WESTEND

Ebook Edition

CHRYSTIA FREELAND

DIE SUPERREICHEN

AUFSTIEG UND HERRSCHAFT EINER NEUEN GLOBALEN GELDELITE

Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos

WESTEND

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Plutocrats: The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else
im Verlag Allen Lane (an imprint of Penguin Books).
© 2012 Chrystia Freeland
All rights reserved

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts for this translation.

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ISBN 978-3-86489-045-1
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

In Erinnerung an meine Mutter, Halyna Chomiak Freeland

Inhalt

Einleitung

1 Die Geschichte und warum sie zählt

2 Die Kultur der Superreichen

3 Superstars

4 Revolutionen beim Schopf packen

5 Die Superrentiers: Milliarden auf Kosten der Allgemeinheit

6 Die Superreichen und wir

Schluss

Dank

Anmerkungen

Literatur

Namensregister

Einleitung

Der Arme genießt, was ehedem der Reiche nicht bestreiten konnte. Was Gegenstände des Luxus waren, sind Lebensbedürfnisse geworden. Der Arbeiter hat gegenwärtig mehr Annehmlichkeiten als vor einigen Menschenaltern der Pächter. Der Pächter erfreut sich eines größeren Wohllebens als ehedem der Grundeigentümer, er ist besser gekleidet und wohnt besser. Der Grundeigentümer besitzt kostbarere Bücher und Bilder und eine kunstvollere Einrichtung als sie früher dem König erreichbar waren.

Andrew Carnegie1

Branko Milanović ist Ökonom bei der Weltbank. Sein Interesse an Einkommensungleichheit geht auf die 1980er Jahre zurück, als er im ehemaligen Jugoslawien, seiner Heimat, an seiner Doktorarbeit schrieb. Bei seiner Forschung musste er feststellen, dass Einkommensungleichheit von offizieller Seite als »heikles« Thema angesehen wurde – das Regime wollte nicht, dass sich Wissenschaftler allzu genau damit beschäftigten. Das war keine große Überraschung, schließlich war die zentrale ideologische Verheißung des Sozialismus ja die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft.

Als Milanović jedoch später nach Washington zog, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Die Amerikaner liebten es, ihre Superreichen zu feiern, und machten sich – zumindest gelegentlich – auch Sorgen um ihre Armen. Aber beides in einen Zusammenhang zu rücken und über wirtschaftliche Ungleichheit zu sprechen, das war so gut wie tabu.

»Einmal hat mir der Direktor einer einflussreichen Denkfabrik in Washington D. C. gesagt, dass der Aufsichtsrat des Instituts wohl kaum eine Arbeit finanzieren würde, in deren Titel die Wörter ›Einkommens-‹ oder ›Vermögensungleichheit‹ vorkommen«, schrieb Milanović, ein stämmiger Vollbartträger mit schütterem Haupthaar, in einem kürzlich erschienenen Buch. »Ja, man würde alles finanzieren, was mit Armutslinderung zu tun habe, aber Ungleichheit, das sei eine völlig andere Sache.«

»Warum nur«, fragte sich Milanović und erklärte es sich so: »Weil mich ›meine‹ Sorge um die Armut mancher Menschen in einem schönen, warmen Licht erscheinen lässt, denn ich bin ja bereit, ihnen mit meinem Geld unter die Arme zu greifen. Wohltätigkeit ist etwas Gutes; sie verschafft einer Menge Egos einen Schub, man kann damit viele Punkte auf seinem Moralkonto verbuchen, selbst wenn man den Armen nur mickrige Beträge spendet. Aber Ungleichheit ist etwas anderes: Wo immer sie erwähnt wird, erwächst daraus nämlich die Frage, ob mein eigenes Einkommen angemessen oder gerechtfertigt ist.«2

Es ist nicht so, dass die Superelite ungern ihren Reichtum vorzeigen würde – schließlich ist das zumindest teilweise der Zweck von Jachten, Haute Couture, riesigen Villen und einer mit Großspenden zur Schau getragenen Philanthropie. Aber wenn die Diskussion von weihevoll zu analytisch wechselt, wird die Superelite nervös. Ein WallStreet-Banker und Mitglied der Demokraten, der schon hohe Ämter in Washington und in einigen der führenden amerikanischen Finanzinstitute bekleidete, sagte mir, Präsident Barack Obama habe mit seiner Rede von »den Reichen« die Geschäftswelt vor den Kopf gestoßen. Es sei das Beste, sich überhaupt nicht auf Einkommensunterschiede zu beziehen, aber wenn es der Präsident partout nicht vermeiden könne, sich die Spitzenverdiener des Landes herauszugreifen, sollte er sie lieber »wohlhabend« nennen. Das Wort »reich« klinge polarisierend – etwas, was die Reichen nicht sein möchten. Ähnlich äußerte sich Bill Clinton, der in seinem Buch Es gibt viel zu tun an Barack Obama bemängelte, wie er über die Leute an der Spitze spreche. Seinem eigenen behutsameren Umgang mit ihnen rechnete er es an, die Spitzenverdiener zur Hinnahme höherer Steuern bewegt zu haben: Viele Börsenleute, schrieb er, »haben mich unterstützt, als ich 1993 ihre Steuern anhob, denn ich habe sie nie wegen ihres Erfolgs angegriffen«.3

Robert Kenny, ein Bostoner Psychologe, der sich auf die Beratung der Superelite spezialisiert hat, weiß von dieser Animosität ein Lied zu singen. Das Wort »reich«, so sagte er einem Interviewer, nehme ja oft einen abwertenden Klang an. Im Englischen reime sich »rich« (reich) mit »bitch« (Miststück). »Ich war schon in Therapieräumen, da sind Leute aufgestanden und haben gesagt: ›Ich heiße soundso, und ich bin reich.‹ Dann sind sie in Tränen ausgebrochen.«4

Es sind nicht nur die Superreichen, die nicht gern über wachsende Einkommensungleichheit sprechen. Auch für viele von uns übrigen kann es ein ideologisch unangenehmes Gesprächsthema sein. Der Grund dafür ist, dass der globale Kapitalismus selbst – oder vielleicht gerade – aus Sicht seiner glühendsten Befürworter nicht ganz in dieser Weise funktionieren sollte.

Bis vor einigen Jahrzehnten waren die Ökonomen allgemein der Meinung, dass Einkommensungleichheit einem bestimmten Muster folgt. Danach war sie in vorindustrieller Zeit ziemlich gering – insgesamt war der Wohlstand hier noch recht klein und die Produktivität niedrig, so dass es nicht viel gab, was eine Elite erbeuten konnte. Während der Industrialisierung, als Industrielle und Industriearbeiter die bäuerliche Bevölkerung weit hinter sich ließen (man denke nur an das heutige China), erreichte die Ungleichheit dann einen Spitzenwert. Schließlich aber würde die Einkommensungleichheit in voll industrialisierten oder postindustriellen Gesellschaften durch eine breitere Bildung und eine stärker umverteilende Rolle des Staates wieder abnehmen.

