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ANDRI PERL

DIE FÜNFTE, LETZTE UND
WICHTIGSTE REISEREGEL

ROMAN

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Gewidmet allen, vor allem aber
meinen Eltern.

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Am Ende

DER AUTOR

DANKE

Impressum

Erstes Kapitel

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Jemand hat sich töten lassen, die Bahn steht still im Engadin. Sie steht halb in der Morgensonne, die den ersten echten Sommertag dieses so wichtigen Sommers ankündigt, halb steht sie in der Galerie, die sie vor Steinschlag und Staublawinen, nicht aber vor Sterbewilligen schützt. Ja, mit dem Schutz verhält es sich hier gegenteilig, da Lebensmüde sich hinter den mächtigen Betonpfeilern verbergen können und dann, wenn die Lokomotive unmöglich noch bremsen … Da steht die Bahn, ich sitze drin.

Nach undeutlich knackendem Deutsch rauschen im Lautsprecher über der selbstöffnenden Schiebetür eine rätoromanische sowie der Versuch einer englischen Entschuldigung. Neugierige drücken ihre betroffene Miene ans Fenster und sehen doch nur Bäume, also Lärchen, den Fluss, also den Inn, oder weiter hinten bergwärts die graue Wand der Galerie. Vielleicht ein Dutzend Leute, vielleicht auch ein paar mehr, fahren – jetzt nicht mehr – im selben Waggon wie ich.

Gegenüber tippen kräftige, kurze Arbeiterfinger einen ungeduldigen Takt auf die Armlehne. Der Finger Verfärbungen passen gut zum vergilbten Schnurrbart im entsprechenden Gesicht und lassen im Mann, der sein gräuliches Haar trägt, wie er es vermutlich vor fünfundzwanzig Jahren schwarz getragen hat, einen starken Raucher erraten. Die andere, gemütlich das Gemächt zurechtrückende Hand deutet auf ein eigentlich gemächliches Gemüt, doch gilt seit einem halben Jahr in allen Schweizer Bahnen allgemeines Rauchverbot.

Nebenan spielt eine Familie, Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Stadt-Land-Fluss, Stadt mit C. Andere verkürzen sich die Wartezeit mit Lesen, während sich in meinem Rücken schwäbische Rentner pietätvoll über Wetter und Landschaft unterhalten.

Ich warte nur, lese nicht, unterhalte mich nicht; auf jeden Fall unterhalte ich mich nicht mit anderen Fahrgästen. Der Kettenraucher, was er mit Sicherheit ist, wird die nächste Gelegenheit dazu nutzen, etwas Unpassendes über Selbstmord zu sagen – ich versuche mich dösend zu stellen, linse aus den Augenwinkeln. Vernehmbares Ausatmen gegenüber. Zugestiegen ist er ebenfalls in Lavin, dem hübschen, geradezu beschaulichen Dorf, wo ich die letzte Nacht verbrachte. Schon möglich, dass sich ab und an ein Laviner aus schierer Langeweile aufs Geleise legt. Der Raucher räuspert sich bedrohlich.

Das Mädchen räusperte sich ein zweites Mal und blickte schüchtern nach ihrem Vater und Vorgesetzten, der eben in der Küche verschwand. Vorsichtig beugte sie sich über das Gedeck, um naserümpfend, kaum hörbar zu flüstern, dass er nicht gut sei. Ein erneuter Blick zur Küche versicherte sie, unbeobachtet gesprochen zu haben. Der Hauswein: Er schmecke wirklich nicht, sie werde mir besseren bringen, sollte ich ihr vertrauen. Gehorsamst ließ ich mir servieren. Die Bedienung im Restaurant am Dorfplatz war das mit Abstand Aufregendste an meinem Aufenthalt in Lavin: blutjung, brandschwarze Locken, verlockende Blicke. Womöglich hat sich ja ein liebeskranker Verehrer vor den Zug … Hustenanfall gegenüber.

Der Morgen brachte nur Mühsal mit sich. Ich hatte vorgehabt, mich in der Wonne meiner neuen Unabhängigkeit suhlend, genüsslich zu frühstücken, stellte den alten Wecker auf sieben, der alte Wecker, denn Mobiltelefonie verbiete ich mir auf meiner Reise, weckte mich um sieben, ich schlief, mich in meiner neuen Unabhängigkeit suhlend, weiter. Für eine Dusche hätte es dennoch gereicht, hätte entweder ich mein Duschgel nicht vergessen oder jemand anderes den hoteleigenen Duschgelspender nachgefüllt. Hatte ich aber und hatte aber niemand. Die Zeit drängte, wollte ich die mir in meiner neuen Unabhängigkeit selbst auferlegten, strikten Reiseregeln nicht schon am zweiten Tag meiner Reise in diesen so wichtigen Sommer brechen. Eine lautet: Nehme dein Mobiltelefon nicht mit auf deine Reise! Eine andere lautet: Wenn du weiterreisen möchtest, reise früh, ja, reise sogar vor neun Uhr! Freundlich checkte ich aus, ohne ein Wort über den Duschgelspender zu verlieren.

