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EINLEITUNG: ADRIAN

EINLEITUNG: JEFF

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

EINLEITUNG: ADRIAN

Lieber Jeff,
ich freue mich, dass wir wieder angefangen haben, einander zu schreiben. Wir sind beide ständig auf Achse, und Du verbringst die Hälfte Deiner Zeit in Flugzeugen und zerbrichst Dir den Kopf darüber, ob Du gerade auf dem Weg nach England bist oder auf dem Weg zurück. Ich bin aus mindestens drei Gründen froh, dass wir die Zeit finden, diese Korrespondenz wieder aufzunehmen.

Der erste Grund ist: Ich finde es herrlich, viel zu lachen und ein wenig zu weinen, und Deine Briefe geben mir zu beidem immer reichlich Anlass. Wir haben beide eine unheilbare Schwäche für Geschichten, und ich weiß, Du bist genauso wenig erpicht darauf, ein Heilmittel gegen diese Krankheit zu finden wie ich. Was meinst Du, Jeff? Passieren uns mehr interessante und amüsante Sachen als anderen Leuten, oder ist es einfach nur so, dass wir mehr darauf achten und uns Notizen auf den Rückseiten von Briefumschlägen darüber machen, für den Fall, dass wir sie eines Tages „verwenden“ wollen? Wie auch immer, ich liebe Deine Geschichten, und ich hoffe, Du hast manchmal auch Spaß an meinen. Übrigens müssen wir uns unbedingt mal an einem verregneten Samstagvormittag zusammensetzen und Tipps und Techniken für die Garnspinnerei austauschen.

Zweitens haben Briefe so etwas ganz Besonderes an sich, das es möglich macht, gefährlichen Gedanken in sicherer Umgebung nachzugehen. Nichts gegen angemessene Zurückhaltung, versteht sich, aber ich glaube, ich lerne allmählich, dass vornehme Höflichkeit genauso übel und lähmend sein kann wie Hemmungslosigkeit. Die Tatsache, dass wir uns zu unseren Fragen und Schwierigkeiten bekennen und sie offen aussprechen, ist, so hoffe ich, ein Kennzeichen und eine Bestätigung der Freiheit, die Gott großzügig all denen schenkt, die lieber Jesus nachfolgen wollen, als zu lernen, wie man Christ ist, was immer das eigentlich heißt. Ja, wir sind auch sorgfältig, aber Sorgfalt ist keinesfalls immer dasselbe wie Vorsicht, und Gott sei Dank dafür, sage ich.

Mein dritter Punkt ist, dass wir in manchen Briefen, die wir uns geschrieben haben, seit unser erstes gemeinsames Buch Anekdoten frommer Chaoten (Brendow 2011) herauskam, direkter aufeinander eingegangen sind. Wir wissen jetzt, dass dieser Austausch als Fortsetzung mit dem einfallsreichen Titel ,Jetzt mal ehrlich..."veröffentlicht werden wird, aber es gibt in ihrem Inhalt kaum etwas, was ich ändern würde pour encourager les autres, die es vielleicht lesen werden, oder auch, um diese autres zu schützen. Besonders in der zweiten Hälfte unseres Briefwechsels, der innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne entstand, bemerke ich eine neue Intensität und eine erneuerte Bereitschaft, uns persönlich zu offenbaren. Das ist natürlich eine riskante Sache, aber ich glaube, das Risiko lohnt sich sehr. Unter dem Strich kann man vielleicht sagen, dass es Jesus nie gestört hat, wenn jemand Fragen stellte - solange dieser Jemand sich nicht daran störte, die Antworten zu hören. Die stellen einen nämlich meistens vor eine Wahl: sein Weg oder die breite Straße?

Ich hoffe, wir sehen uns bald, Jeff.

Liebe Grüße,

Adrian

WIDMUNGEN

Adrian: Für Sheridan und Merryn, die wissen, was Auferstehung wirklich bedeutet.

Jeff: Für Adrian und Pauline. Danke für vier Jahrzehnte Freundschaft mit Kay und mir. Pauline, du hast uns nie daran zweifeln lassen, dass du uns liebst. Und Adrian, danke dafür, dass du schon endlose Fragen gestellt hast, lange bevor es cool wurde, Fragen zu stellen.

