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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Terry Bisson
Gateway
Jenseits des blauen Horizonts
Rückkehr nach Gateway
Copyright
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Mein Name ist Robinette Broadhead; ich bin aber trotzdem ein Mann. Mein Analytiker – den ich Sigfrid Seelenklempner nenne, obwohl das nicht sein Name ist; er hat keinen Namen, weil er eine Maschine ist – hat sehr viel elektronischen Spaß mit dieser Tatsache.

»Warum macht es dir etwas aus, wenn manche Leute das für einen Mädchennamen halten, Bob?«

»Es macht mir nichts aus.«

»Warum reitest du dann immer darauf herum?«

Er ärgert mich, wenn er darauf herumreitet, worauf ich herumreite. Ich starre an die Decke mit ihren hängenden Mobiles und Piñatas, dann sehe ich zum Fenster hinaus. Es ist nicht wirklich ein Fenster. Es ist ein bewegtes Holobild der Brandung bei Kap Kaena; Sigfrids Programmierung ist reichlich eklektisch. Nach einiger Zeit sage ich: »Ich kann nichts für den Namen, den mir meine Eltern gegeben haben. Ich habe versucht, ihn R-O-B-I-N-E-T zu buchstabieren, aber dann sprechen ihn alle falsch aus.«

»Du könntest dir ja einen anderen zulegen.«

»Wenn ich mir einen anderen zulege«, sage ich und bin sicher, dass ich damit Recht habe, »würdest du mir nur erklären, dass ich zwanghaft weit gehe, meine inneren Dichotomien zu verteidigen.«

»Was ich dir sagen würde«, antwortet Sigfrid in seinem schwerfälligen, mechanischen Versuch, Humor zu zeigen, »ist, dass du, bitte, keine psychoanalytischen Begriffe gebrauchen solltest. Ich wäre dankbar, wenn du einfach mitteilen würdest, was du empfindest.«

»Was ich empfinde«, sagte ich zum tausendsten Mal, »ist Glück. Ich habe keine Probleme. Weshalb sollte ich mich nicht glücklich fühlen?«

Wir liefern uns häufig solche Wortgefechte, und sie gefallen mir nicht. Ich glaube, dass mit seinem Programm etwas nicht in Ordnung ist. Er fragt: »Robbie, warum fühlst du dich nicht glücklich?«

Darauf erwidere ich gar nichts. Er beharrt darauf. »Ich glaube, du machst dir Sorgen.«

»Quatsch, Sigfrid«, entgegne ich ein wenig angewidert, »das sagst du immer. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen.«

Er versucht es mit Überreden.

»Es ist doch nichts dabei, wenn du sagst, wie du dich fühlst.«

Ich blicke wieder zum Fenster hinaus, zornig, weil ich zittere und nicht weiß, warum.

»Du bist eine Nervensäge, Sigfrid, weißt du das?«

Er sagt irgendetwas, aber ich höre nicht zu. Ich frage mich, warum ich herkomme und meine Zeit vergeude. Wenn es jemals jemanden gegeben hat, der allen Anlass hatte, glücklich zu sein, dann muss ich es sein. Ich bin reich. Ich sehe ziemlich gut aus. Ich bin nicht zu alt, außerdem habe ich medizinischen Vollschutz, sodass ich die nächsten fünfzig Jahre oder so mein Alter frei wählen kann. Ich lebe in New York City unter der großen Kuppel, wo man es sich nicht leisten kann zu leben, wenn man nicht wirklich begütert und vielleicht noch eine Art Berühmtheit dazu ist. Ich habe eine Sommerwohnung mit Blick auf den Tappan-See und den Palisaden-Damm. Und die Mädchen geraten beim Anblick meiner drei Expeditionsspangen ganz aus dem Häuschen. Man sieht auf der ganzen Erde nicht sehr viele Prospektoren, nicht einmal in New York. Sie sind alle ganz gierig darauf, dass ich ihnen erzähle, wie es draußen am Orion-Nebel oder bei der Kleinen Magellanschen Wolke wirklich ist. (Natürlich bin ich dort nie gewesen. Über den einzig wirklich interessanten Ort, an dem ich gewesen bin, mag ich nicht reden.)

»Oder«, sagt Sigfrid, nachdem er die angemessene Zahl Mikrosekunden gewartet hat, ob ich reagiere, »wenn du wirklich glücklich bist, warum kommst du hierher?«

Ich hasse es, wenn er mir dieselben Fragen stellt, die ich mir stelle. Ich antworte nicht. Ich rutsche hin und her, bis ich auf der Plastikschaummatte wieder bequem sitze, weil ich schon sehe, dass es eine lange, lausige Sitzung werden wird. Wenn ich wüsste, warum ich Hilfe brauche, wozu würde ich Hilfe brauchen?

481 THEMA (O) = THEMA P (P) 13,320
,C, Ich glaube, du machst dir Sorgen 13,325
482 EXTERN; 66AA3 IF; 5B 13,330
ZU ++7Z3 13,335
EXTERN 01 R IF 7 13,340
ZU ++7Z4 13,345
,V, QUATSCH, Sigfrid, das sagst du 13,350
immer 13,355
EXTERN C99997AA! IF c8 13,360
ZU ++7Z4 IF? ZU 13,365
++7Z10 13,370
,V, Ich mache mir überhaupt keine 13,375
Sorgen 13,380
483 THEMA.QUATSCH. .IMMER. 13,385
SORGEN/NICHT. 13,390
484 ,C, Warum erzählst du mir nicht 13,395
davon? 13,400
485 THEMA (P) = THEMA (Q) BEHAGLICHKEIT 13,405
AUSLÖSEN 13,410
,C, Es ist doch nichts dabei, wenn 13,415
du sagst, wie du dich 13,420
fühlst 13,425
487 THEMA (Q) = THEMA (R) ZU 13,430
++ ZU ++ ZU 13,435
++ 3 13,440
489 ,V, Du bist eine Nervensäge, 13,445
Sigfrid, weißt du 13,450
das? 13,455
EXTERNE c1! IF! ZU ++ 7Z10 IF 13,460
++7Z10! ZU 13,465
++ 1ZU ++ 2ZU ++ 3 13,470
THEMA.SCHMERZ. 13,475

»Rob, du bist heute nicht sehr zugänglich«, sagt Sigfrid durch den kleinen Lautsprecher oben an der Matte. Manchmal benutzt er eine sehr lebensechte Puppe, die in einem Sessel sitzt, mit einem Bleistift auf ihren Notizblock klopft und mich von Zeit zu Zeit schief anlächelt. »Warum sagst du mir nicht einfach, was du denkst?«

»Ich denke an nichts Bestimmtes.«

»Lass deine Gedanken umherschweifen. Sag, was dir gerade einfällt, Bob.«

»Ich erinnere mich …«, sage ich und verstumme.

