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Hildi Hari-Wäfler

Bibel, Blech und
Gottvertrauen

Ein Leben mit der Heilsarmee

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Zu diesem Buch

Ein weißes Blatt. Eine Unterschrift. Und eine ungewöhnliche Bitte an Gott: Schreibe du die Geschichte meines Lebens. So beginnt für Hildi Hari-Wäfler das große Abenteuer.

Und Gott schreibt eine ganz persönliche Geschichte, so richtig mit Uniform und Platzkonzert, Kellerkindern und Ferienlagern, großer Freude und größter Not. Als Offizierin der Heilsarmee lässt sich Hildi Hari-Wäfler mit ihrer Familie von Gott gebrauchen, um vor allem die Menschen am Rande unserer Gesellschaft zu lieben und ihnen zu dienen. Und das bis an die eigenen Grenzen.

Hildi Hari-Wäfler hat sich getraut, Gott zu vertrauen. Sie, die eigentlich Lehrerin werden wollte, wurde von Gott selbst in die Schule genommen. Heute weiß sie: Es hat sich gelohnt. Gott hat Wort gehalten. Davon erzählt dieses Buch, spannend und authentisch.

„Lebendig und lebensnah, ehrlich und engagiert, glaubwürdig und glaubensstark. Ein Buch, das Mut macht und Hoffnung weckt. Und das Beine macht.“

Aus dem Vorwort von Jürgen Werth, ERF

Die spannende Fortsetzung des erfolgreichen ersten Bandes mit den Lebenserinnerungen der Autorin: Felsig, karg und hoffnungsgrün – Eine Kindheit in Adelboden.

Über die Autorin

Hildi Hari-Wäfler kehrte nach 40 Jahren im Dienst der Heilsarmee mit ihrem Mann Peter in ihre Heimat Adelboden zurück. Sie hat sich getraut, Gott zu vertrauen. Und erfahren: Gott hält Wort.

Dieses Buch als E-Book:
ISBN 978-3-86256-726-3, Bestell-Nummer 590 029E

Dieses Buch in gedruckter Form:
ISBN 978-3-86256-029-5, Bestell-Nummer 590 029

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Bibelzitate, sofern nicht anders angegeben, sind der
Übersetzung Hoffnung für alle© entnommen. © 1986,
1996, 2003 by International Bible Society®. Verwendet
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Lektorat: Roland Nickel, Altdorf/Böblingen
Korrektorat: Lukas Baumann, Schwanau
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson
Umschlagbild (oben): © Elinag/ShutterStock.com®
Umschlagbild (unten) sowie Bilder im Innenteil: Privat
Satz: Neufeld Media, Weißenburg in Bayern

© 2012 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages

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Inhalt

Zu diesem Buch

Über die Autorin

Impressum

Vorwort von Jürgen Werth

Zu diesem Buch: Ich möchte gerne für Gott leben

Bern – ein neuer Weg

Ankunft in Bern

Schulbetrieb

Ein strammes Programm

Unterwegs im Mattenquartier

Gottes Fingerzeig

Aussendungsfeier

Neue Aufgabe am alten Ort

Verschnaufpause

Kurswechsel

Vertrautes St. Aubin

Dienst zu zweit

Die Hochzeit

Die erste gemeinsame Résidence

Das Dorf ohne Kirche

St. Gallen – ein Herz für Kinder

St. Gallen braucht Hilfe

Ein kleiner Hari

Ein gebratenes Wort?

Naturfreundehaus Brambrüesch

Was sollten wir glauben?

Zürich – Großstadtluft

Zürich, Industriequartier

Rotlicht

Die gesalzene Predigt

Eine trostlose Gegend?

Und immer wieder Ja

Reise mit Hindernissen

Andere Umstände

Heiligabend

Ein Fest für alle

Wenn Jesus frei macht

Weichen stellen in der Jugend

Erika

Kinderstunden im Keller

Biel – eine neue Zeit

Missglückte Flucht

Gottes Kasse stimmt

Gott hält Wache

Was für ein Wiedersehen!

