Anna Seghers

Die schönsten Erzählungen

Mit einem Nachwort
von Gunnar Decker

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Impressum

Ausgewählt von Christina Salmen

ISBN 978-3-8412-0711-1

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2008 bei Aufbau einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

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Umschlaggestaltung Andreas Heilmann, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von Millenium Images/LOOK-foto

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Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Jans muß sterben

Die Ziegler

Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok

Sagen von Artemis

Das Obdach

Post ins Gelobte Land

Der Ausflug der toten Mädchen

Das Argonautenschiff

Der Führer

Hymnen an die Nacht. Von Gunnar Decker

Biographische Notiz

Textnachweis

Informationen zum Buch

Informationen zu den Autoren

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JANS MUSS STERBEN

Niemand weiß, ob Jans Jansen an diesem Tag hinfiel, weil ihm schwindlig war, oder ob ihm erst schwindlig wurde, weil er hingefallen war. Er stolperte, fiel um und sprang jedenfalls gleich auf die Füße. Er griff sich an den Kopf, sein Finger war nicht einmal blutig, und er lief auf die Brücke, wohin er jeden Nachmittag zu laufen pflegte. Rittlings auf dem Geländer saßen ein paar Knaben, und Jans kletterte dazu. Es war aber heute keineswegs so großartig wie sonst, rittlings auf dem Brückengeländer zu sitzen. Nur weil er nicht den geringsten Grund wußte, es nicht mehr so großartig zu finden, blieb er sitzen. Aber die Brücke und das Wasser und die Ufer, alles war heute mit einem dünnen Staub von Langweile überzogen. Zwei, drei Knaben kletterten vorsichtig an der gefährlichen Seite des Geländers herunter, zwischen den Balken unterhalb der Brücke entlang und auf der anderen Seite wieder herauf. Mittags, wenn die Sonne durch die Ritzen der Bretter schien, konnte man im braunen Wasser unter dem Brückenbogen eine Spiegelbrücke sehn, und zwischen ihren Pfeilern, unbestimmt und glitzernd, kletterten behend die kleinen Knaben herum, die im vorigen Sommer bei diesem Spiel ertrunken waren, ohne es deshalb aufgegeben zu haben. Wer aber wieder glücklich heraufstieg, der brachte den Gefährten in seinen Augen kleine dunkle Punkte von überstandener Angst mit und in seinem verschwitzten Gesicht den Glanz des Abenteuers, der eben nur da unten zu finden war. Doch heute hatte Jans gar kein Verlangen nach Glanz, er hatte indessen Heimweh, ein quälendes, die Kehle zuschnürendes Heimweh – sonderbar, denn das Haus, in dem er wohnte, lag höchstens zehn Minuten entfernt, mürrisch und vielstöckig über dem Fluß am Ende der Gasse, Jans konnte das Küchenfenster mit den Geranientöpfen unterscheiden.

Jans kroch herunter und schlenderte nach Hause. Die Haustür war so schwer und die Treppe so steil. Aus dem Hof, wo die Abfalleimer standen, kam ein sommerlich fauler fader Geruch. Jans spürte ihn auf der Zunge. Er stieg schneller, und auf einmal war ihm wieder schwindlig, und die Stufen schwammen. Die Türklinke, die er brauchte, gelber als die übrigen auf dem Flur, flimmerte so widerlich, daß er sich gar nicht entschließen konnte, darauf zu drücken. Er tat es schließlich doch und stand auf der Schwelle. Er war sieben Jahre alt, er hatte eine rote Hose an, seine Schuhe waren niedergetreten, seine Beine nackt, mit kreisrunden Malen und Schrammen auf den Knien.

Alles an ihm war goldbraun, durchgereift vom Sommer, seine Haut, seine runden glänzenden Augen, sein Haar, das in dichten struppigen Büscheln vom Wirbel abfiel. Seine Mutter, die am Herd stand und in einem Topf rührte, drehte sich bei seinem Anblick um, überrascht, weil er so früh am Abend heimkam.

Jans’ Eltern waren noch junge Leute. Sie hatten früh geheiratet und waren gleichaltrig. Aber während Martin Jansen mit seinem rasierten Kinn, seinem blauen Arbeiterkittel immer noch einem aufgeschossenen gutmütigen Bengel glich, war Marie ein kräftiges junges Weib geworden –. Was hatte sie sich nur damals gedacht, als sie diesen Martin genommen hatte, der in die stickige, von Eltern und Geschwistern quälend übervolle Stube mit ein bißchen Zärtlichkeit und Lustigkeit hereingeschneit kam? für den es sich lohnte, das weiße Kleid zum Sonntag zu bügeln und der ihr manchmal in der Bude am Brückenkopf Veilchensträußchen kaufte? Hatte sie geglaubt, daß das neue Zimmer, in das sie gar nicht erwarten konnte einzuziehn, aus etwas andrem bestünde als aus einer Decke, vier Wänden und einem Fußboden? Hatte sie nicht geahnt, daß sein bißchen, durch allerhand Vorfreude hochgetriebene Lustigkeit sich bald abnutzen, daß es ihr mit seinen paar Zärtlichkeiten gehen würde wie mit dem Klang seiner Fußtritte, auf die sie früher ungeduldig gehorcht hatte und die sie jetzt gewohnt war ein paarmal täglich um dieselbe Zeit die Stufen heraufkommen zu hören? –

Und Marie war nicht dumm, sie war behend genug, alles gleich zu verstehn. Da gab es bald eine Liebelei mit einem hübschen Burschen, einen Stock tiefer. Doch ehe Martins Einwände noch etwas nützten, hatte der andere seinerseits eine Liebschaft mit einer jungen Magd aus der Nachbarschaft angeknüpft, und die beiden störten sich bald gar nicht daran, umschlungen im Hausflur zu stehen, wenn Marie mit ihrem Korb vorüberkam. Zuerst fühlte sie Stiche im Herz, aber dann war es ihr einerlei. Sie sah ihn, wie er war, gutmütig und zärtlich und gleichgültig, genau wie ihr Mann, einer wie der andre, nicht schlechter, nicht besser. – Es wäre ihr wohler gewesen, Jansen wäre jähzornig und unleidlich geworden, er hätte etwas an sich bekommen, um sich davor zu grauen und zu ekeln, aber da saß er friedlich mit seinen langen Beinen, lächelnd, meistens ein bißchen verlegen. Von ihm aus hätte ja keine Veränderung zu kommen brauchen, er begriff Mariens Erbitterung nicht. Er hätte ruhig seine Liedchen weitergepfiffen, seine Veilchensträußchen weitergekauft. Freilich, wie sich jetzt die Dinge anließen, hätte auch er es lieber gesehen, wenn Marie auch ihrerseits etwas abgeblüht und abgemagert wäre. Er hätte sie in ihrer ganzen Erbitterung hinter dem Küchenfenster gelassen und wäre seines Wegs gegangen. Aber wie konnte er seines Wegs gehn, wo Marie da oben saß, jung, duftend, gesund?

