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Impressum:

Lektorat: Susanne Schmitz, Caroline Schnitzer

Copyright © 2013 TUBUK.digital

Ein Imprint der TUBUK GmbH

ISBN: 978-9-95595-006-4

 

www.tubuk-digital.de

Für meinen Vater, Otto Hirschel, dessen Liebe zur Natur mich inspiriert hat und den ich sehr vermisse.

Mein Dank geht an meine Familie, meine Freunde und meine Nachbarin, deren Unterstützung beim Testlesen mir so sehr geholfen hat, an alle Kinder, Mütter und Tiere, die freiwillig und unfreiwillig Material geliefert haben, an meine Berater in bayerischen, polnischen, medizinischen und architektonischen Fragen, an meine Lektorinnen und an die Leselupe, ohne die diese Geschichte bestimmt ein paar Jahre in der Schublade geschlummert hätte.

Vorwort

Als wir im Rahmen der Leselupe im Sommer 2012 den Wettbewerb „Mein Lieblingsbuch 2012“ ausriefen, war ich gespannt wie selten zuvor auf den Ausgang dieses literarischen Experiments. Nachwuchsautoren und Hobbyschriftsteller waren aufgefordert, uns ihr eigenes Manuskript zuzusenden. Aus allen Einsendungen wollten wir drei Finalisten auswählen, um die Gemeinschaft per Abstimmung den Finalsieger küren zu lassen. Dem Gewinner winkte ein Autorenvertrag. Soweit zur ausgeklügelten Planung. Worüber wir uns im Vorhinein jedoch keine Gedanken gemacht hatten, war die Möglichkeit, dass eine Einsendung weit aus dem – ohnehin schon hohen – Niveau der anderen Werke herausragen würde. Und zwar so weit und offensichtlich, dass ein Finale zwar schön für die Planerfüllung gewesen wäre, im Endeffekt aber nur ein Hinauszögern der Entscheidung bedeutet hätte. Kurzerhand stellten wir im kleinen Kreis der Leselupe-Redakteure unsere eigenen Pläne auf den Kopf und kürten mit dem „Semmelkönig“ den herausragenden Gewinner des Wettbewerbs für das Jahr 2012. Und wir sind glücklich über diese Entscheidung! Was Sie nun in den Händen halten, ist ein Krimi vom Feinsten. Mörder, Mordopfer, Pathologen, Gärtner, Kindergärtner, Bäckermeister, Schotten, Polen, Rinder, Süddeutsche, Norddeutsche … alles ist drin! Leicht und locker geschrieben und das sowohl spannend als auch humorvoll bis zur letzten Seite. Davon können Sie sich nun – Seite für Seite – selbst überzeugen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß und gute Unterhaltung mit Kommissar Maus in seinem ersten Fall!

Tim Rohrer, Gründer der Literaturplattform Leselupe.de

1

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsmorgen. Der Waldkindergarten »Die Gnome« füllte sich so nach und nach. Mit der Aussicht auf einen langen Arbeitstag als Familienmanagerin zerrten einige gehetzte Mütter ungeduldig ihre Sprösslinge den kleinen Hang hinauf. Neben der Holzhütte, vor der schon die als Tische fungierenden Baumstämme für das Frühstück gedeckt waren, standen – einem Empfangskomitee gleich – die Erzieherinnen Erika und Anni.

»Also, der Oskar hat seinen Inhalator im Rucksack. Man weiß ja nie.«

Susanne Klöter war eine vorsichtige Mutter. Zwar war Oskar im Grunde ein gesundes Kind – man könnte sagen: dank des Waldkindergartens –, aber Susanne war gerne vorbereitet, denn nicht umsonst las sie schon seit ihrer Empfängnis vor fünfeinhalb Jahren jeden Ratgeber über Erziehung und Kinderkrankheiten.

»Is scho recht, Frau Klöter«, Anni, eigentlich äußerst kompetent und ausgestattet mit der großen Herzlichkeit einer typischen Einwohnerin aus der Region, war heute nicht besonders gut gelaunt. Grund hierfür war die neue Praktikantin Heidi, die sich offensichtlich schon wieder verspätet hatte. Was war nur mit diesem Mädchen los? Da hatte sie nun einmal die Gelegenheit, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, und was tat sie? Sie kam unpünktlich, saß gelangweilt zwischen den Kindern und brachte lediglich etwas Energie auf, wenn es darum ging, mit dem einzigen Erzieher in der Truppe – Wolfgang – oder den selten erscheinenden Vätern zu flirten. Dass Wolfgang auch noch nicht da war, übersah Anni großzügig. Er war eben so: ein Mann und noch dazu sehr gut aussehend und charmant.

»Und ich find es auch nicht so gut, dass der Franzi immer den Oskar kratzt!«

»Mei Frau Klöter, des san Buam. Die raufan amoi!«

»Nein, Anni, raufen darf kein Ausweg sein! Konflikte sollten auf Diskussionsebene gelöst werden und nicht mit den Fäusten. Also, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie darauf achten würden!«

Bevor aber Anni jetzt ihren ganzen Groll an der sich so sehr anbiedernden Mutter auslassen konnte, griff Erika ein: »Ich hab mal ein Auge auf die zwei. Aber ich denke, das ist alles halb so wild. Eigentlich sind sie ja total dicke. Sehen Sie selber: ein Herz und eine Seele.«

Sie hatte recht. Oskar und Franzi saßen einträchtig nebeneinander und verglichen interessiert ihre Popel.

2

Wolfgang hatte eine lange Nacht hinter sich. Etwas verschwommen kam die Erinnerung. Erst war er zur »Gustel« gegangen, weil er die Zeit überbrücken wollte. Dort war er seinen Freunden in die Arme gelaufen. Aus der einen Maß wurden zwei, aus zweien drei, und zur vorgerückten Stunde gab es keinen Grund mehr, warum er nicht noch in der örtlichen Diskothek hätte vorbeischauen sollen. Dort hatte er sich blendend amüsiert. Grinsend dachte er an ein paar sehr nette Mädchen, die jetzt mit ihren Telefonnummern in seinem Handy verewigt waren. Welche davon sollte er demnächst anrufen? Schließlich stand das Wochenende vor der Tür! Ach, das Leben und die Frauen meinten es gut mit ihm. Lächelnd drehte er sich auf die Seite, um noch ein bisschen weiter zu dösen, da fiel sein Blick auf den Wecker. Scheiße! Er hatte verschlafen. Mühsam rollte er sich aus dem Bett. Sein Kopf dröhnte, seine Zunge fühlte sich pelzig an, und als er einen Blick in den Spiegel warf, wäre er vermutlich erschrocken, wenn nicht sein Hirn so langsam gearbeitet hätte. Aber es half nichts. Er musste zur Arbeit. Seufzend stellte er sich unter die Dusche und drehte den Kaltwasserhahn auf.

3

»Wer ist denn das?«

Kommissar Maus blickte irritiert auf einen Mann, der unscheinbar auf dem Stuhl in der Ecke des Pausenraums saß und offensichtlich auch nicht so recht wusste, was er hier sollte.