»Woran erinnerst du dich, Rob?«

»Gateway?«

»Das klingt eher nach einer Frage als nach einer Feststellung.«

»Mag sein. Ich kann nichts dafür. Das ist es, woran ich mich erinnere: Gateway.«

Ich habe allen Grund, mich an Gateway zu erinnern. Daher habe ich das Geld und die Spangen und andere Dinge. Ich denke zurück an den Tag, als ich Gateway verlassen habe. Das war, mal sehen, Tag 31 von Orbit 22. Es ist also, wenn man zurückzählt, ungefähr sechzehn Jahre und zwei Monate her, dass ich von dort weggegangen bin. Ich war gerade eine halbe Stunde aus dem Hospital entlassen und konnte es nicht erwarten, mein Gehalt zu kassieren, mein Schiff zu erwischen und das Weite zu suchen.

Sigfrid meint höflich: »Bitte, sag laut, was du denkst, Robbie.«

»Ich denke an Shikitei Bakin«, sage ich.

»Ja, du hast ihn erwähnt. Ich entsinne mich. Was ist mit ihm?«

Ich antworte nicht. Der alte beinlose Shicky Bakin hatte das Zimmer neben mir, aber ich will mit Sigfrid nicht darüber reden. Ich rutsche auf meiner Rundmatte herum, denke an Shicky und versuche zu weinen.

»Du wirkst verstört, Bob.«

Ich antworte auch darauf nicht. Shicky war fast die einzige Person, zu der ich auf Gateway Adieu sagte. Das war komisch. Der Rangunterschied war groß. Ich war Prospektor, Shicky war Müllmann. Sie bezahlten ihm genug, dass seine Lebenserhaltungs-Steuer gedeckt war, weil er Gelegenheitsarbeiten machte, und selbst auf Gateway brauchte man jemanden, der den Müll wegräumte. Aber früher oder später würde er zu alt und zu krank sein, um noch etwas zu taugen. Wenn er Glück hatte, würden sie ihn dann in den Weltraum hinausstoßen, und er würde sterben. Wenn er kein Glück hatte, würde man ihn vermutlich zu einem Planeten zurückschicken. Dort würde er auch bald sterben, aber zuerst würde er noch ein paar Wochen als hilfloser Krüppel erleben.

Jedenfalls war er mein Nachbar. Jeden Morgen stand er auf und saugte auch den letzten Quadratzentimeter seiner Kabine sorgfältig ab. Sie war schmutzig, weil die ganze Zeit so viel Abfall um Gateway schwebte, trotz der Bemühungen, ihn wegzuschaffen. Wenn er alles völlig sauber hatte, selbst an den Wurzeln der kleinen Büschelchen, die er pflanzte und formte, nahm er eine Hand voll Steinchen, Flaschenverschlüsse, Papierfetzen – oft dasselbe Zeug, das er gerade weggesaugt hatte – und ordnete es säuberlich wieder dort an, wo er eben sauber gemacht hatte. Komisch! Ich konnte den Unterschied nie erkennen, aber Klara sagte … Klara sagte, sie könne es.

»Bob, woran hast du eben gedacht?«, fragt Sigfrid.

Ich rolle mich zusammen wie ein Fötus und murmle etwas.

»Ich habe nicht verstehen können, was du eben gesagt hast, Robbie.«

Ich schweige. Ich frage mich, was aus Shicky geworden ist. Wahrscheinlich gestorben. Plötzlich bin ich sehr traurig darüber, dass Shicky so fern von Nagoya gestorben ist, und ich wünsche mir wieder, weinen zu können. Aber ich kann nicht. Ich winde und krümme mich. Ich werfe mich auf der Schaummatte hin und her, bis die Haltegurte quietschen. Nichts hilft. Schmerz und Scham wollen nicht an die Oberfläche. Ich freue mich darüber, dass ich mich so anstrenge, die Gefühle herauszulassen, aber ich muss zugeben, dass ich keinen Erfolg habe, und das öde Gespräch geht weiter.

Sigfrid sagt: »Bob, du zögerst lange mit deiner Antwort. Glaubst du, du verschweigst etwas? Hältst etwas zurück?«

Ich erwidere tugendhaft: »Was soll das für eine Frage sein? Woher soll ich das wissen, wenn es wirklich so wäre?« Ich mache eine Pause, um das Innere meines Gehirns abzusuchen, in allen Winkeln auf Schlösser achtend, die ich für Sigfrid öffnen könnte. Ich sehe keine. Ich sage vernünftig: »Ich glaube nicht, dass es genau das ist. Ich habe nicht das Gefühl, als würde ich etwas blockieren. Es ist mehr, als gäbe es so viele Dinge, die ich sagen wollte, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.«

»Nimm irgendetwas, Rob. Sprich einfach das Erste aus, das dir in den Sinn kommt.«

Das finde ich nun dumm. Woher weiß ich, was das Erste ist, wenn alles durcheinander brodelt? Mein Vater? Meine Mutter? Sylvia? Klara? Der arme Shicky, im Flug bemüht, sich ohne Beine im Gleichgewicht zu halten, herumflatternd wie eine Rauchschwalbe auf Insektenjagd, während er die Spinnweb-Fetzen aus der Luft von Gateway holt?

Ich greife hinab in mein Gemüt, suche die Stellen, von denen ich weiß, dass sie wehtun, weil sie schon früher wehgetan haben. So, wie mir zumute war, als ich sieben war, vor den anderen Kindern auf der Rock-Park-Promenade hin- und herstolzierend, damit jemand auf mich achtete? So, wie es damals war, als wir aus dem Realraum gekommen waren und wussten, dass wir in der Falle saßen, während der Geisterstern unter uns wie das Lächeln einer Cheshire-Katze aus dem Nichts heraufkam? Oh, ich habe hundert solcher Erinnerungen, und sie tun alle weh. Das heißt, sie können wehtun. Sie sind Schmerz. Im Index meines Gedächtnisses sind sie deutlich mit ›schmerzvoll‹ etikettiert. Ich weiß, wo ich sie finden kann, und ich weiß, wie es ist, sie an die Oberfläche kommen zu lassen.

Aber sie tun nicht weh, bis ich sie herauslasse. »Ich warte, Bob«, sagt Sigfrid.

»Ich denke nach«, antworte ich. Während ich so daliege, fällt mir ein, dass ich zu spät zu meiner Gitarrenstunde komme. Das erinnert mich an etwas, und ich betrachte die Finger meiner linken Hand, um festzustellen, ob die Fingernägel nicht zu lang geworden sind; ich wünsche mir, dass die Schwielen härter und dicker wären. Ich habe die Gitarre nicht sehr gut spielen gelernt, aber die meisten Leute sind nicht so kritisch, und es macht mir Vergnügen. Aber man muss immer üben und sich erinnern. Mal sehen, denke ich, wie war gleich der Übergang von D-Dur zu C7?