Antwort auf ein Gebet

Wieder ein Notruf

Sprachlos

Schule

Ein verlorener Sohn

Kinderferienklub

Zürich – Familie unter Druck

Ein seltsames Männchen

Ruhe nach dem Sturm?

Ein erschreckender Augenblick

Oase in Adliswil

Bülach – zurück im Dienst

Eine Matratze für Philippe

Peters Nordwand

Philippe unter Druck

Resignation im Alter

Kein Durchblick

Licht am fernen Horizont

Gott hält, was er verspricht

Winterthur – Flüggezeit

Winterthurer Hochzeit

Rummel um die Heilsarmee

Wenn die Vergangenheit drückt

Eine Familientragödie

Mutig durch

Basel – alles etwas anders

Neue Herausforderungen

Mustermesse

Kollekte im Topf

Weihnachtsengel

Der Verlust

Bern – immer wieder gern

Der Kreis schließt sich

Es geht nicht mehr

Erste Sonnenstrahlen

Ein Liebesbrief

Schon alles erzählt?

Dank

Die Heilsarmee

Über den Verlag

Vorwort von Jürgen Werth

Als „Halbwilde“ aus den Adelbodner Bergen empfindet sie sich, als sie zur Offiziersschule der Heilsarmee nach Bern kommt. Ihr Zimmer heißt „Paradies“. Doch das findet Hildi Hari-Wäfler in der großen Stadt eher selten. Trotzdem weiß sie: Hier gehöre ich hin. Sie wird mit Aufgaben und Herausforderungen betraut, die sie sich kaum selber ausgesucht hätte. Denn eigentlich hatte sie Lehrerin werden wollen. Am Ende der Ausbildungszeit aber verspricht sie:

„Ich will Gott von ganzem Herzen lieben und ihm dienen, solange ich lebe.

Ich will Menschen für Christus gewinnen; ihr Heil soll mein Höchstes Gut sein.

Ich will mich um die Armen kümmern, die Hungrigen nähren, die Nackten kleiden, die Ungeliebten lieben und denen ein Freund sein, die keine Freunde haben.

Ich will den Lehren und Prinzipien der Heilsarmee gegenüber treu sein und mich mit Gottes Hilfe würdig erweisen als Offizier und Nachfolger Jesu Christi.“

Wie das gehen kann, illustriert dieses Buch. Lebendig und lebensnah, ehrlich und engagiert, glaubwürdig und glaubensstark. Ein Rückblick auf 40 Jahre in Uniform als „Soldatin Jesu Christi“. Im Einsatz vor allem für die, die am Rand unserer Gesellschaft leben.

Das Leben darf, was ein Schriftsteller niemals dürfte. Die Gesetze der Logik keck missachten. Mit den Hauptdarstellern wilde Purzelbäume schlagen. Zu Schlüssen führen, die die Anfänge niemals hergegeben haben. Das Leben darf verblüffen. Das Leben … und – Gott!

Hildi Hari-Wäflers Lebenserinnerungen sind eine Geschichte, die das Leben schrieb. Kein Schriftsteller. Die Gott schrieb. Eine immer wieder neu überraschende Geschichte. Eine Geschichte wie das Leben. Und wie Gott. Keine Geschichte von der Stange. Eine handgemachte Geschichte.

Es ist ein Buch, das Mut macht und Hoffnung weckt. Und das Beine macht. Nur wer sich aus der „Comfort-Zone“ des Lebens wagt, macht erstaunliche Erfahrungen mit dem Gott, dessen Kraft in schwachen Menschen zur Vollendung kommt.

Jürgen Werth

Zu diesem Buch:
Ich möchte gerne für Gott leben

Ich war noch fast ein Kind, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Da drängte sich mir die Frage auf: Soll ich meinen bisherigen Glauben abstreifen und die Weichen für mein Leben selber stellen?

Bis dahin hatte der Glaube an Jesus meine Kindheit geprägt. Ich durfte zu jeder Zeit und an jedem Ort zu Gott beten. Es gab nichts, das ich ihm nicht anvertrauen konnte, das zu gering oder zu groß für ihn gewesen wäre. Gott antwortete das eine Mal sofort, manchmal erst auf anhaltendes Bitten. Später in einzelnen Fällen auch erst nach Jahren. Meine Eltern und viele Leute in meiner Gemeinde, dem Heilsarmeekorps in Adelboden, waren mir lebendige Vorbilder dafür, was es heißt, Christ zu sein.