»Aber Herr Maus, das ist doch der Typ aus Hannover«, klärte ihn seine Assistentin Steffi flüsternd auf. »Der ist doch wegen des Austauschprogramms ›Nord trifft Süd, wir lernen voneinander‹ hier. Haben Sie das Memo aus München denn nicht gekriegt? Wir mussten doch deswegen den Sedelmayer nach Dessau schicken.«

»Was? Der Sedelmayer ist nicht mehr da? Äh, das ist mir offenbar entgangen. Und von was für einem Memo sprechen Sie denn?«

Jetzt war seine Verwirrung komplett. Angestrengt versuchte er, sich an alle elektronischen Postsendungen zu erinnern, die er wie immer mit Mühen – denn Maus war vom alten Schlag und zog Papier dem Bildschirm vor – geöffnet und auch schon teilweise gelesen hatte. Da kamen ja täglich so viele. Gestern hatte er zum Beispiel mindestens drei bekommen. Mindestens drei!

»Das war im Attachment, im Anhang. Da hätten Sie draufklicken müssen!«

»Für so was hab ich nun wirklich keine Zeit«, knurrte Maus. Unbeholfen stand der Fremde auf und kam auf sie zu.

»Guten Morgen! Polizeihauptkommissar Maus? Mein Name ist Petersen, Kommissar Hannes Petersen aus Celle.«

»Äh, ja herzlich willkommen in Bad Berging, Herr Petersen. Wir hatten Sie nicht so zeitig erwartet! Sie sind ja einer von der ganz schnellen Truppe«, versuchte Maus geschickt und wie er meinte mit einer Prise Humor, die Stimmung aufzulockern und schüttelte dem Mann die kalte und etwas feuchte Hand.

»Nein, nein, ich bin eher zu spät als zu früh. Ich habe meinen Anschlusszug in München verpasst und die Bummelbahn hierher fährt ja nicht so oft, sodass ich eine Nacht in Ihrer schönen Landeshauptstadt verbringen durfte«, entschuldigte sich Petersen und zog schnell seine schmerzende Hand aus der des Kommissars. Diese Leute hier hatten für seinen Geschmack eindeutig einen viel zu festen Griff.

»Wie auch immer.«

Maus war es leid, weitere Höflichkeiten auszutauschen. Er hatte zu tun. Aber was sollte er jetzt mit diesem Menschen anfangen? Die Tür öffnete sich und Kommissarin Claudia Hubschmied betrat den Raum, um ihren Arbeitstag mit einer wohlverdienten Tasse Kaffee zu beginnen. Ihr war es zu verdanken, dass die Polizeistation seit Neuestem nicht nur die Auswahl zwischen Brühwasser schwarz, weiß, mit und ohne Zucker hatte, sondern auch exotisch anmutende Produkte wie Latte Macchiato, Cappuccino, Espresso und Espresso Macchiato im Angebot hatte. Perfektes Timing – Kommissar Maus grinste –, hier ist auch schon der Babysitter!

»Griaßts eich alle miteinand!«, freundlich nickte Claudia die Anwesenden an und wandte sich dem Automaten zu. Was sollte sie denn heute nehmen? Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe.

»Ja, grüß Gott, Claudia!«, klang die Stimme des Kommissars hinter ihr. »Ich habe hier einen neuen Kollegen für Sie.«

Hm, vielleicht heute mal einen Milchkaffee? Sie stellte eine Tasse mit der Aufschrift »Ich hasse Montage« in die Maschine.

»Sie werden ihm mal alles zeigen.«

Oder doch vielleicht etwas Stärkeres?

»Ich denke, Sie sind die Richtige, die ihm einen Einblick geben kann, wie wir Bergbewohner hier die Dinge so handhaben.«

Ihr Zeigefinger schwankte zwischen zwei Tasten.

»Nehmen Sie ihn einfach mit. Er soll einen guten Überblick bekommen.«

Und jetzt nur nicht den Extra-Zucker vergessen.

»Na dann, viel Spaß noch!«

Die Tür schnappte ins Schloss. Der Kaffeeautomat führte zischend seinen Auftrag aus. Claudia Hubschmied drehte sich um und sah sich einem fremden Mann gegenüber, der verlegen lächelte.

»Wos? Wos is?«

Die Maschine gurgelte noch einmal, der Kaffee war fertig.

4

Wolfgang radelte, so schnell sein nur langsam abklingender Kater es zuließ, den Hügel hinauf. Er schwitzte. Das würde ein ungewöhnlich warmer Tag werden. Gut, dass er gleich oben war und in den kühlen Wald eintauchen konnte. Ein Land Rover fuhr an ihm vorbei. Sybille Möller-Spatz – schoss es ihm durch den Kopf – war auch wieder zu spät. Sybille hupte, die Zwillinge Kevin und Jennifer winkten und Wolfgang nickte grinsend zurück. Jetzt hatte er den Wald erreicht und die Strecke wurde eben. Das Tempo steigernd fuhr er kurz darauf auf den Parkplatz. Hier war das offizielle Ende für alle motorisierten Mitbürger. Eine große Tafel vor einem Holzstoß pries die wunderschönen Wanderstrecken der Gegend an; für Rentner am Wildbach entlang, für alle anderen verschiedene Wege auf den Hausberg. Die Natur stand jetzt vollkommen unter dem Einfluss des Frühlings. Hellgrünes, zartes Laub dämpfte das kräftige Sonnenlicht. Die Vögel sangen, der kleine Bach unten in der Klamm plätscherte fröhlich vor sich hin und Jennifer fing an zu brüllen, weil ihr Bruder sie am Aussteigen hindern wollte.

»Grüß dich, Sybille!«

Wolfgang stieg vom Rad und Sybille öffnete die Heckklappe, um die Tüten mit den Semmeln herauszuholen. Jennifer brüllte weiter, was aber weder Wolfgang noch die junge Mutter störte.

»Na, Wolfi! Auch schon da?«

»Hey komm, das waren Millisekunden! Du hast Glück, dass ich heute nicht so in Form bin wie sonst!«

Er reckte sich, sodass Sybille nicht umhin konnte, seinen durchtrainierten Körper zu bewundern. Sie lächelte.

»Du blöder Kerl!«

Leider war jetzt nicht mehr zu ignorieren, dass sich die fünfjährige Jennifer tatsächlich in wahrer Bedrängnis befand. Ihre Mutter musste eingreifen.

»Keeeeevi, Jeeeeeenny! Jetzt is aber Schluss!«

Die Augen verdrehend drückte sie Wolfgang die Semmeln in den Arm und sah mit Genugtuung, wie sich seine Muskeln, die dank seines engen T-Shirts gut zur Geltung kamen, anspannten.

»Du warst schon lang nicht mehr bei uns. Andreas ist übrigens übers Wochenende auf der Handwerksmesse und die Kinder sind bei meiner Schwiegermutter«, kokett zwinkerte sie ihm zu. »Wie wär’s? Schau doch mal vorbei!«, sagte sie und ging zu ihren Zwillingen, um diese auseinanderzuzerren.