Ohne Duschgel verließ ich das Hotel – nicht dasjenige am Dorfplatz, in dessen Restaurant ich so aufregend bedient worden war, nein, dort hatte ich bloß zu Abend gegessen, genächtigt hatte ich im Hotel an der alten Straße. Spare am Logis, nicht an der Kost! Ohne Frühstück eilte ich am, wie mich der Wirt vom Hotel/Restaurant am Dorfplatz informiert hatte, seit der jüngst erfolgten Renovation mit einer ökologisch nachhaltigen Holzpelletheizung heizenden Gemeindezentrum vorbei zum Bahnhof, um dort vor der Abfahrt wenigstens Konservengebäck aus dem Snackautomaten als Reiseverköstigung und die Bahn in zwei Minuten und das Kleingeld hervorgekramt und die Sesam-Hawaii-Schnitte verhakte sich in der Metallspirale des Automaten. Die Bahn fuhr ein und alles Treten und Fluchen, alles Flehen und Rütteln half nicht weiter und ohne Duschgel und ohne Frühstück hievte ich mich in einen der roten Wagen und das war ärgerlich, aber sollte ja nicht die schlimmste Niederlage im heutigen Kampf Mensch gegen Maschine bleiben. Der Raucher tippt schneller, die Bahn steht still.

Die Familie wertet die Spielrunde Stadt mit C aus, während welcher niemand Chur genannt hat, obschon es fettgedruckt auf der im schmalen Tischbrett am Fenster eingelassenen Kantonskarte zu lesen wäre. Man diskutiert mit Eifer, verteilt die Punkte, danach Land mit W, wobei ich insgeheim mitgrüble. Mit einem Mal herrscht fast vollkommene Stille: Den Rentnern fehlt ein vernünftiger Anknüpfungspunkt in ihrer pietätvollen Unterhaltung über Wetter und Landschaft, der Rest liest oder trauert Westdeutschland nach. In dieser fast vollkommenen Stille bemerkt der Raucher sein eigenes Tippen. Er hält inne: Totenstille …

Ich mag die Stille. Ich mochte Großmutter und mag die Erinnerung an sie. Ich mag die Erinnerung an die Abende im Spätherbst, an denen ich, schon beinahe kein Kind mehr, durch unser Quartier strich, sie am anderen Ende der Straße zu besuchen, sie und die große Bücherwand im viel zu großen Wohnzimmer. So lag ich, weil es draußen zu kalt war für Fußball, weil ich mich zu Hause mit den Brüdern gestritten hatte oder weil ich den Blockflötenunterricht schwänzte, bei Großmutter auf dem altgedienten, roten Perser und las in der behaglichsten Stille, die man sich vorstellen kann, Abenteuerromane, von denen ich nie wirklich wusste, wie sehr sie mir in meinem Alter noch gefallen durften.

Gelangweilt zog ich manchmal auf dem Weg zu Großmutter mit den platten Reifen meines geliebten Damenrads Linien in den ansetzenden Neuschnee, welche trotz ihrer musterhaften Regelmäßigkeit schon fünf Minuten später nicht mehr erkennbar waren im rosa gedimmten Licht der Kandelaber. Wütend trat ich manchmal auf dem Weg zu Großmutter gegen ebenjene Straßenleuchten, gegen jede Straßenleuchte, die mir begegnete. Nach einer dunklen Minute begannen sie flimmernd weiterzuscheinen. Übermütig, traurig, stolz, erschöpft und aufgeregt. Einerlei in welcher Stimmung ich auf dem Weg zu Großmutter an den würdevollen Bürgerhäusern mit ihren hohen Giebeln und verwilderten Gärten vorbeikam, auf dem altgedienten Perser empfand ich immer dieselbe behaglichste Stille, die man sich vorstellen kann, die man sich aber auf keinen Fall bloß akustisch vorstellen darf.

Obschon zwischen Bahndamm und Hauptstraße gelegen, ist das Quartier meiner Kindheit und Jugend auch heute noch ausgesprochen ruhig. Die üppig belaubten, teilweise hohen Bäume seiner verwilderten Gärten – teilweise überragen sie sogar die hohen Giebel seiner würdevollen Bürgerhäuser – schlucken seinen Straßenlärm und sein Kindergeschrei; das wiederkehrende Brausen der Eisenbahn kann höchstens als Grundton einer geschäftigen, aber weit entfernten Außenwelt gelten. Dennoch unterschied sich die Ruhe des Quartiers auf dem Weg zu Großmutter ungemein von der behaglichsten Stille, die man sich vorstellen kann, auf ihrem altgedienten Perser. Der Ruhe des Quartiers fehlten nämlich die entscheidenden Elemente der benannten Stille in Großmutters viel zu großem Wohnzimmer: die tickenden Pendellaute einer nusshölzernen Wanduhr, der Duft einer Tasse Schwarztee und Großmutter.