»Bob«, sagt Sigfrid, »das war bislang keine sehr lohnende Sitzung. Es bleiben nur noch zehn oder fünfzehn Minuten. Warum sagst du nicht einfach das Erste, was dir einfällt … jetzt

Ich weise das Erste zurück und sage das Zweite. »Das Erste, was mir einfällt, ist, wie meine Mutter geweint hat, als mein Vater ums Leben gekommen war.«

»Ich glaube nicht, dass das wirklich das Erste war, Bob. Lass mich raten. Hing das Erste mit Klara zusammen?«

Meine Brust verkrampft sich. Mein Atem stockt. Schlagartig taucht Klara vor mir auf, wie sie vor sechzehn Jahre aussah und keine Stunde älter … Ich sage: »Um ehrlich zu sein, Sigfrid, ich glaube, ich will über meine Mutter sprechen.« Ich erlaube mir ein höfliches, beschwichtigendes Glucksen.

Sigfrid seufzt nie resigniert, aber er kann auf eine Weise schweigen, die sich genauso anhört.

»Weißt du«, fahre ich fort, »sie wollte wieder heiraten, nachdem mein Vater gestorben war. Nicht gleich. Ich meine nicht, dass sie über seinen Tod froh war oder dergleichen. Nein, sie liebte ihn wirklich. Aber trotzdem war sie eine gesunde, junge Frau – nun ja, ziemlich jung. Mal sehen, sie wird wohl etwa dreiunddreißig gewesen sein. Und wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie sicher wieder geheiratet. Ich habe deswegen Schuldgefühle. Ich hielt sie davon ab. Ich ging zu ihr und sagte: ›Ma, du brauchst keinen anderen Mann. Ich will der Mann in der Familie sein. Ich werde für dich sorgen.‹ Aber das konnte ich natürlich nicht. Ich war erst fünf Jahre alt.«

»Ich glaube, du warst neun, Robbie.«

»Wirklich? Lass mich nachdenken. O je, Sigfrid, ich glaube, du hast Recht.« Und dann versuche ich, einen Klumpen Spucke zu schlucken, der sich auf irgendeine Weise schlagartig in meiner Kehle gebildet hat, und ich verschlucke mich und huste.

»Sag es, Rob!«, meint Sigfrid drängend. »Was willst du sagen?«

»Hol dich der Teufel, Sigfrid!«

»Los, Rob, sag es!«

»Was soll ich sagen? Mensch, Sigfrid, du treibst mich die Wand hoch! Dieser Dreck tut uns beiden nicht gut!«

»Sag, was dich bedrückt, Bob, bitte.«

»Halt dein blödes Blechmaul!« Der ganze sorgfältig zugedeckte Schmerz quillt hervor, und ich kann es nicht aushalten, werde nicht fertig damit.

»Ich schlage vor, Bob, dass du versuchst …«

Ich zerre an den Gurten, reiße Fetzen aus dem Schaumgummi und schreie: »Halt’s Maul, du! Ich will nichts hören. Ich werde nicht fertig damit, begreifst du denn nicht? Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann nicht!«

Sigfrid wartet geduldig, bis ich zu weinen aufhöre, was ziemlich plötzlich geschieht. Und dann, bevor er etwas sagen kann, erkläre ich müde: »Ach, zum Teufel, Sigfrid, das Ganze bringt uns nicht weiter. Ich glaube, wir sollten es aufgeben. Es gibt sicher andere Leute, die deine Dienste dringender brauchen als ich.«

»Was das betrifft, Rob«, antwortet er, »bin ich durchaus fähig, allen Ansprüchen, die man zeitlich an mich stellt, gerecht zu werden.«

Ich trockne meine Tränen an den Papierhandtüchern, die er neben die Matte gelegt hat, und antworte nicht.

»Tatsächlich bin ich nicht ausgelastet«, fährt er fort. »Aber ob wir diese Sitzungen fortsetzen oder nicht, musst du entscheiden.«

»Hast du im Erholungsraum etwas zu trinken?«, frage ich.

»Nicht in dem Sinn, wie du es meinst, nein. In der obersten Etage dieses Gebäudes gibt es aber, wie ich höre, eine sehr gemütliche Bar.«

»Tja«, sage ich, »ich frage mich nur, was ich hier mache.«

Und fünfzehn Minuten später, nachdem ich meinen Termin für die nächste Woche bestätigt habe, trinke ich in Sigfrids Erholungskabine eine Tasse Tee. Ich lausche, um zu hören, ob sein nächster Patient schon anfängt zu schreien, aber ich kann nichts hören.

So wasche ich mir das Gesicht, rücke den Schal zurecht und streiche die Haartolle zurück. Ich gehe hinauf zur Bar, um schnell einen Schluck zu trinken. Der Oberkellner, ein Mensch, kennt mich und gibt mir einen Platz mit Blick nach Süden zur Unteren Bucht am Rand der Kuppel. Er sieht zu einem hoch gewachsenen Mädchen mit kupferfarbener Haut und grünen Augen hinüber, die allein sitzt, aber ich schüttle den Kopf. Ich trinke ein einziges Glas, bewundere die Beine des kupferhäutigen Mädchens und halte meinen Termin für meine Gitarrenlektion ein, wobei ich in erster Linie daran denke, wohin ich zum Abendessen gehen soll.

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Mein ganzes Leben lang, so weit ich zurückdenken kann, wollte ich Prospektor werden. Ich kann nicht mehr als sechs gewesen sein, als mein Vater und meine Mutter mich in Cheyenne zu einem Jahrmarkt mitnahmen. Hot Dogs und Puffsoja, Wasserstoffballons aus buntem Papier, ein Zirkus mit Hunden und Pferden, Glücksrädern, Spielen, Karussells. Und es gab ein Druckzelt mit undurchsichtigen Wänden, ein Dollar Eintritt, und im Inneren hatte jemand Importe aus den Hitschi-Tunnels auf der Venus aufgebaut. Gebetsfächer und Feuerperlen, echte Hitschi-Metallspiegel, die man für fünfundzwanzig Dollar das Stück kaufen konnte. Papa sagte, sie seien nicht echt, aber für mich waren sie echt. Wir konnten uns fünfundzwanzig Dollar für das Stück nicht leisten. Und wenn man es genau nahm, brauchte ich eigentlich auch keinen Spiegel. Sommersprossiges Gesicht, vorstehende Zähne, Haare, die ich glatt zurückkämmte und festband. Man hatte Gateway gerade erst entdeckt. Als wir an diesem Abend mit dem Flugbus heimfuhren, hörte ich meinen Vater davon sprechen. Sie dachten wohl, ich schliefe, aber der sehnsüchtige Ton in seiner Stimme hielt mich wach.

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Wären meine Mutter und ich nicht gewesen, er hätte vielleicht einen Weg gefunden, aber er bekam nie Gelegenheit dazu. Ein Jahr später war er tot. Alles, was ich von ihm erbte, war sein Posten – sobald ich groß genug war, ihn einzunehmen.

Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal in den Nahrungsgruben gearbeitet haben, aber Sie haben sicher schon davon gehört. Viel Freude gibt es da nicht. Ich fing, halbtags und mit halbem Lohn, als Zwölfjähriger an. Bis ich sechzehn war, hatte ich die Einstufung meines Vaters: Beschickungsbohrer  – gute Bezahlung, harte Arbeit.

Aber was kann man mit dem Geld anfangen? Für medizinischen Vollschutz reicht es nicht. Es genügt nicht einmal, um damit aus den Gruben herauszukommen, was schon eine Art lokaler Erfolgsstory wäre. Man arbeitet sechs Stunden innen und zehn Stunden außen. Acht Stunden Schlaf, dann fängt man wieder an, und die Kleidung stinkt unaufhörlich nach Schiefer. Man kann nicht rauchen, außer in abgedichteten Räumen. Der Öldunst lagert sich überall ab. Die Mädchen sind so stinkig und glitschig und übermüdet wie man selbst.

So taten wir alle das Gleiche, wir arbeiteten und jagten uns gegenseitig die Frauen ab und spielten in der Lotterie. Und wir tranken in großen Mengen den billigen, starken Schnaps, der keine zehn Meilen entfernt gebrannt wurde. Manchmal hieß er Scotch, manchmal Wodka oder Bourbon, aber er stammte immer von denselben Schlammdestillier-Säulen. Ich unterschied mich nicht von den anderen … außer dass ich einmal in der Lotterie gewann. Und das war mein Freifahrtschein.

Bis dahin lebte ich einfach dahin.

Meine Mutter war auch Grubenarbeiterin. Nachdem mein Vater bei dem Schachtbrand umgekommen war, zog sie mich mithilfe der Firmenkrippe auf. Wir kamen gut miteinander aus, bis zu meiner Psychosenzeit. Ich war damals sechsundzwanzig. Ich hatte Probleme mit meinem Mädchen, dann kam ich eine Weile morgens nicht mehr aus dem Bett. Man brachte mich unter. Ich war fast ein Jahr aus dem Verkehr gezogen, und als man mich aus dem Psychotank wieder herausließ, war meine Mutter gestorben.

Man muss ehrlich sein: Das war meine Schuld. Ich meine damit nicht, dass ich das geplant hatte; ich meine, sie wäre am Leben geblieben, wenn sie nicht meinetwegen solche Sorgen gehabt hätte. Es war nicht genug Geld da, um die Behandlungskosten für uns beide zu bezahlen. Ich brauchte Psychotherapie. Sie brauchte eine neue Lunge. Sie bekam sie nicht, also starb sie.

Es war mir verhasst, in unserer Wohnung zu bleiben, nachdem sie tot war, aber entweder das oder Junggesellenunterkünfte. Der Gedanke, mit vielen Männern so eng zusammenzuleben, gefiel mir nicht. Natürlich hätte ich heiraten können. Ich tat es nicht – Sylvia, das Mädchen, mit dem ich die Probleme gehabt hatte, war inzwischen längst fort –, aber es lag nicht daran, dass ich etwas gegen die Ehe gehabt hätte. Vielleicht möchte man das meinen, wenn man an meine psychiatrische Vorgeschichte denkt und noch berücksichtigt, dass ich mit meiner Mutter zusammenlebte, solange sie am Leben war. Aber es ist nicht wahr. Ich mochte Mädchen sehr. Ich wäre sehr glücklich gewesen, eines heiraten und ein Kind aufziehen zu können.

Aber nicht in den Gruben. Ich wollte einen Sohn nicht so zurücklassen, wie mein Vater mich zurückgelassen hatte.

Beschickungsbohren ist eine verdammt harte Arbeit. Jetzt verwendet man Dampfbrenner mit Hitschi-Heizspulen, und der Schiefer splittert ganz gefügig, als hätte man Wachswürfel vor sich. Aber damals bohrten und sprengten wir. Man fuhr zu Beginn der Schicht mit dem Schnelllift den Schacht hinunter. Die Schachtwand war glitschig und stank, zwanzig Zentimeter von deiner Schulter entfernt und relativ zu dir mit sechzig Stundenkilometern unterwegs; ich habe Grubenarbeiter, die etwas getrunken hatten, stolpern und die Hand ausstrecken sehen, um sich abzustützen, worauf sie einen Stumpf zurückzogen. Dann steigt man aus dem Eimer und rutscht und stolpert einen Kilometer weit oder länger über die Laufbretter, bis man zum Flöz kommt. Man bohrt seinen Schacht. Man schiebt die Ladung hinein. Dann verdrückt man sich in einen toten Schacht, während sie sprengen, und hofft, dass man alles richtig berechnet hat und nicht die ganze stinkende, ölige Masse herunterbricht. (Wenn du lebendig begraben wirst, kannst du im losen Schiefer bis zu einer Woche überleben. Das ist vorgekommen. Wenn man nach dem dritten Tag erst gerettet wird, taugt man meistens für nichts mehr.) Wenn dann alles gut gegangen ist, weichst du den Verladern aus, die auf ihren Raupen daherkommen, während du zum nächsten Flöz gehst.

Die Masken, heißt es, entfernen das meiste an Kohlenwasserstoffen und halten den Gesteinsstaub fern. Dem Gestank können sie nichts anhaben. Ich bin auch nicht sicher, dass alle Kohlenwasserstoffe wegfiltriert werden. Meine Mutter ist nicht die Einzige in den Gruben, die eine neue Lunge brauchte – und auch nicht die Einzige, die sie nicht bezahlen konnte.

Und dann, wenn deine Schicht vorbei ist, wohin gehst du dann?

Du gehst in eine Bar. Du gehst mit einem Mädchen in ein Zimmer. Du gehst in einen Erholungsraum und spielst Karten. Du siehst fern.

Ins Freie kommst du nicht viel. Es gibt keinen Grund. Man hat ein paar kleine Parks, sorgsam gepflegt, bepflanzt, wieder bepflanzt; Rock Park hat sogar Hecken und einen Rasen. Ich wette, Sie haben noch nie einen Rasen gesehen, der jede Woche gewaschen, (mit Reinigungsmitteln) geschrubbt und geformt werden muss, weil er sonst eingeht. Die Parks überlassen wir deshalb meistens den Kindern.

Abgesehen von den Parks gibt es nur die Landschaft von Wyoming, und so weit man blicken kann, sieht sie aus wie die Oberfläche des Mondes. Nirgends Grün. Nichts am Leben. Keine Vögel, keine Eichhörnchen, keine Haustiere. Ein paar träge Bäche, die aus irgendeinem Grund unter der Ölschicht immer die Farbe eines grellen Ockerrot haben. Dabei sagt man uns, wir hätten noch Glück gehabt, weil Wyoming nur Untertagebau kannte. In Colorado, wo es Tagebau gab, war es noch schlimmer.

Mir fiel es immer schwer, das zu glauben, und daran hat sich nichts geändert, aber ich bin nie hingegangen, um selbst nachzusehen.