EINS

Lieber Jeff,
unsere erste gemeinsame Tour scheint schon eine Ewigkeit her zu sein. Was war das für eine tolle Zeit. Wenn man bedenkt, dass wir jeden Abend auf die Bühne gingen, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wie sich unser Gespräch entwickeln oder was wohl passieren würde, finde ich, es ist ziemlich gut gelaufen. Was gab das für ein Gelächter! Und wie die Ironie es will, traten auch allerhand Schmerzen und Leid zutage. Manche Leute, die zu den Abenden kamen, hatten wirklich einiges durchgemacht. Weißt du noch, wie wir sagten, wir bekämen unterwegs ein Bild der Gemeinde Jesu zu sehen, das sehr an ein Schlachtfeld nach dem Kampf erinnert? Mit Wunden und Tränen und einer unbändigen Sehnsucht nach der Heimat. Wie stillt man das Bluten so vieler gebrochener Herzen? Darauf gibt es keine einfachen Antworten, aber wir geben nicht auf, oder? Jedenfalls nicht, bevor Gott es tut, und da er niemals aufgeben wird, sieht es wohl so aus, dass wir auf lange Sicht mit drinhängen. Ich bin froh darüber. Ich habe gern Anteil daran, und ich weiß, Dir geht es genauso.

Wie auch immer, der Anlass für meinen heutigen Brief ist ein Erlebnis, das ich neulich hatte. Wie Du Dich sicher erinnerst, handelten etliche der Geschichten, die wir im Laufe unserer Tour erzählt haben, davon, wie absolut lächerlich wir beide uns hin und wieder machen. Vor ein paar Wochen passierten mir an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwei Sachen, die mich puterrot anlaufen ließen. Selbst für meine Wenigkeit ist das rekordverdächtig.

Die erste Sache passierte an einem Montagnachmittag, als gerade neue Gäste im Scargill Conference Center (wo Bridget und ich zurzeit leben) zu einer Schulungswoche eintrafen. Da die Person, die diese Veranstaltung organisiert hatte, schwer an der ansteckenden anglikanischen Alliterationskrankheit leidet, trug der Kurs den Titel Zeit zum Zuhören. Ich selbst war an dem Programm nicht beteiligt, aber ich war zufällig gerade da, als die Leute eintrafen, und dachte mir, ich könnte mich ja mal ein wenig in der Kunst des herzlichen Begrüßens üben. Als mir ein älterer Herr auffiel, der durch den Haupteingang hereinkam und sich etwas nervös in der Nähe des Anmeldeschalters herumdrückte, beschloss ich, das Heft des Handelns zu ergreifen.

"Hallo!", sagte ich, während ich freudig strahlend auf ihn zu­ trat. "Schön, Sie zu sehen! Sie kommen sicher zu Zeit zum Zuhören!'

Der alte Herr beugte sich vor, legte eine Hand an sein rechtes Ohr und erwiderte: "Häh?"

Aus purer Nächstenliebe quittierte ich dies mit einem unverhältnismäßig amüsierten Lachen. Dann schlug ich ihm mit der flachen Hand auf den Rücken und sagte: "Der war gut!Wirklich sehr witzig!" Und um die harmlose Heiterkeit noch ein wenig in Fluss zu halten, ahmte ich ihn nach, indem ich ebenfalls meine Hand hinters Ohr legte. Das allerdings schien mein neuer Bekannter keineswegs besonders lustig zu finden. Er lächelte nicht einmal.Stattdessen legte er abermals seine Hand hinters Ohr und fragte erneut: "Häh?"

Eine kalte Faust packte mein Herz.

Ja, erraten. Er war überhaupt nicht zu Zeit zum Zuhören gekommen, und seine Hand hatte er hinters Ohr gelegt, weil er äußerst schwerhörig war und sein Hörgerät zu Hause vergessen hatte. So etwas kann man sich nicht ausdenken, oder? Mein anschließender, wortreich gestammelter Versuch, ihm zu erklären, wieso ich nicht nur die Anzeichen seiner Schwerhörigkeit offenbar zum Brüllen komisch gefunden, sondern mich auch noch durch das Nachäffen seiner Handgesten über seine Behinderung lustig gemacht hatte, war kein durchschlagender Erfolg. Es kam mir eher so vor, als müsste ich eine hoffnungslos und unlösbar verhedderte Drachenschnur wieder aufdröseln. Ach je.

Der zweite Vorfall war genauso lächerlich, aber aus ihm kann man immerhin die eine oder andere interessante Lehre ziehen. Meine Frau hatte einen Anruf von einer gewissen Mavis erhalten. Mavis war völlig verzweifelt und fragte an, ob sie wohl vorbeikommen und sich für eine Stunde oder so mit Bridget unterhalten dürfe. Etwas später wurde mir ausgerichtet, Mavis sei ein wenig vor der Zeit gekommen, ob ich mich wohl für ein paar Minuten um sie kümmern könnte, bis Bridget Zeit hatte? Eilends machte ich mich auf den Weg hinunter zum Empfangsbereich, wo ich eine attraktive junge Dame mit überraschend klarem Blick vorfand, die in der Sonnenlounge wartete. Na schön, dachte ich, der äußere Schein kann trügen. Sie sieht völlig okay aus, aber wer weiß, was für eine Not unter der Oberfläche schwelt? Ich muss mich sehr behutsam und fürsorglich verhalten.