Ich mochte diese Stunden der Stille und mag die Erinnerung an sie, an sie und an Großmutter, wie sie vertieft in eine Patience oder die Lektüre von Büchern ohne Umschlag und Umsatz am runden Stubentisch saß, auf dessen Schieferplatte eine Familiengeschichte aus Klecksen, Ritzen und Brandmalen geschrieben stand. Der Tisch, auf dem da geschrieben stand, stand schon lange da: Seit ihrer Heirat wohnte Großmutter im selben würdevollen Bürgerhaus dieses ruhigen Quartiers. Und als mein Vater Vater wurde, zog es ihn auch wieder zurück, zog er von der weit entfernten Außenwelt zurück in seine alte Nachbarschaft, seine Söhne großzuziehen.

Die Tochter will nicht weiterspielen. Sie kennt kein Land mit W, auch nicht Wales, womit ihr Bruder letztlich punktet, obgleich der Vater mit dem United Kingdom argumentiert, denn eigentlich zählen nur wirklich unabhängige Staaten. Das war so abgemacht. Nachdem sich der Raucher Hustenbonbons aus der Brusttasche geklaubt hat, dauert es nicht lange, bis er von Neuem, lutschend nun, zu tippen anfängt. In meinem Rücken unterhalten sich die Rentner pietätvoll über Essen und Komfort, die fast vollkommene Stille findet ihr Ende.

Über den Fenstern hängen Gepäcknetze, im Gepäcknetz über mir hängt mein kleiner Rollkoffer, eigens für meine Reise in diesen so wichtigen Sommer gekauft. In einem Seitenfach meines kleinen Rollkoffers habe ich gestern eine Zeitschrift verstaut, die ich bald aus dem Seitenfach hervorholen, vor mich hinhalten, lesen oder wenigstens zu lesen vortäuschen werde. Es kostet zu viel Anstrengung, sich in diesen Sitzen dösend zu stellen, und wirkt nicht lebensecht: Auf solchen Folterbänken kann kein Mensch schlafen. Ich linse aus den Augenwinkeln, die Bahn bewegt sich keinen Meter.

An klaren Novemberabenden wandert die Sonne bei uns tief ins Vorderrheintal, wo sie langsam verglimmt, in Farben, die besser niemand zu beschreiben versucht. Diese Novemberabende sind von derartiger Klarheit, dass der Himmel über meiner Stadt und meinem ausgesprochen ruhigen Quartier in seiner räumlichen Tiefe erfassbar scheint. Ich mochte und mag diese klaren Novemberabende der räumlichen Tiefe sehr. Ich mochte sie sehr, als ich, beinahe kein Kind mehr, durch unser Quartier strich, am anderen Ende der Straße Großmutter und die große Bücherwand zu besuchen, und als ich, beinahe erwachsen, dieses eine bestimmte Mal zu Großmutter wollte, mochte ich die Abende genauso, mitsamt ihrer atemberaubend trockenen Kälte. Nur mehr pflegen wollte sie sich lassen, heilen nicht noch einmal …

Ohne Klingeln und Klopfen ging ich dieses eine bestimmte Mal wie so viele Male ein. Zwar verfügte die schwere Porte, welche Großmutter nie verriegelte, so sie denn zugegen war, sowohl über eine Glocke, noch per Handzug am vor Handzügen fettigen Strick zu bedienen, als auch über einen gusseisernen Türklopfer. Erstere wurde aber nur von Fremden benutzt, letzterer nur von Vater; er wurde dieser Wochen häufig benutzt. Wie so viele Male ging ich ein und fragte ein Hallo.

Nur mehr Linderung … Großmutter hielt Ausblick in ihren verwilderten Garten, glücklich, zu Hause zu sein. Vater saß schweigend neben einem von medizinischem Gerät gerahmten Liegesofa, welches er und eine Pflegerin an die Fensterfront neben der großen Bücherwand geschoben hatten. Der Infusionsständer war zwei Wochen vor Advent mit Strohengeln behangen. Morgens und nachmittags verbrachte Großmutter die wachen Stunden in ihrem viel zu großen Wohnzimmer, das sich das Rez-de-Chaussée einzig mit der Küche zu teilen hatte; davor führte eine Pflegerin sie vorsichtig aus dem Schlafraum nach unten, danach wieder hoch.

Weil Großmutter morgens und nachmittags in ihrem viel zu großen Wohnzimmer eigentliche Audienzen gab, standen Stühle vor dem Liegesofa. Auf diesen Stühlen saßen dann alte Freundinnen, Nachbarskinder, alle Grade von Verwandten, manchmal sogar jemand, den die Regierung geschickt hatte. Auch die diensthabende Pflegerin, meine Brüder und ich, Vater und meine pflichtbewusste Mutter saßen dann auf diesen Stühlen.