5

»So Kinder, jetzt macht mal hin. Nach der Brotzeit wollen die Anni und ich mit euch in den Wald gehen, um Zweige zu suchen, aus denen wir dann schöne Vogelnester bauen können. Solche, wie uns der Oberförster gezeigt hat.«

Lächelnd blickte Erika auf die Schar am Baumtisch. Sie liebte ihren Beruf. Alles war ideal. Eine Arbeit in der Natur, diese Ursprünglichkeit, diese Freiheit. Auch die Kinder mochte sie gerne, wenn da nicht einige anstrengende Mütter gewesen wären. Aber das war nur ein kleiner Wermutstropfen, der im Vergleich nicht ins Gewicht fiel und zusätzlich noch durch diesen strahlend schönen Tag um das Hundertfache aufgehoben wurde. Langsam schlenderte sie an den Tisch, bückte sich, hob einen Gummistiefel auf – wahrscheinlich wieder Oskars, da er am liebsten seine Schuhe täglich in den Bach geworfen hätte; auch im Winter –, half der kleinen Hannah, die Jacke zuzumachen, strich Vroni über den blonden Schopf, reichte ein paar Äpfel weiter, lauschte dem Geschlürfe kleiner Münder an den Milchbechern und wäre vermutlich so ein bis zweimal um die Gruppe herumgegangen, wenn sie nicht gerade Franzis Bemerkung gehört hätte.

»Wie bitte? Franzi? Was hast du grad dem Oskar ins Ohr geflüstert?«

Treuherzig sah der Junge zu seiner Erzieherin auf: »Ich will nich in ’n Wald. Da is ’ne Hexe!«

»Ja, wer hat dir denn so einen Schmarrn erzählt?«

»Die Heidi!«, kam es jetzt zu Erikas Erstaunen von allen Seiten. Das war ja wohl die Höhe! Ihr fehlten die Worte. Wie konnte dieses undankbare Ding nur so gegen die Regeln verstoßen? Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass den Kindern keine Angst gemacht werden durfte. Der Wald sollte als Ort der Geborgenheit, als Freund, als gütiger Vater gesehen werden und da hatten böse Märchenfiguren keinen Platz. Die lebten an anderen Orten; im Norden oder Osten, aber nicht hier! Hier gab es nur gute Geister! Und diese dumme Gans … Heidi war eindeutig ein Fehler gewesen. Von Anfang an hatte Erika ein ungutes Gefühl gehabt.

»Bitte Erika, ich weiß nicht, was ich mit dem Mädel noch machen soll!«, hatte im Oktober ihre beste Freundin gefleht. »Sie schwänzt die Schule, ist frech und hat Flausen im Kopf, von wegen Superstar oder Topmodel. Du musst sie bei dir arbeiten lassen. Die Schule verlangt ein Praktikum und das ist ihre letzte Chance, noch die Kurve zu kriegen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!«

»Ach Sandra, du weißt doch, ich würde sie gerne nehmen, aber Heidi …«

»Bitte, bitte, bitte. Du bist meine letzte Hoffnung. Wir haben es überall probiert. Keiner will sie nehmen. Der Schlimmste war der Möller. Jaja, ich weiß, wir waren uns wegen ihm einig und ich hätt ihn gar nicht erst fragen sollen, aber irgendwie schuldet er mir doch was.«

Erika hatte hörbar die Luft eingesogen. Würde Sandra denn nie Vernunft annehmen? Diese hatte währenddessen verlegen die Kuchenkrümel auf dem Tisch in die hohle Hand gewischt und dann mit tränenverschleierten Augen die Freundin angeblickt.

»Weißte, was der Drecksack gesagt hat? ›Des Flietscherl verdirbt mir’s G’schäft‹, hat der doch tatsächlich über mein Mädel gesagt. Wie kann er es wagen, so über sie zu sprechen. Dieser …«

Wütend hatte sie die Krümel wieder auf den Tisch geworfen und dann laut aufgeschnieft.

»Du kennst sie doch auch. Sie ist im Grunde ein gutes Kind, aber sie hatte eben den falschen Umgang. Oh Gott, ich kann nicht mehr …«

Jetzt waren die Tränen geflossen und Erika hatte in der Zwickmühle gesessen. Tröstend hatte sie Sandra in den Arm genommen, ihren Rücken getätschelt und fieberhaft überlegt, wem sie den schwarzen Peter ganz schnell zuspielen konnte.

»Sandra, soweit ich verstanden habe, interessiert sich die Heidi doch eher für den Verkauf, also den Einzelhandel, irgendwas mit Kundenkontakt und Beratung. Kinder sind da eine ganz andere Baustelle. Da braucht man gute Nerven und pädagogisches Gespür. Auch ein bisschen Diplomatie ist da sehr wichtig, wenn man mit den Eltern verhandeln muss. Ich weiß nicht, ob die Heidi das kann? Sie ist manchmal etwas zu …«

Achtung! Die Wortwahl sollte jetzt gut überlegt sein! Die Freundin war verzweifelt und da musste sie ihr soeben gerühmtes einfühlsames Geschick einsetzen, um sie nicht noch mehr zu verletzen.

»Also, lass uns doch mal überlegen, was dem Mädel so liegt. Sie mag Mode, Schmuck, Styling und so. Hm, habt ihr es mal im Frisörsalon ›Röderdich‹ versucht oder im Nagelstudio bei der Melanie?«

Das Schluchzen wurde heftiger und Erika verstand, dass diese potentiellen Arbeitgeber bereits auf der Liste abgehakt waren. Tja, und dann hatte sie sich überreden lassen. Seitdem verging kein Tag, an dem sie sich nicht über Heidi ärgern musste.

»Grüßt euch! Hier kommen die Nachzügler!«

Sybille und Wolfgang waren endlich da, mit einer verheulten Jennifer und einem feixenden Kevin im Schlepptau.

»Na, das ist ja schön«, mit einem eisigen Blick taxierte sie Sybille. Wie konnte der Bäcker Möller es wagen, Heidi als Flittchen zu bezeichnen, wenn Sybille, seine eigene Tochter, um keinen Deut besser war! Wie die immer angezogen war. Knapper Mini, bauchfreies Oberteil und viel zu viel Make-up. Wolfgang machte auch schon wieder Stielaugen.

»Dann können wir also endlich losgehen. Ich hoffe, Jenny und Kevin haben schon gefrühstückt!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Erika ihre beste Kommandostimme ertönen und die Gruppe formierte sich widerspruchslos.

»Die ist heute aber nicht so gut drauf!«, flüsterte Sybille Wolfgang ins Ohr.

