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Rasso Knoller
Norwegen

Rasso Knoller

Norwegen

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2013)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos,
das das kleine Dorf Reine auf der Lofoteninsel Moskenesøy zeigt
(Jörg Dauerer / imagebroker / vario images)
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
Satz: typegerecht, Berlin
Karte: Christopher Volle, Freiburg 

ISBN 978-3-86284-240-7

Inhalt

Vorwort

Norwegisches Selbstverständnis

Fuchsschweif am Polarhimmel und Sonne um Mitternacht

Zu perfekt, um wahr zu sein

Auf du und du mit dem Chef

Das Gesetz des Jante – oder: Wenn alle gleich sind

Norge er best

Ein König für alle

Flaggenwahn im Königreich

Trachten tragen

Rote Russen in Norwegens Straßen

Der etwas andere Nationalfeiertag

And the decision is Lilly Hämmar

Mit der Thermoskanne in die Berge

Wer hat’s erfunden?

Verdensbest i Norge

Büroklammer, Käsehobel und Spraydose

Pizza und Frikadellen, Schafskopf und Laugenfisch

Matpakke und Mellomleggspapir

Glückliche Norweger

Gastfreundlich – aber nicht zu sehr

Fortschrittspartei im Rückwärtsgang

Von rechts bis links – alles Sozialdemokraten

Geben für die Fremden in der Fremde

Norwegen nach Breivik

Norweger und Deutsche

Das Traumland des Kaisers

Großer Dichter, dummer Mann

Norwegische Soldaten in Deutschland

Deutsche Wohnmobilinvasion

Weltkriegserbe am Grunde des Oslofjords

Derrick ermittelt für Deutschland

Auf ins kalte Paradies

Geschichte: Im Schnelldurchlauf durch die Jahrtausende

Die Flintstones in Norwegen

Wandern und wüten

Mit Schwertern durch Europa, mit Schiffen nach Amerika

Ein König als Kultstar

Eroberer verzweifelt gesucht

Streiten, bis der Däne kommt

Deutsche Kaufleute am Fjord

400 Jahre Nacht

Dänische Kriege, norwegische Verluste

Schweden statt Dänemark

Störrische Untertanen

Dänenprinz auf dem Norwegerthron

Quisling – Verräter auf Hitlers Seite

Hakenkreuz über dem Oslofjord

Lebensborn: Norwegische Kinder für den Führer

Deutschenkinder – Kinder der Schande

Landesverräter vor Gericht

Aufschwung Nord

EG und EU, nein danke

Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt

Ölgeschenk zu Weihnachten

Gutes Geld, schlechtes Geld

Sichere Renten aus dem Meer

Schnelle Krone auf der Plattform

Nummer eins – auch beim Preisniveau

Wasserkraft, die Aufschwung schafft – von der Fischernation zum Industrieland

Trockenfisch und Lachszucht

Stadt, Land, Fluss – Oslo und die Provinz

Das Land ohne Butter

Käpt’n Ahab aus Norwegen

Wal in Sicht – Waljagd mit der Kamera

Brave Norweger, böse Norweger

Die Sami – Minderheit mit Einfluss

Tickende Zeitbombe auf der Kolahalbinsel

Ein Paradies für Frauen!?

Das Land der vielen Kinder

Betreuungsgeld auf Norwegisch

Schulaufgabe am Netbook

Kleines Land, große Künstler

Norge oder Noreg?

Die Friedensmacher

Der Staat passt auf beim Trinken

Vorspiel vor dem Gartenzaun

Gute Freunde kann keiner trennen

Hauptsache besser als Schweden

Nachwort: Warnung vor dem Troll!

Anhang

Lesetipps

Internetseiten

Karte

Basisdaten

Als ich zum ersten Mal diese Landschaft sah, hatte ich das Gefühl, hier hat Gott selbst Hand angelegt.

Horst Tappert, Norwegenfan und als Fernsehkommissar Derrick einer der bekanntesten Deutschen in Norwegen

Vorwort

Hätte ich dieses Vorwort vor dem Sommer 2011 geschrieben, hätte ich vermutlich vom glücklichen Norwegen gesprochen, von einem Land, das im Ölgeld badet und dessen größtes Problem darin besteht, das viele Geld so gut wie möglich anzulegen. Ich hätte von dem Land mit den weltweit geringsten Einkommensunterschieden zwischen Arm und Reich geschwärmt, einem Land, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter viel weiter fortgeschritten ist als bei uns und man nicht über Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitskräftemangel klagt. Ich hätte vom Nationalstolz der Norweger gesprochen und von ihrer Begeisterung für Fahnen und Trachten. Hätte erzählt, wie jeder jeden duzt und der König mit der S-Bahn fährt. Hätte erklärt, welche besondere Bedeutung Käsehobel und Büroklammer für Norweger haben, und von den feucht-fröhlichen Abiturfeiern erzählt, die dort schon vor den Prüfungen stattfinden.