Doch eines bestimmten klaren Novemberabends an einem Wochenende (sonst wäre ich in Zürich gewesen) saßen da, nachdem ich mich dazugesetzt hatte, nur Vater und ich, warteten auf die Nachtpflegerin und sprachen mit Großmutter leise, aber bedeutungsvoll vom verwilderten Garten ihres hochgieblig würdevollen Bürgerhauses. Vater sprach von seinen Schülern. Ich sprach vom Studium, von diesem und jenem, ich weiß nicht, von was allem ich sprach, ich weiß nur, dass ich leise, aber bedeutungsvoll sprach. Denn man spricht leise, aber bedeutungsvoll, auch von Belanglosem, wenn man mit seiner sterbenskranken Großmutter spricht. Es sollte unser letztes Gespräch gewesen sein.

Ein würdevoller Tod in einem würdevollen Bürgerhaus. Mehr als zwei Jahre sind heute Vergangenheit, seit Großmutter am Donnerstag nach unserem letzten Gespräch in einem Alter von uns ging, das einst ohne Begründung zu gehen erlaubt hätte. Vater und die Ärzte jedoch meinten Zigaretten. Ich mochte Großmutter, mag die Erinnerung an sie, und ungeachtet ihres damaligen Todes, oder gerade deshalb, ist Großmutter gestalt ihrer Hinterlassenschaft Bedingung und mit ein Grund meiner Reise in diesen so wichtigen Sommer: Bedingung wegen des Geldes, mit ein Grund wegen Lorenz’ Gedichten. Vielleicht komme ich irgendwann nach Italien, die Bahn steht still im Engadin.

Die Schulter spannt, die Zeitschrift muss her. Die Schulter spannt, ich spanne aus den Augenwinkeln nach gegenüber. Wenn ich gleich aufstehen, mich nach dem Gepäcknetz über mir recken, aus dem Seitenfach meines darin hängenden kleinen Rollkoffers jene Zeitschrift hervorholen werde, die ich dort gestern verstaut habe, biete ich dem Kettenraucher, was er mit Sicherheit ist, natürlich die Gelegenheit, tippend und lutschend etwas Unpassendes über Selbstmord zu sagen. Jetzt wird er abgekratzt …

Dennoch stehe ich auf. Bevor ich mich wieder zu setzen, die Zeitschrift vor mich hinzuhalten, sie zu lesen oder wenigstens zu lesen vorzutäuschen vermag, regt sich der Raucher. Wieder fummelt er in seiner Brusttasche, rückt einen Kugelschreiber und eine Packung Filterlose zurecht, schaut auf seine original Schweizer Plastikuhr und richtet sich zuletzt feierlich an die Allgemeinheit der Fahrgäste, besonders aber an mich:

»Ich glaub, das schaffe ich eh nicht mehr.«

»Hm.«

»Ich bin so schon wieder eine Stunde zu spät, die anderen warten bis halb.«

»So?«

»Wir müssen heute noch mindestens bis zur Passhöhe machen.«

»?«

»Schäden vom Unwetter letztes Jahr. Wissen Sie, ich bin seit achtundsiebzig beim Forstamt und bin fast nie zu spät gekommen, und wenn ich einmal verschlafe … Sie sind einfach ohne mich gegangen vor zwei Wochen. Und jetzt schon wieder, ich habe angerufen, aber sie werden nicht noch länger warten, aber … Aber ist halt klar, wir sind knapp mit der Zeit.«

Geistesabwesend, aber verständnisvoll nicke ich, auch ich komme noch zu spät. Dass mein Gegenüber beim Forstamt arbeitet, beunruhigt mich allerdings ein wenig, der nächste Waldbrand wird mich daran erinnern.

Die selbstöffnende Schiebetür öffnet sich selbst: Ein tritt die Zugbegleitung, die Gespräche brechen ab. Sie bittet, die Fahrscheine vorzuweisen, und sieht fast noch besser aus als die aufregende Bedienung im Restaurant von gestern Abend, denn die Bahn beschäftigt seit einiger Zeit gerne junge, attraktive Frauen als Zugbegleitungen – nicht nur im Zuge der Gleichberechtigung … Trotz des Unglücks informiert sie Neugierige und Ungeduldige gefasst und freundlich, sagt jedem, der es wissen muss, dass die Anschlüsse leider nicht gewährleistet seien, sich die Reise aber in Kürze fortsetze.

Als sie mein Abonnement prüft, meine ich, sie prüfe es sehr sorgfältig, bilde ich mir ein, sie prüfe es deswegen sehr sorgfältig, weil sie vielleicht meinen Namen nicht vergessen möchte. Kann sein, wäre schön, kann freilich auch wegen der Fotografie sein, die betrunkene Freunde auf der Abschlussfeier mit anrüchigen Details, wirklich winzigen, kaum sichtbaren, geschmückt haben. Fast kommentarlos reicht sie es mir zurück, ein knappes Okay, das mich ob der vierten mir in meiner neuen Unabhängigkeit selbst auferlegten Reiseregel verunsichert, einer Regel, die ich doch gestern mit Bravour einhielt: Sprich jeden Tag mit einer hübschen Frau!