„Sie müssen Mavis sein“, murmelte ich im besten Therapeutenton.

„Ja“, antwortete sie mit einem Anflug von Unbehagen, den ich vollkommen verständlich fand.

„Ich bin Adrian. Hat Bridget Sie schon gesehen?“

„Äh, ja – ja, hat sie.“

„Und sie will sich in ein paar Minuten mit Ihnen treffen? Ist das richtig?“

„Das hat sie gesagt“, erwiderte Mavis.

Wäre ich nicht sosehr damit beschäftigt gewesen, das arme Mädchen auf keinen Fall aus der Fassung zu bringen, so wäre mir vielleicht aufgefallen, dass der gejagte Ausdruck in ihren Augen der eines Menschen war, der sich versehentlich in ein Irrenhaus verlaufen hat und Ausschau nach dem nächsten Ausgang hält.

„Nun denn“, flötete ich, „wollen wir uns für ein paar Minuten an einen dieser Tische setzen, bis sie frei ist? Wäre Ihnen das recht?“

In diesem Moment hörte ich Bridget von der Tür des Anmeldungsbüros her eindringlich meinen Namen rufen. Ich entschuldigte mich und ging hinüber zu ihr, um zu hören, was sie wollte.

„Ich glaube, das ist die falsche Mavis!“, raunte sie mir zu. „Offenbar ist dieses Mädchen nur mit jemandem hergekommen, um etwas abzuliefern. Ich habe ihr auch schon gesagt, ich käme in ein paar Minuten zu ihr, um mich mit ihr zu unterhalten. Aber gerade hat die richtige Mavis angerufen, um zu sagen, dass sie ein bisschen später kommt.“

So etwas könnte man sich nicht ausdenken, oder? Da kommt diese junge Frau her, um irgendetwas abzuliefern, und wird von zwei Leuten begrüßt, die unerklärlicherweise wie durch Hellseherei ihren Namen kennen, sie behandeln, als wäre sie aus feinstem Porzellan, und ihr mitteilen, sie möge sich etwas gedulden, in ein paar Minuten könne sie sich bei jemandem „aussprechen“. Was mag sie sich bei alledem gedacht haben? Verständlicherweise nutzte sie die Gelegenheit zu einem zielstrebigen Abgang, sodass wir nie dazu kamen, ihr die Sache zu erklären. Wie unwahrscheinlich ist es wohl, dass gleichzeitig zwei Frauen namens Mavis auftauchen? Enorm. Ich wünschte, ich hätte ein paar Mäuse darauf gewettet.

So lächerlich die Situation war – immerhin brachte sie mich ins Nachdenken über den Tonfall, mit dem wir hier den Leuten begegnen. Eine der Selbstverpflichtungen, die wir als Mitglieder dieser Gemeinschaft eingehen, ist, dass wir unser Bestes tun wollen, um alle Gäste so zu behandeln, wie wir Jesus selbst behandeln würden. Niemand soll mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfahren als die anderen. Vielleicht sollten sie ja eigentlich alle die „Mavis“-Behandlung bekommen – vorzugsweise, ohne dass sie sich dabei zu Tode erschrecken.

Noch ein Letztes. Bridget und ich haben dieses Jahr während der Karwoche eine Gruppe angeleitet. Am Karfreitag schleppten wir ein großes altes Kreuz hinauf zur Kapelle und legten es vor dem Altar auf den Boden. Eine große Schar von uns setzte oder kniete sich um das Kreuz herum. Wir berührten es behutsam und betrachteten bewusst die Stellen, wo die Hände Jesu und sein Kopf gewesen wären. Dieses Kreuz sah so schutzlos aus, wie es da so ausgebreitet lag, so verlassen und verwundet. Ganz ohne Aufforderung sammelte ein kleiner Junge, der zur Gruppe gehörte, ein paar Kissen ein und legte sie vorsichtig unter die Teile des Kreuzes, wo seiner Meinung nach die Schmerzen am schlimmsten gewesen sein mussten. Ich habe selten in meinem Leben etwas so Schönes gesehen. „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder ...“ Nur zu wahr.

Wie läuft es bei Dir, Jeff? Ich möchte wirklich gern wissen, wie es Dir geht.