Diese Auffassung über die Beziehung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Einkommensungleichheit wurde zuerst und am klarsten von dem aus Weißrussland stammenden US-amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets formuliert. Kuznets illustrierte seine Theorie mit einer der berühmtesten Grafiken der Ökonomie: der Kuznets-Kurve, ein auf dem Kopf stehendes, auswärtsgespreiztes U, das die Entwicklung einer Gesellschaft, deren Wirtschaft komplexer und produktiver wird, von geringer zu hoher Ungleichheit und wieder zurück zu niedriger Ungleichheit darstellt.

Ohne auf Kuznets’ Datenmaterial und statistische Analyse zurückgreifen zu können, traf Alexis de Tocqueville in den frühen Jahren der industriellen Revolution eine ähnliche Vorhersage: »Wenn man aufmerksam betrachtet, was seit Anbeginn der Gemeinschaften in der Welt geschieht, so erkennt man ohne große Mühe, dass Gleichheit nur am Anfangs- und am Endpunkt der Kulturentwicklung steht. Die Wilden sind untereinander gleich, weil sie alle gleichermaßen schwach und unwissend sind. Die Kulturmenschen können einander gleich werden, weil ihnen allen ähnliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Wohlstand und Glück zu erreichen. Zwischen beiden Extremen stößt man auf die Ungleichheit der Lebensbedingungen, auf Reichtum, Wissen und Macht einiger sowie auf Armut, Unkenntnis und Schwäche aller anderen.«5

Wenn man vom Kapitalismus überzeugt war – was heute praktisch für alle Welt gilt –, hatte man in der Kuznets-Kurve eine wunderbare Theorie. Der ökonomische Fortschritt mag brutal und holprig verlaufen und auf dem Weg Menschen zu Verlierern machen. Aber sobald wir das Tocqueville’sche Plateau erreicht haben, auf dem alle »Kulturmenschen« sind (damals natürlich Männer), würden wir alle am Gewinn teilhaben. Bis zum Ende der 1970er Jahre waren die Vereinigten Staaten, das weltweite Vorzeigeland des Kapitalismus, auch eine Verkörperung der Kuznets-Kurve. Die große Expansion der Nachkriegszeit war nämlich auch eine Phase der »Großen Kompression«, wie es Ökonomen genannt haben, wo die Ungleichheit abnahm und sich die meisten Amerikaner bald als Angehörige der Mittelklasse fühlen konnten. Dies war auch die Ära, in der die Amerikaner, wie es Harvard-Ökonom Lawrence Katz ausdrückte, »zusammenwuchsen«.6 Das schien der natürliche Zustand des Industriekapitalismus zu sein. Selbst die Reagan-Revolution segelte noch im Kielwasser dieses Paradigmas: Die Theorie des von oben nach unten durchsickernden Wohlstands, die sogenannte Trickle-down-Theorie, betont ja schließlich gerade, dass letztlich alle vom Wohlstand profitieren werden.

Doch Ende der 1970er Jahre setzte eine Veränderung ein. Die Einkommen der Mittelklasse fingen an zu stagnieren, während die Spitzeneinkommen sich von allen anderen abzukoppeln begannen. Dieser Wandel war am ausgeprägtesten in den Vereinigten Staaten, aber an der Wende zum 21. Jahrhundert war wachsende Ungleichheit zu einem weltweiten Phänomen geworden, sichtbar in den meisten Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer ebenso wie in den aufstrebenden Schwellenländern.

Der Wandel vom Amerika der sich schließenden Einkommenskluft zu dem Amerika, in dem ein Prozent Superreiche allen anderen davonziehen, ist noch so frisch, dass unsere intuitive Auffassung vom Gang des Kapitalismus noch keinen Anschluss an die Realität gefunden hat. Tatsächlich verletzt die wachsende Einkommensungleichheit unsere Erwartungen so sehr, dass die meisten von uns nicht begreifen, was vor sich geht.

Genau das konnten die Verhaltensökonomen Dan Ariely von der Duke University und Michael Norton von der Harvard Business School im Jahr 2011 in einer Untersuchung nachweisen.7 Ariely zeigte Amerikanern die Wohlstandsverteilung in den USA, wo die obersten 20 Prozent der Bevölkerung 84 Prozent des gesamten Reichtums besitzen, und in Schweden, wo die obersten 20 Prozent nur einen Anteil von 36 Prozent des Reichtums haben. 92 Prozent der Befragten gaben an, die Wohlstandsverteilung in Schweden gegenüber der in den heutigen Vereinigten Staaten vorzuziehen. Ariely bat seine Testpersonen dann, die ideale Wohlstandsversteilung in den USA zu beziffern. Die Befragten bevorzugten eine Verteilung, bei der die obersten 20 Prozent nur 32 Prozent des gesamten Reichtums besitzen, ihnen schwebte also eine noch gleichere Wohlstandsverteilung vor als in Schweden. Was die Einkommensverteilung angeht, würden Amerikaner somit lieber in Schweden leben – oder statt in den heutigen Verhältnissen der USA in den späten 1950er Jahren. Am allerliebsten wäre ihnen ein Egalitarismus im Stil eines Kibbuz.

Doch die Kluft zwischen den Fakten und unserer Intuition ist kein guter Grund, die Entwicklung zu ignorieren. Um zu verstehen, wie der amerikanische Kapitalismus – und der Kapitalismus auf der ganzen Welt – sich verändert, muss man sich anschauen, was ganz oben an der Spitze passiert. Diese Konzentration hat nichts mit Klassenkampf zu tun; es geht um Arithmetik.

Lawrence Summers, Harvard-Ökonom und Finanzminister unter Bill Clinton, ist schwerlich ein Radikaler. Dennoch weist er darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum im letzten Jahrzehnt so ungleich verteilt wurde, dass es für die Mittelschicht »zum ersten Mal seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre sinnvoller ist, ihr Augenmerk auf Umverteilung statt auf Wachstum zu richten«.8

Die Schräglage zugunsten der obersten Spitze ist so ausgeprägt, dass man gesamtwirtschaftliche Wachstumszahlen nicht verstehen kann, ohne sie zu berücksichtigen. Wie bei einer Schule, deren gestiegener Notendurchschnitt der herausragenden Leistung einiger weniger Schüler zu verdanken ist, können die anschwellenden Vermögen ganz an der Spitze die Stagnation in tieferen Einkommensschichten maskieren. Dies zeigt sich zum Beispiel an der wirtschaftlichen Erholung der USA in den Jahren von 2009 bis 2010. Die Gesamteinkommen stiegen in dieser Periode um 2,3 Prozent – sicherlich ein schwaches Wachstum, aber wesentlich stärker, als man angesichts der insgesamt düsteren Stimmung in dieser Zeit hätte erwarten können.

