Charles Baudelaire

Die künstlichen Paradiese


Übersetzer: Heinrich Steinitzer

e-artnow, 2013
ISBN 978-80-7484-197-2

Inhaltsverzeichnis


Für J. G. F. (Widmung)

I. Die Lust an der Unendlichkeit

II. Was ist der Haschisch?

III. Das seraphische Theater

IV. Der Gottmensch

V. Moral

Der Wein
I
II
III

Der Wein

Inhaltsverzeichnis

Vom Wein als Mittel, die Individualität zu steigernDiese Arbeit erschien zuerst unter dem Titel: Vom Wein und vom Haschisch als Mittel usw. Der den Haschisch behandelnde Teil dieser Arbeit ist der erste Entwurf zu dem vorstehenden Aufsatz: Das Gedicht vom Haschisch. Da sie eine fast wörtliche Wiederholung dieser Arbeit ist, wurde darauf verzichtet, sie diesem Bande abermals beizufügen, und nur der den Wein behandelnde Teil des Essays übersetzt. (Anm. d. Herausg.)

I

Inhaltsverzeichnis


Ein sehr berühmter Mann, der zu gleicher Zeit ein grosser Dummkopf war, zwei Dinge, die durchaus zueinander zu passen scheinen, wie ich es zu beweisen mehr als einmal das zweifelsohne sehr schmerzliche Vergnügen haben werde, wagte es, in einem Buch über die Gastronomie, unter besonderer Berücksichtigung der Hygiene und des Vergnügens, das Folgende im Artikel ›Wein‹ zu schreiben: »Der Stammvater Noah soll der Erfinder des Weines sein; es ist eine aus den Früchten der Rebe gewonnene Flüssigkeit.«

Und weiter? Nichts weiter. Das ist alles. Du kannst den Band nach allen Richtungen durchblättern, ihn nach allen Seiten wenden, ihn von hinten, über Kreuz, von rechts nach links und von links nach rechts lesen, du wirst kein weiteres Wort über den Wein in der Physiologie des Geschmacks des sehr berühmten und sehr geachteten Brillat-Savarin finden: »Der Urvater Noah ...« und »ist eine Flüssigkeit ...«

Ich will annehmen, dass ein Bewohner des Mondes oder irgendeines fernen Planeten auf unserer Welt reist, und müde von langen Märschen daran denkt, den Gaumen zu erquicken und den Magen zu erwärmen. Er will sich mit den Vergnügungen und den Sitten unserer Erde vertraut machen. Er hat irgendwo von köstlichen Flüssigkeiten sprechen gehört, mit denen die Bewohner der Erdkugel sich Lust, Mut und Heiterkeit verschaffen. Um sicher zu wählen, schlägt der Mondbewohner das Geschmacksorakel des berühmten und unfehlbaren Brillat-Savarin auf und findet im Artikel Wein diese kostbare Aufklärung: »Der Urvater Noah ...« und »diese Flüssigkeit besteht ...« Das ist völlig verdaulich. Das erschöpft die Sache gründlich, und wenn man diesen Satz gelesen hat, muss man unbedingt einen richtigen und klaren Eindruck von allen Weinen, ihren verschiedenen Eigenschaften, ihren Unzuträglichkeiten und ihrer Macht auf Magen und auf das Gehirn haben.

Ach, lieben Freunde, lest nicht Brillat-Savarin! »Gott beschütze die, die er liebt, vor überflüssiger Lektüre«; dies ist der erste Merksatz eines kleinen Buches von Lavater, eines Philosophen, der die Menschen mehr als alle alten und modernen Lehrer der Welt geliebt hat. Man hat keinen Kuchen nach Lavater getauft; aber die Erinnerung an diesen englischen Menschen wird unter den Christen noch leben, wenn die braven Bürger selbst den ›Brillat-Savarin‹ vergessen haben werden, ein törichtes Gebäck, dessen geringster Fehler es ist, zum Vorwand für ein Herunterleiern albern pedantischer Maximen aus dem berühmten Meisterwerk zu dienen.

