Trostlosigkeit des Ortes erst zu Bewusstsein. Hin und wieder flog flügelklatschend und schreiend ein Vogel aus den Trümmern. Jeder Weg, jeder Pfad zwischen den Häuserresten, die großen gepflasterten Straßen zwischen den leuchtenden Säulen, das riesige, auf einer Anhöhe zwischen Triumphbogen und Tempel gelegene Forum – alle enden in jenen Schluchten, die von allen Seiten Djemila umgeben, das wie ein ausgebreitetes Kartenspiel unter dem endlosen Himmel liegt. Und dort ist man nun, einsam und umringt von Stille und Steinen; und der Tag geht hin, und die Berge wachsen und werden violett. Aber der Wind bläst über die Hochebene von Djemila. Mitten in diesem großartigen Durcheinander von Sonne und Wind und lichtgrellen Ruinen nimmt die schweigende Verlassenheit der toten Stadt den Menschen mehr und mehr in sich hinein und verschlingt ihn.

Man braucht viel Zeit, um nach Djemila zu gelangen. Es ist keine Stadt, wo man haltmacht, um später weiterzufahren. Djemila führt nirgendwo hin und erschließt keinerlei Landschaft. Es ist ein Ort, den man wieder verlässt. Die tote Stadt liegt am Ende einer langen, vielfach gewundenen Straße, die immer wieder ihr Erscheinen verheißt und deshalb so ermüdend lang wirkt. Endlich, tief eingelassen zwischen hohen Bergen auf dem blassen Hochplateau, taucht das gelbliche Skelett eines Knochenwaldes auf: Djemila, Gleichnis und sichtbare Lehre, dass überall nur Geduld und Liebe uns bis ans klopfende Herz der Welt gelangen lassen. Dort, zwischen ein paar Bäumen, liegt die gestorbene Stadt und verteidigt sich mit all ihren Bergen und all ihren Trümmern gegen billige Bewunderung, malerisches Missverstehen und törichte Träume.

Den ganzen Tag waren wir in diesem dorrenden Glanz umhergeirrt. Langsam schien der Wind, den man am frühen Nachmittag kaum fühlte, mit jeder Stunde zu wachsen und das ganze Land zu füllen. Er kam von weit her aus einer Lücke zwischen den östlichen Bergen, eilte vom Horizont herbei und warf sich in jähen Sprüngen zwischen die sonnenglühenden Trümmer. Unermüdlich blies und jagte er durch die Ruinen, drehte sich in einer Kies- und Staubwolke im Kreise, hagelte auf die durcheinandergeworfenen Steinquadern nieder, schlang sich brünstig um jede Säule und stürmte mit gellem Geheul über das Forum, das wehrlos unterm Himmel lag. Ich flatterte wie ein Segel im Wind. Mein Magen zog sich zusammen; meine Augen brannten, meine Lippen sprangen auf, und meine Haut trocknete aus, bis ich sie kaum noch als meine empfand. Durch sie hatte ich sonst die Schrift der Welt, die Zeichen ihrer Huld oder ihres Zornes, entziffert, wenn ihr sommerlicher Atem sie erwärmte oder der Reif seine Frostkrallen in sie schlug. Jetzt aber, stundenlang vom Wind gepeitscht und geschüttelt, betäubt und ermattet, ging mir das Gefühl für die Oberfläche, die meinen Leib zusammenhielt, verloren. Der Wind hatte mich geschliffen wie Flut und Ebbe den Kiesel und hatte mich bis zur nackten Seele verbraucht. Ich war nur noch ein Teil von jener Kraft, die mit mir tat, was sie wollte, und mich immer entschiedener in Besitz nahm, bis ich ihr schließlich ganz gehörte, sodass mein Blut im gleichen Rhythmus pulste und dröhnte wie das mächtige allgegenwärtige Herz der Natur. Der Wind verwandelte mich in ein Zubehör meiner kahlen und verdorrten Umgebung; seine flüchtige Umarmung versteinte mich, bis ich, Stein unter Steinen, einsam wie eine Säule oder ein Ölbaum unter dem Sommerhimmel stand.

Dies gewaltsame Wind- und Sonnenbad erschöpft meine gesamte Lebenskraft, die kaum noch in mir die matten Flügel regt, kaum sich zur Klage aufrafft, kaum sich zur Wehr setzt. Schließlich bin ich, in alle Winde verstreut, alles vergessend, sogar mich selbst, nur noch dieser wehende Wind und im Wind diese Säule und dieser Bogen, dieses glühende Pflaster und dieses bleiche Gebirge rings um die verlassene Stadt. Nie habe ich in einem solchen Maße beides zugleich, meine eigne Auflösung und mein Vorhandensein in der Welt, empfunden.

Ja, ich bin vorhanden; und jäh wird es mir klar, dass ich an eine Grenze rühre wie ein für immer eingekerkerter Mensch, für den alles vorhanden ist; aber auch wie ein Mensch, der weiß, dass »morgen« wie »gestern« sein wird und ein Tag wie der andere. Denn wenn ein Mensch seines Vorhandenseins innewird, erwartet er nichts mehr. Es sind die banalsten Landschaften, die einen Seelenzustand widerspiegeln. Ich aber suchte in diesem Lande überall nach etwas, das nicht mir gehörte, sondern von ihm ausging: eine gewisse Freundschaft mit dem Tode, in der wir uns verstanden. Zwischen den Säulen, die jetzt schräge Schatten werfen, zergingen meine Ängste wie verwundete Vögel in der hellen Trockenheit der Luft. Alle Angst kommt aus lebendigen Herzen; aber jedes Herz wird Ruhe finden: Das weiß ich, und sonst nichts. Je mehr der Tag zur Neige ging, je stiller und fahler die Welt wurde unter dem Aschenregen der einfallenden Dunkelheit, desto selbstverlorener und wehrloser fühlte ich mich gegen jenes langsame, innere Aufbegehren, das »Nein« sagte.

Wenige Menschen begreifen, dass es ein Verweigern gibt, das nichts mit Verzichten zu tun hat. Was bedeuten hier solche Worte wie Zukunft, Beruf und Fortkommen oder der Fortschritt des Herzens? Wenn ich eigensinnig nichts von »später« hören will, so vor allem, weil ich ohnehin nicht auf meinen gegenwärtigen Reichtum verzichten will. Ich mag als junger Mensch nicht glauben, dass der Tod der Beginn eines neuen Lebens ist. Für mich ist er eine zugeschlagene Tür. Ich sage nicht: Er ist eine Schwelle, die es zu überschreiten gilt – er ist ein furchtbares und schmutziges Abenteuer! Alles, was man mir einreden will, möchte dem Menschen die Last seines Lebens abnehmen. Aber ich sehe die großen Vögel mit ihren schweren Schwingen über Djemila kreisen und verlange nach einer gewissen Lebenslast und bekomme sie. Ganz aufgehen in diesem Wunsch: zu dulden – und alles Übrige zählt schon nicht mehr. Ich bin zu jung, als dass ich vom Tode reden könnte. Müsste ich’s dennoch – hier würde ich das rechte Wort finden, das zwischen Schrecken und Schweigen das klare Wissen um einen Tod ohne Hoffnung bekennt.