Betrachtet man die Zahlen jedoch genauer, wie es der Ökonom Emmanuel Saez getan hat, so stellt sich heraus, dass Durchschnittsamerikaner mit gutem Grund Zweifel an der wirtschaftlichen Erholung hegten. Dies deshalb, weil für 99 Prozent der Amerikaner das Einkommen in dieser Zeit nur um 0,2 Prozent wuchs. Unterdessen schossen die Einkommen des obersten Prozents um 11,6 Prozent in die Höhe. Es war eindeutig eine Erholung – für das eine Prozent.9

Hinter dem Boom in aufstrebenden Volkswirtschaften steckt eine ähnliche Geschichte. Das »strahlende Indien« der städtischen Mittelklasse hat Hunderte von Millionen Bauern, die kaum das Notwendigste zum Leben haben, unberührt gelassen, wie die Bharatiya-Janata-Partei10 zu ihrem Verdruss feststellen musste, als sie mit diesem Werbeslogan die Wiederwahl anstrebte; ebenso ist Chinas florierende Küstenelite Welten entfernt von rund der Hälfte der Bevölkerung, die noch immer in Dörfern im riesigen Hinterland lebt.

Dieses Buch ist daher der Versuch, den Wandel in der Weltwirtschaft durch eine genauere Betrachtung der obersten Spitze zu verstehen: Wer gehört dazu, woher stammt ihr Geld, wie denkt sie, und welche Beziehung hat sie zu uns übrigen. Es ist keine Reportage im Stil eines Boulevardmagazins über das Leben der Reichen und Berühmten, aber auch keine Neuauflage von Wer hat Schuld?, jenem einflussreichen Roman, den der Vater des russischen Sozialismus, Alexander Herzen, im 19. Jahrhundert schrieb.

Dieses Buch geht von der Überzeugung aus, dass wir Kapitalisten benötigen, weil wir den Kapitalismus brauchen – schließlich ist er, wie die Demokratie, das beste System, auf das wir bislang gekommen sind. Aber es argumentiert, dass es auch auf die Ergebnisse ankommt und dass die Abkoppelung der Plutokraten von allen anderen eine Folge der heutigen Funktionsweise des Kapitalismus und eine neue Realität ist, die der Zukunft ihren Stempel aufdrücken wird.

Andere Darstellungen, die sich mit dem oberen Prozent beschäftigen, neigen dazu, sich entweder auf die Politik oder die Wirtschaft zu konzentrieren. Die Auswahl kann eine ideologische Vorentscheidung bedeuten. Wer den Superreichen wohlgesonnen ist, neigt dazu, wirtschaftliche Argumente zu bevorzugen, weil sie ihren Aufstieg unvermeidbar erscheinen lassen, zumindest in einer Marktwirtschaft. Kritiker der Plutokraten neigen häufig zu politischen Erklärungen, weil sie die Vorherrschaft des einen Prozents als das Werk eines fehlbaren, abgehobenen, für den einseitigen Einfluss von Interessengruppen anfälligen Regierungsapparats betrachten, nicht als Folge der Mechanismen, die einst Adam Smith beschrieb.

Dieses Buch handelt von Wirtschaft und Politik gleichermaßen. Politische Entscheidungen haben dazu beigetragen, dass die Superelite überhaupt erst entstehen konnte, und während die Wirtschaftsmacht dieser Schicht wächst, nimmt auch ihr politischer Einfluss zu. Die Rückkoppelungsschleife zwischen Geld, Politik und Ideen ist zugleich Ursache und Folge des Aufstiegs der Superelite. Aber auch die ökonomischen Kräfte fallen ins Gewicht. Die Globalisierung und die technologische Revolution – und das von ihnen angestachelte weltweite Wirtschaftswachstum – sind fundamentale Triebkräfte für den Aufstieg der Plutokraten. Selbst Plutokraten, deren Reichtümer sich vor allem begünstigenden Regierungsentscheidungen verdanken, durch die sie sich lukrative Erträge auf Kosten der Allgemeinheit sichern, sind zum Teil durch diesen wachsenden globalen Wirtschaftskuchen reicher geworden.

Amerika beherrscht noch immer die Weltwirtschaft, und Amerikaner dominieren immer noch die Superelite. Doch dieses Buch versucht auch, die US-amerikanischen Plutokraten in einen globalen Kontext zu rücken. Der Aufstieg des einen Prozents ist ein globales Phänomen, und in einer globalisierten Weltwirtschaft sind die Plutokraten die internationalsten von allen, sowohl darin, wie sie leben, als auch in der Art, wie sie ihr Vermögen verdienen.

Der amerikanische Ökonom und Politiker Henry George war im 19. Jahrhundert ein glühender Verfechter des Freihandels und glaubte so sehr an das freie Unternehmertum, dass er gegen die Einkommenssteuer war. Für ihn war das Aufkommen der Plutokraten seiner Ära, der Räuberbarone, die große »Schicksalssphinx«: »Der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Fortschritt und Armut – er ist das große Rätsel unserer Zeit«, schrieb er. »Solange all der aufgespeicherte Reichtum nur dazu dient, das Vermögen einzelner maßlos zu vergrößern, den Luxus zu steigern und den Gegensatz zwischen Besitz und Mangel zu verschärfen: so lange ist der Fortschritt kein wahrhaftiger und kann auch kein bleibender sein.«11

Anderthalb Jahrhunderte später ist diese große Sphinx zurückgekehrt. Dieses Buch ist der Versuch, einen Teil des Rätsels zu entwirren, indem es die Tür zum Haus der Superreichen aufstößt und seine Bewohner unter die Lupe nimmt.

1 Die Geschichte und warum sie zählt

1 000 000 Menschen in Übersee können Ihren Job erledigen. Was macht Sie zu etwas so Besonderem?

Plakat über dem Highway 101, der Verbindungsstraße von San Francisco mit dem Silicon Valley

Das zweite vergoldete Zeitalter

Wenn man nach einem Datum sucht, an dem Amerikas Superreiche ihre Coming-out-Party feierten, könnte man einen schlechteren Tag wählen als den 21. Juni 2007. An jenem Tag nahm der Beteiligungskoloss Blackstone mit seinem Börsengang, dem größten seit 2002, über vier Milliarden Dollar auf, wodurch eine Aktiengesellschaft im Wert von damals 31 Milliarden Dollar entstand. Der Wert des Anteils von Steve Schwarzman, einem der beiden Firmengründer, belief sich zu diesem Zeitpunkt auf beinahe acht Milliarden Dollar, zusammen mit 677 Millionen Dollar in bar; der andere Gründer, Peter Peterson, löste einen Scheck von 1,88 Milliarden Dollar ein und zog sich in den Ruhestand zurück.

