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FADENKREUZ

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Eva Rossmann, 1962 geboren, lebt im Weinviertel/Österreich.

Verfassungsjuristin, politische Journalistin, seit 1994 freie Autorin und Publizistin. Seit ihrem Krimi Ausgekocht auch Köchin in Buchingers Gasthaus „Zur Alten Schule“.

Drehbuchautorin, Moderatorin der ORF-Radio-Sendung „Café Sonntag“.

Zahlreiche Sachbücher.

Österreichischer Buchliebling 2009, Leo-Perutz-Preis 2014.

Bisher bei Folio erschienene Krimis:

Wahlkampf (1999/2006), Ausgejodelt (2000), Freudsche Verbrechen (2001),

Kaltes Fleisch (2002), Ausgekocht (2003), Karibik all inclusive (2004),

Wein & Tod (2005), Verschieden (2006), MillionenKochen (2007),

Russen kommen (2008), Leben lassen (2009), Evelyns Fall (2010),

Unterm Messer (2011), Unter Strom (2012), Männerfallen (2013),

ALLES ROT (2014), sowie Mira kocht (2007), das Kochbuch zur Krimiserie.

www.evarossmann.at

Eva Rossmann

FADENKREUZ

Ein Mira-Valensky-Krimi

 

 

 

Folio Verlag

Wien • Bozen

 

 

Lektorat: Joe Rabl

 

© Folio Verlag Wien • Bozen 2015

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde

Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart

ISBN 978-3-85256-668-9

www.folioverlag.com

[  1.  ]

Ich bin allein. Die Wände sind grau. Muffige Kühle. Das ist in einem alten Wiener Keller ganz normal. Ich höre meinen Atem. Dann höre ich noch etwas. Ein Schaben. Ein Klopfen. Es ist nicht einmal zwei Wochen her, dass Hanh ermordet worden ist.

Ich blinzle nach oben. Eine Glühbirne. So eine, die den Fortschritt überlebt hat. Ihr Schein reicht nicht weit. Am Boden Kunststoffbelag mit Parkettmuster. Da und dort fehlt ein Stück. Ratten. Fressen die wirklich alles?

Ich hole so leise wie möglich Luft. Und öffne vorsichtig die Tür.

Messer. Es blitzt im Licht. Tote Körper. Weißbleich übereinander auf einem Tisch aus Stahl. Und eine schmale Gestalt, die sie zerteilt. Flügel, Keule, Brust. Mit flinken Schnitten. Ich habe hier nichts verloren, will die Tür wieder zuziehen. Sie knarrt und die Frau dreht sich abrupt zu mir um. Vor Schreck aufgerissene Mandelaugen, ein schmales Gesicht. Schwarze Haare, zu einem dicken Zopf geflochten. Das Messer noch immer in der rechten Hand.

„Oh, ich hab die Tür verwechselt. Gibt es heute Huhn?“, frage ich. Das ist Hanh. Die vor kurzem erschossen worden ist.

Hanh starrt mich an. Dann lässt sie das Messer fallen, es klirrt auf den Betonboden. Sie sieht sich panisch um, macht einen Sprung auf mich zu, ich taumle, kann mich gerade noch an der Wand abstützen. Sie ist an mir vorbei, sie rennt, hin zum bunten Webteppich. Dort sind die Toiletten. Die Stufen nach oben. Ich hetze ihr nach. „Hanh!“, will ich schreien und stöhne bloß „Hhhhh“. Brauche alle Luft, um sie einzuholen. Sie ist schlank und klein und schnell wie der Wind. Mehr ein Schatten als eine reale Person. Sie fliegt den Gang entlang, reißt die Tür ins Freie auf. Asphalt, ein winziger Innenhof, Müllcontainer. Fauliger Geruch. Ich sehe gerade noch, dass sie sich zwischen den Behältern für Altpapier und Plastik durchzwängt. Ich muss die Container verschieben, um weiterzukommen. Ein Vieh, das davonhuscht. Katze? Marder? Ratte? Dann die Tür zum nächsten Haus. Was, wenn sie mir auflauert? Hanh? Sie ist einen Kopf kleiner als ich. Wiegt dreißig Kilo weniger. – Und sie ist eigentlich tot.

Wieder Stufen nach oben. Keine Spur von ihr, nur mein Atem. Ich renne Richtung Licht, wieder eine Tür. Und eine schmale Gasse. Geparkte Autos. Straßenlaterne. Keine Hanh. Nirgendwo. Ich lausche. Sehe mich um. Es ist kurz nach zehn am Abend. Es ist so menschenleer, als hätte man die Gehsteige hochgeklappt. Wohnhäuser, renovierungsbedürftige zweigeschoßige Handwerkshäuser aus der Biedermeierzeit. Eine unspektakuläre Gasse in der Nähe des Wiener Gürtels. Mir ist empfindlich kalt, es ist Mitte März und ich hab meine Jacke in dem kleinen vietnamesischen Restaurant gelassen. Sfigureng Lâu – was so viel wie „Langes Leben“ bedeutet. Auch wenn die meisten es Song nennen und sich wundern, warum es „Lied“ heißt. Ich spähe zwischen die geparkten Autos, keine Hanh. Sie hat das Lokal gemeinsam mit ihrem Mann geführt. Und sie hat kein langes Leben gehabt – oder kann sie doch noch eines haben? Ich begreife es nicht. Ich bin hinunter auf die Toilette. Und ich bin eben ein wenig neugierig. Also bin ich den Kellergang entlang. Dann habe ich dieses Geräusch gehört. Sieht so aus, als wäre Hanh doch nicht tot. Ich bleibe stehen. Zuerst einmal sollte ich überlegen, wo ich bin. Wohl in einer Parallelgasse zum Lokal. Aber in welcher? Ich gehe weiter bis zur Kreuzung. Entscheide mich für die Straße, die zum Gürtel führt. Zwei ältere Männer und ein Hund. Soll ich sie fragen, ob sie eine Vietnamesin vorbeirennen gesehen haben? Aber wäre es so, hätte ich sie wohl gehört. Nicht einmal sie kann sich lautlos bewegen. Oder doch? Ein Schatten? Ein Trugbild? Ihr Geist? Ich hole tief Luft. Ich neige nicht besonders zu parapsychologischen Begegnungen. Wahrscheinlich, weil es so niemandem zu begegnen gibt. – Hanh ist auf dem Weg vom Lokal zu ihrer Wohnung erschossen worden. Vermutlich von einem fahrenden Motorrad aus abgeknallt. Die einen reden von einer Schutzgeldgeschichte. Die anderen von Ausländerfeinden. In den letzten Monaten haben es einige Idioten geschafft, die Stimmung besonders aufzuheizen. Allerdings richtet sich der Zorn eher gegen die türkische Community. Mitglieder einer Türkenbande haben Feuer in einer Kirche gelegt. Zwar war keiner älter als vierzehn und der Schaden beim Seitenaltar war nicht größer, als wenn ein paar Opferkerzen umgefallen wären, aber es hat gereicht, um die Boulevardpresse zu alarmieren. Und um auch in seriöseren Medien lange Diskussionen darüber zu führen, ob jetzt der Kampf des Islam gegen das Christentum Wien erreicht hat.