Wenn eine neue Ausgabe dieses falschen Meisterwerkes den Verstand der modernen Menschlichkeit zu beleidigen wagt, dann, ihr traurigen Trinker, ihr fröhlichen Trinker, ihr, die ihr im Wein Erinnerung oder Vergessen sucht, und doch beides nie ganz vollkommen nach euren Wünschen findet, und darum den Himmel nur noch durch den Flaschenhintern betrachtet, vergessene und verkannte Trinker, werdet ihr dann ein Exemplar kaufen und Böses mit Gutem, Wohltat mit Gleichgültigkeit vergelten?

Ich öffne die Kreisleriana des göttlichen Hoffmann und finde dort ein merkwürdiges Rezept. Der pflichtbewusste Musiker muss Champagner trinken, um eine komische Oper zu komponieren. Er wird in ihm die sprudelnde und leichte Heiterkeit finden, die diese Art erfordert. Religiöse Musik braucht Rheinwein oder Jurancon; darin liegt wie auf dem Grund tiefer Gedanken eine berauschende Bitterkeit. Aber heroische Musik braucht unbedingt Burgunder: in ihm liegt Begeisterung und patriotischer Schwung. Das ist schon besser und, abgesehen von der Leidenschaft des Trinkers, finde ich darin eine Unparteilichkeit, die einem Deutschen grösste Ehre macht.

Hoffmann hatte ein merkwürdiges psychologisches Barometer erfunden, das dazu bestimmt war, ihm die verschiedenen Temperaturen und atmosphärischen Phänomene seiner Seele anzuzeigen; man findet solcherlei Einteilungen: Leicht ironischer, durch Nachsicht ausgeglichener Geist; Geist der Einsamkeit und vollkommener Selbstzufriedenheit; musikalische Heiterkeit, musikalischer Enthusiasmus, musikalischer Sturm, mir selbst unerträgliche sarkastische Heiterkeit, Wunsch, aus mir herauszutreten, äusserste Objektivität, Vermischung meines Wesens mit der Natur. Natürlich war das moralische Barometer Hoffmanns wie die wirklichen Barometer entsprechend der Entstehungsreihenfolge eingeteilt. Mir scheint, dass zwischen diesem psychischen Barometer und der Erklärung der musikalischen Eigenschaften der Weine eine auf der Hand liegende Ähnlichkeit besteht. Hoffmann begann in dem Augenblick Geld zu verdienen, da der Tod ihn holte. Das Glück lächelte ihm. Wie bei unserem lieben und grossen Balzac sah er in seinen letzten Tagen nun das Nordlicht seiner alten Sehnsucht aufflammen. In jener Zeit pflegten die Verleger, die sich um seine Erzählungen für ihre Almanache stritten, um ihn guter Laune zu machen, ihrer Geldsendung eine Kiste französischen Weines hinzuzufügen.

II

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Ihr tiefen Freuden des Weines, wer hat euch nie gekannt? Wer einen Gewissensbiss zu betäuben hatte, eine Erinnerung wachzurufen, einen Schmerz zu ertränken, ein Luftschloss zu erbauen, sie alle riefen dich an, geheimnisvoller in der Fiber der Rebe verborgener Gott. Wie erhaben sind die von innerer Glut erhellten Schauspiele des Weines. Wie ehrlich und brennend ist diese zweite Jugend, die der Mann aus ihm schöpft. Aber wie gefährlich auch ist seine zerschmetternde Wollust, seine entnervende Verzauberung! Und doch sagt auf Ehre und Gewissen, ihr Richter, Gesetzgeber, Weltleute, ihr alle, die das Glück milde macht, denen Reichtum die Tugend und Gesundheit leicht macht, sagt, wer von euch hat den unbarmherzigen Mut, den Mann zu verdammen, der Genie trinkt?