Der 21. Juni 2007 war zufällig auch der Tag, an dem Peterson eine Party schmiss, natürlich im Manhattaner Four-Seasons-Restaurant – eine Fügung von der Art, wie sie Historiker, Konspirologen und Buchverleger beglückt. Anlass der Feier war das Erscheinen des Debütromans seiner Tochter Holly, Mr. Nanny, eine milde Satire auf Leben und Liebe von Finanziers und ihren Ehefrauen im edelsten New Yorker Reichenviertel, der Upper East Side. Das Buch passte perfekt ins Genre der modernen »Mami-Literatur« und war, wie eine Rezensentin fand, ganz gut als Strandlektüre geeignet.1 Was die Autorin, wie sie mir selbst sagte, unter anderem zu dem Buch angeregt hatte, war der Umstand, dass »die Leute keine Ahnung haben, wie viel Geld es in dieser Stadt gibt«.

Holly Peterson, eine schlanke Frau mit mediterranen, von ihren griechischen Großeltern geerbten markanten Gesichtszügen, dunklen Augen und vollem braunem Haar, erläuterte mir nach der Veröffentlichungsparty in einer Reihe von Gesprächen, wie der Superreichtum der letzten Jahre aus ihrer Sicht die Bedeutung des Geldhabens verändert hat.

»In der Upper East Side gibt es heute so viel Geld«, sagte sie. »Eine Menge Leute unter 40 machen so 20 oder 30 Millionen Dollar im Jahr bei diesen Hedgefonds und hat keine Ahnung, was sie damit anstellen sollen.« Als Beispiel führte sie eine Unterhaltung auf einer Dinnerparty an: »Das Gespräch kam darauf, wie teuer das Leben wird, wenn man sich eine Menge leistet, zum Beispiel bei Netjets einsteigt« – das heißt, die Teileigentümerschaft an einem Flugzeug erwirbt, falls man sich kein ganzes kaufen will. »Und wenn man sich vier Häuser zulege, dann müsse man die ja auch unterhalten, und da würde man anfangen, schon ein bisschen Geld in die Hand zu nehmen.«

Schließlich brachte einer der Dinnerteilnehmer das ganze Dilemma auf den Punkt, als sie sich zu Holly Peterson wandte und sagte: »›Weißt du, die Sache mit 20 [damit meinte sie 20 Millionen Dollar im Jahr] ist ja, dass 20 [nach Steuern] nur noch 10 sind.‹ Da haben alle am Tisch genickt.«

Holly Peterson ist kein blauäugiges Mädchen vom Land und hat Neid nicht nötig, doch selbst aus ihrer privilegierten Warte spielt sich an der Spitze der wirtschaftlichen Pyramide offensichtlich etwas Frappierendes ab. »Beim ersten Wall-Street-Film [vom Ende der 1980er Jahre] sah man Männer von 30 oder 40 Jahren, die zwei oder drei Millionen Dollar im Jahr machten, und das war abstoßend. Aber dann kam das Zeitalter des Internets und dann der Globalisierung, und das Geld spielte wahrhaft verrückt. Jetzt gab es Leute in den 30ern mit Jobs bei Hedgefonds und Partnern von Goldman Sachs, die 20, 30, 40 Millionen Dollar im Jahr verdienten. Und es gab eine Menge von diesen Leuten. Sie haben angefangen, sich zu treffen, sind zu einer Clique geworden. Sie sind bald als globale Megaverdiener um die Erde gereist, und die Kluft zwischen ihnen und dem Rest der Welt vergrößerte sich schier exponentiell. Es war nicht nur Gordon Gekko [der Finanzjongleur im Film Wall Street]. Es entwickelte sich zu einer komplett abgehobenen Sphäre.«2

Die Beobachtungen Holly Petersons auf den Dinnerpartys der Superreichen decken sich mit den Fakten. In Amerika hat sich der Graben zwischen dem obersten einen Prozent und allen anderen tatsächlich zu einer »komplett abgehobenen Sphäre« entwickelt. In den 1970er Jahren verdiente das oberste Prozent der Einkommensbezieher in den USA etwa zehn Prozent des nationalen Einkommens. 35 Jahre später ist sein Anteil auf beinahe ein Drittel des nationalen Einkommens gestiegen, so hoch wie zuletzt während des vorangehenden Höchststandes in der amerikanischen Gründerzeit, dem »vergoldeten Zeitalter« (Gilded Age). Robert Reich, Arbeitsminister unter Bill Clinton, illustrierte diese Ungleichheit mit einem anschaulichen Beispiel: 2005 besaß Bill Gates 46,5 Milliarden, Warren Buffett hatte 44 Milliarden Dollar. In jenem Jahr betrug das gesamte Vermögen der 120 Millionen Menschen, die die unteren 40 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung ausmachen, um die 95 Milliarden Dollar – kaum mehr als die Summe der Vermögen dieser beiden Männer.3

Es handelt sich um amerikanische Milliardäre und amerikanische Zahlen. Aber ein wichtiges Merkmal der heute aufsteigenden Plutokratie besteht darin, dass die Superreichen, wie Holly Peterson es ausdrückte, »globale Megaverdiener« sind. 2011 zeigte ein Bericht der OECD, dass im Lauf der letzten drei Jahrzehnte in Schweden, Finnland, Deutschland, Israel und Neuseeland – alles Länder mit weniger raubtierhaften Spielarten des Kapitalismus – die Ungleichheit im selben Tempo oder sogar noch schneller zugenommen hat als in den USA. Frankreich, wie gewöhnlich stolz auf seinen Ausnahmecharakter, scheint die einzige große Ausnahme im Westen zu sein, allerdings haben jüngste Studien gezeigt, dass es sich in der letzten Dekade ebenfalls in dieses Bild zu fügen beginnt.4

Auch in den aufstrebenden Volkswirtschaften überflügelt das eine Prozent alle anderen. Die Einkommensungleichheit im kommunistischen China ist heute größer als die in den Vereinigten Staaten und hat auch in Indien und Russland zugenommen. Der Abstand hat in Brasilien, dem viertplatzierten BRIC-Land (Brasilien, Russland, Indien, China), nicht zugenommen, dies jedoch wohl deshalb, weil die Einkommensungleichheit dort schon von vornherein so enorm war. Selbst heute noch ist Brasilien unter den großen Schwellenländern dasjenige mit der größten Ungleichheit.