Doch ich war kein kleines Mädchen mehr. Sollte mir mein Glaube deshalb nichts mehr bedeuten? Sollte ich alles wie einen unnötigen Ballast über Bord werfen, nur weil ich älter geworden war? Oder war doch noch viel mehr an der ganzen Sache mit dem Glauben? In einem war ich mir sicher: Ich wollte nichts Halbherziges. Entweder sollte Gott mein Leben ganz gehören – oder gar nichts. Ich entschied mich fürs Erstere. Als 14-Jährige bat ich Jesus Christus bewusst, die oberste Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Es war, als würde ich unten auf ein leeres, weißes Blatt Papier meine Unterschrift setzen und damit bekräftigen: „Gott, ich vertraue dir. Ich gebe dir ein ganzes Ja, und du wirst oben den Inhalt meines Lebens hinschreiben. Du wirst bis in die Einzelheiten für mich sorgen. Die Verantwortung dafür übergebe ich dir. Ich weiß, dass du mich liebst und nur das Beste für mich im Sinn hast.“

Meine Überlegung war die: Wenn schon einzelne Wettkämpfer in ihren sportlichen Disziplinen alles einsetzen, um einen Siegeskranz zu gewinnen, sollte nicht auch ich für eine ewige, unvergängliche Sache, für die Sache Gottes, alles hergeben? Mir war klar, dass mich das tüchtig herausfordern würde, denn wir Menschen sind von Natur aus egoistische Wesen, und bis heute wird uns ständig in Erinnerung gerufen, dass wir doch etwas Besonderes sind und verdienen. Was ich aber anstrebte, schien mir wertvoller zu sein als mein eigenes Leben. Das Motto für mein Leben ging in die Richtung: „Für einen ew’gen Kranz, dies ird’sche Leben ganz.“

Eines spornte mich vor allem an: Ich wollte herausfinden, wie weit ich gehen durfte mit meinen Erwartungen an Gott, und wie weit er bereit sein würde, auf meine Wünsche einzugehen. In der Bibel, dem Wort Gottes an uns, würde ich dabei Antworten finden auf all die offenen Fragen. Ich stieß auf das Wort: „Ihr werdet alles bekommen, wenn ihr im festen Glauben darum bittet“ (Matthäus 21,22) und entschied mich, diese Aussage auf die Probe zu stellen. Ich könnte ja nicht behaupten, Gottes Wort sei unglaubwürdig und stimme nicht, wenn ich es nicht selbst ausprobiert hätte.

Ich habe herausgefunden, dass das „alles bekommen, worum wir bitten“ nur funktioniert, wenn wir in einer engen Verbindung zu Gott stehen. Sollte Gott uns denn beschenken, wenn wir versuchen, ohne ihn zu leben?

Dieses Buch ist die Fortsetzung des Buches „Felsig, karg und hoffnungsgrün“, das von meiner Kindheit in Adelboden berichtet. Hier erzähle ich von dem, was mein Mann Peter und ich während 40 Jahren vollzeitlichem Dienst in der Heilsarmee erlebt haben. In all diesen Jahren wagte ich es immer wieder, Gott herauszufordern – und er hielt diesen Proben stand. Meine Erfahrungen gipfelten nicht nur in Höhepunkten. Es gehörten auch Tiefschläge dazu. Wir sind und bleiben Menschen und Gott ist und bleibt Gott, der Allmächtige, Allwissende. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass auch unbeantwortete Fragen oder scheinbare Niederlagen in unserem und im Leben anderer nicht ein Versagen Gottes waren oder sind. Vielmehr ist er ein unendlich weitsichtigeres Wesen, als wir Menschen es sind. Er hat den besseren Überblick und ich bin davon überzeugt, dass Gott keine Fehler macht. Das schließt nicht aus, dass wir Menschen sehr wohl Fehler machen und falsche Entscheidungen treffen können. Deshalb dürfen wir, wenn wir uns – als Einzelne oder auch als ganze Nationen – bislang nicht um Gottes Willen für unser Leben gekümmert haben, ihn auch nicht für so manche Fehlentwicklung verantwortlich machen.

