Über dieses Buch

Geht es Ihnen auch so: Sie spüren fast täglich Ihre eigenen Widersprüche. Und die von anderen, die uns nahe sind oder die wir durch Medien beobachten. Wir sind paradox: Wir wollen Flüchtlinge in unser Land lassen – doch nicht zu nah. Wir wollen die Energiewende – aber ohne Wind­räder und Stromleitungen vor der Haustür. Wir treten für Offenheit und Kritik ein – wollen selbst aber davon verschont bleiben ...

Doch: Kein Grund zur Resigna­tion! In diesem Buch geht es um einen produktiven Umgang mit eigenen und fremden Widersprüchen in zentralen Feldern unseres Lebens: wie wir unsere Zwiespältigkeit nutzen können, um Ver­änderungen zum Besseren den Weg zu bahnen.

Für Jutta

Hinweis zum Autor

Norbert Copray studierte 1972 bis 1980 Philosophie, Sozialwissenschaften, Psychologie und Theologie in Tübingen und Frankfurt am Main mit den Abschlüssen B.A. phil., M.A. phil., Dipl.-Theol. und Dr. phil. Zusatzausbildungen in Psychotherapie, Gruppendynamik, Meditation und Publizistik. Langjährige freiberufliche Tätigkeit als Journalist und Redakteur (u. a. im HR, von »LayReport« und »Chefposition«), als Berater, Therapeut, Seminarleiter und Coach, Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. 1980 Aufbau eines Netzwerks für Coaching, Training und Consulting zur Begleitung von Führungskräften und Management. 2000 Gründung der Fairness-Stiftung gemeinnützige GmbH. Zahlreiche Vorträge, Seminare und Trainings. Seit 1977 freiberufliche Leitung des Rezensionswesens der Zeitschrift Publik-Forum, für die er auch im Auftrag der Leserinitiative Publik e. V. als ehrenamtlicher Herausgeber und Gesellschafter tätig ist.

Vorwort

Ich hänge mit drin. Sie hängen mit drin. Wir alle hängen mit drin – in einer regionalen, europäischen und globalen Gesellschaft und Wirtschaft. In diesen Zusammenhängen werden wir selbst zu einem Bündel aus Widersprüchen, aus Ansprüchen und Zusprüchen, aus Anforderungen und Herausforderungen, die auch mit dem besten Willen nicht auf einen Nenner zu bringen sind, schon gar nicht in einer Person. Das strapaziert uns: unsere Gesundheit, die Natur, Tiere und Mitmenschen, Sozialität und Politik, unsere Spiritualität, unsere Moral, unsere Orientierung und unsere tägliche Praxis. Manche belastet es so sehr, dass sie daran zu leiden beginnen, mitunter Burnout, Depression oder gar schizoide Verhaltensweisen entwickeln. Das eigene Leben gestalten müssen und dabei neben sich stehen: Das passiert öfter, als viele glauben. Die Medien verstehen das zu nutzen und dringen in uns ein: mit ihrem Dauergrundrauschen, mit ihrer zusätzlichen Widerspruchsvermehrung, mit ihren Ersatzhandlungen für unsere Souveränität etwa durch Votings und Feedbacks. Sie besetzen Felder, die unsere ureigenen sind: unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie wissen durch die digitale Realität von Algorithmen, was wir zu tun gedenken, unterlassen werden. Sie wollen es zumindest und behaupten es.

In Widersprüchen sind wir – ich und Sie – befangen:

Die Liste ließe sich noch seitenlang weiterführen und individuell spezifizieren.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns Klarheit verschaffen über

Ich lade Sie ein, mich bei meinem Gang durch markante Widersprüche unserer Zeit, ihre Dimensionen und Dynamiken zu begleiten. Um herauszufinden, wie es um uns bestellt ist und was wir den Ambivalenzen, in und mit denen wir leben, konstruktiv abgewinnen können. Das vorliegende Buch verdankt sich in einigen Passagen Vorträgen und Statements und ist teilweise eine Antwort auf Reaktionen dazu. Der Stil freier Rede wurde so weit wie möglich bewahrt, um den Versuch anzuzeigen, die eigenen Erfahrungen mit Widersprüchen und die Gedanken dazu in Sprache zu bringen.