»Keine Sorge, sie beißt normalerweise nicht! Bei Erika sind das wohl die Wechseljahre. In zwei Minuten ist sie wieder die Alte.«

»Ruhe jetzt!«, die zwei Minuten waren offensichtlich noch nicht um, »Anni, du bleibst mit den Mädels hier und ihr sammelt Tannenzapfen. Wolfgang, du kommst mit mir und den Buben und Heidi kümmert sich um den Abwasch!«

»Mir ham da nur a kloans Problem.«

Anni, eine Fünfjährige an der Hand, mit der sie gerade von der Toilette kam, trat in den Kreis. »Die Heidi is no net do!«

6

»Und hier is der Kopierer.«

Claudia Hubschmied gab sich wirklich die größte Mühe. Nicht nur, dass sie seit einer Stunde den Gast aus dem hohen Norden durch alle Räume des kleinen Polizeigebäudes geführt hatte, sie bemühte sich auch noch wacker, »Schriftdeutsch« zu sprechen. Das war leider so ungewohnt für sie, dass ihr mittlerweile der Kiefer schmerzte.

»Sieh an, sieh an. Da haben Sie ja eine wahre Antiquität! Dass es den noch gibt?«

»Wia moana Sie, äh, wie meinen Sie das jetzt?«

Er hatte es wieder getan. Seine bestimmt freundlich gemeinten Kommentare zu der nicht gerade spannenden Besichtigung verwirrten sie schon die ganze Zeit.

»Nun …«, fast andächtig strich er über das Gehäuse der Maschine. »Damit habe ich vor elf Jahren angefangen. Mein damaliger Chef hatte nicht allzu viel von meinen Fähigkeiten gehalten und sich wohl gedacht, dass ich beim Kopieren nicht so gravierenden Schaden anrichten könnte.«

»Ah!«, mehr fiel Claudia auf die Schnelle nicht ein. Misstrauisch betrachtete sie ihn von der Seite. Sollte sich ihr Verdacht, dass sie bei dem Austauschprogramm vielleicht die absolute Niete gezogen hatten, tatsächlich bestätigen? Petersen schien ihre Gedanken zu erraten und lächelte daher entschuldigend.

»Ich bin mittlerweile nicht schlecht in dem, was ich mache. Nur manchmal werde ich etwas nostalgisch, wenn ich an meine Anfangszeiten denke. Sie müssen wissen, dass ich in einer ganz kleinen Abteilung auf dem platten Land angefangen habe, wo das Schlimmste, was passieren konnte, ein Hühnerdieb war. Da war ich ganz froh gewesen, wenn ich mich beschäftigen konnte. Sie glauben ja gar nicht, was man mit diesem Gerät alles anstellen kann.«

Claudia blickte auf den Kopierer. Wollte sie das wirklich wissen?

7

Erika war immer noch sauer, was bei Anni automatisch dazu führte, dass sie sich wieder besser fühlte, denn nun durfte die Chefin sich einmal über die unzuverlässige Praktikantin ärgern, was nur allzu fair war, da sie Heidi ja schließlich eingestellt hatte.

Zusammen mit Wolfgang und den Kindern ging Anni lachend den kleinen, steilen Pfad hinunter, der zum Wildbach führte. Es störte sie auch nicht sonderlich, dass Oskar schon wieder die Gummistiefel ausgezogen hatte, nur noch auf Strümpfen vor ihr stand, mit einem Stock auf einen Busch einschlug und laut »Huja, huja!« rief. So waren Jungen nun einmal. Die wussten halt nicht, wohin mit ihrer Energie. Unten am Bach angekommen, winkte ihr Wolfgang auch schon zu und deutete auf einen hübschen kleinen Vogel mit gelber Brust.

»Schau mal, eine Gebirgsstelze!«

»Mei, is der liab!«

Anni machte es Wolfgang gleich und ging in die Hocke, um das Tier nicht zu erschrecken.

»Was habt ihr da?«

Die kleinen Freundinnen Vroni und Hannah, beide fünf Jahre alt, hatten sich dazugesellt und blickten neugierig auf den Bach.

»Psssst, leise! Da ist ein kleiner Vogel, den wir nicht verscheuchen wollen. Seht ihr? Dort am Ufer auf dem großen Stein.«

»Wo? Wo?«, Hannah hatte offensichtlich mit den Angaben ein paar Schwierigkeiten. »Ich seh nix!«

»Doch da! Da!«

Vroni packte den Kopf ihrer Freundin, um ihn in die richtige Richtung zu drehen.

»Ach da! Oh ist der süüüüüüüüüüüüüüüüüüß!«

Es war nicht ganz klar, was der kleinen Gebirgsstelze mehr Grund gab, aufzufliegen und mit einem empörten »Zitzitt« in den nahen Büschen zu verschwinden. Ob es nun das begeistert gequietschte »süß« von Hannah oder das triumphierende Gebrüll von Franzi, »Die Hex, die Hex is tot!«, oder Erikas entsetzter Aufschrei war, blieb jedoch in Anbetracht der sich nun überschlagenden Ereignisse unerheblich. Wolfgang sprang sofort auf und lief, Anni dicht an seinen Fersen, um die Biegung zu Erika, die wie versteinert auf eine Stelle vor sich starrte. Der Bach stürzte hier über Felsbrocken etliche Meter tief in ein natürliches Becken und war daher der erste Ort, an dem immer jemand ein besonderes Auge auf die Kinder werfen musste. Wolfgang erschrak.

»Oh mein Gott, Erika. Einer der Buben? Ich hab’s gewusst! Das damische Geländer ist viel zu niedrig!«

»Nein!«, mehr konnte sie nicht sagen. Anni drängte vorbei, ging an die Absperrung und blickte in die Tiefe.

»Da liegt oana! I sieg aba ned wer?!«

»Wart, geh zur Seite, ich steig da mal runter.«

Wolfgang war neben sie getreten.

»Geh doch lieber …«, Erika schien ihre Stimme wiedergefunden zu haben, wurde aber gleich von Wolfgang unterbrochen.

»Nein, nein, so bin ich schneller.« Behände kletterte Wolfgang über das Geländer, hielt kurz inne und blickte die Kinder mahnend an. »Dass mir das ja keiner nachmacht! Verstanden?«, sagte er noch und machte sich sofort an den Abstieg. Gespannt beobachtete die kleine Gruppe, wie er an den Felsen hinunterkletterte.

»Kinder, alle einen Schritt zurück! Nicht so nah an den Rand!«, Erika war offensichtlich wieder zu sich gekommen.

»Die Hex, die Hex is tot!«

Franzi hüpfte aufgeregt auf und ab.

»Blödi! Das is nich die Hex!«

Jennifer verdrehte die Augen. Jungs waren einfach zu dämlich.

»Das da is das Rotkäppchen!«, stellte sie fest und fügte belehrend hinzu: »Siehste nich die rote Mütze und den Umhang?«

»Nee, des is die Hex!«

Tränen der Wut stiegen in seine Augen.

»Die is bös und jetzt tot!«

Heißer Zorn erfasste Franzi. Was bildete sich diese neunmalkluge Gans eigentlich ein? Nur weil sie ein halbes Jahr älter war? Oh, wie er sie hasste. Sie musste bestraft werden. Franzi wollte Anlauf nehmen und dieses eingebildete Mädchen schubsen. Vielleicht gelang es ihm ja, sie zu der im Wasser treibenden Person zu stoßen, aber bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, hatte Anni ihn auch schon an der Kapuze gepackt.