Ein großer dunkler Wagen biegt um die Ecke. Ich drücke mich an die Hausmauer. Ich höre, dass drinnen Musik läuft. Schwere hämmernde Bässe. Er fährt vorbei. Ich gehe rasch, renne beinahe. Ruhig bleiben. Hausecke. – Und die Gasse, die ich kenne. Nicht weit von Vesnas Büro entfernt. „Sauber – Reinigungsarbeiten aller Art“. Keine noble Gegend, aber eine ruhige. Arbeiter, Migrantinnen, Pensionisten, immer mehr junge Leute, die erschwingliche Wohnungen brauchen. Vesnas Haus soll seit Jahren abgerissen werden. Aber Spekulanten, Erben und Stadtverwaltung streiten. Meine Freundin ist gerne hier. Auch weil es da weniger Schwellenangst gibt, was ihren kleinen Nebenberuf angeht. Auf dem Schreibtisch ihres gutgehenden Reinigungsunternehmens steht nämlich noch ein anderes Telefon. Seine Nummer kann man wählen, wenn man mehr wissen will. Über verschwundene Freunde, den Lebenswandel der Freundin des einzigen Söhnchens, den Verbleib von Stereoanlage, Fernseher oder Laptop. Meine Freundin liebt das Abenteuer. Während ich eigentlich eher für ein ruhiges Leben bin. Und trotzdem stehe ich jetzt da und überlege, ob ich soeben eine Tote gesehen habe. Beziehungsweise, ob die angeblich Tote gar nicht tot ist. Aber eine Schusswunde kann man schlecht vortäuschen. Ganz abgesehen davon, dass Hanh sicher verwahrt in der Gerichtsmedizin liegt. Oder schon begraben ist. – Wie begraben die Vietnamesen eigentlich ihre Toten?

Vom Gürtel her entfernter Straßenlärm. Was weiß ich schon von den Besitzern des Sfigureng Lâu? Dass er hervorragend Deutsch spricht und sie es auch ganz gut kann. Dass sie bis vor ein paar Monaten in Deutschland waren. Dass sie ausgezeichnet kochen. Warum zerlegt Hanh im Keller Hühner? Weil sie nicht gesehen werden möchte. Die Gänsehaut auf meinen Armen kann nur von der Kälte hier draußen kommen. Dort ist die Eingangstür. Hell. Freundlich. Vietnamesische Schriftzeichen, darunter unsere Buchstaben. Und eine Reihe Fähnchen, auf denen „Langes Leben“ steht. Ich stoße die Tür auf, bin vom Stimmengewirr, von der plötzlichen Wärme irritiert. Alles normal. Das Lokal ist voll, plaudernde, zufrieden aussehende Gäste. Sui, die serviert. Sie heißt eigentlich Susi und studiert technische Mathematik. Vesna starrt mich fragend an.

„Dachte schon, du bist in Klo gefallen.“

Oskar sagt etwas von „Montezumas Rache“.

„Ist ja keine lateinamerikanische Küche“, murmle ich zerstreut.

„Die frische Frühlingsrolle mit Mango und Erdnüssen war großartig“, bestätigt Vesna.

„Mir haben die gebackenen Frühlingsrollen mit Huhn und Ingwer fast noch besser geschmeckt“, ergänzt Oskar.

„Und erst der grüne Papayasalat mit Rindfleisch“, setzt Vesna fort. „Du sollst auch einmal vietnamesisch kochen.“

„Das Schwein in Kokosmilch mariniert war derart zart und dazu die feine Chilischärfe“, macht Oskar weiter und sieht mich aufmerksam an. „Was ist los mit dir? Seit wann redest du nicht mehr übers Essen? Ist dir schlecht? Das kommt sicher nicht von dem, was wir hier bekommen haben.“

Ich versuche ein Lächeln und sehe mich nach Tien um. Hanhs Mann. Ein liebenswürdiger, höflicher Vietnamese. Der womöglich ein ziemlich finsteres Geheimnis hat. Dann erzähle ich.

Am Ende meines Berichts schüttelt Vesna den Kopf. „Schauen doch viele sehr ähnlich aus, die Vietnamesen“, meint sie. „Du hast zu viel Fantasie.“

Oskar sagt nichts, aber ich sehe ihm an, dass er meiner Freundin recht gibt.

„Das ist ein dummes Klischee. Wir sehen nur oft nicht genau hin. Es war Hanh“, beharre ich.

Vesna nimmt einen Schluck Mangosaft. „Hanh ist vor zehn Tagen erschossen worden. Ich habe euch schon erzählt, ich kenne einen, der hat es beinahe gesehen. Er ist auf die Straße. Da ist Hanh gelegen. Und er hat Motorrad gehört, fast wie Formel-1-Wagen, laut, stark.“

„Das ist in der Zeitung gestanden. Wahrscheinlich hat er es einfach gelesen“, widerspreche ich.

„Es soll um Schutzgelder gegangen sein. Die beiden sind noch nicht lange da, vielleicht wollten sie nicht zahlen“, überlegt Oskar.

„Schutzgelder? Ich weiß nicht. Vielleicht am Gürtel, in den Bars und Laufhäusern, aber bei einem kleinen Vietnamesen?“ Mir fällt etwas ein, das mir schon durch den Kopf gegangen ist, als ich den Tisch bestellt habe. „Es ist eigenartig, dass Tien das Lokal so bald nach dem Tod seiner Frau wieder aufgesperrt hat.“

„Also doch tot“, wirft Vesna zufrieden ein. „Du wirst wieder vernünftig. Und für Aufsperren gibt es viele Gründe. Wahrscheinlichster ist: Er muss von etwas leben. Sie haben investiert. Und wenn es rassistischer Mord war, dann ist das die beste Reaktion. Nicht unterkriegen lassen.“

„Vielleicht gehen die Vietnamesen anders mit dem Tod um“, überlegt Oskar. Mein Mann. An sich Wirtschaftsanwalt. Aber momentan offenbar Ethnologe. Ich will schon laut spotten, als ich Tien sehe. Man sollte ihn fragen. Aber was? Ob seine tote Frau im Keller Hühner zerteilt? An wen er Schutzgeld hätte zahlen sollen? Ob er von irgendwelchen Nazis bedroht worden ist?

Vesna winkt Tien her. Mir wird heiß. Sie wird wohl nicht wirklich … aber sie sieht Tien bloß an und meint: „Man weiß schon mehr über … die fürchterliche Sache?“

Der Vietnamese schlägt die Augen nieder. Dann schüttelt er den Kopf.

„Meine Freundin hat einen sehr guten Freund, er ist Gruppenleiter bei der Polizei. Für Todesfälle. Vielleicht er kann helfen.“ Vesna deutet auf mich.

Na super. Zuckerbrot wird sich freuen, wenn er Tien beraten soll. Und kann sein, dass er mich kaum als „gute Freundin“ bezeichnen würde. Zumindest nicht, wenn sich unsere Wege quasi beruflich kreuzen.

Tien schüttelt weiter den Kopf. Sagt lange nichts und dann: „Sie haben mich befragt. Es gibt kein Schutzgeld, ich habe das gesagt. Man hat die Türe beschmiert, als wir gekommen sind. Mit roter Farbe. Wir sollen wieder gehen. Es waren Ausländerfeinde. Sie haben auch Milo bedroht. Er wohnt in unserem Haus. Er ist aus Rumänien.“

„Sie haben das der Polizei erzählt?“, mische ich mich ein.

Tien nickt. Er sieht eigentlich aus wie immer. Vielleicht ein wenig ernster. – Aber wie anders sieht man schon aus, wenn plötzlich ein geliebter Mensch gestorben ist? Für immer verheult? Der Schmerz sitzt tiefer. Das wird bei Vietnamesen nicht anders sein.