»Roth … Roth … Sie sind aber nicht per Zufall verwandt mit dem Hans-Martin Roth?«

»Nein, weshalb?«

Die leserliche Unterschrift auf meiner Abonnementkarte, allem Anschein nach nicht nur von der Zugbegleitung sehr sorgfältig geprüft, hat dem Raucher meinen Namen entdeckt.

»Ach, nur so. Damals, ja … Aber sie kennen ihn schon, den Hans-Martin Roth?«

»Nein, tut mir leid.«

»Macht nichts, hab nur so gedacht.«

Hans-Martin Roth war von Mitte der Siebziger bis Anfang der Achtziger Mitglied der Kantonsregierung, bevor er, noch im Amt, unversehens an Herzversagen verstarb. Er war – er war wohl nie ganz zufrieden damit – Vorsteher jenes Departements, das auch das Forstamt samt dem Kettenraucher Filterloser mit einschloss. Roth war ein großer Freisinniger. Er war ein Mann mit Prinzipien, er war seinen Prinzipien treuer als seiner Gattin. Er war Doktor der Jurisprudenz und Oberst der Schweizer Armee, Kommandant eines Infanterieregiments. Er war angesehen im Volk, er war angesehen bei Kollegen und Untergebenen. Hans-Martin Roth war ein mächtiger Mann. – Und er war mein Großvater, mein Großvater väterlicherseits, was hier aber niemanden etwas anzugehen braucht.

Es schweigt der vergilbte Schnurrbart und tippen die kräftigen, kurzen Finger. Die Familie nebenan beginnt, ohne Mama, weil Mama nun klickklickklickklack strickt, ein lustig buntes Kartenspiel, und ich glaube, die Rentner von hinten sind in eine plötzliche Vormittagsstarre gefallen.

Ich mag die Erinnerung an Großmutter; an Großvater vermag ich mich kaum zu erinnern, sein Geist jedoch schien auch Jahre nach seinem Tod, den ich als Kleinkind nur allmählich wahrnahm, über den hohen Giebeln der würdevollen Bürgerhäuser zwischen Bahndamm und Hauptstraße zu schweben. Darüber zu schweben oder bisweilen bleischwer darauf zu lasten. Vater trat dann ein halbes Jahr nach Großmutters letztem Gespräch und über zwanzig Jahre nach Großvaters unversehenem Herzversagen heimlich den Sozialdemokraten bei. Großmutters Gatten kannte ich kaum, Großmutters Bruder, der doch wegweisend, wahrhaftig wegweisend für meine nähere Zukunft sein wird, überhaupt nicht.

Manchmal an einem dieser Spätherbstabende der räumlichen Tiefe und der behaglichen Stille trug Großmutter einen Schuhkarton mit sich ins Rez-de-Chaussée, einen weißen Schuhkarton, dessen einstiger Inhalt den Weg aller Alltagsgegenstände längst gegangen war. Nun enthielt dieser Karton allerhand Erinnerungsstücke, die Großmutter an solchen Abenden mit liebender Sorgfalt auf dem Stubentisch ordnete. Ich allein durfte ihr dabei zusehen, schweigend, unter wohliger Hochspannung genoss ich mein Vorrecht. So sammelte sich zu den knappen Kommentaren Großmutters über der Familiengeschichte aus Klecksen, Ritzen und Brandmalen eine Familiengeschichte aus Postkarten, Briefen und Fotografien.

In Großmutters vergegenwärtigter Vergangenheit handelten die verschiedensten Personen nebeneinander; verschiedene Personen neben den lebenden. Eltern neben Enkeln, flüchtige Bekanntschaften neben Ungaren sechsundfünfzig, ihr Gatte neben seinen Kameraden, neben seinen Kontrahenten. Sie reisten, heirateten, entschuldigten sich, wünschten Glück, hatten Sorgen und wollten sich deswegen zum Kaffee verabreden.

Ich mochte dieses Zeremoniell um den Schuhkarton der Erinnerung und mag die Erinnerung daran, mochte jedes einzelne der Schrift- und Bildzeugnisse, ganz besonders allerdings mochte ich den Briefumschlag zuunterst im Karton, den Großmutter ihrem Souvenirsystem auf der Schieferplatte des runden Stubentischs deshalb zuletzt beifügte und zuerst wieder entnahm: den Briefumschlag mit Lorenz’ Gedichten, den Gedichten ihres verschollenen Bruders.

Nie wurde offen über ihn gesprochen, lange hatte ich nichts gewusst von seiner Existenz. Als ich das erste Mal nach ihrem Bruder, den Andeutungen und Gerüchten fragte, zögerte Großmutter, sie zögerte, seufzte, um zu sagen, das sei eine lange und traurige Geschichte, die man besser nicht aufwärmen sollte. Schließlich erzählte sie doch, dass er sich nach dem Krieg mit meinem Urgroßvater überworfen habe, daraufhin davongelaufen und nie mehr nach Chur zurückgekommen sei. Zusammen mit Federico, einem Freund, einem Italiener, sei er gegangen. Dann stieg Großmutter nach oben. Sie kam mit einem weißen Schuhkarton unter dem Arm zurück: die Premiere des Erinnerungszeremoniells.