»Ihr zwoa seid’s jetzt staad!«, knurrte sie.

»Erika, Anni«, ertönte Wolfgangs Stimme. »Ich glaub, wir müssen sofort die Polizei rufen. Hier ist ein Unglück geschehen!«

8

»Na, Claudi, alles klar?«

Steffi fand die Kollegin auf einer schattigen Bank vor der Polizeistation sitzend und eine ihrer zwei Zigaretten pro Tag rauchen.

»Wie man’s nimmt.«

Claudia nahm noch einen tiefen Zug, bevor sie den Stummel auf den Boden warf und mit der Ferse ausdrückte.

»Der Fischkopp is wohl ziemlich anstrengend, was?«, Steffis Neugier war ihr ins Gesicht geschrieben.

»Naa, passt scho!«

Die Kommissarin begann zu grinsen und spitzte ihre Lippen, um dann in astreinem Hochdeutsch zu flöten: »Ich habe heute sehr viel an meiner Aussprache gearbeitet. Ich würde sogar sagen, sie ist mittlerweile perfekt.«

Die Frauen kicherten.

»Wo is er denn jetzt?«

»Oh, der Herr Kollege wurde ausgesandt, um für unser leibliches Wohl zu sorgen. Ich habe ihn zum Fleischer geschickt und hoffe, dass er verstanden hat, dass ich mein Leberkäsebrötchen nur mit süßem Senf genießen kann.«

Steffi konnte nicht mehr an sich halten und prustete los.

»Naa, jetzt aber im Ernst, der is ned so verkehrt, der Hannes. Zum Beispiel hat der mir verzählt, dass er schon in Dänemark und in Amsterdam im Einsatz war. Der kann fei super Dänisch, und Holländisch sei auch ned so schwer, hat er gsagt.«

»Wow, da haben wir ja wohl ein kleines Genie abbekommen. Und wen ham wir dafür losgeschickt? Den Sedelmayer! Kann der denn irgendeine Fremdsprache?«

»Hm, loss mich a mal denken. Vielleicht Tirolerisch?«

Jetzt gab es wirklich kein Halten mehr. Ein lautes Lachen erschallte auf dem ruhigen Platz, sodass selbst der Tauber, der sich gerade aufdringlich gurrend seiner Angebeteten näherte, innehielt und misstrauisch zu der Bank hinübersah. Zum Fressen war da wohl nichts zu holen! Oder doch? Was wollte er jetzt noch gleich machen? Ein beleidigtes »Gurr« ertönte neben ihm. Ach ja! Aber bevor das Paar endlich zum romantischen Teil seines Daseins übergehen konnte, wurde es rüde von festen Männerschritten gestört, die über den Platz und damit auf sie zukamen.

»Das war jetzt etwas schwierig, Claudia«, Hannes Petersen hob in gespieltem Vorwurf die Tüte hoch. »Sie haben mir nicht gesagt, was Frikadelle in der Landessprache heißt.«

»Hallo, Herr Petersen«, grüßte Steffi, nachdem sie sich schnell die Lachtränen weggewischt hatte.

»Grüß Gott, Frau Vogler, tut mir Leid, aber wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier sind, hätte ich Ihnen natürlich auch was mitgebracht.«

»Nicht nötig, ich hab schon«, sie stand auf. »Außerdem muss ich mal wieder rein. Arbeit ruft.«

Fast wäre sie auf das Taubenpärchen getreten, das erwartungsvoll – aber auch mit wenig Aussicht – auf die Leckereien aus der Tüte hoffte.

Die Tür der Station wurde aufgerissen und Kommissar Maus – im Gehen die Jacke anziehend – eilte heraus. Sofort sah er Steffi, nickte ihr zu und ging mit raschen Schritten nach links, wo sein Wagen stand. Steffi räusperte sich: »Äh, entschuldigt bitte, aber ich glaub, es gibt jetzt tatsächlich Arbeit!«

Der Motor wurde gestartet, das Auto fuhr an und bremste nach einigen Metern neben der Bank. Maus ließ das Fenster runter: »Los meine Herrschaften. Wir haben einen Einsatz. Eine Leiche beim Waldkindergarten!«

9

»Huja, huja!«

Oskar war außer Rand und Band. Seinen Stock schwingend, rannte er im Lager der Gnome herum.

»Du Anni, warum weint denn der Wolfi so?«, fragte Vroni, die Hand in Hand mit Hannah neben der Erzieherin stand und auf Wolfgang blickte. Dieser war neben der Holzhütte regelrecht zusammengebrochen, hatte das Gesicht in den Händen verborgen und schluchzte hemmungslos. Aber bevor Anni etwas zu dem sonderbaren Schauspiel sagen konnte, kam Hannahs Erklärung: »Der is halt traurig, weil’s Rotkäppchen tot ist!«

Kommissarin Claudia Hubschmied kam mit großen Schritten zu dem Grüppchen und sah Anni mit vorwurfsvollem Blick an.

»Bring amoi de Kinder furt. Des is’ nix für die.«

»Huja, huja.«

»Is scho recht. Kommt’s Kinder, wia war’s jetz mit na Brotzeit?«

»Gibt’s auch Schokolade?«, fragte Hannah voller Hoffnung.

»Schaun mer moi! Vielleicht mit na Mille.«

»Bäh, ich mag die Milch nicht. Da is immer so ’ne eklige Haut drauf!«

Diskutierend entfernte sich die kleine Gruppe und ging zu den restlichen Kindern, die unter dem Vordach der Hütte mit großen Augen den Erwachsenen bei der Arbeit zusahen. Claudia Hubschmied beugte sich zu Wolfgang und strich ihm sanft über den Rücken.

»Wolfi, jetzt kimm scho. Beruhig di doch!«

Der Mann zitterte am ganzen Körper, nahm aber die Hände von seinem tränenüberströmten Gesicht und wimmerte: »Claudi, ich hab sie gefunden! Verstehste? Ich hab sie umgedreht und hab sie erst gar nicht erkannt. Ihr Gesicht … es … es war so anders, so dick! Und dann hab ich ihre aufgerissenen Augen gesehen und sie war tot! Tot! Tot! Unsere kleine Heidi ist tot! Tot! Ich werde das wohl nie in meinem Leben vergessen können …«

Für Hannes Petersen war der ganze Ort ein Chaos. Überall waren Menschen, die seiner Meinung nach absolut keine Anwesenheitsberechtigung hatten. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Wie sollte man denn hier einen Überblick bekommen? Verwundert schaute er zu Maus, der – die Ruhe selbst – sein provisorisches Hauptquartier kurzerhand zwischen den Frühstücksresten des Baumtisches eingerichtet hatte und jetzt in ein Gespräch mit dem einzigen Pathologen der Gegend vertieft war. Dass man hier auf dem beschaulich ruhigen Lande war, merkte man an Doktor Frank, der eigentlich Chefarzt der hiesigen Klinik war und sich aus Neugier und zum Ausgleich auch auf das Gebiet der Gerichtsmedizin spezialisiert hatte. Hannes konnte durchaus nachvollziehen, wenn man ab und zu neben Geburten, Blinddarmoperationen, Diabetes und eingewachsenen Fußnägeln auch mal etwas Spannendes haben wollte.