Zwei Tische weiter winkt ein Gast. Tien murmelt eine Entschuldigung und eilt zu ihm. Ob alle hier wissen, was geschehen ist? Die Sache war natürlich in den Medien. Aber nicht sehr groß und nicht besonders ausführlich. Im „Blatt“, der auflagenstärksten, aber deswegen nicht eben besten Zeitung im Land, hat man davor gewarnt, dass „Ausländerfehden“ nun auch auf Österreich übergreifen könnten. Und dass man dagegen rechtzeitig etwas unternehmen müsse. Straffällige Ausländer sollten sofort abgeschoben werden. Daneben war ein Foto von Tien zu sehen, auf dem er ein Tablett mit Gläsern hält und lächelt. Die Bildunterschrift: „Dang Văn Tien in seinem neuen Lokal, ehemals Alpenstüberl“. Sie haben offenbar ein Werbefoto vom Lokal genommen. Wahrscheinlich von der Eröffnung. Das Alpenstüberl war laut Vesna derart heruntergekommen, dass selbst die schweren Alkoholiker aus den umliegenden Gassen lieber auf der Straße vor dem Lokal getrunken haben. Bier. Aus der Flasche. Weil die Gläser schmutzig waren.

„Ich weiß, wo Tien und Hanh wohnen“, sagt Vesna und trinkt den letzten Schluck Mangosaft. Oskar seufzt. „Ihr werdet jetzt wohl nicht dorthin wollen und nachsehen, ob Hanh lebt. Vesna, du hast selbst gesagt, dass Mira …“

Ich sehe meinen Mann empört an. „Dass Mira was? Spinnt?“

Vesna grinst. „Wollte Oskar sicher nicht sagen. Wollte sagen, dass Mira eine Vietnamesin mit anderer verwechselt hat.“

„Und wieso sollte sie im Keller Hühner zerlegen? Und panisch davonlaufen, wenn sie mich sieht?“

„Ist wahrscheinlich nicht legal da.“

Oskar nickt. Klingt plausibel. Aber trotzdem: Die Frau hat genau so ausgesehen wie Hanh.

[  2.  ]

Es läutet. An der Wohnungstür und nicht an der Gegensprechanlage. Oskar hat sich vor einer guten Viertelstunde Richtung Kanzlei aufgemacht. Er wird es also kaum sein, auch wenn er üblicherweise den Klingelknopf drückt, bevor er aufschließt. Weil man nicht einfach so reinplatzt, sagt er. Nicht einmal in die eigene Wohnung. Ich sollte eigentlich auch längst weg sein. Redaktionssitzung. Ich bin schon in der letzten Woche zu spät gekommen. Ich hetze durchs Vorzimmer, öffne die Tür. Auch das noch. Die Hausmeisterin. Typ Blockwart. Eine, die alles wissen muss und es dann Leuten weitererzählt, von denen sie sich etwas erhofft. Vernaderin. Tratsche. „Ich hab keine Zeit“, begrüße ich sie wenig freundlich. Meine Katze Gismo steht eng neben mir, den Schwanz hoch erhoben, der orangerote Streifen auf ihrer Brust leuchtet. Sie starrt die Hausmeisterin böse an.

„Es gibt eine Anzeige bei der Polizei. Es ist ein Blumentopf auf die Gasse gefallen. Beinahe wäre jemand erschlagen worden.“

„Der Topf war nicht von uns.“

„Sie sind die Einzige, die so viele Blumentöpfe auf der Terrasse hat. Sie hatten den Auftrag, sie sichern zu lassen.“

„Sie sind gesichert.“ Was heutzutage schon alles sicher zu sein hat.

„Ich werde das mit Doktor Kellerfreund selbst besprechen müssen.“

Wirkt, als wäre ich bestenfalls die Haushälterin des Herrn Doktors. „Ich werde es meinem Mann erzählen. Er wird Ihnen auch nichts anderes sagen. Von uns war der Topf nicht.“

„Ihr … Gefährte … wie immer man da sagt … Lebensabschnitts… dingsbums … weiß vielleicht nichts davon, dass Ihnen ein Topf hinuntergefallen ist.“

„Brauchen Sie meinen Trauschein, damit Sie mir glauben?“

„Nein. Ich brauche den Eigentümer der Wohnung. Und Sie heißen nicht Kellerfreund, nicht einmal Kellerfreund-Valenksy, das weiß ich zufällig genau.“

„Was Sie vielleicht nicht wissen: Man darf in Österreich den eigenen Namen behalten.“

Sie sieht mich zweifelnd an. Mist. Ich stehe hier und diskutiere mit unserem Hausspion über Namensrecht und Blumentöpfe, statt in die Redaktion zu starten.

„Ich muss nachsehen, ob die Töpfe ordnungsgemäß gesichert sind“, sagt die Frau resolut und versucht sich an mir vorbei in die Wohnung zu drängen.

Ich stelle mich ihr in den Weg. „Keine Zeit. Ein anderes Mal. Vielleicht wenn mein Mann da ist.“

„Sie wollen doch nicht, dass stattdessen die Polizei kommt?“

„Ist mir sogar deutlich lieber.“ Mein Mobiltelefon läutet. Vielleicht jemand aus der Redaktion. Allerdings: Was sollten die vor der Redaktionskonferenz … außer, es ist etwas passiert … Ich habe das Telefon schon auf meine Tasche gelegt, damit ich es in der Morgenhektik nicht vergesse. Ich nehme es in die Hand und dann passiert dreierlei:

Es hört zu läuten auf.

Die Hausmeisterin betritt das Vorzimmer.

Gismo stürzt sich auf sie. Eine Furie mit gesträubtem Fell, ausgefahrenen Krallen, fauchend, doppelt so groß wie üblich, eine pelzige Kampfmaschine. Gismo schlägt ihre Krallen in eine pralle Wade. Die Hausmeisterin schreit auf.

„Gismo!“, rufe ich anstandshalber.

Die Frau taumelt zurück, versucht Gismo abzuschütteln, aber keine Chance. Erst als sie es auf den Gang hinaus geschafft hat, lässt meine Katze von ihr ab, kommt mit immer noch gesträubtem Fell zu mir, schmiegt sich an mich.

Die Hausmeisterin starrt auf ihre zerrissene Strumpfhose, den blutigen Kratzer. „Das werden Sie bereuen!“, zischt sie. Als hätte ich Gismo auf sie gehetzt.

„Sie mag es nicht, wenn Fremde ungefragt in die Wohnung kommen“, sage ich so ruhig wie möglich und schließe die Tür. Gismo drückt ihren dicken Kopf an mein Bein. Sie wartet darauf, gelobt zu werden. Das sollte ich natürlich nicht tun. Aber Oskar ist ja nicht da. Ich streichle meine alte Katze und ihr Fell legt sich wieder so, wie es sein sollte. Wenn man von den verfilzten Stellen absieht, gegen die sich seit einiger Zeit nichts machen lässt. Eine Alterserscheinung, sagt unsere Tierärztin. Und eine Alterserscheinung ist es wohl auch, dass Gismo seit einigen Monaten ziemlich unleidlich reagiert, wenn Leute unsere Wohnung betreten. Immerhin: Mit achtzehn noch einen Drachen in die Flucht zu schlagen … Ist vielleicht nicht ganz fein, war aber extrem nützlich. Und schreit nach einem Beutel mit besonders gutem Futter für die ältere Katze. Wer weiß, was da drin ist. Vielleicht putscht sie das Zeug auf. Egal. Sie stelzt neben mir her, ein wenig steif, aber wen nehmen solche Auseinandersetzungen nicht mit. Und das Ragout mit Lamm und allem Möglichen ist in Windeseile verspeist.