Liebe Grüße,

Adrian

EINLEITUNG: JEFF

Lieber Adrian,
ich freue mich auch, dass wir beschlossen haben, uns wieder einmal zu schreiben, und das nicht nur wegen der Leute, die einen Blick in unsere Briefe werfen können, weil sie das Buch kaufen und dadurch hoffentlich erheitert/ermutigt/provoziert/getröstet werden (Nichtzutreffendes bitte streichen, obwohl ich hoffe, dass alle vier Dinge zutreffen werden).

Und ich stimme Dir zu: Briefeschreiben ist etwas Gutes, denn es gibt uns die Möglichkeit, zwei Dinge voneinander zu trennen, die in der Gemeinde Jesu oft wie siamesische Zwillinge auftreten: Fragen und Antworten. Manchmal kommt es mir so vor, als ob immer dann, wenn jemand es wagt, in der Gemeinde eine Frage zu stellen, ein anderer sofort das Gewissheits-Gaspedal voll durchtritt und einen Blitzstart mit einer sicheren, soliden Antwort hinlegt. Aber Fragen brauchen erst einmal Zeit zum Sacken, ist es nicht so? Jesus wusste das, und deshalb verbrachte er drei Jahre mit seinen Freunden. Während dieser Zeit mutete er ihnen nicht nur eine Reihe unfassbarer Wunder zu, sondern verstreute auch allerhand Fragezeichen entlang des Weges mit seinen prägnanten, farbenfrohen Gleichnissen, an denen sie zu knabbern hatten. Die besten Fragen kribbeln uns unter der Haut, nagen beharrlich an unseren Herzen und treiben uns manchmal zum Wahnsinn, indem sie uns verzweifelt durch die Dunkelheit zu unserer Zimmerdecke emporstarren lassen, wenn die frageninfizierte Schlaflosigkeit uns die Ruhe raubt. Deshalb schreibe ich gern auf diese Weise, Adrian, obwohl es dabei auch manche Herausforderungen geben wird. Schließlich sah unser Briefwechsel manches Mal so aus, dass ich um vier Uhr morgens in Colorado versuchte, meine Augen offen und mich am Schreibtisch aufrecht zu halten, während Du, in der Zeitzone sieben Stunden voraus, zu einer viel menschlicheren Tageszeit fröhlich in Deinen Laptop tippen konntest (da siehst Du wieder einmal, dass ich viel engagierter bin als Du).

Übrigens würde ich Dir (und Deinen Lesern) liebend gern den Eindruck vermitteln, ich hätte Deine französische Anspielung mit einem kennerhaften Schmunzeln quittiert, aber bleiben wir bei der Wahrheit: Ich habe keine Ahnung, was Du mit les autres und pour encourager meinst. Ich sitze gerade im Zug, während ich dies schreibe, und versuche, mich selber auf die richtige Spur zu bringen, indem ich sie laut ausspreche. Meine Mitreisenden halten mich schon für eine Reinkarnation von Inspektor Clouseau.

Also sei doch bitte so nett und übersetze das für moi, s’il vous plaît?

Liebe Grüße,

Jeff

P.S.: Du schreibst, wir sollten Tipps für die Garnspinnerei austauschen. Ich habe einmal ein fabelhaftes Buch über das Quiltnähen gelesen (ganz im Ernst, habe ich wirklich). Die Verfasserin hatte eine Amisch-Siedlung in den USA besucht und war ganz begeistert von der Schlichtheit und Symmetrie ihrer Quiltarbeiten. Manchmal wünschte ich, das ganze Leben wäre so, Adrian. Nur klare Quadrate und perfekt ausgerichtete Stiche. Aber so ist es nun einmal nicht, stimmt’s? Daher diese Briefe ...

Lieber Jeff,
Cordon bleu! Cordon bleu! Jetzt musste ich es extra nachschlagen, nur wegen Dir! Offenbar heißt Pour encourager les autres „um die anderen zu ermutigen“, aber das passt hier ja wohl nicht, also sollen sich les autres von mir aus ab sofort selbst encouragieren. Darf denn ein bescheidener Schriftsteller nicht gelegentlich ein kleines bisschen hochstapeln? À la carte! Das Leben ist nicht halb so en suite, wie wir es uns manchmal wünschen ...

Bis bald,

Adrian

ZWEI

Lieber Adrian,
ach du liebe Zeit, da bist Du ja schön ins Fettnäpfchen getreten mit dem armen Kerl, der zu Zeit zum Zuhören kam und sein Hörgerät zu Hause vergessen hatte, was? Wahrscheinlich dachte der, Du hättest Dein Gehirn zu Hause vergessen. Und wie Du dann Mavis angebaggert hast – die arme Frau muss Dich wohl für einen freundlich-versponnenen Lustmolch gehalten haben. Meistens, wenn Du und ich uns so in die Nesseln setzen, liegt es entweder daran, dass wir nicht richtig gelernt haben zuzuhören, oder daran, dass wir zu viele Annahmen voraussetzen.