Mit meiner Geschichte möchte ich Menschen Mut machen, sich fest und ganz auf Gott und sein Wort zu verlassen. Denn er ist ein wunderbarer, zuverlässiger Herr, der seine Kinder nie im Stich lässt.

Hildi Hari-Wäfler

März 2012

Bern – ein neuer Weg

Ankunft in Bern

Es war ein schöner Augustabend im Jahr 1960, als wir mit dem alten VW Käfer in der Muristraße in Bern eintrafen. Zu dritt waren wir an diesem Tag aus Adelboden aufgebrochen, und dank Peters Aufmerksamkeit hatten wir auch die kleine Autopanne gut überstanden. Wir, das waren eine junge Frau aus Peters Nachbarschaft in Adelboden, mein Verlobter, Peter, und ich. Gemeinsam würden wir die nächsten neun Monate in der Offiziersschule der Heilsarmee verbringen. So genau konnten wir uns noch nicht vorstellen, was auf uns wartete. In Bern wurden wir von den Leitern und den Verantwortlichen der Schule herzlich begrüßt und aufgenommen. Damit traten wir schlagartig in eine völlig neue Welt ein. Von Stund an wurde ich zur Kadettin Wäfler, Peter zum Kadett Hari. Für mich blieb er glücklicherweise mein Peter. Kein Wunder, dass ich mich an die neue Anrede zuerst gewöhnen musste und nicht immer spontan reagierte, wenn nach mir gerufen wurde.

Das mir zugewiesene Zimmer war um einiges größer als mein sehr kleines, eigenes in Adelboden, doch musste ich es mit zwei anderen Frauen teilen. Da hatte sich eine junge, lustige Wienerin, noch nicht 20, auf ihrem Bett an der linken Wand niedergelassen und führte darauf hie und da ihre Kopfstände aus, um zu etwas Bewegung zu kommen. Eine schon etwas reifere, eher reserviert wirkende, französisch sprechende Frau um die 30 hatte auf der Gegenseite ihr Revier bezogen. Und ich, die 25-jährige Berner Oberländerin erhielt einen Platz in der Mitte. Allerdings nur während der Nacht. Mein Bett zog ich jeden Abend unter einem anderen hervor und stellte es auf die Beine. Meistens war jemand da, um mir dabei zu helfen. Tagsüber blieb mir eine Ecke des Tisches, ein Stuhl zum Sitzen – wenn er nicht gerade besetzt war –, und natürlich etwas Platz im Kleiderschrank. Das alles änderte sich nach Ablauf weniger Monate. Zunächst konnte ich in ein Zweierzimmer ziehen, und später durfte ich sogar alleine in einem Zimmer im Dachstock wohnen. Das war schon fast Luxus und mutete paradiesisch an. Das Zimmer trug ja auch den Namen „Paradies“.

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Mit Peter an Hildis 26. Geburtstag in der Offiziersschule.

Schulbetrieb

Unser Ausbildungsjahrgang trug den Sessionsnamen „Soldaten Jesu Christi“. Wir waren eine bunt zusammengewürfelte fröhliche Schar von 28 jungen Leuten aus der ganzen Schweiz. Fast alle Berufsgattungen waren vertreten. Das erlaubte den Männern, im Laufe der Zeit im Garten eine Baracke zu erstellen und darin zu wohnen. So erhielten wir etwas mehr Platz im Haus. Was uns alle miteinander verband, war der tiefe Wunsch, aus Liebe zu Gott und den Menschen das eigene Leben einzusetzen, ohne groß über die Vor- und Nachteile nachzudenken, die für uns daraus entstehen könnten. Alle hatten wir das gleiche Ziel: Gott und den Menschen zu dienen. Wir waren ja freiwillig gekommen und nicht einem Aufgebot/ Einberufungsbefehl der Schweizer Armee zur Rekrutenschule gefolgt. Gerade hier in der Schule konnten wir bestens unter Beweis stellen, wie ernst es uns damit war. So gehörte etwa zu unserem Kurs ein Teilnehmer mit Frau und Kind. Er hatte sein Theologiestudium an der Universität abgeschlossen und fügte sich nun mit seiner Familie willig in den ganzen Ausbildungsbetrieb ein. Außerdem unterrichtete er uns im Fach „Kirchen- und Heilsarmeegeschichte“. So lernten wir viel über die Ursprünge dieser Bewegung, die sich selbst als „Armee“ bezeichnete.