Du liebe Güte. Die Redaktionskonferenz. Ich komme wieder zu spät. Aber vielleicht kann ich ja von Gismos Heldinnentat erzählen. Und eine Geschichte über Katzen in reiferen Jahren vorschlagen. Wäre einmal etwas anderes. Während ich nach meiner schwarzen Jacke suche – hatte ich sie nicht über den Schreibtischsessel gehängt? –, verzieht sich Gismo auf ihren Lieblingsplatz in der Ecke des Sofas.

Die Redaktionskonferenz läuft mit der üblichen Routine ab. Die Ressortleiter machen Vorschläge, man diskutiert über die Titelgeschichte. Ich erinnere an die geplante Story über Elektroautos und ernte ein Stöhnen vom Chronikchef, aber der ist schon aus Prinzip gegen alles, was ich vorschlage. Und ein Stöhnen vom Sportchef. Für den ist nichts interessant, das nicht mindestens fünfhundert PS hat, laut ist und stinkt. Als sie in der Formel 1 leisere Motoren eingeführt haben, war er tagelang unansprechbar. Droch sitzt da, als wäre er nicht von dieser Welt. In sich ruhend, ein Buddha im Rollstuhl, dem Nirwana nahe. Er könnte mich ruhig unterstützen. Immerhin ist er mein Lieblingskollege. Mehr noch. Er ist ein echter Freund. – Wenn er nicht gerade den Entrückten mimt. Oder mich zur Weißglut treibt, indem er derart verstaubte Positionen vertritt, dass man nur annehmen kann, er macht es, um mich zu reizen.

„Mira?“

Ich fahre auf.

Klaus, unser Chefredakteur, sieht mich an. „Du kommst zu spät. Du bist abwesend. Was ist los?“

„Unsere Chefreporterin kommt doch dauernd zu spät.“ Das ist der Chronikchef. Als ob Pünktlichkeit Dummheit wettmachen könnte. Ich sage es trotzdem nicht, bleibe professionell, Reporterin wie aus dem Bilderbuch.

„Entschuldige“, lächle ich Richtung Klaus. „Ich habe nachgedacht. Und ich bin zu spät gekommen, weil ich an einer spannenden Story dran bin.“ Was mache ich bloß, wenn sie mich fragen, an welcher? Ihnen von einer Reportage über alte Katzen erzählen?

„Hast du mit deinem seltsamen Mobil den Hunderter geschafft?“, spottet der Sportchef. Aber er macht es freundlich.

„Ich habe mit meinem E-Auto an der Kreuzung einen BMW und einen Alfa abgehängt und jetzt denke ich darüber nach, wie es den beiden armen Benzinbrüdern wohl geht“, kontere ich und grinse. Dabei denke ich an etwas ganz anderes. Nämlich an Hanh im Keller. Aber davon kann ich hier nicht erzählen. Da muss ich zuerst mehr wissen. Sonst halten sie mich für noch verrückter.

„Warten wir mit der Elektro-Story noch ein wenig“, schlägt der Chefredakteur vor. „Bis du mehr Erfahrung gesammelt hast. Dann machst du einen Erlebnisbericht.“

„Ich hab schon einen Titel: ,Die elektrische Mira‘“, feixt der Wirtschaftschef.

„Pass bloß auf, ich könnte unter Starkstrom stehen“, feixe ich zurück. „Diese Woche könnte ich eine Story über Katzen in reiferen Jahren machen. Mal etwas anderes. Bewegt viele.“

„Wie alt ist deine Katze?“, fragt Klaus.

„Achtzehn und ein paar Monate.“

„Die muss ganz schön zäh sein“, meldet sich der Chronikchef. Und das soll natürlich heißen, um mit mir so lange zu leben.

Erstaunlicherweise finden alle die Idee recht gut. Irgendjemand kennt immer irgendjemand, der Katzen hat. Und die werden naturgemäß einmal alt. Wenn sie nicht jung sterben.

Nur Droch hat noch nichts gesagt. Der Chefredakteur sieht ihn aufmunternd an. Droch ist so etwas wie die graue Eminenz im Team. Ein weit über unser Magazin hinaus angesehener Journalist. Politiker nähern sich ihm in Demutshaltung. Er wird für seine pointierten Kommentare gleichermaßen gefürchtet und geschätzt. Hängt eben immer von der jeweiligen Position ab.

Droch blickt in die Runde, dann schaut er zu mir und lächelt. „Ich bin einverstanden. Scheint eine ruhige Woche zu werden.“

Als ich etwas später in Drochs Einzelzimmer sitze – ein Luxus, wir anderen sind, angeblich zur Förderung der Kommunikation, in einem Großraumbüro untergebracht –, ist er davon nicht mehr so überzeugt. Ich habe ihm von der Vietnamesin im Keller erzählt. Durchs Erzählen, so hoffe ich, gelingt es mir, die Gedanken besser zu ordnen. Außerdem kenne ich niemanden, der derart logisch denken kann wie Droch. Vielleicht mit Ausnahme von Oskar, aber der macht sich gleich wieder Sorgen um mich. Ist ja auch gut so. An sich zumindest.

„Es geht nicht darum, die Tote zu finden. Es geht darum, den Mörder zu finden“, sagt Droch.

Ich sehe ihn empört an. Ich hätte mir mehr und anderes erwartet.

„Die Tote ist mit großer Sicherheit in der Gerichtsmedizin. Damit ist klar: Sie ist tot“, ergänzt Droch, der meinen Blick gesehen hat.

„Und wenn eine andere Frau in der Kühllade liegt?“

„Warum sollte das euer Vietnamese wollen? Außerdem muss sie identifiziert worden sein.“

„Ja, von ihm wahrscheinlich.“

„Wahrscheinlich. Wenn er gelogen hat und eine andere Vietnamesin erschossen wurde, muss seine Frau untertauchen. Sie wird illegal, obwohl sie legal war. Das ist widersinnig. Diesen Status gibt man nicht freiwillig auf. Sie brauchen eine Menge Genehmigungen, um das Lokal betreiben zu können. So etwas wird geprüft. Und auch die Fremdenpolizei ist auf Zack.“

„Leider.“

Droch seufzt. „Ohne Kontrolle gewinnen nicht die Guten und Friedlichen, sondern die Bösen, Miramädchen.“

Ich hasse es, wenn er Miramädchen zu mir sagt. Er weiß es. Ich hole Luft und sage so friedlich wie möglich: „Und was ist mit den Schikanen? Gibt’s immer wieder.“

„Genau hinzuschauen hat nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Es gibt Chinesen, die über ihre Lokale Geld waschen. Und alles mögliche andere lässt sich da auch drehen. Sind eben nicht alle lieb, die bei uns Geschäfte machen, egal, woher sie stammen.“

„Und Polizisten sind immer lieb, oder was?“

„Reden wir jetzt noch von deinen Vietnamesen?“

„Auch. Womöglich.“ Wieder wird mir klar, wie wenig ich von ihnen und ihrem Leben weiß. „Es geht also darum, den Mörder zu finden, sagst du. Wer kann es gewesen sein?“