Ich versuche inzwischen, mich mit meinen Annahmen so weit wie möglich zurückzuhalten. Wenn ich rate, rate ich meistens falsch. Wann immer ich zum Beispiel einer Frau begegne, die schwanger aussieht, habe ich eine goldene Regel: Ich sage kein Wort über ihren Bauch und erkundige mich nicht danach, wann das Baby kommt. Auch wenn es so aussieht, als schleppte sie darin einen ganzen Hauskreis mit sich herum und bereits der Klang leicht verstimmter Gitarrenakkorde aus ihrer gigantischen Leibesfülle zu dringen scheint. Die Gefahr liegt auf der Hand. Es könnte ja auch sein, dass sie einfach nur dick ist. Oder noch schlimmer, an chronischen Blähungen leidet. Dann würde ich mir mit meinen überschwänglichen Glückwünschen zur bevorstehenden Niederkunft nur eine Ohrfeige von ihr einhandeln, falls sie einfach nur eine ausgeprägte Vorliebe für fettes Fast Food mit zuckergesättigten Getränken hat. Falls übermäßige Gasbildung das Problem ist, kommt es vielleicht zu einer plötzlichen Entladung, und ich werde bis nach Scunthorpe gepustet.

Mir ist es auch schon passiert, dass ich rot angelaufen bin, nachdem ich zwei Frauen für Mutter und Tochter gehalten hatte. Ich hüpfte wie Tigger im Ornat in das Krankenhauszimmer, lächelte die Patientin an und begrüßte dann die Dame, die an ihrem Bett stand, mit einem Satz, der schon beim Aussprechen einen deutlich brenzligen Geschmack hatte: „Sie müssen wohl ihre Mutter sein.“

„Nein“, knurrte sie mich an wie die kindliche Hauptdarstellerin in Der Exorzist, „ich bin ihre Schwester, und wer Sie auch sein mögen, ich werde Sie in alle Ewigkeit hassen.“ (Ehrlich gesagt, ich habe Der Exorzist nie gesehen.) Deshalb bemühe ich mich jetzt, keinerlei Annahmen mehr vorauszusetzen und immer erst zu warten, bis mein Hirn mein Mundwerk eingeholt hat.

Von dieser kleinen Regel gibt es eine Ausnahme, die ich von meinem Freund und Kollegen Dary Northrop gelernt habe. Er ist ein Mann von schier unerschütterlicher Heiterkeit und hat einen Doktortitel in emotionaler Intelligenz. Wenn Dary einen Raum voller Leute betritt, ob sie ihm bekannt sind oder nicht, geht er von der Annahme aus, dass sie alle ihn mögen, und zwar so lange, bis ihm einer das Gegenteil zu verstehen gibt. Auf diese Weise begegnet er den Menschen mit einer tiefen Sicherheit, anstatt sinnlos gegen irgendwelche Schatten zu boxen, wie wir es tun, wenn wir das vage Gefühl haben, dass andere nicht viel von uns halten.

Wo wir gerade beim Gemochtwerden sind: Du warst ja so freundlich, Dich zu erkundigen, wie es mir geht, und hast sogar noch freundlicher hinzugefügt, dass Du es wirklich wissen möchtest. Manchmal fragen ja die Leute höflich, wie es uns geht, ohne aber tatsächlich auf eine echte Antwort aus zu sein, besonders, wenn diese sich ein wenig hinzieht. Es ist furchtbar, wenn man anfängt, einem anderen sein Herz auszuschütten, und sich dann auf einmal einer essigsauren Miene akuten Desinteresses gegenübersieht.

Ich werde jetzt noch rot, wenn ich daran denke, dass ich mir das auch vorwerfen lassen muss. Die brutalste Gefahrenzone für geheucheltes Interesse ist der Sonntagvormittag, vor allem, wenn in Gemeindehäusern reges Kommen und Gehen herrscht und wir Gemeindeleiter mit Vollgas durch die Gegend rasen, als wäre Rick Warren hinter uns her, um uns zu einem Leben mit Vision anzutreiben. Die Gefahr ist dabei, die Leute zu sehen, ohne sie wirklich zu sehen, wenn Du weißt, was ich meine.