Es begann im Jahr 1865 in England mit dem Gründer William Booth und seiner Frau Catherine als „Christliche Mission Ost-London“, und wurde seit 1878 unter dem Namen „Heilsarmee“ weitergeführt. Die Anfangszeit war in England und auch später in der Schweiz von Verachtung und Verfolgung geprägt. Da konnte es schon mal faule Tomaten, Eier oder sogar Steine auf diese fürs Straßenbild ungewöhnlichen, uniformierten Gestalten regnen. In krassen Fällen landeten einzelne Anhänger dieser Armee sogar im Gefängnis. So unter anderem Catherine, die Tochter des Heilsarmeegründers. Sie hatte 1881 mit zwei jungen Kolleginnen in Paris „das Feuer“, die Arbeit in Frankreich, eröffnet und kam 1883 nach Genf. Nach heftigen Protesten und Anfangskämpfen wurde sie aus Genf verwiesen. So kam sie nach Neuenburg (Neuchâtel) und landete mit einem ihrer Mitarbeiter für zwölf Tage im Gefängnis. Nach einer Gerichtsverhandlung, in der sie sich selbst verteidigt hatte, wurde sie freigesprochen. Im Schloss Chillon am Genfersee wurde eine 21-jährige Schottin 100 Tage eingesperrt, weil sie auf öffentlichen Straßen Kinderstunden abgehalten hatte. Fast überall in der Schweiz kam es zu Verletzungen und Sachbeschädigungen.

Nach altem Muster verbrachten wir unsere Zeit in Bern in einem streng geführten Internatsbetrieb. Jeder Morgen begann in der Frühe mit einem Appell, und Frauen und Männer wohnten getrennt. Oft mussten wir in Windeseile die langen Haare aufstecken, noch in letzter Minute einen Knopf schließen und einen Kragen zurechtrücken. Für einige von uns war es stets ein Kampf mit der Zeit. Wir atmeten jedes Mal erleichtert auf, wenn alle es geschafft hatten, sich ordentlich angezogen und gekämmt in die Reihe einzuordnen. Um zehn Uhr abends mussten die Lichter gelöscht werden und man durfte nicht mehr miteinander sprechen. Manchmal half eine Taschenlampe über brenzlige Situationen hinweg – dann etwa, wenn wegen Stau im Waschraum die Abendtoilette noch nicht ganz erledigt war und der Weg ins Zimmer und ins Bett gefunden werden musste. Wenn wir allerdings spät von einem Einsatz nach Hause kamen, was ab und zu geschah, galt eine andere Regelung. Glücklich, wer sich schon in frühen Jahren an eine gewisse Disziplin im Leben gewöhnt hatte und sie sich nicht erst jetzt aneignen musste. Frühaufsteher waren eindeutig im Vorteil. Schmerzlich war, dass schon nach relativ kurzer Zeit drei sehr junge Mitschüler „unsere Familie“ verließen: ein Ehepaar, das noch nicht lange verheiratet war, und eine Frau.

Ein strammes Programm

Der Tagesablauf war genau geregelt und gestaltete sich mit wenigen Ausnahmen in ungefähr dieser Reihenfolge:

6.40 Uhr:

Appell

7.00 Uhr:

Frühstück

7.45 Uhr:

Hausarbeiten (Abwasch, Esszimmer aufräumen, Böden, Treppen, Etagen inklusive Waschräume und Toiletten reinigen, Tische aufstellen für Schulbetrieb, je nach Bedürfnis auch wieder zusammenklappen und verräumen. Räume lüften, Gemüse für das Mittagessen rüsten, spezielle Aufträge. Zwischendurch noch das Reinigen unserer Zimmer, für das wir selbst verantwortlich waren.)