Die letzten Wochen, bevor das Kind kam, waren die schrecklichsten überhaupt. Der Sommer war heiß und die Arbeit hart für ihren schweren Körper. Jansen wurde ganz verstört durch diese fremde Marie mit veränderter Stimme und verschwommenen Gesichtszügen. Und Marie war fast erleichtert, als er endlich wirklich anfing, seines Wegs zu gehn und zu trinken, und sie etwas Handgreifliches für ihre Verachtung hatte. –

Und dann kam das Kind. Es lag da und schrie. Es war eigentlich nur noch ein Körper mehr in dem engen Zimmer. Aber wenn die Wände immer mehr zusammengedrückt und sie in einem Sarg umfaßt hätten, es wäre ihr einerlei gewesen. Es war aus mit ihrer großen Erwartung und ihren tausend kleinen Wünschen. Sie hatte etwas zum Lieben, alles war erreicht! Nicht nur wenn sie ihre Brust für das Kind frei machte, auch wenn sie ganz für sich ihre Zöpfe aufband oder etwa die welken Blätter von den Geranientöpfen pflückte – die sie nur in den ersten Wochen der Ehe gehalten und dann wieder abgeschafft hatte –, so tat sie es mit dem ständigen unbestimmten Lächeln der Liebenden. Wenn ihr Mann eintrat, zog sie erschrocken ihr Tuch über Brust und Kind oder den Vorhang vor die Wiege.

Hätte sie sich nur mit einem Blick um ihren Mann gekümmert, sie hätte ihn nicht mehr wiedererkannt. Sein gleichmütiges Jungengesicht war seit kurzer Zeit blaß und mager und fast verhärmt wie bei Grüblern, und in seinen Augen lag der flimmernde Glanz von Träumern. Jetzt begriff er ebensowenig Mariens Ruhe wie ehemals ihre Erbitterung. Er, der jetzt alle Erbitterung, allen Zorn, alle Erwartung der Welt begreifen, ja überbieten konnte. Für ihn war nichts zu Ende, für ihn zog in diese nackte enge, nach Suppe und Wäsche riechende Stube die Hoffnung in ihrem glitzernden Kleid erst ein. Wenn sein Blick nur das Kind streifte, so erfüllte sich sein Herz mit verwickelten unsinnigen Plänen, mit abenteuerlichen leuchtenden Wünschen. Wenn sein kleiner Fuß mit eingezogenen Zehen unter der Decke herausschaute, überkam ihn eine Lust nach Zärtlichkeit, die es mit hundert Marien in ihrer sehnsüchtigsten Zeit aufnehmen konnte. – Aber er behielt alles für sich. Nur wenn Marie einmal herausgegangen war, tupfte er mit dem Zeigefinger eine Delle in das weiche Fleisch des Kindes. Oder er legte abends ein Spielzeug zwischen die Kissen, und Marie fand es am Morgen und betrachtete es eifersüchtig und argwöhnisch.

Jans wuchs. Er aß und schlief und spielte. Wenn er zwischen seinen Eltern am Tisch saß und seine Suppe auslöffelte, bemerkte er nicht, wie sie manchmal quer über den Tisch nach dem Brot langten, um sein Haar oder seinen nackten Arm berühren zu können. Später, wenn er des Morgens mit seinem Vater gleichzeitig wegging, dieser in die Fabrik, er in die Schule, war er froh, wenn das gemeinsame Stück Weg zu Ende war und er drauflosrennen konnte, während sein Vater noch einmal stehenblieb und ihm nachsah, jedesmal mit einem Zucken der Trennung.

Bei alledem, Jansen war einsilbig, und auch Marie war keineswegs erfinderisch. In was hätte sie ihre Liebe auch anders zeigen können als in einem gesparten kalbsledernen Schulranzen und Goldpapiergriffel oder in diesem merkwürdigen in die Augen stechenden Rot für Jans’ neue Hosen? Und Jans wurde von Tag zu Tag brauner und kräftiger. Aber unter seinen Gefährten, die mit ihm auf dem Brückengeländer ritten, gab es noch mehr braune kräftige Knaben. Er hatte keine Zeichen in seine Stirn eingebrannt, er glich in nichts einem Ding, an das wilde Hoffnungen und verzweifelte Erwartungen geknüpft sind. –

Nachdem Jans an diesem Nachmittag eingetreten war, setzte er sich rittlings auf einen Stuhl und legte sein Gesicht auf die Lehne. Eine Mücke, ein glitzerndes Pünktchen, setzte sich auf seine Hand, und er war zu faul, sie zu verscheuchen. Sie kroch weiter, und wie sie lautlos unter seinen Ärmel wanderte, graute er sich plötzlich und rief laut: Mutter! Seine Mutter stellte gerade die Teller auf den Tisch und wollte etwas sagen, als sie Jansens Schritte auf der Treppe hörte und schnell die Suppe einfüllte. Auch Jans horchte, wie sein Vater den Flur entlangkam, und wurde wach und vergnügt dabei. Jetzt mußte etwas Neues eintreffen, jetzt hatte dieser heiße öde Tag, der aus irgendeinem Grund so ganz anders war als alle Tage, die er je erlebt hatte, endgültig ein Ende.

Martin Jansen trat mit seinem immer etwas verlegenen Guten Abend ein und hing die Mütze auf. Alle setzten sich stumm zu Tisch. Jans wollte genauso freudig und hungrig anfangen wie immer, als er aber zwei, drei Schluck genommen hatte, konnte er den Geruch, der aus der Suppe herauskam, nicht mehr aushalten und lehnte den Löffel an den Teller. Er sah zerstreut über den Tisch zum Fenster hinaus, wobei seine Mundwinkel kläglich herunterhingen; in diesem Augenblick sah Jansen zum ersten Mal am Abend seinen Jungen an. Und wie er so zufällig sein Gesicht auffing mit dem halboffenen verlassenen Mund und den trüben ins Leere fließenden Augen, schnürte sich sofort sein Herz vor Schrecken zusammen, und eine unsagbare Angst biß sich in seiner Seele fest.

Wie oft war Jans schon blutig und zerschunden oder hustend und durchnäßt heimgekommen! Jansen hatte gar nicht darauf achtgegeben! Er war immer so unerschütterlich fest in seiner Zuversicht gewesen. Ebensogut konnte die Erde bersten wie Jans etwas zustoßen, warum sich mit unsinnigen Gedanken abgeben? –

Und jetzt war die Erde geborsten. Das war nicht mehr das runde Jansgesicht, der Ort, an dem seine Zukunft verankert lag, der Schauplatz seiner Träume, das war ein fremdes unbekanntes Gesicht, wo alle seine Hoffnungen abprallten.