In Amerika, wo ich die meiste Zeit lebe, ist „Wie geht’s?“ eine übliche Begrüßung, die man ebenso üblicherweise mit „Gut!“ erwidert. In den meisten Situationen steckt nichts weiter dahinter.

Einmal düste ich kometengleich einen Korridor entlang und sah aus wie einer, der dringend dies und das erledigen und mit diesem und jenem reden muss: ein Gemeindeleiter mit zerfurchter Stirn, wie er im Buche steht. Als ich an einem unauffällig aussehenden Mann vorbeikam, setzte ich mein Pastorenlächeln auf, warf ihm ein „Wie geht’s?“ entgegen, und düste weiter, ohne eine Antwort überhaupt abzuwarten. Offensichtlich dachte ich in meiner Beschränktheit, allein die Frage beweise ja wohl genügend Anteilnahme. Ich war schon fünfzig Schritte weiter den Flur hinunter, als ich ihn, einem jener lederbehosten Jodler aus der Kräuterbonbonreklame gleich, hinter mir herrufen hörte: „Gut!“

Um also Deine freundliche Frage zu beantworten, mir geht es so weit ganz gut. Ich habe gerade drei Wochen lang viel zu viel Zeit damit verbracht, dem Klang meiner eigenen Stimme zu lauschen. Ich glaube, ich habe in den letzten einundzwanzig Tagen ungefähr fünfunddreißig Mal gepredigt. Falls ich einen Schutzengel habe, ist der vermutlich gerade in Therapie, oder er besucht eine Konferenz für Engel, die zuhören müssen, auch wenn sie die Nase voll haben.

Das Predigen hat auf mich eine merkwürdige psychologische Wirkung. Meistens tue ich es gern, manchmal finde ich es auch entsetzlich, aber ich finde grundsätzlich immer noch, es ist eine etwas verwirrende Übung. Es ist schon ein umwerfendes Vorrecht, vor einer Gruppe von Leuten zu sprechen, in der Hoffnung, dass Deine Worte vielleicht dazu beitragen, einen Lichtschimmer in ihr Leben zu bringen. Aber es hat auch etwas ausgesprochen Absurdes: die Vorstellung, ein kleines Menschlein könnte die Stirn haben, sich als Sprecher dessen zu gebärden, der die Sterne ans Firmament geheftet hat. In gewisser Hinsicht ist es ein wunderbarer Gedanke, der alle Vorstellung übersteigt. Doch in anderer Hinsicht gibt es Momente, in denen ich am liebsten das Predigen für immer sein lassen, den Teekessel aufsetzen und mir sagen möchte, ich möge bitte aufhören zu spinnen. Und so komme ich von diesen Predigtreisen mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verwirrung zurück, verbunden mit jener Waidwundheit, die es mit sich bringt, wenn man wieder einmal zur Erbauung des christlichen Publikums die Sündhaftigkeit und Gebrechlichkeit der eigenen Seele entblößt hat. Du bist gut darin, Dich verwundbar zu machen, Adrian – empfindest Du es eigentlich auch so wie eine wunde Stelle, wenn Du wieder einmal ein Beispiel für die Gabe des Possenreißens preisgegeben hast, mit der wir beide gesegnet sind?

Vor zwei Wochen sprach ich auf einer Konferenz und hatte dieses Gefühl, ein Münzautomat mit einer Bibel zu sein. Das kriegen wir Redner öfter, wenn wir von Seminar zu Feier jagen und überall atemlos und verzweifelt hoffen, irgendetwas Hilfreiches beizutragen. Eine Frau kam auf mich zu und überreichte mir mit einem kurzen Satz ein Geschenk, das ich bis zum Grab immer bei mir tragen werde. „Wenn du predigst, Jeff“, sagte sie lächelnd, „kann ich atmen.“

Das hat mich umgehauen. Uns allen ist schon einmal während einer unrealistischen, bedrohlichen oder verwirrenden Predigt die Luft weggeblieben. Ich habe auch schon die eine oder andere erstickende oder klaustrophobe Predigt durchlitten. Je länger der Prediger sprach, desto hektischer warf sich meine Seele in mir hin und her, um der aus Worten genähten Zwangsjacke zu entrinnen, die ihr angelegt werden sollte. Deshalb war die Vorstellung, dass ich durch Gottes Gnade dazu beigetragen haben könnte, dass jemand leichter atmen konnte, für mich fast zu wunderbar, um wahr zu sein.