So können Sie mit mir entdecken, wie unsere mehrfache Zwiespältigkeit zum Antrieb, zur Herausforderung und zur Quelle einer immerwährenden Umkehr oder zu einem steten Neubeginn eines Lebens mit Widersprüchen und durch Widersprüche hindurch werden kann. Die Dialektik unserer Widersprüche ist der Stoff, aus dem Neues zu werden vermag. Immer wieder. Ohne Unterlass. So wie das Universum ständig neue Sterne gebiert.

Ich wünsche Ihnen eine anregende und bisweilen aufregende Lektüre

Norbert Copray

I. Geld und Liebe

Nahezu neunzig Prozent der Bevölkerung in Deutschland forderten 2010 eine »andere Wirtschaftsordnung«. Der Kapitalismus sorge weder für einen »sozialen Ausgleich in der Gesellschaft« noch für den »Schutz der Umwelt« oder einen »sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen«, hieß es. Dies hatte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung herausgefunden. Das war vor fünf Jahren – noch inmitten der für alle wahrnehmbaren Finanz- und Wirtschaftskrise.

Und heute?

Wachstum und Geld waren den Deutschen 2010 nicht so wichtig. Die Umwelt und sozialer Ausgleich umso mehr. Wenn sich acht von zehn Bundesbürgern angesichts der europaweiten Finanz- und Wirtschaftskrise eine neue Wirtschaftsordnung wünschten, warum ist dann diesbezüglich so wenig geschehen. Warum sind es oftmals nur kleine Minderheiten, die sich für eine andere, eine sozialere, ökologische und fairere Wirtschaftsordnung einsetzen oder dafür demonstrieren?

Immerhin misstrauten zwei von drei Befragten seinerzeit bei der Lösung der Probleme den Selbstheilungskräften der Märkte. Vier Jahre später dann zeigen sich 49 Prozent mit der sogenannten »sozialen Marktwirtschaft«, also der bundesrepublikanischen Spielart des Kapitalismus, zufrieden.

Seinerzeit sagte Aart Jan De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, das Volk sei gar nicht so stark an kurzfristigen Zielen interessiert: »Nachhaltigkeit, Umwelt und Soziales liegt vielen Bürgern mehr am Herzen, als Politiker glauben.« Zwei Drittel der Befragten glaubten nicht mehr daran, dass Wirtschaftswachstum die eigene Lebensqualität steigere.

Die von der Euro-Krise ausgelösten Sorgen der Deutschen werden inzwischen durch andere Ängste verdrängt. Das belegen Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW. Während sich 2009 noch 49 Prozent der Bürger vor instabilen Märkten fürchteten, waren es im vergangenen Jahr nur noch dreißig Prozent. »Man darf nicht vergessen, dass die breite Bevölkerung sich seit einigen Jahren an die Krise gewöhnt hat und auch die hohe Erwartung an stabile Finanzmärkte gesunken ist«, sagte Jürgen Schupp, Leiter der SOEP-Forschergruppe.

In einer Rangfolge der persönlich wichtigen Dinge stehen für immer mehr Befragte postmaterielle Ziele auf den ersten Plätzen: »Gesundheit« liegt auf dem Spitzenplatz, gefolgt von »Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation« und dem »Schutz der Umwelt«. Erst als Letztes wünschen sich die Deutschen, »Geld und Besitz zu sichern und zu mehren«. Soll man das glauben?