8.30 Uhr:

Persönliche stille Zeit mit der Bibel und Gebet

9.15 Uhr:

Schulstunde (Der Unterricht umfasste: Bibelstudium, christliche Glaubenslehre, Kirchen- und Heilsarmeegeschichte, Predigtlehre und deren praktische Anwendung, Methoden der Heilsarmee, Organisation der Heilsarmee und Verwaltung.)

9.55 Uhr:

Teepause

10.15 Uhr:

Schulstunde

10.45 Uhr:

Schulstunde

11.45 Uhr:

Tisch decken, später servieren und abräumen

12.00 Uhr:

Mittagessen. Anschließend Mittagspause für die einen, abräumen, abwaschen, abtrocknen und Geschirr verräumen für die diensthabenden Gruppen.

13.30 Uhr:

Schulstunden oder Gestaltung des Nachmittags nach speziellem Plan

Das Abendprogramm konnte Singstunden beinhalten, persönliches Studium, ein Einsatz außer Haus oder Sonstiges.

Wir wurden in alle Hausarbeiten – außer beim Kochen und Waschen – miteinbezogen. Hin und wieder hielten wir einen Gottesdienst im Freien ab, nahmen Kontakt mit den Zuhörern auf, sangen ab und zu in den Restaurants und beteiligten uns auch zwei Mal an den Sammlungen von Haus zu Haus. Wir machten auch während einer Woche ein Praktikum in einem der verschiedenen Sozialwerke, die zur Arbeit der Heilsarmee gehörten, sei es in einem Hilfsposten, einem Kinder-, Mädchen-Frauen- oder Männerheim. Im Vordergrund aber stand der Schulbetrieb mit seinen verschiedenen Unterrichtsfächern, inklusive Prüfungen und Bewertungen.

Freie Zeit war eher rar und musste gelegentlich dringenden Anliegen geopfert werden. Für mich war sie besonders kostbar, weil ich sie mit Peter verbringen durfte. Dafür hatten meine Mitkadettinnen mehr Zeit, um Persönliches zu erledigen oder sich auch mal aufs Ohr zu legen. Tagsüber sahen Peter und ich uns meist nur von Weitem und wir grüßten uns dann stumm. Gespräche mit den Männerkadetten waren ohnehin nicht gestattet – es sei denn, es ging um berufliche Belange. Diese Regelung war nicht immer leicht zu verkraften, doch wussten Peter und ich, dass sich dies irgendwann ändern würde. Zu jener Zeit galten ja auch in staatlichen Institutionen und Lehranstalten in der Schweiz ganz allgemein viel strengere Regeln als heute. Das Internat der Heilsarmee war hier also nichts Außergewöhnliches.

Bei jeder Gelegenheit wurde gesungen und musiziert im Hause. Gesang erfüllte auch während der Hausarbeiten die Räume. Unsere gesanglich und musikalisch begabte Zusammensetzung der Schüler erlaubte es, im Laufe der Monate vier Kassetten mit beliebten Liedern herauszugeben, drei auf Deutsch und eine auf Französisch. Jeder der „Soldaten Jesu Christi“ war willens, zum guten Gelingen des Aufenthaltes beizutragen.

Was ich als Kind aus den Bergen nun in der Stadt oft sehr vermisste, war die freie Natur. Meine Kindheit hatte ich mehr draußen als im Inneren eines Gebäudes zugebracht. Ich hätte als eine Art Halbwilde bezeichnet werden können und tat mich jetzt schwer, über längere Zeit ohne frische Luft auszukommen. Nicht dass es am regelmäßigen Lüften gefehlt hätte – wir sperrten die Fenster bisweilen weit auf –, aber es kam meist nur mehr oder weniger verbrauchte Stadtluft herein. Das war überhaupt nicht zu vergleichen mit einer würzigen, frischen Brise aus den Bergen. Die Männer hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und joggten frühmorgens auf einem Waldweg zur Aare hinunter, um sich mit frischer Luft für den Tag einzudecken. Warum wir Frauen das nicht fertigbrachten? Dazu hätten wir wohl früher aufstehen müssen. Ich nahm allerdings jede Gelegenheit dankbar an, das Haus verlassen zu dürfen oder mit anderen Leuten zusammenzutreffen.