Und abgesehen von allem anderem sind da der Geruch und der Lärm der Arbeit. Und Sonnenuntergänge, orangebräunlich im Dunst. Der ständige Geruch. Den ganzen Tag und die ganze Nacht das Brüllen der Extraktoröfen, die den Mergel erhitzen und mahlen, um das Kerogen herauszupressen, und das Rattern der Langstrecken-Förderbänder, die den ausgelaugten Schiefer wegtransportieren, um ihn irgendwo aufzuhäufen.

Man muss nämlich das Gestein erhitzen, um das Öl herauszuholen. Wenn man es erhitzt, dehnt es sich aus wie Puffreis. Man weiß also nicht, wohin damit. Man kann es nicht wieder in den Schacht quetschen, aus dem man es herausgeholt hat; es ist zu viel davon da. Wenn man einen Berg Schiefer ausgräbt und das Öl entzieht, reicht der ausgelaugte Schiefer für zwei Berge. Und das macht man auch damit. Man baut neue Berge.

Die Abwärme der Extraktoren wärmt die Kultivierungsschuppen, und das Öl lässt seinen Schlamm wachsen, während es durch den Schuppen rinnt, und die Schlammschöpfer schöpfen es ab und trocknen und pressen es … und wir essen es, oder etwas davon, am nächsten Morgen zum Frühstück.

Komisch. Früher einmal gluckerte das Öl direkt aus dem Boden! Und alles, was die Leute damit anfingen, war, es in ihre Automobile zu schütten und zu verbrennen.

In allen Fernsehsendungen gibt es aufmunternde Werbespots, die uns mitteilen, wie wichtig unsere Arbeit ist, dass die Ernährung der ganzen Welt von uns abhängt. Alles wahr. Sie brauchen uns nicht dauernd daran zu erinnern. Wenn wir nicht täten, was wir tun, gäbe es Hunger in Texas und Kwashiorkor unter den Säuglingen in Oregon. Das wissen wir alle. Wir liefern für den Welt-Speiseplan fünf Billionen Kalorien am Tag, die Hälfte der Eiweißration für etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung. Alles aus den Hefen und Bakterien, die wir, zusammen mit den Gruben von Utah und Colorado, aus dem Schieferöl von Wyoming züchten. Die Welt braucht diese Nahrung. Aber bis jetzt hat uns das fast ganz Wyoming, die Hälfte von Appalachia, einen großen Teil des Teersandgebietes von Athabasca gekostet … und was machen wir mit all den Menschen, wenn der letzte Tropfen Kohlenwasserstoff in Hefe verwandelt ist?

Nicht mein Problem, aber ich denke trotzdem daran.

Es hörte auf, mein Problem zu sein, als ich am Tag nach Weihnachten, in dem Jahr, als ich sechsundzwanzig wurde, in der Lotterie gewann.

Der Gewinn betrug zweihundertfünfzigtausend Dollar. Genug, um ein Jahr lang wie ein König zu leben. Genug, um zu heiraten und eine Familie zu versorgen, vorausgesetzt, wir arbeiteten beide und leisteten uns nicht zu viel.

Oder genug für einen einfachen Flug nach Gateway.

Ich ging mit dem Lotterieschein zum Reisebüro und tauschte ihn gegen eine Fahrkarte. Sie waren froh, mich zu sehen; viel Geschäft machten sie dort nicht, vor allem nicht auf diesem Gebiet. Als Wechselgeld blieben mir ungefähr zehntausend Dollar. Gezählt habe ich es nicht. Ich kaufte Getränke für meine ganze Schicht, soweit es reichte. Mit den fünfzig Leuten meiner Schicht und all den Freunden und Nassauern, die sich einfanden, reichte es ungefähr vierundzwanzig Stunden. Dann wankte ich durch einen Wyoming-Schneesturm zurück zum Reisebüro. Fünf Monate später näherte ich mich dem Asteroiden und starrte durch die Bullaugen auf den brasilianischen Raumkreuzer, der uns rief. Ich war endlich auf dem Weg, Prospektor zu werden.

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Sigfrid schließt nie ein Thema ab. Er sagt nie: ›Tja, Bob, ich glaube, darüber haben wir genug gesprochen.‹ Aber manchmal, wenn ich lange Zeit auf der Matte gelegen habe, ohne viel zu reagieren, Witze reißend oder durch die Nase summend, sagt er nach einer Weile: »Ich glaube, wir könnten zu einem anderen Gebiet zurückkehren, Bob. Vor einiger Zeit hast du etwas gesagt, dem wir nachgehen könnten. Kannst du dich noch erinnern, als du das letzte Mal …«

»Als ich das letzte Mal mit Klara gesprochen habe?«

»Ja, Bob.«

»Sigfrid, ich weiß immer, was du sagen willst.«

»Das macht nichts, Bob. Wie ist es? Willst du darüber reden, was du damals empfunden hast?«

»Warum nicht?« Ich säubere den Nagel meines rechten Mittelfingers, indem ich ihn zwischen den beiden unteren Vorderzähnen hindurchziehe. Ich betrachte ihn und sage: »Es ist mir klar, dass es eine wichtige Zeit war. Vielleicht der schlimmste Augenblick meines Lebens. Sogar noch schlimmer als das mit Sylvia, oder der Augenblick, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr.«

»Soll das heißen, dass du lieber von diesen Dingen sprechen willst, Rob?«

»Durchaus nicht. Wenn du sagst, ich soll von Klara sprechen, sprechen wir von Klara.«

Und ich lege mich auf der Schaummatte zurecht und denke eine Weile nach. Transzendentale Einsicht hat mich sehr interessiert, und manchmal, wenn ich meinem Verstand ein Problem stelle und einfach damit anfange, unablässig mein Mantra herunterzubeten, tauche ich mit der Lösung des Problems wieder auf: Verkauf die Fischfarm-Aktien in Baja und kauf an der Warenbörse Installationsartikel. Das hat sich wirklich ausgezahlt. Oder: Fahr mit Rachel nach Merida, zum Wasserskifahren in der Bucht von Campeche. Damit bekam ich sie erstmals in mein Bett, nachdem ich alles andere vergeblich versucht hatte.

Und dann sagt Sigfrid: »Du reagierst nicht, Rob.«

»Ich denke über das nach, was du gesagt hast.«

»Bitte, denk nicht darüber nach, Rob. Du sollst reden. Sag mir jetzt, was du für Klara empfindest.«

Ich versuche, ehrlich darüber nachzudenken. Sigfrid lässt mich dazu nicht in TE gehen, und so suche ich in meinem Gemüt nach unterdrückten Gefühlen.