Einige Fotografien, die gelegentlich auf Familienfesten kursierten, kannte ich, die übrigen Fotografien, die Postkarten und Briefe, die Widmungen hatte ich zuvor noch nie gesehen. So wie ich ihr danach manchmal noch dabei zuschauen durfte, reihte Großmutter ihre Kleinode auf und legte zu guter Letzt einen unbeschrifteten Umschlag in deren Mitte. Sie werde mir nun etwas zeigen. Nicht einmal mein Vater habe eine Ahnung davon. Es sei ihr Geheimnis, von nun an unser Geheimnis. Hörst du, Christoph? Unser Geheimnis!

Im Umschlag waren zwölf Gedichte in einer fein gezogenen Kunstschrift und eine Bleistiftskizze, das Bildnis von zwei jungen Männern vor einer altertümlichen Tempellandschaft. Die Gedichte trugen als Titel Namen italienischer und französischer Ortschaften. Sie würden wohl Lorenz’ Reiseroute nachzeichnen, meinte Großmutter. Zwei Jahre lang seien sie alle paar Monate eingetroffen, immer auf demselben steifen Briefpapier geschrieben, jedoch ohne Gruß oder Erläuterung; die Skizze sei dem Gedicht aus Rom beigelegt gewesen. Großmutter las vor – leise, aber bedeutungsvoll … Dann steckte sie unser Geheimnis vorsichtig in den Umschlag zurück und hielt den Zeigefinger auf ihre schmalen Lippen.

Was aus Lorenz geworden sei, konnte Großmutter nicht sagen, der letzte Brief sei aus Bordeaux, vielleicht habe er nach Amerika … Die Frage, warum niemand nach ihm gesucht habe, beantwortete Großmutter mit einem kläglichen Ach. Auf die Erkundigung schließlich, ob sie je wieder etwas von Federico gehört habe, erwiderte sie, dass dieser wohl nicht verschollen sei, winkte nun aber so unmissverständlich ab, dass ich das Schicksal ihres Bruders und seines Freundes nie mehr ansprach, auch nicht, wenn Großmutter an künftigen Spätherbstabenden, Novemberabenden der räumlichen Tiefe, ihre Erinnerungen aus dem Schuhkarton kramte und leise, aber bedeutungsvoll Lorenz’ Gedichte rezitierte.

Unser Geheimnis – ich habe es bewahrt.

Wenige Wochen nach Großmutters Tod begannen wir ihr würdevolles Bürgerhaus aufzuräumen, weil bald schon mein älterer Bruder Florian und seine Verlobte einziehen wollten. Den weißen Schuhkarton fand ich im Schlafraum, gut verstaut in einer Holztruhe. Ich nahm den Umschlag, der zuunterst im Karton lag, in Gewahrsam, ging nach unten, wo ich Vater, Mutter und den Brüdern die restlichen Souvenirs auf dem Tisch ausbreitete, jedes Ding an seinen Platz. Gerührt betrachtete meine Familie die Fotografien, Postkarten und Briefe, die Großmutter zu gegebener Zeit (an Geburtstagen zumal, an Hochzeiten und atemberaubend trockenen, kalten Novemberabenden) in die Runde gereicht hatte. Niemand außer mir hatte alle Erinnerungsstücke gesehen, manche Erinnerungsstücke hatten alle gesehen, jedes Erinnerungsstück hatte zumindest noch jemand außer mir gesehen; dem Umschlag mit Lorenz’ Gedichten aber fragte niemand nach. Unser Geheimnis – ich habe es bewahrt.

Wahrlich: Ungeachtet ihres damaligen Todes, oder gerade deshalb, ist Großmutter gestalt ihrer Hinterlassenschaft Bedingung und mit ein Grund meiner Reise in diesen so wichtigen Sommer. Großzügig vererbte sie einen kleinen Teil ihres Vermögens direkt an ihre Enkel, mein kleiner Teil ist nun mein Reiseetat, der bis nach Frankreich hinhalten soll, denn die fünfte, letzte und wichtigste mir in meiner neuen Unabhängigkeit selbst auferlegte Reiseregel besagt: Folge Lorenz’ Gedichten!

Das erste führte mich gestern nach Lavin, dem hübschen, geradezu beschaulichen Dorf, wo Lorenz wahrscheinlich Großeltern und übriger Sippe, sein Vater erst war nach Chur abgewandert, einen Besuch abgestattet oder sogar eine Weile bei ihnen Unterschlupf gefunden hatte. Die weiteren Gedichte führen mich nach Meran, nach Venedig und Florenz und … Sie bewegt sich doch!