Wie konnte nur Marie nichts bemerken und in diesem schrecklichen Augenblick dastehen und Brötchen in die Suppe schneiden? »Iß doch«, sagte sie, und Martin zerrieb das Brot zwischen den Zähnen, während sein Herz im Takt dazu sagte »Gott im Himmel hilf! Gott im Himmel hilf!« –

»Ich kann nicht essen«, sagte auf einmal Jans mit erstaunter, kläglicher Stimme. Jetzt wurde auch seine Mutter aufmerksam. Aber ihr Herz blieb keineswegs vor Schrecken stehn. Sie legte nur ihren Arm um Jans’ Rücken und lächelnd und zärtlich, ihr Kinn auf sein Haar gestützt, nötigte sie ihn fertigzuessen. Als auf dem Grund von Jans’ Teller das Bildchen unter einer dünnen Suppenschicht zum Vorschein kam, stülpte sie zufrieden alle drei Teller ineinander und trug sie weg, während sich Jans ihr nachdrückte und Jansen, den Kopf in die Hände gestützt, am Tisch sitzen blieb. Aber das pflegte er immer zu tun, und niemand gab auf ihn acht.

Plötzlich fing Jans zu weinen an. Kein Anlaß war da, er schluchzte und drückte sein Gesicht in Mariens Rock. Jansen hatte die Hände vom Gesicht gezogen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Jans’ ruckweises Schluchzen zuckte in sein Gesicht, und das leise Nachwimmern rieselte durch seinen Körper. Marie warf einen geringschätzigen Blick auf diesen Martin, der mit den Fingerspitzen auf den Tisch trommelte, schlug die Falten ihres Rockes um das Kind und wiegte es hin und her, bis das Weinen aufhörte. Jans hätte gern noch weiter geweint, es tat so gut, alle Langweile dieses öden mißlungenen Tages herauszuweinen, aber sein Kopf fing an, ihm weh zu tun, was die Freude am Weinen nicht aufwog. Auch legte ihn seine Mutter mit starken, behenden Armen aufs Bett, zog ihm Schuh und Strümpfe, Hemd und Hose aus und wickelte ihn in die Decke. Etwas Besseres hatte er lange nicht mehr erlebt. »Er schläft schon!« hörte er seine Mutter sagen. »Meine Mutter ist dumm«, dachte er. Marie fing an mit dem Geschirr zu klappern, und Jans kam es vor, als ob jemand mit den Nägeln über eine Schramme kratzte. Endlich war sie fertig. Sie trat noch einmal an sein Bett, aber Jans preßte die Augen zu, um nicht mehr gestört zu werden. Kaum drehte sie ihm den Rücken, als er die Augen wieder aufriß. Es ging gar nicht leicht, sie klebten zu, und es gehörte ein Entschluß dazu, sie aufzureißen. Die Dunkelheit brach an. Jans wunderte sich. Alle Sachen fingen an sich zu blähen und zu dehnen. Sie konnten es nicht mehr aushalten, länger mit festen, klaren Umrissen dazustehen, sie wollten nicht immer Töpfe und Stühle, Bretter und Haken bleiben, sie schwemmten über ihre Ränder hinweg und stellten sich, als ob sie ebenfalls lebendige Gesichter und Gliedmaßen hätten. Seine Mutter hatte sich ein neues Geräusch ausgedacht: sie raschelte. Er schielte herüber, da schlupfte sie aus ihren Kleidern, sie leuchtete weiß, arglos brachte sie alles zum Vorschein, was sie am Tag verborgen hielt und er in gewöhnlichen Nächten verschlief, sie hatte ihren Jungen betrogen, sonderbar und Grauen erregend sah sie in Wirklichkeit aus wie nur irgendein Fabelwesen, sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem rechten Menschen, sie sah gar nicht aus, wie eine Mutter aussehen muß. Dazu reckte sie jetzt ihre Arme und fing an zu schwanken und zu tanzen, und auch das große Bett schwankte und schwirrte mit und die Stühle und die Schuhe auf dem Boden und die Mütze an der Wand und Jans’ kleines Bettchen, sosehr er sich sträubte. Als ob jemand diesem dummen Zimmer einen Fußtritt versetzt hätte, schwankte es hin und her, hin und her, nicht zum Aushalten. Da erblickte Jans seinen Vater, einen Schatten nur in der Dunkelheit, aber ein fester Schatten, der einzige Schatten in diesem Zimmer, der sich in dieser Nacht nicht darauf einließ zu schwanken. Nein, Jans’ Vater war kein Tänzer, kein Abenteurer, er war Martin Jansen, ein langsamer, schwerfälliger Mensch, da saß er noch am selben Fleck, wo ihn das Unglück überrascht hatte, über den Tisch gebeugt, den Kopf in den Händen und starrte vor sich hin. Er war nachts nicht anders wie am Tage, er war Jans’ Vater, und Jans wurde ruhig, und seine Angst wäre fast zu Ende gewesen, wenn er nicht diesen faulen faden Geruch auf der Zunge behalten hätte. –

Er kam von den Abfalleimern im Hof, Jans stand auf einmal wieder im Hausgang, er mußte die Treppen hinauf, aber sie waren so unermeßlich steil, daß es unmöglich war, heraufzukommen. Die Zunge klebte ihm, es war ein drückend heißer Nachmittag, dazu war es leer und still, eine ganz sonderbare Stille im Treppenhaus, eine Stille, in der das Herz vor Grauen saust. Auf einmal kam ein schriller Pfiff, und einen Augenblick später schnurrte blitzschnell ein verschrumpfter kurzhosiger Zwerg, ein altes ekelhaftes Männchen, das Treppengeländer herunter und purzelte über Jans’ Füße, sein nacktes Bein streifend, ins Freie.

Jans riß die Augen auf. Seine Glieder waren noch ganz steif vor Grauen. Es war Nacht, aber obwohl es finster im Zimmer war, wurde doch noch geschwirrt und geschwankt, besonders ein schmaler Lichtstreifen, den die einsame Laterne im Hof an die Wand warf. Jans hatte Durst. Da drüben am Tisch saß sein Vater, aber so groß und feierlich saß er da, daß es unmöglich war, ihn wegen etwas Durst anzurufen. Saß Jansen da, weil es immerhin gut war, Nachtwache zu halten, wenn ein Krankes im Zimmer war, oder wußte er gar nicht, daß die Nacht über ihn hereingebrochen war? Vorhin hatte er einmal gewagt, einen Blick auf das Bett zu werfen, und er hatte gleich wieder die Hände vors Gesicht geschlagen und zwang nun seinen törichten Kopf, sich das Unvorstellbare vorzustellen, und sein armes Herz ohne Hoffnung zu schlagen. Aber er konnte es unmöglich begreifen, daß er in diesem Zimmer schlafen und essen, durch die Gassen gehn und in der Fabrik stehen sollte, ohne die Erwartung, ohne die Vorfreude von sieben Jahren. Er rückte an seinem Stuhl. Aber ohne Hoffnung hatte es keinen Sinn zu schlafen, keinen Sinn zu wachen, nein, er blieb schon sitzen. »Was tut nur mein Vater? Warum tut er das?« dachte Jans, »pflegt er das jede Nacht zu tun?« Und er wunderte sich, was sein Vater mit seinen Händen anfing, die er rang, daß die Finger krachten, und was für wunderliche Töne aus seinem Munde kamen.