Wie sehr manche Leute an Orten, die wir früher Entwicklungsländer nannten, heute vor Geld strotzen, mag eine Begegnung veranschaulichen, die ich kürzlich mit dem Milliardär Naguib Sawiris, dem ägyptischen Vorstandsvorsitzenden und größten Aktionär des Telekommunikationsunternehmens Orascom Telecom, hatte, dessen Firmenimperium sich mittlerweile von seinem Geburtsland über Italien bis hin nach Kanada ausgedehnt hat. Sawiris, der die Rebellen auf dem Tahrir-Platz unterstützte, drückte in einer Rede vor einem Dinnerpublikum in Torontos Four-Seasons-Hotel, zu dem auch ich gehörte, seine Verwunderung über die Habgier von Autokraten aus: »Was ich im Leben nie verstanden habe, ist, warum diebische Diktatoren sich nicht einfach eine Milliarde unter den Nagel reißen und den Rest fürs Volk ausgeben.«

Interessant war für mich, dass er eine Milliarde als angemessene Begrenzung für die diktatorische Ausplünderung eines Volkes betrachtete. War in seiner Welt, fragte ich ihn hinterher, eine Milliarde Dollar das Vermögen, das man anstrebt? »Ja«, antwortete Sawiris, »um die Extras zu finanzieren, das Flugzeug, das Boot, da braucht man schon eine Milliarde. Ich meine, das ist meine Ziffer für das Minimum, auf das ich heruntergehen will – wenn ich heruntergehe.«5

In der Zwischenzeit sind der großen Mehrheit der amerikanischen Arbeiter – egal, wie gut sie ausgebildet sind und wie verbissen sie in ihren Jobs schuften mögen – solche unverhofften Gewinne nicht nur entgangen: Dieselben Triebkräfte, die den Reichtum und die Macht der Superreichen vermehrten, haben vielen von ihnen auch die Arbeit genommen, ihre Unternehmen zerstört und ihre Lebensersparnisse vernichtet. Globalisierung und technologischer Fortschritt haben dazu geführt, dass viele Berufe im Westen rasch veralteten; sie haben westliche Arbeiter in direkten Wettbewerb mit Niedriglöhnern in ärmeren Ländern gestellt; und sie haben allgemein jene bestraft, denen es an Klugheit, Ausbildung oder Glück mangelte, oder denen die Chuzpe fehlte, ihre Vorzüge zu ihrem Nutzen einzusetzen. Die Durchschnittslöhne stagnierten, während Maschinen und billige Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern den Wert der Arbeit der Mittelklasse im Westen nach unten drückten.

Durch meine Arbeit als Wirtschaftsjournalistin habe ich die neuen globalen Superreichen über zwei Jahrzehnte lang auf Schritt und Tritt begleitet: Ich bin zu denselben exklusiven Konferenzen in Europa gereist, auf denen sie präsent waren, habe bei Cappuccino auf Martha’s Vineyard oder in Konferenzräumen in Silicon Valley Interviews mit ihnen geführt und an hochkarätig besetzten Dinnerpartys in Manhattan teilgenommen. Manches, was ich dabei gelernt habe, war absolut vorhersehbar: Die Reichen sind, wie f. Scott Fitzgerald es ausdrückte, anders als Sie und ich.6

Für unsere heutige Zeit bedeutsamer aber ist, dass die Reichen von heute auch anders sind als die Reichen von gestern. Unsere mit Lichtgeschwindigkeit voraneilende, global vernetzte Wirtschaft hat zum Aufstieg einer neuen Superelite geführt, die zu einem beträchtlichen Teil aus Reichen der ersten und zweiten Generation besteht. Ihre Mitglieder sind hart arbeitende, hochgebildete, jetsettende Meritokraten, die das Gefühl haben, die verdienten Gewinner eines harten, weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerbs zu sein – und die als Folge eine ambivalente Haltung gegenüber denjenigen unter uns haben, denen kein ganz so spektakulärer Erfolg beschieden war. Sie neigen zum Glauben an die Institutionen, die gesellschaftliche Mobilität ermöglichen, legen aber in bezug auf wirtschaftliche Umverteilung – das heißt Steuern –, die zur Bezahlung dieser Institutionen erforderlich ist, weniger Enthusiasmus an den Tag. Am auffälligsten ist vielleicht, dass sie sich zu einer transglobalen Gemeinde von Gleichen entwickeln, die untereinander mehr gemeinsam haben als mit ihren Landsleuten daheim. Ob sie ihre Hauptwohnsitze in New York oder Hongkong, Moskau oder Mumbai behalten: Die heutigen Superreichen sind zunehmend ein Volk für sich.

Das Aufkommen dieser neuen virtuellen Nation des Mammons ist so bemerkenswert, dass ein Team der besten Strategen bei Citigroup den Kunden der Bank riet, ihre Portfolios an der wachsenden Konsummacht der globalen Superreichen zu orientieren. In einem Memo von 2005 verkünden sie, dass »die Welt sich in zwei Blocks aufteilt: die Plutonomie und den Rest … In einer Plutonomie gibt es nicht so etwas wie ›den US-Konsumenten‹ oder ›den britischen Konsumenten‹ oder auch ›den russischen Konsumenten‹. Es gibt die reichen Konsumenten, gering an Zahl, aber unvergleichlich in ihrem gigantischen Anteil am Einkommen und am Konsum, über den sie verfügen. Und da sind die übrigen, die Nichtreichen, die vielen, die jedoch nur für ein überraschend kleines Stückchen am nationalen Kuchen verantwortlich sind.«7

In der Klasse der Investoren gehört diese Zweiteilung der Welt in Reiche und den Rest zum gängigen Wissen. 2011 sagte Bob Doll, leitender Aktienstratege beim weltgrößten Vermögensverwalter BlackRock, einem Journalisten: »Der US-Aktienmarkt und die US-Wirtschaft sind zunehmend zwei verschiedene Paar Schuhe«: Ersterer steige, während Letztere stagniere.8

Selbst der einstige US-Notenbankpräsident Alan Greenspan, der Hohepriester der freien Märkte, ist über das zunehmende Auseinanderklaffen der Schere verblüfft. In einem Fernsehinterview erklärte er kürzlich, die US-Wirtschaft sei »stark verzerrt«. Im Gefolge der Rezession habe es unter Spitzenverdienern, Großbanken und Konzernen eine »beträchtliche Erholung« gegeben; der Rest der Wirtschaft, darunter kleine und mittelständische Unternehmen und »ein erheblicher Anteil der Arbeitskräfte«, stecke dagegen fest und habe noch immer zu kämpfen. Wir stünden hier, sorgte sich Greenspan, überhaupt nicht einer einzigen Wirtschaft gegenüber, sondern vielmehr »zwei grundsätzlich getrennten Typen von Wirtschaft«, die sich immer stärker unterschieden und auseinanderentwickelten.9

In jüngster Zeit verfeinerte Citigroup diesen Investitionsansatz mit der sogenannten Sanduhrtheorie. Danach findet aufgrund der Teilung der Gesellschaft in die Reichen und die übrigen der meiste Konsum im teuersten und im billigsten Segment statt, während der mittlere Teil wegen der Schwächung der Mittelschicht eingeschnürt sei wie eine Sanduhr in der Mitte. Die klügste Investmentstrategie besteht demzufolge also darin, die Aktien der edelsten Luxusgüterhersteller zu kaufen – der Unternehmen, die an die Superreichen verkaufen – sowie Anteile von Billiganbietern zu erwerben, die ihre Waren an die Masse der Einkommensschwachen absetzen. Unternehmen mit einem auf die ausgehöhlte Mittelschicht zugeschnittenen Angebot haben folglich keine guten Geschäftsaussichten.10

Bislang funktioniert es. Der Hourglass Index (Sanduhr-Index) von Citigroup, in den Aktien wie die des New Yorker Luxuseinzelhändlers Saks am oberen und des Discounters Family Dollar am unteren Ende aufgenommen wurden, stieg zwischen Dezember 2009 und September 2011 um 56,5 Prozent. Im Gegensatz dazu legte der Dow Jones Industrial Average im selben Zeitraum nur um elf Prozent zu.