Im übrigen ist der Wein nicht immer dieser furchtbare siegessichere Kämpfer, der geschworen hat, weder Gnade noch Mitleid zu üben. Der Wein ähnelt dem Menschen: Niemals weiss man genau, bis zu welchem Punkt man ihn schätzen oder verachten, lieben oder hassen darf, noch wie vieler göttlicher Handlungen oder scheusslicher Missetaten er fähig ist. So wollen wir gegen ihn nicht grausamer sein als gegen uns selbst und ihn als unseresgleichen behandeln.

Mir scheint mitunter, als hörte ich den Wein sprechen (er spricht mit seiner Seele, mit jener Geisterstimme, die nur Geister verstehen): »Mensch, Geliebter, ich will dir, meinem Glasgefängnis und meinen Korkriegeln zum Trotz, einen Gesang voll Brüderlichkeit, einen Gesang voll Freude, voll Licht und voll Hoffnung singen. Ich bin nicht undankbar; ich weiss, dass ich dir das Leben verdanke. Ich weiss, wieviel Arbeit und Sonnenglut ich deinen Schultern verschuldete. Du hast mir das Leben geschenkt, ich werde dich dafür belohnen und grosszügig werde ich dir meine Schulden bezahlen; denn ich empfinde eine ausserordentliche Freude, wenn ich in eine arbeitsdurstige Kehle falle. Die Brust eines ehrlichen Mannes ist ein Aufenthalt, der mir weit mehr zusagt als jene melancholischen und fühllosen Keller. Sie ist ein fröhliches Grab, in dem ich mein Geschick begeistert vollende. Im Magen des Arbeitsamen renne ich hin und her und steige von dort auf unsichtbaren Treppen in sein Hirn, wo ich meinen höchsten Tanz tanze.«

»Hörst du, wie in mir die mächtigen Klänge der alten Zeit, die Gesänge von Liebe und Ruhm drängen und klingen? Ich bin die Seele der Heimat, ich bin halb Liebhaber, halb Soldat. Ich bin die Hoffnung der Sonntage. Die Arbeit bringt den Tagen Nutzen, der Wein macht die Sonntage glücklich. Die Ellenbogen auf den Familientisch gestützt, mit hochgekrempelten Ärmeln wirst du stolz mich rühmen und ganz zufrieden sein.«

»Ich werde die Augen deiner alten Frau aufleuchten lassen, der langen Gefährtin deines täglichen Kummers und deiner ältesten Hoffnungen. Ich werde ihren Blick zärtlich machen und in die Tiefe ihrer Augen den Blitz ihrer Jugend pflanzen. Und dein lieber Kleiner, dein Blasschen, dies arme kleine Eselein, das an dieselbe Deichsel der Mühen gespannt ist – ihm werde ich die schöne Farbe der Wiege wiedergeben und werde für diesen neuen Athleten des Lebens zum Öl werden, das die Muskeln der Kämpfer im Altertum hart machte.«

»Ich werde in deine Brust wie köstliche Speise fallen. Ich werde das Korn sein, das die schmerzhaft gezogene Furche befruchtet. Unsere innige Vereinigung wird die Poesie erzeugen. Wir zwei allein werden einen Gott schaffen und in die Unendlichkeit schweben wie die Vögel, die Schmetterlinge, die Marienfäden, die Parfüms und alle beflügelten Dinge.«

So singt der Wein in seiner geheimnisvollen Sprache. Wehe dem, dessen egoistisches, dem Bruderschmerz verschlossenes Herz niemals dieses Lied hörte!

Ich habe oft gedacht, dass, erschiene Jesus Christus heute auf der Anklagebank, sich ein Staatsanwalt finden würde, der bewiese, dass sein Fall durch Rückfälligkeit erschwert sei. Der Wein ist alle Tage rückfällig. Täglich wiederholt er seine Wohltaten. Das wahrscheinlich erklärt die Wut der Moralisten gegen ihn. Wenn ich sage: Moralisten, meine ich die pharisäischen Pseudomoralisten.