Nach und nach wurde der Laternenstreifen blasser, und Vaters Mütze, Ofenrohr und Stühle und manches andre kamen wieder zurück, wie Schaumblasen in weißem milchigem Licht. Jans fiel es ein, daß der Tag anbrach. Aber er hatte gar keine Lust nach Tag, seine Augen klebten, er schämte sich vor dem Licht. Im Efeu im Hof fingen die Spatzen an zu pfeifen. Jans schämte sich noch mehr. Da sah er zu seinem Vater hinüber, der einzige, der mit ihm ausgehalten hatte. Aber gerade in diesem Augenblick streckte sein Vater die im Frühlicht ganz fahlen Arme über den Tisch, und ohne daß Jansen es wollte, glitt sein armes Gesicht auf die Tischplatte dazwischen und schlief ein. Und Jans dachte enttäuscht, daß auch sein Vater ihn doch noch in letzter Stunde im Stich ließ. Da fing sein Bett wieder an, diesmal gleichmäßiger und sachter, hin und her zu wiegen, und er hörte auf zu denken.

Das war die erste Nacht, die Jans in seinem Leben wachend verbrachte. Um halb sieben rasselte der Wecker, den Marie in eine Untertasse zu stellen pflegte, um mehr Lärm zu bekommen, denn ihr Schlaf war tief und schwer. Marie gähnte und reckte sich, sie freute sich aufzuwachen, in ihrem frischen, ausgeruhten schlafdurchwärmten Körper. Auf einmal stutzte sie im Gähnen, sprang auf die Füße und lief an Jans’ Bett. Sie bückte sich tiefer und versuchte ihn herauszuziehn, denn erhatte sich wie ein leidendes Tierchen in eine Bettgrube verwühlt. Wie sie aber seinen starren, glühenden Körper zu fassen bekam, von dem der Kopf wie ein Puppenkopf nach hinten baumelte, mit offenen blinden Augen, fuhr sie zurück, starrte ihn an, drückte seinen Kopf zwischen ihre Brüste und starrte ihn wieder an, wobei in ihre Augen dieselben kleinen Punkte kamen wie damals, als sie den flüchtigen Gefährten vom Stock tiefer mit seiner Liebsten im Hausgang erblickt hatte. Aber hier fing sie an zu bitten und zu betteln und zu streicheln, worauf Jans freilich nur ein wenig mit den Augen zwinkerte mit trüben argwöhnischen Blicken, unter seinen langen verklebten Wimpern. Da fielen Mariens Arme herunter, und sie sah sich hilfesuchend im Zimmer um. Sie erblickte ihren Mann, den Oberkörper quer über den Tisch, als ob die Tischplatte ein Brunnen wäre, in den er sich stürzen wollte. Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn hin und her, ganz wild vor Verachtung. Sie fuhr auch noch fort zu schütteln, als Jansen schon aufgewacht war, sein gewöhnliches verlegenes Lächeln um den Mund. »Jans ist krank!« schrie sie ihm ins Gesicht. »Du Lump! Du Gauner! Jans ist krank!!« Aber Jansen nickte nur, und Marie warf sich über Jans’ Bett. Jansen blieb stehen, lang und hager, mit seinem verwirrten Lächeln. Feste Riegel hatte dieser Martin Jansen vor sein Herz gelegt, große Schätze von Angst und Qual konnte er darin beherbergen, ohne daß gleich alles herausbrach und alle behelligte. »Nimm deine Mütze«, fuhr Marie herum, »und mach, daß du fortkommst!« Und Jansen gehorchte, er nahm seine Mütze und setzte sie auf und klammerte sich nicht an die Bettpfosten seines Kindes, er ging in die Fabrik, er torkelte ein bißchen, aber es war doch noch der sicherste Weg. Halt, auf der Schwelle kehrte er doch noch einmal um. »Da draußen ruft dich jemand, Marie.« Marie lief hinaus, und Jansen sprang ans Bett, riß das Kind an sich und bedeckte es von oben bis unten mit Küssen. Die Tür krachte, und er legte es schnell wieder unter die Decke. »Niemand hat gerufen«, sagte Marie böse, »mach, daß du fortkommst!« Und kaum war er fort, als Marie aufweinte, sich nach Herzenslust und ohne Störung ausweinte. Manchmal, wenn sie das Kind mit trüben verweinten Augen anbettelte, kam wirklich in Jans’ trüben Blick ein Ziel, ein Ausdruck von Trauer und Argwohn, als ob er an einer ganz andren weit geheimnisvolleren Krankheit litte als die, um deren Namen sich seine Mutter den Kopf zerbrach. Er drängte sich von ihr weg und versuchte sich in einen Winkel seines Bettes zu vergraben, und manchmal hob er den Arm, der über Nacht abgemagert, und deutete in die Luft, als ob es dort etwas viel Dringlicheres und Sonderbareres zu sehen gäbe als das nahe, rotgeweinte Gesicht seiner Mutter.

Der Morgen ließ sich an wie gewöhnlich. Die Sonne brannte auf den Hof, und Nachbarsfrauen hingen die Wäsche auf. Marie wollte ans Fenster, ihr Unglück herunterrufen. Aber plötzlich schüttelte sie den Kopf. Es war eine Schande, daß Jans, ihr schönes glänzendes Kind, krank war, es war eine Schande, Fremden zu zeigen, daß ihr Glück Flecke und Sprünge bekommen hatte. Da war es schon besser, seine Schande allein zu tragen, und sie nahm Jans’ kleine zerschmilzende Hand in die ihre.

Es klopfte. Marie erschrak. Aber nur der Arzt trat ein – wo hatte ihn Jansen aufgetrieben? –, ein kleiner Mann mit zerzaustem Bart und fleckigem Anzug, da war er schon den ganzen heißen Morgen die Treppen der Vorstadt herauf- und heruntergelaufen. Marie sah ihm mit steigender Angst zu, obgleich er nichts andres tat als sich die Hände waschen und die Brille putzen, er war ja selbst ein geplagter verschwitzter Mensch. Wie er aber Jans befühlte und behorchte und mit kühlen Fingern bestrich, war es Jans, als ob man ihn langsam aus einem tiefen dunklen Wasser herauszöge, und ganz von weitem sah er zwei winzige helle Pünktchen – die runden Brillengläser des Arztes, in denen sich die Sonne fing. Er fühlte sich unbeschreiblich wohl und hatte Lust zu lachen – es war der Bart, der ihn kitzelte –, und er kicherte leise und tauchte wieder ins Wasser. Marie war bei dem Kichern ganz bleich geworden. Der Arzt stand auf. »Man muß abwarten«, sagte er, »man muß die Fenster verdunkeln und Aufschläge machen. Mehr kann man nicht machen.«