Das erste vergoldete Zeitalter

Am 10. Februar 1897 versammelten sich 700 Mitglieder von Amerikas Superelite im New Yorker Waldorf-Hotel zu einem Kostümball, den der Anwalt Bradley Martin und seine Frau Cornelia gaben.11 Am beliebtesten bei den Damen, so berichtete die New York Times, war die Verkleidung als Marie Antoinette – gleich 50 hatten sich für diese Kostümidee entschieden. Cornelia, eine füllige, blauäugige Matrone mit geschwungenen Lippen, großzügigem Ausschnitt und hängenden Wangen, ging als Maria Stuart und stach sämtliche Konkurrentinnen mit einem Halsband aus, das einst der französischen Königin gehört hatte. Ihr Gatte Bradley kam als Ludwig XIV. – der Sonnenkönig selbst. John Jacob Astor war Heinrich von Navarra, seine Mutter, Caroline, war eine der Marie Antoinettes, in einem Kleid, das mit Juwelen im Wert von 250 000 Dollar besetzt war. J. P. Morgan verkleidete sich als Molière, seine Nichte, Miss Pierpont Morgan, kam als Königin Luise von Preußen.

Mark Twain hatte den Ausdruck »vergoldetes Zeitalter« 24 Jahre zuvor in seinem zusammen mit Charles Dudley Warner geschriebenen gleichnamigen satirischen Roman geprägt, doch der Ball der Martins repräsentierte selbst in einem Land, das sich an Krösusse zu gewöhnen begann, ein neues Niveau ostentativen Superreichtums. Der New York Times zufolge war das Ereignis »die gediegenste private Feierlichkeit, die je in der Metropole stattgefunden hat«. Eine andere Zeitung schrieb, zu den Gästen der Martins hätten 86 Personen gehört, deren Reichtum alles überträfe, was sich die meisten Menschen vorstellen könnten. Ein Dutzend von ihnen besaß über zehn Millionen Dollar, weitere zwei Dutzend waren fünf Millionen Dollar schwer. Nur einige wenige der Gäste waren keine Millionäre.

Gebannt starrte das Land auf diese Zurschaustellung des Geldes. »Es gibt heute eine große Aufregung in gehobenen Kreisen und selbst in der Öffentlichkeit«, berichtete der Commercial Adviser. »Der Grund für all das ist der Bradley-Martin-Ball, neben dem der [britisch-amerikanische] Schiedsvertrag, die Kubafrage und die Untersuchung des Lexow-Komittees [über Korruption in der New Yorker Polizei] zu Fragen von nachrangigem öffentlichem Interesse geworden sind.« Damals wie heute neigte Amerika dazu, seine Tycoons und das Wirtschaftssystem, das sie hervorgebracht hatte, zu feiern. Doch selbst in einem Land, das den Kapitalismus voll und ganz bejahte, erwies sich der Kostümball der Martins als Fehlkalkulation.

Dies nicht zuletzt, weil er zu einer Zeit wirtschaftlicher Angst breiter Massen veranstaltet wurde: 1897 röchelte die »Lange Depression«, die 1873 begonnen hatte und den schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung darstellte, den die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert erlebten, gerade erst ihrem Ende entgegen.

Mrs. Martin rechtfertigte ihr Fest mit den positiven ökonomischen Effekten, die nach unten durchsickern würden: Sie habe es deshalb erst drei Wochen vorher bekanntgegeben, weil eine so kurze Vorbereitung ihre Gäste zwingen würde, ihre üppigen Kostüme in New York statt in Paris zu kaufen und so die heimische Wirtschaft zu stimulieren. Die Musikergewerkschaft der Stadt stimmte zu, die Ausgaben der Superreichen seien schließlich eine wichtige Beschäftigungsquelle für alle anderen.

Die breitere Öffentlichkeit war davon allerdings nicht überzeugt. Die Schmach, die wegen dieses Balls auf die Martins fiel – und die Einkommenssteuer, die auf dem Gipfel der allgemeinen öffentlichen Empörung gegen die Plutokraten, zu deren Verkörperung sie geworden waren, gegen Superreiche verhängt wurde –, veranlassten sie, nach Großbritannien zu fliehen, wo sie bereits ein Haus besaßen und ein gigantisches Anwesen in Schottland von 26 000 Hektar pachteten.

Der Ball der Martins war die schillernde Manifestation eines tiefgreifenden, beunruhigenden wirtschaftlichen Wandels, der die westliche Welt während der vorangegangenen 100 Jahre erfasst hatte. Mittlerweile leben wir seit zwei Jahrhunderten mit der industriellen Revolution. Dadurch gerät leicht aus dem Blickfeld, was für ein radikaler Bruch die erste Gründerzeit gegenüber der übrigen Menschheitsgeschichte darstellte. In den beiden Jahrhunderten nach 1800 wuchs das Weltdurchschnittseinkommen um mehr als das Zehnfache, während die Weltbevölkerung nur um mehr als das Sechsfache zunahm. Das war etwas gänzlich Neues, von ebenso großer gesellschaftlicher Bedeutung wie die Domestizierung von Pflanzen und Tieren.

Wer das vergoldete Zeitalter selbst erlebte, brauchte keinen Wirtschaftsexperten, um zu begreifen, dass ein Umbruch von historischen Ausmaßen im Gang war. Zufällig reiste Mark Twain 1897, im Jahr des Martin-Balls, nach London. Sein Besuch fiel mit Königin Victorias diamantenem Thronjubiläum zusammen, dem 60. Jahrestag ihrer Krönung.