»Huja, huja!«

Aber die allgemeinen Zustände waren hier einfach unerträglich. An erster Stelle stand eindeutig seine neue Kollegin, Claudia Hubschmied, die ihn einfach hatte stehen lassen und zu dem gutaussehenden Mann mit dem Nervenzusammenbruch gelaufen war. Jetzt musste Petersen zu seinem Leidwesen beobachten, wie sie diesen Jammerlappen auch noch in den Arm nahm. Das war eindeutig keine professionelle Polizeiarbeit!

»Huja, huja!«

Und diese nervtötenden Gören!

»Huja, huja!«

Oskar rannte jetzt auf die Sanitäter zu, die gerade mit der Bahre den Hang hinaufkamen und versuchte mit dem Stock auf den zugedeckten Körper der Leiche zu schlagen. Das war zu viel!

»Junger Mann!«, empört versuchte Petersen das Kind zu packen. Aber Oskar war wie ein Aal und entglitt seinen Händen.

»Verdammte Blagen!«, schnaufte er. Bekamen die Kinder von heute denn keine Erziehung mehr? Wo blieben die Pietät und der Respekt vor den Toten? Und vor den Erwachsenen, vor allem wenn es sich dabei um Polizisten handelte? Erika machte dem ganzen Spuk ein schnelles Ende. Geschickt schnappte sie sich den Jungen, nahm ihm den Stock weg und ging in die Hocke, um auf Gesichtshöhe mit pädagogisch eindringlicher Stimme zu sagen: »Oskar, jetzt komm mal wieder runter. Das war eben ganz böse von dir! Man darf nicht auf die Leute schlagen. Das haben wir doch schon besprochen. Ich möchte jetzt, dass du zu der kleinen Schmolltanne gehst und darüber nachdenkst.«

Unter dem strengen Blick seiner Erzieherin ging der Junge mit hängenden Schultern zu einem kleinen verkrüppelten Baum am Rande des Lagers. Erika richtete sich wieder auf, klemmte den Stock unter den Arm, zog aus ihrer Jackentasche ein Handy und versuchte, die restlichen Mütter anzurufen, die sie vorher nicht erreicht hatte.

»Tja, so weit, so gut«, Maus hielt gerne alles auf seinem Notizblock fest; eine Angewohnheit, die von vielen wegen ihrer Altertümlichkeit belächelt wurde, ihm aber half, seine Gedanken besser zu ordnen.

»Die Tote ist übrigens die Praktikantin von dem Kindergarten hier. Heidi Blum, 16 Jahre alt«, las er vor und blickte dann Doktor Frank an. »Zu jung, um eines natürlichen Todes zu sterben. Was war also Ihrer Meinung nach die Todesursache?«

»Hier ist was oberfaul, Maus. Sie ist über das Geländer gestürzt, das ist zumindest sicher. Die Frage, die Sie hier zu klären haben, ist, ob sie gestoßen wurde oder einfach nur zu dämlich war. Letzteres will ich mal ausschließen, denn ich konnte Hämatome am Hals entdecken.«

»Soll heißen?«, aufmerksam betrachtete der Kommissar den Arzt.

»Soll heißen, dass ich erst mal etwas weiter ausholen muss. Fakt ist, dass sie gestürzt ist und sich dabei nicht nur einen bösen Trümmerbruch am linken Oberschenkel, sondern auch ein Schädelhirntrauma zugezogen hat.«

»Hm, sie hat sich demnach wohl etwas den Kopf gestoßen. Aber daran ist sie wohl nicht gestorben, oder?«

»Nein, das war nicht die Todesursache. Aber sie hat dadurch entweder das Bewusstsein verloren oder war zumindest sehr benebelt.«

»Aber durch die Schmerzen muss sie doch schnell wieder wach geworden sein, oder? Ich mein, so ein Bruch tut doch höllisch weh!«

»Klar tut er das. Aber vergessen Sie nicht, dass hier einige Faktoren zusammenkommen. Der Schock und die Benommenheit vom Schmerz in Kombination mit einer Kopfverletzung führen oft zu einer Bewusstseinstrübung, wenn nicht sogar zur Bewusstlosigkeit.«

»Ertrunken?«

»Mit großer Wahrscheinlichkeit! Aber jetzt kommt das Merkwürdige. Natürlich könnte sie ein absoluter Pechvogel gewesen und mit dem Kopf im Flussbecken ohne Besinnung ertrunken sein, aber das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich vermute eher, dass sie auf der Seite oder dem Rücken gelandet ist. Diverse Abschürfungen sprechen dafür. Und nicht zu vergessen die bereits erwähnten Blutergüsse. Das sind eindeutig Würgemale wie aus dem Lehrbuch. Ich denke, da hat einer oder eine nachgeholfen, ist ihr gefolgt und hat sie wie eine junge Katze ertränkt. Also den Kopf so lange unter Wasser gedrückt und festgehalten, bis das arme Ding tot war.«

»Hm!«, nachdenklich tippte sich Maus an die Nase, was bei ihm immer höchste Konzentration verriet. »Hm, das ist starker Tobak, mein Lieber. Das hieße ja, dass wir hier einen Mordfall haben! Wie sicher sind Sie?«

»Auf einer Skala von null bis zehn geb ich hier mal eine Acht. Die absolute Sicherheit liefert natürlich erst die Autopsie. Gestorben ist sie ungefähr im Zeitraum Mitternacht bis drei Uhr morgens. Aber auch hierzu kann ich Ihnen Genaueres erst später sagen.«

Doktor Frank schüttelte traurig den Kopf und fischte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche.

»Sie war noch so jung. Armes Ding! Was für eine Verschwendung!«

Maus nickte zustimmend. Da kam ganz schön Arbeit auf ihn zu. Aber zuerst musste er seine Gedanken ordnen. Sein Blick fiel auf die Semmeltüten und er zog eine zu sich heran.

»Sie wollen doch nicht allen Ernstes hier rauchen?«, schockiert sah die Mutter, die ihnen gegenüber saß, auf die Zigarette, die der Arzt trotz ihres Protests ungerührt ansteckte.

»Hier sind Kinder!«

Doktor Frank lächelte spitzbübisch: »Dient zur Abschreckung, Frau Lang. Ihre Leonie soll gar nicht erst damit anfangen, sonst wird sie so alt und hässlich wie ich.«

Er inhalierte tief, blies dann aber den Rauch diskret über seine Schulter und vom Tisch weg. Leonie, die neben ihre Mutter getreten war, schien dennoch fasziniert.