All dies wird in diesem Buch immer noch Thema sein. Doch die Anschläge vom Sommer 2011 haben das Land verändert. Durch die Mordtaten des Rechtsradikalen Anders Breivik, bei denen 77 Menschen starben, musste man in Norwegen grausam erfahren, dass die »böse Welt« nicht vor den eigenen Landesgrenzen haltmacht. Deswegen wird sich das Buch auch mit den Reaktionen auf den Amoklauf auseinandersetzen und der Frage nachgehen, was sich nach den Bluttaten von Oslo und Utøya in Norwegen geändert hat.

Norwegen war auch schon vor den rechtsradikalen Anschlägen kein Paradies. Schon vorher wählten mehr als 20 Prozent der Norweger eine rechtspopulistische Partei. Dass man in einem Land, das Toleranz und Mitmenschlichkeit ganz oben auf der Werteskala einordnet, mit ausländerfeindlichen Parolen Wählerstimmen gewinnen kann, scheint ein Widerspruch zu sein, den dieses Buch zu erklären versucht.

Auf den ersten Blick wirkt Norwegen nicht wie ein Land, das man Reisenden aus hiesigen Gefilden erklären müsste. Wer durch die Straßen von Oslo oder Bergen spaziert, wird zunächst nichts entdecken, was ihm unverständlich vorkommt. Alles scheint erst einmal wie zu Hause. Doch schaut man genauer hin, entdeckt man schnell, dass Norwegen eben doch ein Land ist, in dem das Leben ziemlich anders als hierzulande abläuft.

Zum Schluss noch zwei Bemerkungen: In einem Leserbrief zu meinem Finnlandbuch aus dieser Reihe hatte mir jemand geschrieben, dass nicht alle Finnen so seien wie in meinem Buch beschrieben. Jeder Mensch sei doch ein Individuum. Das ist zweifellos richtig. Bücher über ein Land und dessen Menschen sind aber nur möglich, wenn man generalisiert. Deswegen gleich vorab: Nicht jeder Norweger ist so, wie in diesem Buch beschrieben. Die Eigenheiten treffen aber doch auf so viele zu, dass sie einem interessierten Beobachter ins Auge fallen. Und noch ein weiterer Hinweis: Ich habe in diesem Buch aus Gründen der Lesbarkeit immer die männliche Form verwendet, auch dann, wenn beide Geschlechter gemeint sind. Wenn ich vom Norweger spreche, ist also in der Regel auch die Norwegerin gemeint.

Jetzt aber möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu einer Entdeckungsreise durch Norwegen einladen.

Beginnen will ich dieses Buch mit einem Kapitel über das nordische Licht. Denn damit hat vor mehr als 30 Jahren meine Nordlandbegeisterung begonnen. Das nordische Licht ist unvergleichlich, und es hat mich immer wieder nach Finnland, Schweden und vor allem auch nach Norwegen zurückgelockt – im Sommer, wenn die Sonne auch um Mitternacht scheint, und im Winter, wenn das Polarlicht den Himmel erhellt.

Norwegisches Selbstverständnis

Fuchsschweif am Polarhimmel und Sonne um Mitternacht

Nordnorwegen – Spektakuläre Lightshow inklusive. In diesem Winter erwartet die NASA das stärkste Nordlicht seit über 50 Jahren. Buchen Sie daher jetzt Ihre Reise nach Nordnorwegen.

Werbetext von Visit Norway, dem Fremdenverkehrsamt von Norwegen, aus dem Jahre 2012

19. Januar. 11 Uhr und 8 Minuten. In Hammerfest geht die Sonne auf – das erste Mal seit dem 22. November. Damals war sie um 11.53 Uhr hinter dem Horizont verschwunden und hatte sich in eine lange Winterpause verabschiedet.

Erik steht tief im Schnee eingesunken auf der Terrasse seines Hauses am Stadtrand. Er ist dick eingemummelt in seinen knallgelben Parka, eine Mütze auf dem Kopf und dicke Fäustlinge an den Händen. Erik will die Sonne begrüßen. Fast zwei Monate hielt sie sich versteckt und auch jetzt gibt sie sich nur für eine Stunde die Ehre.

Erik ist Krankenpfleger und kommt eigentlich aus Südnorwegen. Erst seit drei Jahren lebt er in Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt. Sie liegt weit jenseits des Polarkreises, rund 1330 Kilometer Luftlinie von Oslo entfernt – eine Strecke, die fast genau der von Oslo nach München entspricht. Und schon Oslo liegt für deutsche Verhältnisse ganz weit oben im Norden. »Ziemlich dunkel hier«, versuche ich ein Gespräch mit Erik anzufangen. Der sieht mich fragend und mit einem Blick an, der mir zeigt, dass ich so gar keine Ahnung habe. »Wirklich dunkel ist es hier nie«, brummt er und deutet mit seiner behandschuhten Hand hinaus auf die weite Schneefläche. Recht hat er. Wenn das winterliche Weiß das Mondlicht reflektiert, taucht dieser Schein die Landschaft in ein besonderes, mystisches Licht. Wenn dann noch die grünen, blauen oder roten Flammen des Nordlichts über den Winterhimmel wandern, wird Nordnorwegen zur Bühne für ein grandioses Himmelsspektakel. Diese Aufführungen finden häufig statt. In der Zeit zwischen Oktober und April flirren mehrmals wöchentlich Polarlichter über den Himmel. Für Physiker sind sie nur elektrisch geladene Teilchen des Sonnenwindes. Und eigentlich sind Worte wie Nordlicht, Polarlicht oder norlys, wie die Norweger sagen, viel zu prosaisch für die fast irreale Erscheinung. Die norwegischen Nachbarn im Osten, die Finnen, haben ein viel passenderes Wort gefunden. Sie nennen das Nordlicht poetisch »Fuchsschweif«. Einer samischen Legende zufolge entsteht das Nordlicht nämlich dadurch, dass ein Fuchs mit seinem Schwanz über die Schneewehen peitscht, so dass diese Funken – die Nordlichter – sprühen.