»Die britische Geschichte ist 2 000 Jahre alt«, bemerkte Twain, »und doch hat sich die Welt seit der Geburt der Königin in vielerlei Hinsicht schneller voranbewegt als im ganzen Rest der 2 000 Jahre zusammengenommen.«12

Der 2010 verstorbene britische Wirtschaftshistoriker Angus Maddison war ein »chiffrephile«, wie er es nannte, ein erklärter Liebhaber von Zahlen aller Art, die aus seiner Sicht entscheidend für das Verständnis der Welt sind. Seine sechs Jahrzehnte währende Karriere widmete er der Anhäufung von Daten über die Transformation der Weltwirtschaft in den letzten 2 000 Jahren und sammelte schier alles Zahlenmaterial, dessen er habhaft wurde, von Schifffahrten bis hin zum Tabakabsatz. Er besaß eine geniale Begabung dafür, all diese Zahlen so zu bündeln, dass dahinter große globale Tendenzen zum Vorschein kamen.

Eine seiner faszinierendsten Grafiken zeigt, wie dramatisch die Welt, besonders Westeuropa und das, was er seine »westlichen Ableger« nannte – die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland –, sich im 19. Jahrhundert veränderten: In den ersten 1 000 Jahren u. Z. sank das Bruttoinlandsprodukt Westeuropas im Durchschnitt tatsächlich mit einer jährlichen kumulierten Rate von 0,01 Prozent. Die Menschen um das Jahr 1000 waren im Durchschnitt also ein bisschen ärmer als 1 000 Jahre zuvor. In den westlichen Ablegern wuchs die Wirtschaft um 0,05 Prozent. In den über 800 Jahren zwischen 1000 und 1820 betrug das durchschnittliche jährliche kumulierte Wachstum 0,34 Prozent in Westeuropa und 0,35 Prozent in seinen westlichen Ablegern.13

Dann verwandelte sich die Welt vollständig. Die Wirtschaft hob ab: Zwischen 1820 und 1998 wuchs sie in Westeuropa mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 2,13 Prozent, in den westlichen Ablegern kletterte sie mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von 3,68 Prozent.

Dieser historisch beispiellose Anstieg des wirtschaftlichen Wohlstands war die Folge der industriellen Revolution. Sie machte uns schließlich alle reicher, als Menschen je gewesen waren – und riss jene tiefe Kluft zwischen den Industrieländern und dem Rest der Welt auf, deren Überwindung erst heute, 200 Jahre später, mit dem Aufstieg der neuen Marktwirtschaften in den Bereich des Vorstellbaren kommt.

Doch der Wohlstand verursachte enorme soziale Kosten. Der Übergang von einer agrarisch geprägten zu einer industriellen Wirtschaft war schmerzlich, riss Gemeinschaften auseinander und machte mühsam erlernte Berufe überflüssig. Die Apotheose der Martins und ihrer superreichen Freunde war Teil eines breiteren Wirtschaftsaufschwungs, aber er fiel auch mit der Entwurzelung und Verarmung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung zusammen – ihr Kostümball fand schließlich noch während der Langen Depression statt, ein wirtschaftlicher Abschwung in den USA und Europa, der länger dauerte als die Weltwirtschaftskrise zwei Generationen später. Die industrielle Revolution schuf die Plutokraten – in den USA nannte man sie die Räuberbarone – und riss die Kluft zwischen ihnen und allen anderen auf.

Die Architekten der industriellen Revolution betrachteten diese Spaltung der Gesellschaft in die Gewinner und alle anderen als unausweichliche Konsequenz der wirtschaftlichen Transformation ihres Zeitalters. Nehmen wir Andrew Carnegie, den amerikanischen Stahltycoon aus Pittsburgh und einen der ersten Räuberbarone, der sich in die Reihen des obersten einen Prozents seiner Zeit aufschwang. Das Gesetz des Wettbewerbs, schrieb er, »ist da, wir können uns ihm nicht entziehen, nichts anderes an seine Stelle setzen, und während es für den einzelnen manchmal eine Härte sein mag, ist es für die Menschheit das Beste, weil es in jedem Lebenskreise die Erhaltung der Tauglichsten gewährleistet. Wir nehmen daher die große Ungleichheit der Umwelt, die Vereinigung des Geschäfts in Gewerbe und Handel in den Händen weniger und das Gesetz des Wettbewerbs zwischen diesen als etwas für den künftigen Fortschritt der Menschheit nicht nur Nützliches, sondern Wesentliches an und erblicken darin Bedingungen, denen wir uns anzupassen haben.«14

Carnegie war natürlich äußerst zuversichtlich, dass die Wohltaten des Industriekapitalismus dessen Mängel überwogen, selbst wenn der Ausdruck, den er gebrauchte – »für die Menschheit das Beste«, wobei im englischen Original für Menschheit auch noch race, also »Rasse« steht – uns heute zusammenzucken lässt. Aber er räumte immerhin ein, dass dafür ein hoher Preis zu entrichten war, und gab insbesondere zu, dass die Kluft zwischen Reich und Arm das »Problem unserer Zeit« sei.15

Als Kind des vergoldeten Zeitalters begriff Carnegie besser als die meisten von uns heute, wie bemerkenswert dieser Bruch im Vergleich zu der Art und Weise war, wie die Menschen in früheren Jahrhunderten gelebt hatten. »Die Bedingungen des menschlichen Lebens haben innerhalb der letzten paar Jahrhunderte nicht nur eine Veränderung, sondern eine Umwälzung erfahren. In früheren Zeiten unterschieden sich Wohnung, Kleidung, Nahrung und Umgebung des Herrn wenig von der seiner Dienstmannen. Die Indianer sind heute, wie damals der Kulturmensch war. Als ich die Sioux besuchte, führte man mich zum Wigwam des Häuptlings. Es war den übrigen in der äußeren Erscheinung gleich und hob sich auch im Innern von denen seiner ärmsten Streiter kaum ab. Der Gegensatz zwischen dem Palaste des Millionärs und der Hütte des Arbeiters in unserer Zeit lässt die Veränderung ermessen, die mit der Zivilisation gekommen ist.«16

Carnegie, selbst Einwanderer, der vom Hilfsarbeiter in der Textilindustrie in die Spitze der amerikanischen Plutokratie aufstieg, begriff, dass der Abstand zwischen Palast und Hütte nur das äußere Zeichen des Grabens zwischen Reich und Arm war – der optische Gradmesser, wenn man so will.