„Sinnlos zu spekulieren. Das ist eine klassische Polizeiangelegenheit. Vorausgesetzt, du willst dich nicht ins Milieu der Schutzgelderpresser bewegen.“

„Du glaubst also auch an eine Schutzgeldsache? Und wie passt das mit Hanh im Keller zusammen? Vielleicht haben sie gedroht, seiner Frau etwas anzutun?“

„Sie wurde vom Motorrad aus erschossen.“

„Und warum zerteilt dann eine Frau, die aussieht wie Hanh, im Keller Hühner?“

Droch seufzt. „Du solltest Zuckerbrot davon erzählen.“

„Damit sie Hanh festnehmen?“

„Noch einmal: Die ist tot.“

„Weißt du etwas über den Fall und lässt mich im Dunkeln tappen? Ist er bei Zuckerbrot?“

Droch wiegt den Kopf. Ich könnte ihn erwürgen, wenn er so überlegen dreinsieht. Zuckerbrot ist einer der erfahrensten Ermittler, Gruppenleiter Leib und Leben, wie das im österreichischen Beamtendeutsch heißt. Aber er hört auch auf Chefinspektor. Man hat aus dem Fernsehen gelernt. Sogar bei der Polizei. Zuckerbrot ist außerdem einer der ältesten Freunde von Droch. Sie haben gemeinsam studiert. Seither gehen sie einmal die Woche gemeinsam essen. Was viel über die beiden und ihre Einstellung zum Leben aussagt. Sie legen Wert auf Beständigkeit. Sie schätzen geordnete Verhältnisse. Und sie sind treu. Eigentlich gar nicht so übel. Allerdings haben sie ziemlich unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen und vereinbart, bei diesen Treffen Berufliches auszusparen. Keine Ahnung, ob sie sich wirklich daran halten.

„Hat er den Fall oder nicht?“, frage ich ungeduldig nach.

„Er hat ihn.“

„Und?“

„Nichts und. Mehr weiß ich nicht.“

„Du erzählst ihm nichts von Hanh.“

„Ich rede mit ihm über gar nichts, was mit dem ,Magazin‘ zu tun hat. Und er redet mit mir nicht über seine Ermittlungen.“

„Kannst du ihn trotzdem fragen, ob die Identität der Toten einwandfrei feststeht?“

„Nein.“

Na super. „Ich gehe erst zu ihm, wenn ich weiß, wer die Tote ist.“

„Wem willst du drohen? Mir? Ihm? Deinem Vietnamesen? Dem Rechtssystem? Du bist verpflichtet, Beweismittel in einem Mordfall weiterzugeben.“

„Ihr glaubt mir doch ohnehin nicht. Ich hab mich getäuscht. Ich hab nichts gesehen.“

„Vielleicht will dir Zuckerbrot ja selbst erzählen, wie tot deine Hanh ist. Und du kannst dich dann entscheiden, was du ihm sagst.“

„Du fragst ihn, ob er mich treffen will?“

Er nickt. „Wie geht’s eigentlich Gismo? Kann doch wohl bloß mit ihr zu tun haben, wenn du eine Story über ältere Katzen anbietest.“

Ich erzähle ihm, dass sie die Hausmeisterin in die Flucht geschlagen hat.

Droch lacht. „Dafür sollte man ihr einen Orden geben, oder besser eine Riesenportion Oliven. Ich hab den alten Drachen erlebt, als ich vor ein paar Monaten zu euch zum Essen gekommen bin. Die Hausmeisterin hat mich im Stiegenhaus gestoppt und angesehen, als ob ich eine gefährliche ansteckende Krankheit hätte. Und dann hat sie gemeint, dass man mich abholen müsse, weil ich doch nicht allein Lift fahren könne.“

Ich sehe Droch an. Hat er nie erzählt. Muss nicht witzig sein, immer wieder für in jeder Beziehung minderbemittelt gehalten zu werden, bloß weil man im Rollstuhl sitzt.

„Ich habe ihr gesagt, dass ich schon älter als zwölf bin und dass sie mich jetzt in Ruhe lassen soll.“

„Und sie?“

„Sie wollte wissen, zu wem ich komme. Ich hab ihr gesagt, es handle sich um eine verdeckte Ermittlung und wenn ich sie einbeziehe, dann werde sie von ausländischen Geheimdiensten verfolgt.“

„Ich kann mir vorstellen, wie sie dreingesehen hat!“

„Sie hat vor sich hin geschimpft und ist verschwunden.“

„Sie hat sicher kontrolliert, in welches Stockwerk du gefahren bist.“

„Worauf du Gift nehmen kannst. Irgendwann wirst du aussagen müssen, wegen Kontakten zu einem verdächtigen Typ im Rollstuhl.“

Auf der Fahrt nach Hause telefoniere ich mit Vesna. Natürlich mit Freisprechanlage. Die erste übrigens, die gut funktioniert. Vielleicht auch bloß, weil es in einem Elektroauto leiser ist. Vesna findet, wir sollten mit Tien reden, bevor ich Zuckerbrot treffe. Was könne schon passieren? Mir fällt da alles Mögliche ein. Wenn er zum Beispiel eine Vietnamesin getötet hat, damit er vorgeben kann, dass seine Frau nicht mehr lebt, dann möchte er vielleicht nicht, dass das herauskommt. Selbst wenn ich seine frischen Reisteigrollen immer sehr gelobt habe.

„Das ist eine gute Idee“, sagt Vesna. „Du redest mit ihm über Essen.“

„Ach ja, und da flechte ich dann so ganz zufällig ein, apropos Huhn, ob seine tote Frau immer im Keller die Hühner auslöse und dass die phở gà hervorragend gewesen ist.“

„Du machst schon. Ich halte Tien nicht für gefährlich. Ich kann nicht. Habe zuerst eine Nachforschung und dann muss ich zu Party mit den amerikanischen Autofreaks nachkommen. Hans sagt, er braucht da Frau an seiner Seite.“

„Texanischer Oldtimerclub klingt irgendwie anstrengend. Nach viel Bier und schlechtem Whisky.“

„Muss man ja nicht trinken. Außerdem, wer weiß, es kann auch lustig werden. Du darfst natürlich auch kommen.“

„Und erzähle ihnen von meinem Elektroauto, während sie für alte Buicks schwärmen.“

„Na und? Bandbreite ist eben groß. Und Hans weiß das, er …“

„Hans ist höchstens mittelgroß.“ Manchmal geht mir meine Freundin ein wenig auf die Nerven, wenn sie so von ihrem Hans schwärmt. Wobei: Hauptsache, sie ist mit ihrem Autohändler glücklich. Er ist ja auch wirklich ein besonderer Mensch. Sonst hätte sie sich für ihn nicht von Valentin getrennt. Dem eleganten, erfolgreichen Produzenten internationaler Fernsehshows, der ursprünglich Philosophie studiert hat. Wir sollten wieder einmal mit ihm essen gehen. Vielleicht ins „Lange Leben“ alias Song.

„Hörst du noch, was ich sage?“, ruft Vesna ins Telefon.

„Klar. Dass Hans riesengroß ist und dass sein Autohaus US-Speed auch mit Elektroautos handelt.“

„Unsinn. Dass Party bei uns in der Oldtimerhalle ist.“

Es ist kurz vor sechs, als ich beim Sfigureng Lâu parke. Ich blicke mich vorsichtig um. Keine Hanh. Wäre allerdings auch verwunderlich, würde sie sich öffentlich zeigen. Zwei Kinder stehen an einer Hausecke, als ob sie auf jemanden warten würden. Ich habe keinen fixen Plan. Vielleicht esse ich einen Bambussprossensalat mit Pilzen und gehe dann wieder.