Die Bahn bewegt sich! Ein Ruck geht durch den Wagen, ich blicke nicht auf. Das Tippen, Stricken und Schnarchen unterbricht, die gesamte Kakofonie der Langeweile wandelt sich über einen Augenblick des Aufhorchens in ein gemeinschaftliches Raunen; die Bahn bleibt nach wenigen gerollten Metern stehen. Weile, die Weite gewinnender Wandrer, am Wasser der Berge …

Zwar forschte bisher niemand in unserem Umfeld ernsthaft nach Lorenz’ Verbleib, Großmutter verbat sich dies ausdrücklich und erfolgreich, aber natürlich gab es Gerüchte, natürlich hatte jeder seine eigene Theorie. Ohne je die Gedichte zu erwähnen, fragte ich da und dort nach, erfuhr dieses und jenes. Einzig Vater kannte eine wirklich spannende Anekdote. Vor einigen Jahren sei er in einer Fachzeitschrift für Literatur – Vater unterrichtet Deutsch und Englisch am Gymnasium – auf einen Artikel über impressionistische Lyrik gestoßen, verfasst von einem Federico Biancardi, was Gerüchte zu bestätigen schien, Lorenz’ Freund hätte in Italien eine akademische Laufbahn angetreten. Als er Großmutter darauf hingewiesen habe, sei ihr Abwinken sehr unmissverständlich gewesen, nein, er habe nicht insistiert.

Ich habe mich vor meiner Abreise im Netz kundig gemacht. Auf den Namen Biancardi Federico fanden sich in ganz Italien sechs Telefonbucheinträge, wovon einer für Professore Biancardi in Rom stand. Die Suchmaschine hat mir literaturwissenschaftliche Abhandlungen angezeigt, die sich vornehmlich mit deutscher Poesie beschäftigen. Denkbar, dass Professore Biancardi Lorenz Steiners ehemaliger Weggefährte ist, ich weiß es nicht; weiß nicht, ob ich ihn in Rom aufsuchen soll, ob ich es will. Noch weiß ich es nicht, noch bin ich ganz am Anfang meiner Reise, wer weiß, wie lange noch?

Erneut geht ein Ruck durch den Wagen, ich lege die Zeitschrift nieder. Der Raucher gibt beschwörende Handzeichen, was die Rentner hinten allerdings nicht an die Fortsetzung ihres Ausflugs glauben macht, die Familie nebenan genauso wenig. Der Raucher flüstert beschwörende Flüche. Komm schon. – Langsam, langsam schiebt sich die Bahn vorwärts, nimmt Fahrt auf und mutet an, als bremse sie nicht gleich wieder. Auch der hinterste Wagen muss jetzt die Galerie, die vor Steinschlag und Staublawinen, nicht aber vor Sterbewilligen schützt, verlassen haben; die Bahn rollt. Sie rollt in den ersten echten Sommertag dieses so wichtigen Sommers: Morgen ist Eröffnungsspiel!

Susch ist nahe, Zernez nur wenig ferner. Ich werde frühstücken, mir Duschgel besorgen und einen Postbus Richtung Meran nehmen. Und ich werde versuchen, Monique zu vergessen. Sie und den Zwischenfall von vorgestern. Jemand hat sich töten lassen, die Bahn fährt endlich weiter.

Zweites Kapitel

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Ich sitze auf einer Parkbank im Schatten von Blättern eines Baumes, den ich nicht benennen kann, weil Botanik mich nicht interessiert. Die Lärchen des Engadins erkenne ich dank Vaters unermüdlichen Einsatzes für meine Heimatliebe, im Übrigen sind die Geisteswissenschaften meine Domäne. Jedenfalls bildet die Baumkrone ein natürliches Sonnendach zum Schutz vor der aufkommenden Meraner Mittagshitze, und der sanfte Wind im Laubwerk sorgt mit dem Fließen der Passer im Hintergrund für eine sehr beruhigende Geräuschkulisse. So beschirmt betrachte ich das historische Kurhaus, laut dem bescheidenen Faltblatt das schönste Jugendstilgebäude der Alpen.

Auf dem Vorplatz steht in Reih und Glied eine Kompanie der italienischen Streitkräfte, deren Soldaten und Offiziere gefiederte Filzhüte tragen. Sie scheinen für einen Empfang oder Ähnliches zu üben, die sich sammelnde Zuschauermasse ist ratlos wie ich. Einige Male wird die Truppe in Habachtstellung befohlen, einer misst mit einem Band die Abstände zwischen den verschwitzten Kolonnen aus, woraufhin wieder lange Zeit gar nichts geschieht. In für den Außenstehenden unerklärlichen Intervallen lösen sich Strammstehen und Rumstehen ab. Obgleich die Soldateska dabei gähnt, grinst und telefoniert, spürt man, dass gleich etwas Wichtiges geschehen muss, ich erwarte zumindest einen hohen Würdenträger Südtirols.

Das militärische Spektakel zieht sich in seinen Wiederholungen hin, seit ich mich vor einer Viertelstunde auf der Bank an der Promenade niederließ, nachdem ich vom Hotel aus den Fluss entlang flaniert hatte; von einem nicht ganz günstigen Hotel aus. Denn als ich gestern am späten Nachmittag endlich in Meran ankam, war leider alles, was meiner Reiseregel vom günstigen Logis gehorcht hätte, ausgebucht oder abgelegen – die Passfahrt mit dem Bus und die Panoramabahnreise durch die siebzig Kilometer Apfelbaumpflanzungen des Vinschgaus verliefen doch gar uneilig. Nun habe ich wenigstens ein geräumiges Bad und Ausblick auf die Küchenabfälle im Hinterhof.