Der Wandel in den Machtbeziehungen begann am Arbeitsplatz, und dort wurde er auch am heftigsten spürbar: »Früher wurden die Gegenstände im häuslichen Familienkreise oder in kleinen Werkstätten hergestellt, die einen Teil der Haushaltung bildeten. Der Meister und seine Lehrlinge arbeiteten Seite an Seite, wobei die letzteren bei dem Meister wohnten und daher unter denselben Bedingungen lebten. Wenn diese Lehrlinge zum Meister aufstiegen, trat in ihrer Lebensweise wenig oder kein Wechsel ein, und ihrerseits erzogen sie nun nachfolgende Lehrlinge in dem gleichen, gewohnheitsmäßigen Lauf. Es herrschte im wesentlichen gesellschaftliche Gleichheit und selbst politische Gleichheit, denn die in gewerblichen Berufen Stehenden hatten damals überhaupt wenig oder gar nichts im Staate zu bedeuten.«17

Vor der industriellen Revolution waren wir alle einigermaßen gleich. Aber das änderte sich mit den Gründerzeitjahren. Heute, fuhr Carnegie fort, »versammeln [wir] in der Fabrik, im Bergwerk Tausende von Handarbeitern, die der Arbeitgeber nur wenig oder nicht kennen kann und denen er kaum mehr ist als ein Held der Sage. Jeder Verkehr zwischen ihnen ist zu Ende. Strenge Kasten haben sich gebildet, und wie gewöhnlich gebiert die gegenseitige Unkenntnis gegenseitiges Misstrauen. Jede Kaste ist ohne Mitgefühl für die andere und bereit, alles zu glauben, was jene herabsetzt.«18

Dieser Umbruch war in Amerika besonders tiefgreifend – einer der Gründe vielleicht, warum hier bis heute die Existenz dieser »strengen Kasten« der Industriegesellschaft, die Carnegie vor 100 Jahren beschrieb, von der nationalen Mythologie nicht vollständig akzeptiert wird. Das Amerika zur Zeit seiner Gründung – zur Zeit der amerikanischen Revolution – war eine der egalitärsten Gesellschaften des Planeten. Das war die stolze Erklärung seiner Gründer. In einem Brief aus Monticello19 vom 10. September 1814 schrieb Thomas Jefferson an den angloamerikanischen Universalgelehrten Dr. Thomas Cooper (er war Anwalt, Professor für Chemie und politische Ökonomie und Universitätspräsident): »Wir haben keine Armen. … Die große Masse unserer Bevölkerung besteht aus Arbeitern. Unsere Reichen, die ohne Arbeit leben können, sei sie körperlich oder geistig, sind wenige, und sie haben nur einen bescheidenen Wohlstand. Die meisten der Arbeiterklasse besitzen Eigentum, bestellen ihr eigenes Land, haben Familien und sind durch die Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft in der Lage, von den Reichen und Ausgebildeten solche Preise zu verlangen, die es ihnen ermöglichen, sich reichlich zu nähren, sich über das Maß bloßer Schicklichkeit hinaus zu kleiden, mäßig zu arbeiten und ihre Familien großzuziehen. … Die Reichen und die Gutgestellten wissen andererseits nichts von dem, was die Europäer Luxus nennen. Sie besitzen nur etwas mehr von den Annehmlichkeiten und Handreichungen des Lebens als jene, die sie damit versorgen. Kann irgendein Zustand der Gesellschaft wünschenswerter sein als dieser?«20

Jefferson kontrastierte dieses egalitäre Arkadien mit einem England, das sich in Arme und Plutokraten teilte: »Berechnen wir nun mit Zahlen die Summe des Glücks der beiden Länder. In England ist Glück das Los allein der Aristokratie, und den Anteil, den sie im Verhältnis zu den Arbeitern und Armen ausmacht, kennt Ihr besser als ich. Wenn ich schätzen würde, dass es vier auf jedes Hundert sind, so betrüge das Glück des Volkes im Verhältnis zu seinem Elend eins zu 25. In den Vereinigten Staaten ist es acht Millionen zu null oder alle zu keinem.« Nach seiner Amerikareise zwei Jahrzehnte später wusste Alexis de Tocqueville als erstes zu berichten: »Von all dem Neuen, das während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.«21

In den Augen Jeffersons und Tocquevilles war Amerika das Schweden des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Akribische Belege, die Peter Lindert und Jeffrey Williamson in einem Artikel zusammengetragen haben, bestätigen heute dieses Bild. Sie fanden heraus, dass in den 13 Kolonien einschließlich des Südens und der Sklaven beträchtlich mehr Gleichheit herrschte als in den anderen Ländern, in denen bald mit Macht die industrielle Revolution Einzug hielt: England, Wales und die Niederlande.22

»Wenn man Sklaven in die allgemeine Einkommensverteilung einbezieht, waren die amerikanischen Kolonien 1774 immer noch die egalitärsten in bezug auf die Einkommensverteilung der Haushalte, wenngleich mit geringerem Abstand«, so Professor Lindert.23

Den zeitgenössischen Besuchern erschienen die Amerikaner nicht nur gleicher, sie waren zusammen mit diesen auch überzeugt, dass die Kolonisten reicher waren als die Menschen, die sie in der Alten Welt zurückgelassen hatten – und das war ja schließlich der Sinn des Auswanderns. Auch dies konnten Lindert und Williamson belegen, mit einer wichtigen Einschränkung: Das egalitäre Amerika war reicher, abgesehen von der Elite. Wenn man zu den obersten zwei Prozent der Bevölkerung gelangte, waren selbst die Plantagenbesitzer von Charleston im Vergleich zum englischen Landadel kleine Fische. Tatsächlich waren die obersten zwei Prozent Englands so reich, dass das durchschnittliche nationale Einkommen des Landes beinahe so hoch wie das der Vereinigten Staaten war, trotz des markant größeren Wohlstands der Schicht, die wir heute die amerikanische Mittelklasse nennen würden. »Der Duke of Bedford hatte in Amerika kein Pendant«, schreibt Lindert. »Selbst die reichsten Sklavenhalter aus Charleston konnten es nicht mit dem Reichtum der Landaristokratie aufnehmen.«24

Im egalitären Amerika und selbst im aristokratischen Europa hob die industrielle Revolution schließlich alle Boote, aber sie vertiefte auch die sozialen Gräben. Ein Grund, warum der Prozess traumatisch verlief, ist darin zu suchen, dass es den Verlierern ziemlich schlimm erging: Aus ihrer persönlichen Sicht hatten die Ludditen, ausgebildete Weber, die gegen die Maschinen stürmten, durch die ihr Handwerk überflüssig geworden war, für ihre Rebellion triftige Gründe. Doch wie in allen meritokratischen Ein-Prozent-Gesellschaften war die kreative Zerstörung der industriellen Revolution auch traumatisch für die vielen, die sich redlich anstrengten, daran teilzunehmen, jedoch scheiterten. Tatsächlich war es das Pathos dieser verhinderten Gewinner, das Mark Twain zu dem Roman inspirierte, der die Epoche ihren Namen verdankt.

»In Amerika hat beinahe jeder einen Traum«, so erklärten Twain und Koautor Warner im Vorwort der Londoner Ausgabe ihres Romans Das vergoldete Zeitalter, »seinen gehätschelten Plan, durch den er gesellschaftlich oder pekuniär vorankommen will. Es ist diese alles durchdringende Spekulationslust, die wir in Das vergoldete Zeitalter25