Am Abend tappte Jansen in das dunkle Zimmer. Er setzte sich an seinen gewöhnlichen Platz, heute war nichts gedeckt und gekocht, er war todmüde und hungrig, er stützte den Kopf in die Hände, und allmählich wurde die Dunkelheit, die ihn so gut versteckt hatte, durchsichtig. Er erkannte Marie zusammengekrümmt an Jans’ Bett. Der Wecker rasselte, im Flur wurde eine Tür zugeschlagen, jemand rannte lachend die Treppe herunter, Marie erhob sich, um Wasser zu holen. Inzwischen trat Jansen an Jans’ Bett. Marie kam zurück, den Krug in der einen, ein Licht in der andren Hand, und mit einem bösen Blick verwies sie Jansen an seinen Platz am Tisch zurück. Aber Jansen zuckte nur geringschätzig mit den Schultern, er blieb, wo er war. Er versuchte Jans’ Gesicht anzusehen, zuerst zog sich sein ganzer Körper vor Entsetzen zusammen, aber er biß sich auf die Lippen und zwang sich, das Gesicht zu betrachten, das kleine alte, verschrumpfte Gesicht, mit offenem Mund und offenen Augen, das sieben Jahre lang in Weinen und Lachen, in Zorn und Lust und manchmal sogar in Grausamkeit gezuckt hatte, aber immer in Leben und allen Möglichkeiten des Lebendigen, und jetzt ein Spott und Hohn, ein abgestorbenes Greisengesichtchen war. Die Uhr rasselte, und Jansen, der plötzlich heftig und unternehmend war, ging hin, stellte sie ab und ging wieder an seinen Platz. Aber jetzt war es so still, daß es niemand ertragen konnte. »Jans muß sterben«, sagte Marie leise vor sich hin. Jansen fuhr zusammen, was sie da sagte, hatte er ja seit vorgestern gewußt, vom ersten Augenblick an, aber wie konnte sie so schamlos sein, es auszusprechen? Sie sahen sich an, und sogar in Jansens Zügen bebte etwas wie Haß – wie wenn zwei Feinde in der gleichen Zelle eines Zuchthauses gebändigt werden. Jansen ballte die Hand. Er hätte vielleicht geschlagen, wenn nicht gerade Jans einen seiner wunderlichen Atemzüge ausgestoßen hätte oder vielmehr ein langes dünnes Pfeifen. Dann war es wieder still. Gegen Morgen zuckte Jans’ kleiner steifer Körper zusammen, und Jansen sah eine große, glitzernde, sonderbar und beinah lächerlich anzusehende Schaumblase aus dem Mund seines Kindes, seines ehemaligen Sohnes aufsteigen. – Da stürzte Jansen aus dem Zimmer. Er glaubte nicht mehr an das, was er sah, es war ein unsinniger Traum, er brauchte sich das nicht gefallen zu lassen, er rannte aus dem Hause, kreuz und quer durch die Gassen, und stieß da und dort an. An einem Bäckerladen wurden die Läden hochgezogen, er sprang herein, kaufte ein Brot, biß schon im Laden die Spitze ab, und bis zur nächsten Ecke hatte er es ganz verschlungen. Wie aber sein Magen voll und sein Hunger vorbei war, blieb er stehen, und sein Gesicht überzog sich mit brennender Scham, weil er an einem solchen Morgen Hunger gespürt und etwas gegessen hatte.

In der Fabrik arbeitete er stumm und schnell, wie er aber wieder auf der Straße war, da schaukelte und torkelte er, lief ein paarmal an seiner Haustür vorüber und machte schließlich ganz kehrt – er konnte sich nicht entschließen, in das schreckliche dunkle Zimmer heraufzugehn und eine solche Wirklichkeit anzuerkennen. An einer Ecke gab es eine Schenke, dieselbe, in die er damals gelaufen war, als Marie im ersten Jahr ihrer Ehe angefangen hatte, schlecht und hart zu werden. Er setzte sich und versuchte, sich Jans’ Gesicht vorzustellen, wie es vor der Krankheit gewesen war, wie es vor drei Tagen noch gefunkelt hatte, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sehr er sich abquälte. Er vermochte es kaum zu erwarten, bis man das Glas vor ihn hingestellt hatte, er hoffte irgendwie, es könnte ihm zu seiner Hoffnung verhelfen. Droben wurde er nicht vermißt. Solange sich Jans zusammenkrampfte, so lange stand die Zeit still, und sie bekam einen Stoß, wenn er zuckte. Es wurde wieder Tag, und Marie schien es, als ob Jansen eben erst die Tür hinter sich geschlossen hätte. Sie nahm ihren Krug und ging nach frischem Wasser. Jans regte sich unter der Decke. Auf einmal wurde sein Bett wieder herumgewirbelt, er zog die Beine ein, verbiß sich in einen Zipfel des Kissens und hing sich an das Bettzeug, um nicht herauszufallen. Aber das Wirbeln ließ nach, das Bett fing an, in ruhigeren, breiten Schwüngen hin und her zu wiegen, und stand endlich ganz still. Jans blinzelte; die Vorhänge waren zugezogen, aber kleine Sonnenflecke lagen zersprenkelt auf der Hand, auf dem Fußboden und hüpften in goldenen Sternchen um Jans’ Bett. Und drunten auf dem Hof gab es Getrippel und Lachen, und Kinder – eine Mädchenstimme war darunter – klatschten in die Hände zu ihrem Singsang:

»Ich und du,

Müllers Kuh,

Müllers Esel,

Der bist du!«

Jans blinzelte noch mehr, er reckte den Hals vor Neugier und richtete sich auf. In diesem Augenblick trat seine Mutter ein. Sie stockte und kam am ganzen Körper zitternd näher. Sie fragte ihn mit fremder, bebender Stimme, ob er etwas trinken wolle, wobei sie ihm die Hand aufs Haar legte, und Jans nickte in seiner alten mürrischen Art, die er anzunehmen pflegte, wenn man zärtlich mit ihm war. Marie brachte eine Tasse Milch –

ihr Gesicht wurde immer bleicher –, und Jans trank alles aus. Darauf war er müde, das Bett zitterte wieder, aber er hörte seines Vaters Schritte auf der Treppe und richtete sich noch einmal auf. Jansen zog sich mit schweren verwickelten Beinen das Geländer herauf. Er hatte gar keinen Gedanken, nur Angst, Angst, aber wie auch sein Herz klopfte – er konnte sich nicht mehr besinnen auf was. Er versuchte umsonst, seine mit jedem Schritt wachsende Feigheit zu bezwingen.

Seine Hand hüpfte um die gelbe Türklinke herum, und er klappte sie zehnmal auf und nieder, bis er dann die Tür aufriß.

Jans saß aufrecht in seinem Bettchen mit rotem, pfiffigem Gesicht. Da starrte ihn Jansen an, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem verwirrten Lächeln, ja sogar noch über das Lächeln heraus in ein bitterliches Weinen. Marie machte sich auf einmal schnell in einer Ecke mit dem Geschirr zu schaffen, und sie drehte sich erst um, als Jansen fertig war. Aber der kleine Jans, dessen Kopf zurückfiel, betrachtete unbekümmert das Gesicht seines Vaters mit Neugierde und sogar ein bißchen Widerwille.