»Herr Doktor!«, Frau Lang legte jetzt schützend ein Tuch um das Köpfchen ihres Säuglings, den sie gerade zu stillen versuchte, »Ich habe hier mein Baby! Gehen Sie gefälligst woanders hin.«

Frank seufzte, stand schwerfällig auf, sah nochmal zum Kommissar, der mittlerweile eine Semmel in der Hand hielt und anscheinend nichts von dem Disput mitbekommen hatte. Es wäre der Mühe nicht wert gewesen, Frau Lang darauf hinzuweisen, dass sie sich ungefragt an den Ermittlungstisch gesetzt und dadurch freiwillig der Gefahr ausgesetzt hatte, dass hier Erwachsene waren, die ab und zu Erwachsenendinge wie Rauchen taten. Er hätte sowieso wieder den Kürzeren gezogen.

»Muss Benni jetzt auch sterben, Mama?«, hoffnungsvoll sah Leonie den kleinen Bruder an.

»Schmarrn Kind, wie kommst du denn darauf?«

Ihre Mutter hatte es aufgegeben, den quengelnden Säugling mit ihrer Milch zu beruhigen.

»Na, die Heidi hat ja auch geraucht und jetzt is sie tot!«

»Leonie, Benni wurde nur von dem rücksichtslosen Doktor angepustet. Das ist nicht gut, aber davon wird er nicht gleich sterben. So und jetzt gib mir mal die Tasche da!«

Zufrieden, endlich die Lösung ihres Problems gefunden zu haben, knöpfte sie ihre Bluse zu und schob die in ihren Augen unnötigen Gegenstände – auch die Semmeltüten und Maus Notizblock – zur Seite, um Platz zu haben. Dann legte sie ihren Sohn auf den Tisch, zog ihm den Strampler aus und öffnete die Windel.

»Na, da hat der Benni aber ein großes Haufi gemacht«, flötete sie befriedigt und Maus verging der Appetit. Schnell stand er auf und prallte aus Versehen mit Petersen zusammen.

»Herr Kommissar, das geht so nicht. Jetzt kommen immer mehr Eltern. Hier herrscht das reinste Chaos! Immerhin könnte das ja auch ein Tatort und nicht ein Unfallort sein. Wir müssen schnell eine Lösung finden!«

»Recht so Petersen, recht so!«, Maus drückte ihm die Semmel in die Hand. »Hier muss tatsächlich etwas passieren, denn wir haben sehr wahrscheinlich einen Mordfall. Treiben Sie also alle, die hier nichts zu suchen haben, runter auf den Parkplatz. Die Babys zuerst! Dann bilden Sie mit Frau Hubschmied einen Suchtrupp. Ich werde den Oberförster informieren, obwohl der neugierige Bursche schon längst hätte freiwillig hier sein müssen. Der wird Ihnen helfen, das Gebiet zu durchkämmen. Wir brauchen Beweise, Indizien, Spuren, Zeugen und so weiter. Irgendwas sollte wohl zu finden sein! Woher kam das Mädchen mitten in der Nacht? Woher der oder die Täter? Haben sie sich eventuell irgendwo getroffen? Achten Sie auf abgeknickte Zweige, Fußabdrücke, auf alles, was uns weiterhelfen kann! Die Spurensicherung wird dann auch noch dazukommen. Ich fahr derweil mal zu der Mutter, um ihr die traurige Nachricht zu übermitteln und Sie kommen dann nach, wenn Sie hier fertig sind!«

Verdutzt, so schnell einen Fürsprecher gefunden zu haben, öffnete Petersen den Mund, doch der Kommissar hatte sich schon umgedreht und ging zügig hinter Doktor Frank den Hügel zu den Autos hinunter.

»Na, Hannes, ham Sie immer noch Hunger?«

Claudia war neben ihn getreten.

»Äh, was? Nee …«, er drückte auf die Semmel, »… nee, die ess’ ich nicht, die ist ja total altbacken!«

»Wie? Ach Sie meinen, die Semmel is nimma resch? Ja, das kommt vor beim Bäcker Möller. Der entsorgt gern im Kindergarten. Die is bestimmt vom Vortag. Wussten Sie eigentlich, dass unsere Steffi mit ihm verwandt ist? Er ist irgendein Großonkel oder so von ihrer Mutter. Der ist reich wie Krösus, müssen Sie wissen. Dem gehört ’ne Großbäckerei. Aber er is extrem geizig, sodass er jeden Tag im Betrieb vorbeischaut und alles kontrollieren muss. Und die Blonde da drüben, die sich grad an den Sanitäter ranschmeißt, is seine Tochter Sybille. Also Steffis … Äh? Großgroßcousine? Egal, irgendsowas eben. Aber wenn man die jetzt so sieht, sollt man nicht meinen, dass die verwandt sind, oder?«

Hannes musste ihr recht geben. Trotzdem fühlte er sich geschmeichelt, da Sybille auffällig oft zu ihm hinübersah.

»Ja, ja, das kenn ich. Je kleiner die Ortschaften, umso enger sind die Leute miteinander verwandt.«

»Wem sagen Sie das. Der Typ, der unser Rotkäppchen gefunden hat, ist übrigens ein Vetter von mir. Manchmal wünschte ich, in einer Großstadt zu leben, wo man nicht an jeder Eck einen aus der Sippe trifft.«

So war das also? Der Cousin! Auf Hannes Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und vor lauter Erleichterung biss er in die Semmel.

10

»Ja, Steffi, ich denke, es ist besser, wenn Sie auch hierherkommen. Die Mutter wird wahrscheinlich eine weibliche Schulter zum Ausweinen brauchen. Hmhm … Ja genau! … Hmhm … hmhm, hmhm … richtig. Ja, das ist die Verlängerung von der Ringstraße. Gut! Bis gleich.«

Kommissar Maus klappte das Handy zu und blickte gedankenverloren und etwas dumpf vor sich hin. Tja, nun musste er wohl eine schlechte Nachricht überbringen. Das Fenster seines Dienstwagens war heruntergelassen. Ein Amselmännchen in der gegenüber wachsenden Glanzmispel gab sein Bestes, um einerseits den Lärm der Fußball spielenden Jungen zu übertönen, damit andererseits seine Angebetete auf ihn aufmerksam wurde. Diese saß, sich sehr wohl ihrer Unwiderstehlichkeit bewusst, kokett uninteressiert auf der Mülltonne vor Haus Nummer 100 und genoss es sichtlich, so umworben zu werden. Leider nahm das romantische Intermezzo ein jähes Ende, als der Fußball gegen die Tonne flog, dort abprallte, die Flugbahn änderte, gegen Maus Windschutzscheibe schlug und von dort in irgendeinem Garten des Siedlungsgebietes verschwand. Vogel und Kommissar verhielten sich ob dieses böswilligen Anschlags gleich. Während das Tier mit einem aufgeregten »Tektektektek« aufflatterte, fuhr Maus erschrocken hoch, wurde aber leider sofort zurückgezerrt, da er den Sicherheitsgurt noch nicht gelöst hatte und musste daher seinem Ärger besonders lautstark Luft machen.