Du hast unsere Anekdoten-Tour vom letzten Jahr erwähnt. Was war das für eine verrückte, großartige Idee, gemeinsam auf Tour zu gehen. Es gab dabei viele denkwürdige Momente, aber ich möchte mich auf drei davon beschränken. Verzeih mir den trinitarischen Ansatz: Als Prediger kämpfe ich immer mit der Versuchung, alle meine Gedanken unter drei oder vier Überschriften zu ordnen, die alle mit demselben Buchstaben anfangen, mit einem Gebet zu schließen, wenn ich damit durch bin, und hinterher noch die Kollekte anzukündigen. Offensichtlich habe ich viel zu viel Zeit bei christlichen Veranstaltungen zugebracht.

Aber zurück zu der Tour. Besonders gefallen hat mir die Frau, die so laut vor Lachen brüllte, dass sie den Gemeindesaal fluchtartig verlassen und in der Toilette in Deckung gehen musste, wo man sie immer noch hilflos wiehern hörte. Lachen ist ein zauberhafter Klang, findest Du nicht? Ob es ein verhaltenes Kichern ist, ein langsam sich steigerndes Prusten oder ein Ausbruch, der den ganzen Körper durchschüttelt, es hört sich einfach herrlich an. Dann war da die ältere Dame, die so viel lachen musste, dass ihr ein kleines Missgeschick unterlief (was eigentlich der Sache nicht ganz gerecht wird – genauso gut könnte man die Niagarafälle als kleinen Wasserfall bezeichnen). Sie machte sich durch und durch nass. Nicht, dass sie das zugegeben hätte, versteht sich. Doch ihre Tochter kam zu mir und flüsterte mir mit einer Verstohlenheit, als wollte sie mir illegale Drogen verkaufen, ins Ohr: „Das ist meine Mutter da drüben, und sie hat sich total in die Hosen gemacht.“

Aber mein Lieblingsmoment, glaube ich, war der, als Du eines Abends mitten in einer Geschichte innehieltest und ganz langsam den Leuten sagtest, Gott liebe jeden Einzelnen von ihnen. Verzeih mir, aber Du sagtest das keineswegs auf besonders tiefsinnige oder eloquente Weise. Du sagtest einfach nur herzlich und mit Gefühl: „Gott liebt euch so sehr.“ Es wurde ganz still im Saal, und als ich hinaus in die Gesichter schaute, sah ich einige, die eine Träne wegwischten. Das ist die Grundlage von allem, oder, Adrian? Dass wir geliebt sind. Vielleicht gehen wir allzu oft irrtümlich davon aus, dass jeder das weiß, tief drinnen. Vielleicht gibt es deshalb so viel Leid, weil wir mit dieser Vermutung völlig falsch liegen. Es ist relativ leicht, zu glauben, dass Gott die Welt liebt, aber zu glauben – wirklich und wahrhaftig zu glauben –, dass er mich liebt, das ist schwer.

Auf jeden Fall habe ich unsere Tour sehr genossen.

Wie geht es Dir, Adrian? Ja, ich will es wirklich wissen.

Liebe Grüße,

Jeff

DREI

Hallo, Jeff,
hier ist der freundliche, abtrünnige Wanderer. Es ist schön, von Dir zu hören, und es tut besonders gut, so anschaulich daran erinnert zu werden, dass ich nicht der Einzige bin, der seine Zeit damit verbringt, mit wirren, idiotischen Gedanken und einem leidenschaftlichen Wunsch zu jonglieren, die Liebe Gottes im Leben von Menschen wirken zu sehen. Manchmal gelingt es mir mit lächerlich hektischen Anstrengungen, alle diese drei unhandlichen Gegenstände gleichzeitig in der Luft zu halten. Meistens jedoch fällt mir irgendwann einer davon herunter, und bei dem verzweifelten Versuch, ihn doch noch zu erwischen, gehen mir die anderen beiden auch noch durch die Lappen. Das ist kein Witz. Es macht mich wahnsinnig.

Wo wir gerade dabei sind: Du hast mir in Deinem Brief eine Frage gestellt. Es ging darum, ob ich die Possen und Tollheiten, die mein Leben mit solch unerbittlicher Regelmäßigkeit begleiten, wie wunde Stellen empfinde. Ich will Dir eine Antwort darauf geben, wenn auch eine ziemlich umständliche. Beginnen möchte ich mit einer kleinen Geschichte.