Am späten Abend trat Jansen ans Fenster. Er sah hinauf nach dem hohen dunstigen Himmel, er sah herunter in den Hof, wo gerade ein weißes Kätzchen von Ecke zu Ecke huschte. Er sah über die Mauern der Nachbarhäuser, die nach dem engen gemeinsamen Hof unbekümmert ihr Inneres entblößten, ihre schmutzigen, verwahrlosten Küchen und Stuben voll Weinenden und Lachenden und Schlafenden und Essenden und Betrunkenen. Und wer wollte, konnte von dort drüben in Jansens Stube sehen, sein weißes feuchtes Gesicht über den Geranientöpfen. Aber was machte es, wenn Tag für Tag der gleiche faule Geruch aus den Abfalleimern da unten kam – sein Sohn lebte, was machte es, wenn da drüben in den Abend ein Kind weinte, wie nur zerschlagene, wehrlose Kinder in der Dämmerung weinen – sein Sohn lebte, was machte es, wenn sich gegenüber zwei Weiber in einem frechen gemeinen Gelächter krümmten– sein Kind lebte. Die Menschen, die da drüben mürrisch ihre letzten Bissen zerkauten und sich erschöpft auf ihre schmierigen Betten warfen, sie wußten noch nicht, daß sein Kind am Leben geblieben war.

Vor drei Tagen war Jansen erst von seinem Berg abgestürzt und hatte mit zerschellten Gliedern drunten gelegen. Aber so verlockend war der Gipfel, daß schon ein kleiner Wink genügte, um ihn ohne Zögern seine zerschundenen Glieder zusammenraffen und von neuem heraufsteigen zu lassen. –

Am folgenden Feierabend machte Jansen einen Umweg in die Stadt. Er verschaffte sich noch Einlaß in einen Laden, der schon für den Sonntag aufgeräumt wurde. Er hatte seinen Wochenlohn bei sich, und er wählte die verwickeltsten und beweglichsten Spielsachen. Er nahm vorsichtig das große bucklige Paket aus Seidenpapier in Empfang und trug es abgespreizt nach Hause. Er kam aufgeregt in den Flur und machte die Tür auf. Da war das Zimmer dunkel, und ein süßlich dumpfer Geruch kam ihm entgegen. Und aus der Ecke aus dem Bett stieg ein dünnes Wimmern, ein langgezogenes Iiiiiih, das sogar einem Kichern ähnlich klang. Jansen tappte nach dem Tisch und legte das Paket mit den Spielsachen darauf.

Der Sommer ging weiter um zwei, drei überflüssige, ungezählte Tage, heiß und drückend wie jene, in denen Jans geboren worden war. Aber niemand hielt sich mehr in dem Zimmer mit Schelten und Fluchen auf. Jansen war ein friedlicher Mensch. Gewiß, es war noch nicht lange her, da waren ihm aus übergroßer Freude oder übergroßem Schmerz ein paar Absonderlichkeiten entschlüpft. Aber jetzt schlich er friedlich herum. Die paar Absonderlichkeiten, die ihm gewährt waren, er hatte sie längst verbraucht. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sich nicht einmal diese Strähne weißen Haares zugelegt, die so wunderlich zu seinem Jungengesicht aussah und die ihm gerade in diesen so gleichmäßigen und ereignislosen Sommertagen aufgedrungen worden war. Und Marie, da hockte sie auf Jans’ Bett, die Augen leergebrannt von Nachtwachen, und wenn sie einmal eingeschlummert war und von Jans’ hellem scharfem Wimmern aufgeschreckt wurde, so stöhnte sie wie die Gefangenen, die zu der Strafe der Schlaflosigkeit verurteilt sind. – Manchmal fragte ein Nachbar auf dem Flur oder ein Gefährte bei der Arbeit: »Nu, Jansen, dein Jans ist krank?« – »Ja, er ist krank«, erwiderte Jansen. – »Er wird schon durchkommen«, sagte der andere. – »Nein«, erwiderte Jansen, »ich glaube nicht, daß er durchkommt.«

Wenn abends Jansen nach Hause kam, so stieg nach der Leere des Tages eine Unruhe in ihm auf, eine unbestimmte Erwartung, er möchte hinter der Tür das Letzte antreffen und es wäre ihnen endlich gewährt, sich dem schrecklichsten endgültigen Schmerz hinzugeben. Aber das Zimmer war immer noch dunkel, und der süßliche Geruch war immer noch da, und Jans lag mit eingezogenen Beinen und offenem Mund und runden Augäpfeln, wie ein uralter verschrumpfter Zwerggreis,wie ein böser kleiner Zauberer, mit seinen dürren Fingern unverständliche Zeichen in die Luft malend und rätselhafte dünne Klagelaute pfeifend.

Und Jansen setzte sich an den Tisch und aß sein Nachtessen und zog sich aus und schlief seinen Schlaf.

Da weckte ihn eines Nachts Marie: »Steh auf, Martin, er stirbt!«

Jansen sprang auf die Füße. In seinem Kopf war es bei diesem Ruf auf einmal so hell wie damals, als Jans unvermutet lächelnd und aufrecht in seinem Kissen gesessen hatte, und jener Fleck mitten in ihm, der brach und öd gelegen hatte, fing bei diesem Ruf an um sich zu schlagen und zu stechen, daß er aufschrie. Er packte das Bett an, und Marie verwehrte ihm den Platz nicht. Aus Jans’ Mund kam ein Blutfaden über sein Hemdchen und seine Decke gerieselt, aber Jansen konnte mit seinen flimmernden Augen gar nicht sehn, was in dem Bett vorging. Er bohrte nur sein Kinn in den Pfosten herein und preßte seine Knie in das Holz, als ob in diesem Augenblick das Bett der Feind sei, auf den es ankäme und den man bedrohen und bestechen müßte. Aber das Holz blieb hart und geduldig, und Jansen war erschöpft, und seine Hand, die sich gegen das Bett wund getrommelt hatte, streckte sich aus und berührte Jans’ Haar und blieb darin hängen. Und auch Marie wollte noch etwas von diesem Haar haben, das sich noch warm und lebendig anfühlte. Ihre Fingerspitzen stießen aneinander, sie sahen sich an, und jedes stutzte bei dem sonderbaren Anblick des andren. Ihre Blicke wurden fester, und in dem Grund ihrer Augen schimmerte etwas Neues. Zwar war es nicht die Liebe, aber etwas, so ähnlich der Liebe, daß selbst Weisere als sie es hätten nicht unterscheiden können. Sie drängten sich ineinander, er strich ihre armen abgemagerten betrogenen Arme herauf und herunter, und seine Liebkosungen, die mit wehem Trost begonnen hatten, wurden zu einem närrischen Wenn-schon Denn-schon.