Der Ökonom und Futurist Jeremy Rifkin sieht uns als »Zeugen der Endphase des Kapitalismus«. Er ist extrem skeptisch gegenüber Vorstellungen von einer perfekten Welt, in der es keine Probleme gibt. »Das hat mit dem echten Leben nichts zu tun.« Und doch klingt das, was Rifkin – der unter anderem Angela Merkel, die EU und den chinesischen Premier berät – in seiner Keynote bei den CeBIT Global Conferences 2015 vorstellte, recht utopisch: Schon 2050 soll der Kapitalismus als vorherrschende Wirtschaftsform ausgedient haben. Das hatten andere vor ihm auch schon prophezeit. Es ist jedoch anders gekommen. Der Kapitalismus ist in einem ständigen Wandel begriffen und verwandelt dabei die Welt selbst mit: Aus Welt wird Ware.

Rifkin sieht eine Perspektive in der Share-Economy (Gemeinnutzen-Wirtschaft durch Teilen), die auf der gemeinschaftlichen Produktion, Verteilung und Nutzung von Gütern basiert. Gewissermaßen ein globales WG-Modell.

Im Blick auf Wikipedia, Blogs, Twitter, Facebook und Creative Commons, die Open-Source-Bewegung oder den 3D-Druck werden wir alle zu »Prosumenten«: Wir konsumieren nicht nur, sondern produzieren auch, stellen also selbst Material, Wissen, Informationen, Meinungen, Urteile und Fähigkeiten zur Verfügung. Auf diese Weise werden immer mehr Güter zu einem immer niedrigeren Preis verfügbar. Wir steigern die Discount-Gesellschaft, auch durch das sogenannte »Internet der Dinge«. Eine These, die Rifkin – und nicht er allein – auch schon früher vertrat. Derzeit tragen bereits 60 Millionen Käufer Armband-Spione (sogenannte Self-Tracker) zu Pulsschlag, Herzfrequenz, Stimmung und Atmung, und es wird prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020 26 Milliarden Geräte ans Internet angeschlossen sein werden. Das bedeutet: Milliarden Dinge und Konsumentenprofile, Trillionen Informationen, Billionen Dollar.

Machen wir uns einmal bewusst, was Firmen wie Ikea, Edeka, Rewe, Aldi, McDonald’s oder Kaufhof ­allein in Deutschland an Tageseinnahmen haben: Es sind ­jeweils zwei-, dreistellige Millionensummen. 2014 machten die Lebensmittelhändler einen Jahresumsatz von 165 Milliarden Euro; das sind rund 743 Millionen werktäglich, davon 79 Prozent in bar an den Kassen der Geschäfte. Nur ein Teil davon wird für neue Einkäufe, für Gehälter, für Nebenkosten benötigt. Wohin also mit dem Rest? Überlegen wir einmal, wie gewaltig die Summen sind, die sich bei Versicherungen ansammeln, weil Menschen für ihr Alter vorsorgen. Oder bei Pensionskassen, die die betriebliche Altersvorsorge für ihre Mitarbeiter sichern sollen. Es geht um Milliardensummen. Diese müssen so verwaltet werden, dass die Rendite gesteigert und das Vermögen vermehrt wird. Denn alle wollen mehr ausbezahlt bekommen, als sie einbezahlt haben. Doch das ist derzeit schwierig und oft mit Spekulation und Ri­siko verbunden.

Und nicht nur das: An dem Vorgang wollen viele Menschen mitverdienen – Fachkräfte, Führungskräfte, Verwaltungs- und Aufsichtsräte, Beteiligungsgesellschaften. Schließlich entstehen durch Konkurrenz, Ehrgeiz, Risikovorsorge, Gier und Übernahmeängste bei solchen Unternehmen zusätzliche Antreiber, die einen höheren Zugewinn bei der Verwaltung und Vermehrung verlangen. Schnell ist niemand mehr mit einem, zwei oder fünf Prozent Zugewinn zufrieden. Es müssen mehr sein: zehn, fünfundzwanzig, sechzig oder gar hundert Prozent, wie sie etwa bei Hedgefonds und Private Equity möglich sind.