»Tja, nicht viel«, sage ich. »Jedenfalls nicht viel an der Oberfläche.«

»Erinnerst du dich an das damalige Gefühl, Bob?«

»Natürlich.«

»Versuch zu empfinden, was du damals empfunden hast, Bob.«

»Gut.« Gehorsam rekonstruiere ich in meinem Inneren die Situation. Da bin ich und spreche über Funk mit Klara. Dane schreit etwas in der Landekapsel. Wir sind alle halb verrückt vor Angst. Unter uns öffnet sich der blaue Nebel, und ich sehe zum ersten Mal den verschwommenen Skelettstern. Das Dreier-Schiff – nein, es war ein Fünfer … Jedenfalls stinkt es nach Erbrochenem und Schweiß. Mein Körper schmerzt.

Ich kann mich genau erinnern, obwohl ich lügen würde, wenn ich sagen wollte, ich ließe meine Gefühle zu.

Ich sage leichthin, halb glucksend: »Sigfrid, da sind Schmerz und Schuld und Elend von einer Heftigkeit, mit der ich einfach nicht fertig werde.« Manchmal versuche ich das bei ihm und spreche eine Art schmerzhafter Wahrheit in dem Tonfall aus, mit dem man bei einer Cocktailparty einen Kellner bittet, noch einen Rumpunsch zu bringen. Das mache ich, wenn ich seinen Angriff ablenken will. Ich glaube nicht, dass es wirkt. Sigfrid hat eine Menge Hitschi-Schaltungen in sich. Er ist viel besser, als es die Maschinen im Institut waren, zur Zeit meiner Psychose. Er misst fortwährend alle meine physischen Lebensäußerungen: Hautleitfähigkeit, Puls, Betawellenaktivität und so weiter. Er erhält Anzeigen von den Gurten, die mich auf der Matte festhalten, registriert, wie heftig ich mich herumwerfe. Er überwacht mein Stimmvolumen und sucht das Stimmmuster nach Untertönen ab. Und er versteht auch, was die Worte bedeuten. Sigfrid ist außerordentlich schlau, wenn man bedenkt, wie dumm er ist.

Manchmal ist es sehr schwer, ihn zu übertölpeln. Am Ende einer Sitzung bin ich völlig ausgelaugt und habe das Gefühl, dass ich, wäre ich nur noch eine Minute bei ihm geblieben, unmittelbar in diesen Schmerz hinabgestürzt wäre und er mich vernichtet hätte.

Oder geheilt. Vielleicht ist das dasselbe.

322 ,V, Ich weiß nicht, warum ich immer 17,095
wieder zu dir komme, 17,100
Sigfrid 17,105
323 THEMA.WARUM. 17,110
324 ,C, Ich erinnere dich daran, Robby, 17,115
dass du schon drei Mägen 17,120
und, Augenblick, 17,125
fast fünf Meter Darm 17,130
verbraucht hast. 17,135
325 ,C, Geschwüre, Krebs. 17,140
326 ,C, An dir scheint 17,145
etwas zu nagen, 17,150
Bob. 17,155
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Da war also Gateway und wurde hinter den Bullaugen des von der Erde gekommenen Schiffes immer größer und größer.

Ein Asteroid. Oder vielleicht der Kern eines Kometen. Durchmesser etwa zehn Kilometer. Birnenförmig. Von außen sieht er aus wie ein verkohlter Klumpen mit blauen Glitzerstellen. Im Inneren ist er das Tor zum Universum.

Sheri Loffat lehnte an meiner Schulter, während der Rest unseres Haufens von Möchtegern-Prospektoren sich hinter uns drängte und die Augen aufriss.

»Mensch, Bob! Schau dir die Kreuzer an!«

»Wenn ihnen irgendetwas nicht passt, sprengen sie uns«, sagte jemand hinter uns.

»Es stimmt ja alles bei uns«, meinte Sheri, gab ihrer Bemerkung aber einen fragenden Unterton. Die Kreuzer sahen wirklich bedrohlich aus, eifersüchtig den Asteroiden umkreisend, darauf achtend, dass niemand, der hierher kam, die Geheimnisse stiehlt, die mehr wert sind, als jemals einer bezahlen könnte.

Wir klammerten uns an die Bullaugenstützen, um sie anzugaffen. Narretei war das. Wir hätten getötet werden können. Es sprach zwar nicht viel dafür, dass die Kursangleichung unseres Schiffs an Gateway oder der brasilianische Kreuzer eine größere Menge an Delta-V erfordern würde, aber es bedurfte nur einer schnellen Kurskorrektur, um uns zu zerfetzen. Und es bestand stets die Möglichkeit, dass unser Schiff eine Vierteldrehung machen und wir plötzlich in die nackte, nahe Sonne starren würden. Das hieß Blindheit für immer, aus dieser Nähe. Aber wir wollten sehen.

Der brasilianische Kreuzer ersparte sich die Mühe des Andockens. Wir sahen Blitze hin und her zucken und wussten, dass sie unser Schiffsmanifest mit Laserstrahlen prüften. Das war normal. Ich sagte, die Kreuzer hätten Ausschau nach Dieben gehalten, aber in Wirklichkeit sollten sie sich eher gegenseitig bewachen, als sich um andere Gedanken machen, uns eingeschlossen. Die Russen verdächtigten die Chinesen, die Chinesen die Russen, die Brasilianer die Venusianer. Alle verdächtigten die Amerikaner.

So beobachteten die vier anderen Kreuzer gewiss die Brasilianer schärfer als uns. Aber wir alle wussten, wenn unsere verschlüsselten Geleitscheine nicht dem entsprochen hätten, was die fünf verschiedenen Konsulate am Abflughafen auf der Erde übermittelt hatten, wäre der nächste Schritt kein Einspruch gewesen, sondern ein Torpedo.

Es ist komisch. Ich konnte mir diesen Torpedo vorstellen. Ich konnte mir den Soldaten mit dem kalten Blick vorstellen, der zielen und feuern würde, und wie unser Schiff als eine Fackel aus orangerotem Licht aufflammen und wir alle in Atome zerlegt würden … Nur war der Torpedoschütze auf diesem Schiff damals ein Waffenmaat namens Francy Hereira, da bin ich ziemlich sicher. Wir wurden später recht gute Freunde. Er war nicht das, was man ernsthaft einen eiskalten Killer nennen würde. Ich weinte nach meiner Rückkehr von meinem letzten Flug in meinem Hospitalzimmer den ganzen Tag in seinen Armen, während er mich eigentlich nach Schmuggelgut durchsuchen sollte. Und Francy weinte mit.

Der brasilianische Kreuzer flog davon, und wir drückten uns an allen erreichbaren Bullaugen die Nasen platt, dann zogen wir uns ans Fenster mit den Griffen zurück, als unser Schiff sich Gateway näherte.

»Sieht aus wie ein Pockenfall«, sagte jemand aus der Gruppe.

So war es, und manche der Pockennarben waren offen. Das waren die Docks für die Schiffe, die zu einer Mission unterwegs waren. Manche würden für immer offen bleiben, weil die Schiffe nicht zurückkommen würden. Aber die meisten der Pockennarben waren überwölbt von Buckeln, die aussahen wie Pilzkappen.