Am nächsten Tag wurde das fleckige Bettzeug abgezogen, und Jans bekam eine frische Decke, ein frisches Leintuch und ein frisches Hemdchen. Aber wenn er auch jetzt reinlich und feierlich dalag, so zuckte er doch noch manchmal etwas, und abends schluckste er sogar, wobei auf das frische Kissen ein paar Blutströpfchen spritzten. Da legte Marie ihren Kopf in Jansens Schoß, als ob das die einzige Bewegung sei, die ihr zu tun übrigbliebe, und der einzige Ort einer ewigen und unversiegbaren Zuflucht.

Jans hatte das Summen selbst gehört, er behielt ein leises Summen im Ohr. Gestern abend, wie das Blut aus seiner Kehle gekommen war, hatte er sich auf einmal so frei und leicht gefühlt, und er hatte gewünscht, daß es gar nicht aufhören möchte. Es war alles so frei und großartig, wie draußen auf dem Brückengeländer über dem strömenden Wasser, er gab sich einen kleinen Ruck und stieg in die Luft, er spreizte die Arme und stieß sich mit einem Fuß in die Luft ab. Er flog über den Tisch, aber seine Eltern, die immer so viel Wesens aus ihm gemacht hatten, erstaunten sich gar nicht, sie, die ihm immer mit begierigen Blicken gefolgt hatten, sahen in dieser ungeheuren Minute gar nicht auf, und die Minute war schnell zu Ende, und er wurde wieder schwer und fiel in sein Bett. Er öffnete die Lippen und sagte »Durst«, und seine Eltern fuhren auseinander und stützten abwechselnd seinen Kopf, während sie ihm Milch eingossen. Keines von ihnen war erbleicht, wie er ein Wort gesagt hatte, keines hatte mehr die Kraft, sich zu einer neuen Hoffnung zu rüsten. Wenn Jans sich regte, knüpften sie hastig ihre verschlungenen Finger auf, und es kam jetzt manchmal sogar am Tage vor, daß sie mit aneinandergelehnten Köpfen dasaßen.

Jans war also kein jäher schneidender Tod bestimmt, er sollte langsam mit dem Herbst absterben. Das sagte auch der Arzt, der noch einmal gekommen war, und er sagte auch, daß es keinen Sinn hätte, ihn immerzu in der dunklen Ecke im Hof zu lassen, daß man ihn ruhig zuweilen in den Lehnstuhl ans Fenster legen dürfte. So wurde Jans mitsamt seinen Kissen und Decken in den Lehnstuhl gepackt, um auch noch seinen Teil am Sonnenschein zu haben, der sich schon blasser und genügsamer über das Hofpflaster legte. –

Eigentlich machte sich Jans gar nichts aus dem Lehnstuhl. In der dunklen Ecke, da war er geborgen, da war seine Heimat, nicht in dem großen hellen Zimmer der Erwachsenen. Was den Sonnenschein anbelangte, so tat er seinen Augen weh, und die Spiele der Kinder, die da drunten im Hof vor sich gingen, entlockten ihm nicht im geringsten Neid oder Bewunderung. Er freute sich, wenn seine Mutter erst am Mittag dazu kam, ihn umzubetten, wenn er auch nichts andres tat als auf dem Rücken liegen und die Tapetenmuster zählen, die dummen, abgeblaßten Streifen und Girlanden.

Freilich, sobald er die Schritte seines Vaters auf der Treppe hörte, verfärbte sich sein kleines, blaß und faltig gewordenes Gesicht. Er wartete, ja, auf was wartete Jans? Sein Vater trat ja immer gleich an seinen Sessel heran, fuhr ihm übers Haar, faßte ihn unters Kinn, was er früher nur heimlich und schamhaft getan hatte; Jans aber wartete, er wußte nicht, worauf, und wie hätte er es wissen sollen? Und sein Vater wandt sich ab und drückte seinen Kopf neben Mariens Kopf über den Tisch, auf dem sie mit unbestimmtem verliebtem Lächeln kleine weiße Lappen vor ihm ausbreitete, und er wühlte mit seinen Fingern darin herum, leise erregt von frischer Erwartung, die ihre ersten Fußstapfen auf dem zersprungenen Tisch da vor ihm eingetreten hatte.

Diesmal fühlte sich Marie nicht gedemütigt und erdrückt von ihrem schweren Körper, und Jansen hatte keinen Anlaß, in die Schenke an der Ecke zu laufen. Sieben Jahre waren vergangen, das achte stand vor der Tür, und sie benahmen sich genau wie Menschen, die sieben Jahre älter geworden sind. Damals hatte es einmal so geschienen, als ob die vier Wände sich erstickend eng um sie legen würden, und während der sieben Jahre hatten sie Zeit gehabt, sich zu erweitern und wieder zusammen zuziehn und wieder zu erweitern. Und schließlich blieben sie stehen, nicht so verschwenderisch Platz lassend, daß man große Luftsprünge machen, aber doch daß man atmen konnte. Geduldig und still arbeiteten beide den Winter hindurch, wie man arbeitet, wenn eine kleine Freude bevorsteht, nicht das unsinnige Glück, das man zum Schluß doch nicht ertragen kann, sondern eine schlichte dem Raum angepaßte Freude.

Da war auch noch immer Jans, der hatte ja früher die Kammer mit seinem Sonnenglanz erfüllt, und jetzt war er ein armseliges Fünkchen, das seine Mutter in einer Hand tragen konnte. Manchmal sah sie von ihrer Näharbeit zu ihm herüber mit traurigen, älter und schwerer gewordenen Augen, und dann verschränkte sie angstvoll die Arme über ihren Leib, wo das Ihre noch so wohlverwahrt lag. Seit die abgeblühten Stöcke vom Fenster entfernt waren, saß Jans noch weniger gern dort. Stumm und zusammengesunken, mit vorgestreckter Unterlippe hockte er in seinen Kissen. Nur einmal, als drunten im Hof Jungen einen Drachen steigen ließen, bebte seine weißspitzige Nase, und seine Augen glitzerten. Als aber dieselben Knaben ins Zimmer gerufen wurden, drückten sie sich verlegen aneinander, und Jans saß in seinem Sessel, stumm und ernsthaft, ein kleiner Greis, und sie wußten nichts miteinander anzufangen.

Warum ließen sie ihn nicht im Bett? Was hatten sie davon, wenn sie ihn ans Fenster brachten? Drinnen im Bett brauchte er nur die Augen zu schließen, und er sah die Brücke und den Fluß, blau und grün, Wolken und Sonne, und noch ganz andre Dinge. Aber hier mußte er immerfort den grauen stickigen Hof anstarren, und aus den Fenstern warfen manchmal die Leute sonderbare Blicke zu ihm herüber. Aber er beklagte sich nicht. Er sprach ja überhaupt fast nichts. Wenn er etwas sagte, waren seine Eltern ganz verwirrt und beinah erschrocken, da war es schon besser, nichts zu sagen.