Vor zwei Wochen stellte ich mich in einer Krankenhaus-Cafeteria in der Nähe von King’s Lynn an, um mir einen Becher Kaffee zu holen. Am Anfang der Schlange bezahlten gerade ein älterer Mann und seine Frau ihr Mittagessen. Ich weiß nicht, ob Du den bezaubernden Akzent der Leute in Norfolk kennst. Er hört sich von Ort zu Ort in der Grafschaft ein wenig unterschiedlich an, aber im Allgemeinen hat er einen typischen langsamen, gemessenen Ton und auffällig gedehnte Vokale. Besonders am Ende der Sätze ist das so, wo die Stimme einen kleinen Schlenker nach oben macht, sodass sich jede Äußerung anhört wie eine Frage. Als die Frau sich noch ein Stück Obst zu ihrem belegten Brötchen aussuchte, wandte sie sich an den Mann hinter dem Tresen:

„Ich mag Biiiirnen. Er mag auch Biiiiirnen. Ich mag sie haaaart. Er mag sie weeeeeich. Also kriegt er nie welche aaaaab ...“

Es hätte diese einmalig knauserige Dame vermutlich überrascht und verwirrt, hätte sie gemerkt, dass ihre Worte mir besonders zu denken gaben, weil ich mich im Zusammenhang mit einer einwöchigen Freizeit, die Bridget und ich kurz zuvor im Scargill House geleitet hatten, intensiv mit dem Buch Maleachi beschäftigt hatte.

Du kennst doch Maleachi, Jeff, oder? Das letzte Buch im Alten Testament. Es besteht mehr oder weniger aus einer einzigen langen Schimpfkanonade Gottes über die erbärmlichen Opfer, die die Priester am Altar darbrachten: stinkige alte Ziegen, flohverseuchte Tauben, halb tote Schafe und dergleichen.

„Bietet ein solches Tier doch einmal eurem Statthalter an“, sagt Gott empört. „Ich habe genug von euch, und auf eure Gaben verzichte ich!“

Wollte man das Ganze aktualisieren, so würde es sich heute vielleicht so anhören:

Gott mag keine Blumen von der Tanke.

Er interessiert sich nicht für die hastig zusammengerafften Überreste unserer Zeit, unserer Kraft, unseres Geldes oder unseres Engagements. Warum sollte er auch?

„Ihr heult und werft mir vor, dass ich eure Gebete nicht erhöre“, beschwert er sich, „aber erhört ihr denn meine Gebete? Wenn ihr nichts zu bieten habt als unnützen Müll, den ihr sowieso nicht gebrauchen könnt, dann gebt mir lieber gar nichts.“

Gebt mir lieber gar nichts. Wie findest Du das?

Eines ist mir während unserer Studienwoche klar geworden: Obwohl Gott hier kompromisslos mit seinem Volk ins Gericht geht, gibt es doch ein unvollkommenes Opfer, das er jederzeit gerne von mir annehmen wird, wann immer ich willens bin, es ihm darzubringen. Welches? Ganz einfach (so einfach wie beängstigend, könnte man sagen): mich selbst. Adrian Plass. Jeff Lucas. Jeden, der verrückt oder tapfer genug ist, sich in den Ablauf von Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag hineinzubegeben, der unaufhörlich ebenso schmerzhaft wie wohltuend in unseren Lebensbereich eindringt, wenn wir es zulassen.

Tut mir leid, wenn ich Dich anpredige. Das war mehr für mich selbst als für Dich bestimmt.

Aber was hat das alles mit Deiner Frage zu tun? Ich schätze, es hängt irgendwie mit dem beunruhigenden Punkt zusammen, an dem ich mich im Moment befinde. Einem Punkt, an dem ich mich mit allen möglichen Problemen wie Eitelkeit, Unabhängigkeit, Furcht vor dem Unbekannten und mit meinem fortschreitenden Alter herumschlage. Wie soll ich Dir mein Problem schildern? Na schön, ich glaube, ich kann es in vier Wörtern zusammenfassen.

Gott braucht mich nicht.

Petrus hätte bestimmt verstanden, was ich damit meine. Nach seinem Totalausfall im Innenhof des Palastes hätte er vielleicht etwa Folgendes sagen können:

Warum habe ich eigentlich geweint? Seinetwegen. Er war schuld. Blöder Jesus. Er hat mich einfach nicht haben wollen. Er hat mich nicht gebraucht. Wisst ihr, manchmal hat er mit mir geredet, als wäre ich irgend so ein finsterer, schrecklicher Geselle – ein Teufel –, der ihn von seinem herrlichen, hirnigen Weg abbringen wollte, den er ging, weil er fest davon überzeugt war, sich massakrieren lassen zu müssen.

Einmal hat er mich sogar Satan genannt. Mich! Mich! Er sollte mal darüber nachdenken, was er eigentlich will. Ich meine, ich kann ja wohl nicht gleichzeitig der Fels sein, auf den er seine Gemeinde bauen will, und Satan, oder? Sagt ihr es mir. Vielleicht kann ich das ja. Vielleicht bin ich nur zu beschränkt, um es zu kapieren.