Diese Kappen waren die Schiffe selbst, das, worum es bei Gateway überhaupt ging.

Die Schiffe waren nicht leicht zu sehen. Gateway selbst übrigens auch nicht. Der Asteroid hatte schon von Haus aus eine niedrige Albedo und war nicht sehr groß: wie gesagt, in der Längsachse etwa zehn Kilometer, die Hälfte davon am Rotationsäquator. Aber man hätte ihn entdecken können. Nachdem diese erste Tunnelratte sie hingeführt hatte, begannen die Astronomen einander zu fragen, weshalb er nicht schon hundert Jahre früher bemerkt worden war. Jetzt, wo sie wissen, wo sie suchen müssen, finden sie ihn. Manchmal erreicht er, von der Erde aus gesehen, die Lichtstärke eines Sterns siebzehnter Größe. Das ist hell. Man möchte glauben, er wäre bei einem routinemäßigen Vermessungsprogramm entdeckt worden.

Die Sache ist die: Es gab nicht so viele routinemäßige Vermessungsprogramme in dieser Richtung, und Gateway war offenkundig nicht da, wo sie suchten, wenn sie suchten.

Die Stellarastronomie richtete ihr Augenmerk gewöhnlich von der Sonne fort. Die Solarastronomie blieb gewöhnlich in der Ekliptikebene – und Gateway hat eine rechtwinklige Umlaufbahn. So fiel es durch das Sieb.

Das Piezophon schnalzte und sagte: »Andocken in fünf Minuten. Zurück in die Kojen. Gurtnetz anlegen.«

Wir waren fast da.

Sheri Loffat streckte die Hand aus und hielt die meine unter dem Netz. Ich drückte die ihre. Wir waren nie miteinander im Bett gewesen – sie hatte auf dem Schiff gleich die Koje neben mir belegt, aber das, was zwischen uns ablief, war beinahe sexuell. So, als vereinten wir uns auf die großartigste, beste Weise, die es überhaupt geben konnte; doch es war nicht Sex, es war Gateway.

Als die Menschen auf der Venusoberfläche herumzustochern begannen, fanden sie die Hitschi-Grabungen.

Sie fanden keine Hitschi. Wer immer die Hitschi auch gewesen sein, wann immer sie auf der Venus gewesen sein mochten, sie waren fort. Nicht einmal eine Leiche in einem Grab war zurückgeblieben, damit man sie hätte ausgraben und sezieren können. Alles was es gab, waren die Tunnels, die Höhlen, die wenigen, armseligen kleinen Artefakte, die technologischen Wunderdinge, über die menschliche Wesen sich die Köpfe zerbrachen, bemüht, sie nachzubauen.

(Niederschrift von Fragen und Antworten, Vortrag Professor Hegramet.)

Frage: Wie sahen die Hitschi aus?

Professor Hegramet: Das weiß niemand. Wir haben nie etwas gefunden, was einer Fotografie oder einer Zeichnung gleicht, abgesehen von zwei oder drei Karten. Oder einem Buch.

F: Hatten sie nicht irgendein System der Wissensspeicherung, wie die Schrift?

Professor Hegramet: Nun, das muss natürlich der Fall gewesen sein. Aber worin es bestand, weiß ich nicht. Ich habe eine Vermutung … na, mehr ist es auch nicht.

F: Nämlich?

Professor Hegramet: Tja, denken Sie an unsere eigenen Speichermethoden, und wie sie in vor-technologischen Zeiten aufgenommen worden wären. Hätten wir, sagen wir, Euklid ein Buch gegeben, dann hätte er dahinter kommen können, was es war, selbst wenn er nicht verstanden hätte, was darin stand. Aber was wäre, wenn wir ihm eine Tonbandkassette gegeben hätten? Er hätte nicht gewusst, was er damit anfangen soll. Ich habe den Verdacht, nein, die Gewissheit, dass wir Hitschi-›Bücher‹ besitzen, die wir einfach nicht erkennen. Ein Barren Hitschi-Metall. Vielleicht die Q-Spirale in den Schiffen, deren Funktion wir nicht verstehen. Das ist kein neuer Gedanke. Sie sind alle nach Magnetkodes untersucht worden, nach Mikrorillen, nach chemischen Mustern – nichts hat sich ergeben. Aber wir besitzen vielleicht das Instrument nicht, das wir brauchen, um die Botschaften zu entschlüsseln.

F: Etwas begreife ich an den Hitschi einfach nicht. Warum haben sie diese ganzen Tunnels und Höhlen hinterlassen? Wohin sind sie gegangen?

Professor Hegramet: Junge Dame, da bin ich ebenso überfragt wie Sie.

Dann fand jemand eine Hitschi-Karte des Sonnensystems. Da waren Jupiter mit seinen Monden, Mars, die äußeren Planeten und das Paar Erde-Mond. Und die Venus, auf der schimmernden blauen Fläche der Hitschi-Metallkarte schwarz eingezeichnet. Und der Merkur, und noch etwas, das Einzige, was außer der Venus schwarz markiert war: ein Umlaufkörper, der seine Bahn diesseits des Perihels von Merkur und außerhalb der Umlaufbahn der Venus zog, im rechten Winkel zur Ekliptikebene, sodass er beiden nie wirklich nahe kam. Ein Körper, der von irdischen Astronomen nie entdeckt worden war. Mutmaßung: ein Asteroid oder ein Komet – der Unterschied war nur semantischer Art –, der für die Hitschi aus irgendeinem Grund von besonderer Bedeutung gewesen war.

Wahrscheinlich hätte früher oder später eine Teleskopsonde diesen Hinweis weiter verfolgt, aber das war nicht notwendig. Der berühmte Sylvester Macklen – der bis dahin nicht im Mindesten berühmt, sondern nur eine von vielen Tunnelratten auf der Venus war – fand ein Hitschi-Schiff, verfügte sich nach Gateway und starb dort. Es gelang ihm jedoch, den Leuten zu zeigen, dass er dort war, indem er sein Schiff auf geschickte Weise in die Luft sprengte. Man lenkte eine NASA-Sonde von der Chromosphäre der Sonne hinüber, und Gateway wurde vom Menschen erreicht und geöffnet.

Im Inneren befanden sich die Sterne.

Im Inneren, um weniger poetisch zu sein und mehr dem Wortsinn zu entsprechen, befanden sich fast tausend kleine Raumfahrzeuge, die so ähnlich aussahen wie dicke Pilze. Es gab sie in mehreren Formen und Größen. Die kleinsten trugen oben kleine Knöpfe, wie die Pilze, die man in den Tunnels von Wyoming züchtet, wenn der ganze Schiefer abgebaut ist, und dann im Supermarkt verkauft. Die größten waren spitz wie Morcheln. In den Kappen der Pilze befanden sich Unterkünfte und eine Energiequelle, die niemand verstand. Die Stiele waren chemische Raketen, wie die der alten Mondlandefahrzeuge der ersten Weltraumprogramme.