Es kam auch etwas andres. Eines Mittags nämlich wehten aus der schweren trüben Luft, leicht und heiter, ein paar Flocken herunter, und gleich dahinter kamen noch andre, satt und schwer zuerst und gegen Mittag glitzernd und rieselnd. Jans drückte sein Gesicht an die Scheibe, von jetzt ab hatte er täglich 10 000 Gefährten, diese kleinen Tänzer von irgendwoher, da tanzten sie auf Höfen und Fensterbrettern nach einer Musik, die niemand hörte. Das war so ein Tanz, daß Jans vom Zusehen außer Atem kam, und wenn er sich nach der Stube umdrehen mußte, so konnte er seine flimmernden Augen gar nicht umgewöhnen an Tisch und Lampe und seine Eltern, die schweren Klötze.

Es kam der Weihnachtstag, und Marie ließ ihn bis zum Abend im Bett liegen. Sie stellte den Tannenbaum in eine Scherbe und klemmte die Kerzen ein. Jans hätte ganz gut allein aus dem Bett kriechen können, er hatte sich schon öfters in der letzten Zeit, wenn seine Mutter das Kissen aufschütteln wollte, allein auf den Füßen gehalten. Aber so war es besser. Am vorigen Tag hatte Marie mit gesenktem Kopf ihren Mann gefragt: »Was schenken wir Jans?« Jansen hatte lange geschwiegen und plötzlich gesagt: »Ich habe etwas!«, und er hatte aus seiner Schublade ein Paket hervorgekramt. Er knüpfte den Bindfaden auf und wollte das Papier auseinanderschlagen, aber wie dieses weiße Seidenpapier, dessen feierliches ungewohntes Knistern ihm damals im Laden aufgefallen war, auch jetzt zu knistern anfing, schlug er schnell die Zipfel übereinander und knüpfte es wieder zu. Nein, viel Geld war nicht mehr übrig, da war die Miete gewesen und das Holz und das Weihnachtsgeschenk für Marie, aber es reichte noch, um ein Pferdchen zu kaufen oder einen Ball und einen Lebkuchen, und er lief schnell weg.

Am Abend saßen sie alle um den Tisch. Die kleinen Kerzen auf dem zerzausten Bäumchen zuckten und zwinkerten – Marie in ihrem schwarzen Kleid, das straff über dem Leib saß, mit den mageren Schultern einer Konfirmandin, Jansen in einem sonderbaren Kragen und Jans in seinen Kissen, still und winzig. Da sollten sie also warten, bis der Baum heruntergebrannt war, da war ihnen eine solche Pause gewährt, ein Inselchen in der Zeit, sie saßen ja von morgens bis abends über die Arbeit gebückt, und irgendein Glück, das sie sonst nur still und heimlich versuchen konnten, über das sollten sie sich jetzt in dieser Pause satt lächeln dürfen, oder irgendein Leid, das für die gewöhnlichen plumpen Tage nicht taugte, konnten sie in dieser Feierstunde ungestört ausweinen. Aber sie saßen und versuchten umsonst, ihren müden Herzen etwas Feierliches zu entwinden. Und alle – Martin, der mit hängender Lippe in die Luft träumte, und Marie, die unablässig die Fransen ihres neuen Tuches glättete, und sogar Jans, der mit mageren kranken Händchen an seinem Spielzeug herumgegriffen und es schließlich müde und hilflos liegengelassen hatte – wünschten, daß die Pause zu Ende gehn und die schlechte gewöhnliche Zeit wieder anfangen sollte und sie von ihrer traurigen Beklommenheit erlösen möchte. Aber der Baum brannte fort. Er war in der Welt, um zu brennen, und er nahm sich Zeit dazu und brannte, bis die Spitzen seiner Zweige versengt waren und Wachstropfen auf das Tischtuch fielen.

Je tiefer es in den Winter ging – auf den Schnee waren trübe feuchte Tage gefolgt, mit Nebel bis vor die Fensterscheiben –, desto mehr schrumpfte Jans zusammen. Die Ärmel der Wolljacke vom vorigen Winter schlotterten um seine Handgelenke herum. Vielleicht hätte Jans, der in seinem Sessel wie ein Pünktchen verschwand, das ganze Zimmer mit seinem Geschwatz und Getrippel füllen können, wenn nur einmal jemand in die Hände geklatscht und »Auf Jans!« gerufen hätte. Aber durch die Tür von Jansens Stube kamen keine solche Händeklatscher und Auf-Rufer. Im Gegenteil, wer da hereinkam, sah Jans immer von der Seite, auf eine heimliche und beinah falsche und genauso absonderliche Art an wie die Leute von der andren Hofseite, und Jans zog sich noch mehr zusammen.

Eines Tages wurde Jans’ Sessel in die Stube nebenan zu Nachbarn gebracht, und er darin, als ob er nur irgendein Knopf an diesem Stuhl wäre. Eine knappe Woche blieb er in der fremden überfüllten Stube. Und obgleich die Nachbarsfrau lustig, beinah zu lustig, und der Mann ein Witzbold und die Kinder wild und alle zusammen eine an Gelächter und Streit und Ereignissen reiche Familie waren – solange Jans bei ihnen war, blieb ihre Lustigkeit einen Ton stiller. Nicht als ob er ein kleiner Junge, sondern ein geheimnisvoller ehrwürdiger Gast wäre, in dessen Gegenwart es nicht anging zu reden und zu spielen wie gewöhnlich, hörte Lachen und Schreien während seiner Anwesenheit auf. Und alle waren erleichtert, als er wieder herübergeholt wurde.

Am Fenster in der Wiege lag das Kind. Es war ein Mädchen, es hieß Anna, und das Zimmer schrillte von seinem Stimmchen und flatterte von seinen Wäschestücken. Es lag in der Wiege, die vor acht Jahren Jans besetzt hatte, sie war neu gestrichen und ihre Vorhänge neu gestärkt. Die seidnen Bänder, die damals die Vorhänge zusammengehalten hatten, waren diesmal fortgelassen. Aber das konnte Jans nicht wissen, und jetzt stand die Wiege am sonnigsten Fleck, am Fenster, und für Jans’ Sessel war ein andrer Fleck bestimmt, zwischen Bettende und Tür. Aber Jans gab ihn lieber ganz auf. Wenn schon nicht am alten Platz, dann gar keinen. Er konnte ja jetzt schon ganz gut auf seinen eignen Füßen stehen und, wenn es sein mußte, obgleich die Schultern noch ein wenig zogen, aufrecht auf einem ganz gewöhnlichen Stuhl ohne Lehne sitzen.

Und er sah mit aufgerissenen Augen zu seiner Mutter herüber, die ihr Kleid öffnete und die Brust für das Kind frei machte. Jans sah ganz gut, ihr gewöhnlich blasses und ruhiges Gesicht änderte sich dabei. Freilich, sie lächelte nur eben, wie man beim Anziehen eines Schmuckes lächelt, während sie vor acht Jahren gelächelt hatte, als ob sie ihr eignes Herz, das sich aus einem unsinnigen Grund außerhalb ihres Körpers befunden hatte, wieder ihrer nackten Brust einfügen dürfte. Aber wie hätte Jans das wissen dürfen? Er fühlte einen Stich, wenn seine