Es ist bloß ein Tisch besetzt. Zwei ältere Frauen, vor ihnen stehen große Schüsseln. So wird die Suppe serviert, die bei den Vietnamesen eigentlich eine komplette Mahlzeit ist. Und vor allem in der Früh gegessen wird. Hat uns Tien erzählt. Phở mit Rind, mit Schwein, mit Huhn. Ich könnte vielleicht wirklich fragen, wer die Hühner zerlegt hat. Aber wer will so etwas schon ohne Hintergedanken wissen? Vielleicht sollte ich besser mit den beiden Frauen ein Gespräch anfangen. Und dann Tien einbeziehen. Ob sie sich gestört fühlen würden? Sie scheinen ohnehin nicht viel miteinander zu reden. Aber wahrscheinlich brauchen sie ihre ganze Konzentration, um die Nudeln und das Fleisch zwischen die Stäbchen zu kriegen. Ganz abgesehen davon: Eigentlich sind die „älteren Frauen“ gar nicht so viel älter als ich. Vielleicht ein paar Jahre. Wenn überhaupt. Ich sollte mich damit abfinden, dass mich andere womöglich auch schon als „ältere Frau“ bezeichnen. Na und? Als ich vierzehn war, waren Dreißigjährige für mich uralt.

Ich habe Sui gar nicht kommen gehört. „Sie brauchen einen Tisch? Oder wollen Sie bloß reservieren?“

„Ich war zufällig in der Nähe. Bei der Firma meiner Freundin. Ich weiß, dass es noch früh ist, aber sie musste weiter und ich dachte … ich esse eine Kleinigkeit.“

Die pummelige Studentin nickt und deutet auf einen Tisch in der Ecke. Ich brauche mich wirklich nicht dafür zu entschuldigen, dass ich hier bin. Wirkt bloß verdächtig. Sui bringt mir die Karte.

„Ganz schlimm, was passiert ist“, sage ich.

„Ganz, ganz schlimm. Deswegen bin ich jetzt auch jeden Abend da, obwohl ich viel für die Uni zu tun hätte. Irgendjemand muss ihm helfen. Und Marek ist schrecklich unzuverlässig, außerdem passt er nicht hierher. Ein Slowake bei einem Vietnamesen!“

Ich suche in ihrem Gesicht nach asiatischen Spuren und kann beim besten Willen keine finden. Da hilft es auch nicht, dass sie sich statt Susi jetzt Sui nennt.

„Weiß man schon irgendetwas?“ Sui scheint ganz gern zu tratschen. Gut, dass wir in den letzten Monaten einige Male hier waren. Da wirken meine Fragen weniger neugierig als anteilnehmend. Hoffe ich.

„Tien redet nicht viel. Die Polizei war natürlich da. Sie haben mich gefragt, ob es Streit gegeben hat. Aber die beiden haben sich wirklich gut verstanden. Da sage ich nichts.“

„Es hat also doch Streit gegeben?“

„Nur selten. Sie in der Küche, er draußen. Üblicherweise streiten Koch und Kellner viel mehr, da gibt’s einfach Konfliktpotenzial. Der eine bestellt, der andere soll liefern, hält sich aber für den Wichtigeren. Köche sind so. Manche halten sich sogar für Künstler, habe ich alles schon erlebt. Ich serviere, seit ich zu studieren begonnen habe.“

„Wahrscheinlich ist es für ihn schwierig mit der Polizei. Ich meine … ich habe Verständnis, wenn jemand nicht ganz legal da ist. Unsere Einwanderungsgesetze sind ziemlich streng.“

Sui schüttelt den Kopf. „Er hat gut aufgepasst. Die ausländischen Lokale, vor allem die kleinen, werden dauernd überprüft. Sie sind schon zweimal gekommen, beim letzten Mal waren es gleich drei Leute von der Sozialversicherung, und dazu Fremdenpolizisten. Bewaffnet. Einfach so. Ohne Verdacht. Das sei eine Routinekontrolle, haben sie gesagt. Sie wollten die Sozialversicherungskarten sehen. Tien hat alle angemeldet, sogar Memi, der abwäscht. Total mies waren die und haben während der Geschäftszeit den ganzen Betrieb aufgehalten. Die Gäste hatten womöglich das Gefühl, wir hätten etwas verbrochen. Tien hat eine Lokalrunde ausgegeben. Und versucht, ihnen zu erklären …“

„Wann war das? Vor oder nach dem …“

„Dem Mord? Vorher. Die Fremdenpolizei will den Ausländerfeinden beweisen, dass sie alles unter Kontrolle hat. Seit diesem blöden Brandanschlag auf die Kirche noch mehr. Im Bombay Blues, dem Inder in der übernächsten Straße, waren sie erst letzte Woche. Dafür war da bei uns der Lebensmittelinspektor. Der hat uns allerdings gelobt. Vietnamesen sind sehr sauber, es ist alles frisch, sonst wird es nicht verwendet. Daheim haben die wenigsten einen Kühlschrank, auch die nicht, die sich einen leisten könnten. Weil man frisch einkauft und das gleich verarbeitet. Hat mir Hanh erzählt.“

Die im Keller Hühner zerteilt hat. „Sie bereiten alles in der Küche zu?“

„Wo sonst?“

„Na, manchmal gibt es eigene Vorbereitungsküchen.“

„Wir haben Lagerräume im Keller. Für Fett und Mehl und so. Und eine Kühlzelle. Das ist alles. Bei uns wird nicht viel vorbereitet, à la minute ist besser, wenn Sie verstehen. Da steht nicht so viel herum und man braucht nicht so viel Platz.“

„Sie scheinen sich hier sehr wohlzufühlen.“

Sui lächelt. „Tien ist der netteste Chef, den ich je gehabt habe, und Hanh …“ Sie sieht zu Boden. „Ich rede so viel Zeug. Beinahe hätte ich vergessen, was geschehen ist. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich mir ganz sicher bin, dass das so ein irrer Ausländerhasser war. Weil es keinen Grund gibt, dass ihr sonst jemand etwas getan hat. Sie haben fast rund um die Uhr gearbeitet und waren immer freundlich.“

„Warum sind die beiden eigentlich nach Wien gekommen?“

„Das weiß ich nicht so genau. Nur dass sie in Leipzig gemeinsam mit Freunden ein Lokal hatten. Die sind nach Saigon. Sie übernehmen ein Haus von Verwandten und wollen es mit dem Geld, das sie hier verdient haben, auf internationales Niveau bringen. Es gibt immer mehr Touristen im Land. Sie wissen, was Europäer und Amerikaner wollen. – Wissen Sie schon, was Sie nehmen?“

Ich sehe die junge Frau irritiert an. Ach so. Essen. Deswegen bin ich eigentlich hier. „Wer kocht jetzt?“

„Das ist kein Problem. Tien kann genauso gut kochen. Und wir haben eine Vietnamesin, die hilft ihm stundenweise. An sich arbeitet sie als Kindermädchen.“

Vielleicht ist die Erklärung für meine Begegnung im Keller viel einfacher als gedacht. „Sieht sie Hanh ähnlich?“

„Warum? Es schauen nicht alle Vietnamesen gleich aus.“

„Bitte Glasnudelsalat mit Mango und viel Chili“, sage ich. Noch einmal nachzufragen wäre doch etwas auffällig.