Niemand war je dahinter gekommen, wie die Kappen angetrieben wurden oder wie man sie lenken konnte.

Das war eines der Dinge, die uns alle nervös machten: die Tatsache, dass wir uns auf etwas einlassen würden, das niemand verstand. Man hatte buchstäblich keine Kontrolle, sobald man mit einem Hitschi-Schiff fortflog. Der Kurs war in ihr Lenksystem einprogrammiert, auf eine Weise, die niemand zu begreifen vermochte; man konnte sich einen Kurs aussuchen, aber dann war auch schon Schluss – man wusste nicht, wohin er einen führen würde, wenn man ihn sich ausgesucht hatte, so wenig, wie man weiß, was in einer Wundertüte steckt, bevor man sie aufmacht.

Aber sie funktionierten. Sie funktionierten immer noch, nach, wie es heißt, vielleicht einer halben Million Jahren.

Der Erste, der den Mut hatte, in ein solches Schiff zu steigen und damit loszufliegen, hatte Erfolg. Das Schiff erhob sich aus seinem Krater auf der Oberfläche des Asteroiden. Es wurde verschwommen und grell, dann verschwand es.

Und drei Monate später war es wieder da, mit einem halb verhungerten, glotzenden Astronauten, der vor Triumph glühte. Er war bei einem anderen Stern gewesen! Er hatte einen großen, grauen Planeten mit wirbelnden, gelben Wolken umflogen, hatte die Steuerung zurückstellen können und war von den eingebauten Lenksystemen zu genau derselben Pockennarbe zurückgebracht worden.

Man schickte ein zweites Schiff hinaus, diesmal eines der großen, spitzen, morchelartigen, mit einer Besatzung von vier Mann und vielen Rationen und Instrumenten. Sie waren nur etwa fünfzig Tage unterwegs. In dieser Zeit hatten sie nicht nur ein anderes Sonnensystem erreicht, sondern sogar die Landekapsel benutzt, um zur Oberfläche eines Planeten hinunterzufliegen. Dort unten lebte nichts … aber früher einmal hatte dort etwas gelebt.

Sie fanden die Überreste. Nicht sehr viel. Ein paar demolierte Trümmer auf einem Berggipfel, welcher der allgemeinen Verwüstung des Planeten entgangen war. Aus dem radioaktiven Staub hatten sie einen Ziegel geholt, eine Keramikstange, ein halb zerschmolzenes Ding, das so aussah, als wäre es einmal eine Chromflöte gewesen.

Dann begann der Ansturm auf die Sterne … und wir nahmen daran teil.

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Sigfrid ist eine sehr schlaue Maschine, aber manchmal komme ich nicht dahinter, was bei ihm nicht stimmt. Er verlangt dauernd, dass ich ihm meine Träume schildere. Und dann erscheine ich, ganz erfüllt von einem Traum, bei dem ich überzeugt bin, dass er begeistert sein wird, ein Großer-roter-Apfel-für-den-Lehrer-Traum, voller Penissymbole und Fetischismus und Schuldverdrängung – und er enttäuscht mich. Er kommt auf irgendetwas ganz Verrücktes zu sprechen, das überhaupt nichts mit dem Traum zu tun hat. Ich erzähle ihm alles, und er sitzt da und rattert und surrt und summt eine Weile – das tut er zwar gar nicht, aber ich bilde es mir ein, während ich warte –, und schließlich sagt er: »Kommen wir auf etwas anderes zurück, Bob. Mich interessieren manche der Dinge, die du über diese Frau, Gelle-Klara Moynlin, gesagt hast.«

»Sigfrid, du jagst wieder Hirngespinsten nach«, antworte ich.

»Das glaube ich nicht, Bob.«

»Aber der Traum! Mein Gott, siehst du denn nicht, wie wichtig er ist? Was hältst du von der Mutterfigur darin?«

»Wie wäre es, wenn du zulassen würdest, dass ich meine Aufgabe erfülle, Bob?«

»Habe ich die Wahl?«, frage ich mürrisch.

»Du hast immer eine Wahl, Bob, aber ich möchte sehr gerne etwas zitieren, was du vor einiger Zeit gesagt hast.« Er verstummt, und ich höre meine eigene Stimme, die er aufgezeichnet hat: »Sigfrid, da sind Schmerz und Schuld und Elend von einer Heftigkeit, mit der ich einfach nicht fertig werde.«

Er wartet darauf, dass ich etwas sage. Nach einer kurzen Pause äußere ich mich.

»Hübsche Aufzeichnung«, räume ich ein, »aber ich möchte lieber darüber reden, wie meine Mutterfixierung in meinem Traum zum Tragen kommt.«

»Ich glaube, es wäre produktiver, der anderen Sache nachzugehen, Bob. Es besteht die Möglichkeit, dass sie in einer inneren Beziehung stehen.«

»Wirklich?« Ich bin genau in der richtigen Verfassung, diese theoretische Möglichkeit auf distanzierte und philosophische Weise zu besprechen, aber er kommt mir zuvor: »Dein letztes Gespräch mit Klara, Bob. Bitte, sag mir, was du dabei empfindest.«

»Das habe ich dir schon gesagt.« Mir macht das alles gar keinen Spaß, es ist reine Zeitverschwendung, und ich sorge dafür, dass er das durch den Tonfall meiner Stimme und die Gespanntheit meines Körpers unter den Gurten erfährt. »Es war noch schlimmer als bei meiner Mutter.«

»Ich weiß, dass du lieber über deine Mutter reden würdest, Rob, aber bitte, nicht gerade jetzt. Erzähl mir von damals mit Klara. Was empfindest du dabei in diesem Augenblick?«

Ich versuche, ehrlich darüber nachzudenken. So viel kann ich schließlich tun. Ich brauche es ja nicht unbedingt auszusprechen. Aber alles, was ich zu sagen vermag, ist: »Nicht viel.«

Nach kurzem Warten sagt er: »Ist das alles, ›nicht viel‹?«

»Das ist alles. Nicht viel.« Jedenfalls nicht viel an der Oberfläche. Ich erinnere mich aber, was ich damals gefühlt habe. Ich öffne diese Erinnerung ganz langsam, um zu sehen, wie es gewesen ist. Hinab in diesen blauen Nebel. Den trüben Geisterstern zum ersten Mal sehen. Mit Klara über Funk sprechen, während Dane mir ins Ohr flüstert … Ich schließe sie schnell wieder.

»Das tut alles sehr weh, Sigfrid«, sage ich im Gesprächston. Manchmal versuche ich, ihn hereinzulegen, indem ich emotionell belastete Dinge auf die Art und Weise sage, wie man eine Tasse Kaffee bestellt, aber ich glaube nicht, dass das klappt. Sigfrid achtet auf Volumen und Untertöne, aber auch auf Atmung und Pausen, nicht nur auf den Tonfall der Stimme. Er ist außerordentlich schlau, wenn man bedenkt, wie dumm er ist.