Heute Morgen beschloss ich, mir das Geld für die Übernachtung am Frühstücksbuffet zurückzuessen, niemandem also etwas vom Lachs übrig zu lassen. Dazu gönnte ich mir, obschon ich dieses Getränk nicht besonders mag, einige gut gefüllte Gläser guten Proseccos: Sehr gut gelaunt zog ich danach zum Spaziergang aus. Der Passer nach, die ich wohl benennen kann, weil Geografie mich mehr interessiert als Botanik, ging ich den Thermen zu.

»Attenti!«

Die Kompanie zuckt sich gerade. Etwas beschämt begaffe ich in der hintersten Reihe die stramme Figur einer, beileibe nicht der einzigen, Kämpferin, deren Haar zum strengen Zopf gebunden ist. Zwei ältere Herren in meiner Nähe beobachten sie ebenfalls und salutieren feixend. Ein kleiner, dicker Schreihals schreitet mit prüfendem Blick die Reihen ab, schiebt ein paar Kameraden zurecht, darauf nickt er einem Vorgesetzten zu. Dieser, er steht erhöht auf der Eingangstreppe zum Kurhaus, mustert kurz die Formation, um sogleich mit einer brennenden Zigarette Korrekturen zu winken. Er widmet sich von Neuem dem Gespräch mit einem der zahlreichen hohen Offiziere, dem er mit ausladenden Gesten den weiteren Ablauf der Präsentation schildert oder das Kurhaus beschreibt.

Die dritte Reiseregel zu Verpflegung und Unterkunft musste ich gestern brechen, bezüglich der vierten bin ich auch leicht in Sorge. Meine ausgeprägte Scheu zu überwinden und jeden Tag mit einer hübschen Frau zu sprechen, ist eine echte Herausforderung. Die Schönheit im luftigen Sommerrock, die sich eben ans andere Ende der Parkbank setzt, könnte mir vielleicht sagen, wie spät es ist oder wo man den besten Kaffee trinkt, doch ich traute mich selbst dann nicht zu fragen, wenn ich es wirklich wissen wollte. Stattdessen starre ich sprachlos auf einen Hintern der italienischen Armee.

Frauen begegne ich meist unbeholfen, der erste Eindruck, den ich bei ihnen hinterlasse, dürfte ziemlich schwach sein. Ich schiebe diese Unbeholfenheit gern darauf, dass ich nur mit Jungs aufgewachsen bin. Im ruhigen Quartier zwischen Bahndamm und Hauptstraße wohnten nämlich nur zwei Mädchen meines Alters: das dumme und das hässliche. Meine Sandkastenliebe war ein leuchtend gelber Bagger – so weit die laienpsychologische Erklärung.

Natürlich gab es erste schüchterne Geständnisse in anonymen Briefen, natürlich gab es auf dem Gymnasium Abenteuer während der Klassenfahrten. Auch gab es später einige ausgedehntere Kennenlernphasen und großzügig ausgelegt sogar einen Beziehungsversuch. Immer jedoch verkuppelte Alkohol, was sich wieder nüchtern nicht mehr gefallen wollte.

In meiner rein männlichen Studentenwohngemeinschaft unweit außerhalb Zürichs feiert das andere Geschlecht immerhin Gastauftritte in der Rolle der mitgebrachten Tanzflächenbekanntschaft. Zu acht sind wir für wenig Geld in einer heruntergekommenen Villa eingemietet, deren oberstes Stockwerk von Holzöfen gewärmt werden muss und in deren Leitungen, sollte auf einen nebelverhangenen Novemberabend eine halbwegs klare Nacht folgen, manchmal das Wasser gefriert. Lindgrüne Kacheln verkleiden die zwei Badezimmer, sie tragen Spuren mancher Jahre und Bewohner, und auf den Toiletten im zweiten Stock hockt man beklagenswert niedrig, da ein Sprössling der einstigen Besitzer kleinwüchsig war.

Aufgrund solcher Unannehmlichkeiten verkehren zeitweilige Freundinnen meiner Wohnpartner selten in unserer Bleibe, zudem werden diese seltenen Visiten wenn möglich verheimlicht. Irgendwann bürgerte sich die Unsitte ein, Damenbesuch leise, aber bedeutungsvoll mit tierischen Lauten zu kommentieren; der feinfühlige Liebhaber verabredet sich deswegen auswärts und übernachtet bei ihr. Schade eigentlich. Wir können kochen, haben einen Billardtisch, ein Schwimmbecken, eine Glücksspielveranda und einen Weinkeller, zu dessen Finanzierung wir eine pauschale Weinsteuer erheben. Die vierzig Franken monatlich muss zu zahlen bereit sein, wer einziehen möchte.