»Ja, spinnt ihr denn!«

Genervt fummelte er an der Schließe des Gurts herum. Endlich war er befreit und riss die Autotür auf.

»Könnts ihr nicht aufpassen? Das ist doch kein Spielplatz hier mitten auf der Straße!«

Drei der vier Jungen blickten betroffen zu Boden. Allein schon diese Reaktion ließ Maus sofort wieder in versöhnlichere Stimmung kommen. Es waren ja nur Kinder. Außerdem war es heutzutage Gold wert, wenn sie draußen waren, anstatt den ganzen Tag vor dem Computer zu hocken, um hirnlose Ballerspiele zu spielen. Er wollte gerade schon zu einem »Schwamm drüber« ansetzen, als der vierte – ein hochgeschosser schlaksiger, rothaariger Knabe – sich an seinen Spielkameraden vorbeidrängte und mit einer kratzigen Stimmbruchstimme sagte: »Is was Opa?«

Maus blieb für einen Augenblick bei dieser Frechheit der Mund offen stehen.

Der Junge grinste breit: »Wir spielen, wo’s uns passt!«, diesmal schwankte seine Stimme ins Höhere, was der ganzen Situation noch mehr den Charakter eines Zwergenaufstands gab. Maus musste wider Willen ein Schmunzeln unterdrücken.

»Burschi, du bist ja ein ganz Harter! Und glaub mir, ich kenn mich damit aus, denn ich bin nicht umsonst Hauptkommissar bei der Polizei.«

Die Erwähnung seines Berufes verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung. Der Rothaarige wurde blass unter seinen Sommersprossen. Maus beugte sich zu ihm vor, ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen, und knurrte leise: »Woast wos. Ich bin heut nicht in Stimmung, mich mit dir zu befassen – da hast abba mal Glück. Und jetzt nimmst deine Spezis und schleichst di! Host mi!?«

Nervös blickte sich der Junge nach seinen Freunden um, aber die waren während der Rede des Kommissars schon zurückgewichen.

»Ich …, ich …«

»Holt euren Ball und dann ab damit! Passt halt das nächste Mal auf, wohin ihr schießt.«

Kopfschüttelnd beobachtete Maus, wie die Kinder über die kaum befahrene Straße trotteten, den vermeintlichen Anführer hinter ihnen nicht mehr beachtend.

»Hallo! Hallo, Sie da!«

Er hatte gar nicht bemerkt, dass eine Frau neben ihn getreten war. Vermutlich lag sie schon die ganze Zeit neugierig auf der Lauer. Zumindest schien sie der Typ dafür zu sein.

»Was gibt’s!?«

»Sie sind also von der Polizei! Das trifft sich ja gut.«

Nervös strich sie sich über ihren geblümten Haushaltskittel. Maus schätzte sie auf Mitte sechzig. Die Haare waren auf Lockenwicklern und die ganze Kreation bedeckte ein durchsichtiges gelbgrünes Kopftuch, das nicht unbedingt vorteilhaft war. Wissende und vor allem neugierige Äugelein blitzten hinter einer dicken Brille, als sie fortfuhr: »Na, Sie ham’s ja gesehen. Diese Burschen sind frech und vorlaut. Da sollte man mal mit harter Hand durchgreifen!«

»Schon klar und soeben geschehen!«

Sie schnaubte missbilligend.

»Das reicht nicht! Da muss man noch härter durchgreifen. Ich sag’s Ihnen, die tanzen den Eltern auf der Nase rum. Und was kommt dabei heraus?«

Maus dachte nicht daran, darauf etwas zu erwidern.

»Da ist ganz viel im Argen hier in unserer Nachbarschaft. Keine Moral, keine Vorbilder, alles verkommt hier immer mehr! Dort drüben der Türke mit seiner ganzen Sippe. Man weiß gar nicht, wie man die Namen aussprechen soll. Sehen Sie nur, die bauen in ihrem Vorgarten Zwiebeln an. Was für eine Schande! Und daneben die Schmitts. Er ist seit Jahren arbeitslos und trinkt den ganzen Tag. Na, den Sohn haben Sie ja grade kennengelernt. Sie – also Frau Schmitt arbeitet wenigstens, um die Familie – fünf Kinder haben die – durchzubringen. Im Supermarkt, glaub ich, wie die Blum. Die wohnt gleich hier nebenan. Auch so ein Beispiel. Der sind schon drei Männer weggelaufen. Man weiß gar nicht, wer eigentlich der Vater von ihrer Brut ist. Kein Wunder also, dass der Sohn ein brutaler Mensch und die Tochter ein stadtbekanntes Flittchen ist. Die sollten Sie mal sehen! Wie die immer rumläuft!«

Jetzt hatte sie Maus ungeteilte Aufmerksamkeit, jedoch ließ er sich nichts anmerken und fragte mit besonders gelangweiltem Ton: »Ach, und wie läuft sie denn so rum?«

»Na, eben nicht gerade bedeckt. Aber gestern war sie mal wieder besonders komisch angezogen. Da schau ich doch noch mal abends nach meinem Katerchen – dem Mohrli. Sie müssen wissen, der strawanzt gerne in der Gegend rum, wie Katzen eben so sind. Dabei ist er so ein Lieber und Verschmuster.«

Das war Folter! Das Letzte, was Maus interessierte, waren die Gewohnheiten des Katers Mohrli.

»Wie ist Ihr Name, bitte?«

Irritiert blickte die Frau ihn an.

»Aber es ist doch nur eine Katze. Und ich bin sicher, dass er nix angestellt hat.«

»Das meine ich doch nicht! Es geht um Ihre gestrige Beobachtung von Fräulein Blum!«

»Wieso das denn? Hat sie was ausgefressen?«

Die Neugier nahm ihr fast den Atem, weshalb sie nur noch hauchen konnte: »Ich hab’s ja geahnt!«

»Was? Was haben Sie geahnt?«

Am liebsten hätte Maus sie jetzt geschüttelt. Aber das war nicht nötig, denn die Frau begann gleich weiterzuplappern.

»Na, dieses ganze spät-aus-dem-Haus-Gehen, wenn die Mutter schläft. Und dann hatte sie gestern dieses komische Kostüm an. So ein Cape, wissen Sie? Und ein paarmal hat sie sich umgedreht, als ob sie Angst hätte, dass ihr jemand folgt. Und dann hat sie da vorne an der Ecke gewartet. Und dann ist ein großes Auto gekommen und hat sie mitgenommen.«

»Ein Auto? Was für ein Auto?«

»Hm, ich weiß nicht genau. So ein großes halt, wie sie gerade so modern sind.«

»Meinen Sie vielleicht einen Jeep?«

Jetzt strahlte sie ihn an.

»Ja genau, ›Tschiep‹ heißen die wohl. Na ja, sie wurde übrigens nicht zum ersten Mal um diese nachtschlafende Zeit abgeholt.«

»Tatsächlich? Wissen Sie, wer am Steuer saß?«

»Nein, tut mir leid! Aber das geht mich ja auch wohl nix an, oder?«