Unterwegs im Mattenquartier

Dazu gehörten Besuche zu zweit von Haus zu Haus im Berner Mattenquartier, dem ärmsten Viertel der Stadt Bern. Diese Besuchseinsätze waren neu und ungewohnt für mich, eine echte Herausforderung. Ich musste mich immer wieder dazu überwinden. Wir sahen in Zustände hinein, von denen wir kaum wussten, dass sie existierten. Für städtische Verhältnisse waren die Wohnungen und Einrichtungen zum Teil sehr primitiv. Dabei war ich ja von zu Hause aus absolut nicht auf Luxus getrimmt. Oft wurden uns Türen vor der Nase zugeschlagen, andere taten sich weit auf, wenn Leute uns in unseren Heilsarmeeuniformen erkannten. Einzelne waren froh, sich ihre Not von der Seele reden zu dürfen. Auf diese Weise wurden wir mit so manchem Schicksal und manchem Familiendrama konfrontiert. Das erweiterte unsere Horizonte im Blick auf die tiefen menschlichen Bedürfnisse. Gewisse Anliegen gaben wir dem Hilfsposten der Heilsarmee in Bern weiter. Die dafür verantwortlichen Offizierinnen leisteten praktische Hilfe im Haushalt, sei es während des Krankenhausaufenthaltes einer Mutter oder in anderen Notsituationen. Sie begleiteten Kranke zum Arzt, kümmerten sich um Pflegebedürftige zu Hause, veranlassten, wenn nötig, eine Krankenhauseinweisung oder trafen andere Anordnungen. Wir durften Menschen ermutigen, sich ganz persönlich an Gott zu wenden und von ihm Hilfe zu erwarten. Wir selbst erlebten ja täglich diese Hilfe, indem wir uns direkt an Gott richteten, vor ihm unsere Anliegen ausbreiteten, sei es allein oder in der Gruppe. Immer wieder erfuhren wir Gottes Eingreifen in bestimmten Situationen. So oft wurde mir persönlich Mut und Gelingen geschenkt, wo mir vor einer Aufgabe graute, vor etwas Neuem, Fremdem vielleicht. Hinterher fühlte ich mich glücklich und dankbar, dass ich es mit Gottes Hilfe geschafft hatte. Wenn die Leute im Mattenquartier es wünschten, beteten wir auch mit ihnen. Bei diesen Besuchen wurden mir zum ersten Mal die Augen geöffnet für Lebensverhältnisse, die im krassen Gegensatz standen zu meinem Elternhaus, das von Liebe geprägt war.

Einen weiteren Einblick in menschliche Tragödien erhielt ich im Frauengefängnis in Hindelbank und im Männergefängnis in Thorberg. Dass unsere Frauenkreise zu Hause regelmäßig Socken strickten für die Weihnachtsbescherung der Gefangenen, war mir bewusst. Es wurden auch Pullover, Handschuhe und Mützen für Kinder und Erstlingsausstattungen für die Babys der Familien von Gefangenen angefertigt. Noch heute werden die über 1.000 Paar Socken mit großer Dankbarkeit angenommen, wie auch die Schokolade und einige andere nützliche, begehrte Kleinigkeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber unklare Vorstellungen über Gefängnisse und deren Insassen. Wir kamen zwar nicht direkt mit Straffälligen in Berührung, aber Kontakt gab es doch durch unsere Gottesdienste, die wir sehr sorgfältig vorbereiteten und bei denen wir speziell auf unsere Wortwahl achteten. Wir wollten unsere Zuhörer ja nicht verletzen, sondern sie zum Nachdenken bewegen und zu einem Neubeginn auf solider Basis ermutigen. Um das Gesagte zu unterstützen, gaben wir den Zuhörern immer auch noch Traktate oder unsere Zeitschriften in verschiedenen Sprachen weiter.

Gottes Fingerzeig