Der Salat kommt rasch, Tien ist immer noch nicht zu sehen. Ich werde Vesna erzählen, was ich von Sui weiß. Dass sie die beiden für sehr nett hält … oder dafür gehalten hat. Was Hanh angeht.

Es schmeckt großartig. Die Glasnudeln perfekt bissfest, die feinen Mangostreifen knackig. Erdnussöl, vermute ich. Limettensaft und Jungzwiebel und großzügig frischer Koriander und Chili. Könnte ich daheim auch ausprobieren. Ich werde mit Tien übers Kochen reden. Er weiß, dass ich fürs „Magazin“ arbeite. Ich habe vor einigen Wochen unserer zuständigen Redakteurin einen Tipp gegeben. Er hat sich sehr über die freundliche Lokal-Besprechung gefreut. Wenn er nicht in die Gaststube kommt, dann muss ich eben in der Küche nachsehen.

Schön langsam füllt sich der Raum. Eine Familie mit drei Kindern. Ein Paar, das sich zögerlich umsieht, bevor es sich dann doch für einen Tisch am Fenster entscheidet. Drei Männer, die wirken, als würden sie miteinander Geschäfte machen. Sui ist verschwunden. Das ist meine Chance. Ich stehe auf, bin im schmalen Gang zur Küche, sehe nach drinnen: ein kleiner Raum, in der Mitte ein großer Herd mit sechs Gasflammen, eine Anrichte aus blitzendem Edelstahl, darüber und darunter Regale. Und ganz nah bei mir ein Salamander, dieses Gerät zum Überbacken, in dem alles ganz schnell knusprig wird. Beinahe kriege ich nostalgische Gefühle. Ist schon ziemlich lange her, dass ich meiner Freundin Billy im „Apfelbaum“ geholfen habe. Mit dem Rücken zu mir steht eine sehr runde Frau und schneidet Ingwer in feine Streifen. Ihre Haare hat sie unter einer weißen Kappe verborgen. Ich gehe zwei Schritte in die Küche hinein. Ich weiß, dass man so etwas nicht tut. Aber ich kann mich ja dummstellen. Die Frau trägt eine dicke Brille und obwohl sie offenbar Vietnamesin ist, sieht sie Hanh so wenig ähnlich wie eine Kartoffel einer Lotusblume.

Räuspern. Tien steht hinter mir, er trägt eine Metallschüssel voll mit winzig kleinen Oktopussen. Er muss sie aus dem Keller geholt haben. In Italien heißen sie Moscardini. Sie sind köstlich. Auf der Speisekarte standen sie bisher nicht, daran könnte ich mich erinnern. Tien sieht mich alles andere als freundlich an.

„Draußen war keiner“, versuche ich zu erklären. „Also habe ich Sie in der Küche gesucht. Ich würde gerne im ,Magazin‘ etwas über exotische Rezepte bringen. Sie werden bei uns immer beliebter.“

„Es tut mir sehr leid, jetzt muss ich arbeiten“, sagt er kurz angebunden und deutet Richtung Durchgang zum Gastzimmer.

„Tut mir auch leid“, murmle ich und fühle mich missverstanden. Der freundliche Herr Tien ist offenbar nicht immer freundlich. Könnte allerdings auch eine spannende Erkenntnis sein.

„Mir tut es leid“, sagt er jetzt schon höflicher und mit einer kleinen Verbeugung. Er folgt mir in den Gang.

„Ich komme dann wieder, wenn es besser passt. – Ist die Frau in der Küche eine neue Mitarbeiterin?“

Tien macht wieder eine kleine Verbeugung. „Ich bitte, dass Sie Tote ruhen lassen.“

„Wie … was …“

„Sui hat gesagt, Sie fragen nach dem Tod von meiner Frau.“

„Ich wollte nicht neugierig sein, ich finde das einfach schrecklich. Und ich dachte, vielleicht kann ich irgendwie helfen.“

„Indem Sie in die Küche kommen?“

„Nein, das war wegen der Rezepte. – Haben Sie Ihre Frau identifizieren müssen? Das muss fürchterlich sein.“

„Ja. Das. War. Ich.“ Die Worte kommen abgehackt, jedes wie eine Pistolenkugel. „Egal, auch wenn Sie an einer Reportage über Schutzgeld arbeiten. Niemand hat Geld gewollt. Ich habe nie gezahlt. Wissen Sie, was Hanh bedeutet? Aprikosenblüte. Man hat meine Aprikosenblüte erschossen. Weil hier keine Menschen leben sollen, die anders aussehen.“

„Es sind nicht alle so.“

„Natürlich. Aber das macht meine Hanh nicht mehr lebendig. Und jetzt lassen Sie mich bitte arbeiten.“

„Woher können Sie so gut Deutsch?“

„Wir haben lange in Leipzig gelebt. Ich hatte Deutsch schon in der Schule und ich habe es in Hanoi studiert. Außerdem hat mein Onkel lange in Leipzig gelebt, bevor er zurück ist in seine Heimat. – Zufrieden?“

Ich nicke, das Gespräch ist mir ohnehin unangenehm. Aber wer weiß, wann sich wieder eine Gelegenheit findet. „Hanh hat auch sehr gut Deutsch gekonnt. Nicht so gut wie Sie, aber sehr gut. Aprikosenblüte. Das wusste ich nicht. Wunderschön.“

„Sie hat sehr leicht und schnell gelernt. Und hier heißt Aprikose Marille. Wir haben da bloß in Frieden leben wollen. Wir haben großen Respekt vor Ihrem schönen Land gehabt. Wir wollten nach Österreich, weil es ruhig und sicher ist. Und weil wir seine Kultur und Tradition lieben.“

Und jetzt? Ich frage es natürlich nicht. „Ich finde Vietnam faszinierend. Und die Küche sowieso.“ Was rede ich da? Smalltalk nach einem Todesfall, der vielleicht keiner war, oder jedenfalls ein anderer? Aber ich kann ihn wohl schwer um einen Beweis dafür bitten, dass es sich bei der Toten um Hanh gehandelt hat. Und um die Telefonnummer eines unverdächtigen Zeugen. Ganz abgesehen davon: Sollte es einen gegeben haben, dann kriege ich das hoffentlich aus Zuckerbrot heraus.

„Sie haben Sui gefragt, ob alle hier legal sind“, sagt Tien mit ausdruckslosem Gesicht.

Es hat eben immer auch einen Nachteil, wenn jemand gerne erzählt. „Ich habe mir bloß Sorgen gemacht. Und ich finde es eine Sauerei, dass Sie dauernd kontrolliert werden, während das bei den österreichischen Lokalen wahrscheinlich seltener passiert.“

„Ja.“

„Kann man … irgendwo kondolieren? Oder am Begräbnis teilnehmen?“

Tien sieht mich zweifelnd an und seufzt dann. „Es wird kein klassisches Begräbnis geben. Hanh wird verbrannt. Es ist einfacher. Bei ihrer Familie in Vietnam hat man sie in einer Zeremonie beerdigen gewollt. Aber wenn man in die Fremde geht, ist auch der Tod anders. Es war schon schwierig, die wichtigen Rituale nach ihrem Tod zu machen.“

„Welcher Religion gehören Sie denn an?“

Tien lächelt fein. „Ich bin Katholik. Das ist übrigens die zweitgrößte Religionsgruppe in Vietnam, auch wenn bloß fünf Prozent der Menschen katholisch sind. Die Familie meiner Frau ist buddhistisch. In Vietnam lebt man keine Religionen mit vielen festen Regeln. Vieles ist Tradition und Ritual. Wir ehren die Ahnen, sie leben weiter mit uns. Drei Tage und drei Nächte müssen die Räucherstäbchen brennen, sonst findet ihre Seele keinen Frieden.“

„Und Sie glauben an das? Als Katholik?“ Das ist mir dummerweise so herausgerutscht.

„Ich sehe keinen Widerspruch. Man macht es. Und Hanhs Familie ist sehr traditionell, sie lebt am Land, in der Nähe von Hanoi. Ich bin es ihren Verwandten schuldig. Ich habe Hanh alles geschickt, was sie braucht, dort drüben.“

„Geschickt? Heißt das, sie ist gar nicht tot? Sie ist bei ihrer Familie?“ Ich merke, wie mein Herz schlägt. Kann es sein, dass er sich jetzt versprochen hat?

„Wie kommen Sie darauf? Sie ist tot. Von einem Hasser ermordet. Ich war bei der Kundgebung gegen den Brandanschlag auf die Kirche. Ich habe nichts übrig für radikale Moslems und alle diese. Aber die Ausländerfeinde unterscheiden nicht. Und die Polizei weiß nichts. Sagt sie. Wir schicken den Toten Essen und Trinken und alles, was sie brauchen. Sie sind bei uns und wir versorgen sie. Symbolisch. Über den Ahnenaltar.“ Er sieht mich traurig an. „Aber das ist für Sie wohl nicht zu verstehen.“

„Doch. Es ist bloß …“

„Und jetzt bitte lassen Sie mich. Ich freue mich, wenn Sie Gast sind. Ich freue mich, für Sie zu kochen. Aber mein Leben ist anderes.“

Oskar kommt heute spät. Trotzdem hatte ich keine Lust, ins US-Speed zum Fest mit den texanischen Oldtimerfreunden zu gehen. Vesnas Tochter Jana mag Hans sehr. Sie wollte ihm einreden, dass er sein Autohaus umbenennt. US-Speed sei einfach ein peinliches Macho-Ding. Hans hat gemeint, dass sie noch sehr viel übers Geschäftemachen lernen müsse. Von ihm akzeptiert sie so etwas. Ich sperre die Wohnungstür auf. Gismo begrüßt mich begeistert. Ich streichle sie und lobe sie dafür, dass sie auf ihre alten Tage noch zur gefährlichen Wachkatze wird. Oskar findet ja, man muss ihr das austreiben. Aber ich habe meine Zweifel, ob es geht. Ganz abgesehen davon, dass es wunderbar war, wie sie den Hausdrachen angefallen hat. Schon möglich, wir kriegen da ein kleines Problem. Aber ich kann damit leben. Und Oskars Kollege, so ein Kampfstreichler, der sich ohne jede Einleitung über Gismo hermachen wollte, hatte sowieso eine kleine Ermahnung verdient. Wird wohl nicht an einem Kratzer sterben. Wenn man Gismo sagt, dass sie Ruhe geben soll, verzieht sie sich ohnehin. Und hört nach einer gewissen Zeit auch auf zu fauchen und zu knurren.

Ich habe beim exotischen Supermarkt vis-à-vis von der Hauptbücherei vietnamesische Reisteigblätter gekauft. Dazu noch frischen Koriander und Ingwer und Pak Choi. Garnelen habe ich ohnehin daheim. Sogar biologische. Weil es dann mir, und hoffentlich auch der Umwelt, besser geht. So schwierig können diese Reisteigrollen nicht sein. Dazu mache ich eine meiner Lieblingssaucen: Ketjap Manis und Knoblauch und Ingwer und Hot Sauce. Passt auch wunderbar zu kaltem Huhn oder zu rohem Fisch. Ich werde im Internet recherchieren, wie man diese hauchdünnen getrockneten Reisblätter in eine zarte Hülle für alles Mögliche verwandelt. Einweichen, so viel ist sicher. Fragt sich nur, wie lange und worin.

Zuerst wird natürlich Gismo gefüttert. Sie verschlingt ihr Spezialfutter und sieht mich danach fragend an. „Oliven?“, heißt das. „Warum warst du einkaufen und hast keine Oliven mitgebracht? War ich etwa keine gute Katze? Keine Heldin? Oder vergisst du so schnell? Na ja, du wirst schließlich älter. Ich mag dich trotzdem. Aber ich hätte gerne Oliven.“

Besser, ich bin nicht zu viel allein zu Hause. Sonst bilde ich mir wirklich ein, ich könnte mit Gismo kommunizieren wie mit einem Menschen. Obwohl: Ich glaube schon, dass wir einander verstehen. Wir kennen uns so lange, länger als ich Oskar kenne. Wir sind uns nahe. Näher vielleicht, als mir Tien ist, der meistens so freundliche Vietnamese. Oder ist es rassistisch, so etwas zu denken? Hm. Ich werde es ohnehin für mich behalten und ich werde darüber nachdenken. Er ist katholisch und hat einen Ahnenaltar. Was es nicht alles gibt. Ich öffne den Kühlschrank und nehme aus einem Plastikbehälter fünf wunderschöne schwarze Oliven. Gismo stößt einen Entzückensschrei aus. Das ist unverkennbar. Ich lege drei der Oliven in ihre Schüssel und ziehe die Hand so schnell wie möglich zurück. Kann schon passieren, dass sie nicht genau achtgibt, wenn sie auf ihre Lieblingsdelikatesse fixiert ist. Drei Oliven sind die übliche Belohnung. Sie verspeist sie mit vor Begeisterung zitternder Schwanzspitze und sieht mich dann wieder an. Ich grinse und gebe ihr die anderen zwei. „Für besondere Verdienste um die Vertreibung von Eindringlingen.“

Gismo verzieht sich aufs Sofa und ich starte meinen Laptop. „Vietnam“ gebe ich ein und dann „Frühlingsrolle“. Du liebe Güte. Das Angebot an Webseiten ist unüberschaubar. Und das Letzte, was ich möchte, sind eingedeutschte Rezepte. Lecker! Vietnamesische Röllchen mit Hackfleisch. Ich klicke mich durch einige authentischer klingende Seiten. Auf Wikipedia teilt man mir mit, dass es sich bei Frühlingsrollen um ein beliebtes Tiefkühlprodukt handelt. Es geht dabei allerdings um die frittierten Rollen. Die vietnamesischen Rollen würden sich dadurch unterscheiden, dass sie mit Reisteig umwickelt sind. Als ob das der einzige Unterschied wäre. Na gut. Irgendwo kriegt man sie sicher tiefgekühlt. Frühlingsrollen werden auch zum Qingming-Fest gegessen, an dem der Verstorbenen gedacht wird. Die Füllung soll ursprünglich aus Resten der Gemüseopfer bestanden haben, die den Verstorbenen dargebracht wurden. Klingt nicht besonders appetitlich. So, als würde der welke Grabschmuck danach verspeist.

Zwei Klicks und ich bin beim Totengedenken in Vietnam.

In jedem Haus gibt es an zentraler Stelle einen Hausaltar – den Ahnenaltar. Hier finden Sie die Fotos der letzten verstorbenen Generation, ursprünglich wurden sogar die Ahnen mehrerer Generationen geehrt.

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