Obwohl er eigentlich aus dem Süden kommt, ist Erik in nur wenigen Jahren zum stolzen Nordnorweger mutiert: »Im Winter ist es hier oben wie im Paradies«, schwärmt er. Ob die Dunkelheit, Mondschein hin und Nordlicht her, nicht depressiv mache, frage ich ihn. Erik ist ein ruhiger Mensch, er antwortet immer bedächtig und ohne seine Stimme zu erheben. Sein Blick verrät aber, dass ihn der Nordlandbesucher aus dem Süden mit seinen dummen Fragen nervt und er lieber ungestört die ersten Sonnenstunden des Jahres genießen würde. Das Thermometer zeigt minus 15 Grad, daran kann auch die eben nach langem Schlaf erwachte Sonne nichts ändern. Kälter wird es den ganzen Winter hindurch aber nur selten. Dafür sorgt der Golfstrom, der direkt vor der Haustür fließt und auch verhindert, dass das Meer zufriert. Der Golfstrom ist allerdings auch schuld daran, dass es in Hammerfest an mehr als 200 Tagen im Jahr regnet oder schneit und sich deswegen jetzt im Januar der Schnee meterhoch vor Eriks Haus türmt.

»Mit der Dunkelheit habe ich keine Probleme«, antwortet er schließlich. Wie alle Norweger hat er es sich aber auch zu Hause gemütlich – und vor allem hell – gemacht. Das Licht brennt in allen Zimmern, auch dann, wenn Erik nicht zu Hause ist. Norweger finden das normal. »Das ist gemütlicher so«, sagen sie. Die deutsche Journalistin und Norwegenkennerin Nina Freydag schreibt dazu in ihrem Buch Elche, Fjorde, Königskinder: »Denn Licht, Licht ist doch das Schönste auf der Welt! Wo Licht ist, ist ein Norweger glücklich. Ausschalten, wenn man das Zimmer verlässt? Dann wäre es ja dunkel, wenn man wiederkommt!«

Damit man draußen nicht im Dunkeln tappt, gibt es die Straßenbeleuchtung – und die gibt es in Hammerfest schon sehr lange. Als eine der ersten Städte in Europa installierte Hammerfest 1891 eine elektrische Straßenbeleuchtung.

Ohnehin ist Norwegen keineswegs ein Land der Dunkelheit. Ganz im Gegenteil. Vom 12. Mai bis zum 31. Juli gefällt es der Sonne in Hammerfest so gut, dass sie gar nicht mehr untergehen mag. Und dann gibt es dieses unglaubliche Licht. Sanft und weich, als würde es die Dinge nicht einfach beleuchten, sondern sie liebevoll umarmen.

Zum Beweis für die Helligkeit liest man in Reiseführern und Touristenbroschüren oft den Hinweis, dass man problemlos um Mitternacht Zeitung lesen könne. Das stimmt zwar, aber wer möchte schon im norwegischen Sommer die Zeit mit Politik- und Sportnachrichten verschwenden, kann man sich stattdessen doch im fantastischen Blau des nächtlichen Sommerhimmels verlieren. Eine ganz besondere Farbe, die sonst allenfalls Verliebte in den Augen ihrer Angebeteten entdecken.

Im nordischen Sommer lebt jeder eine Spur intensiver als in der übrigen Zeit, und deshalb ist Mittsommer – oder St. Hans bzw. Jonsok, wie die Norweger sagen – auch das wichtigste Fest des Jahres.

Früher, als noch der julianische Kalender galt, fiel die Sommersonnenwende auf den 24. Juni. Am selben Tag feierte man auch die Geburt von Johannes dem Täufer, St. Hans. Seit der Kalenderreform im 18. Jahrhundert ist nun der 21. Juni der längste Tag im Jahr. In Norwegen aber hat man die alten Traditionen beibehalten und feiert Mittsommer weiterhin am 24. Juni. Die eigentlichen Feiern beginnen aber schon am Abend vorher – dem St. Hansaften. Dann werden überall im Land riesige Holzfeuer entzündet, die böse Geister vertreiben sollen – zumindest war das früher so. Böse Geister haben es in der heutigen Zeit ohnehin schwer, und deswegen dient das Feuer inzwischen nur noch als stimmungsvoller Hintergrund für eine Party mit gutem Essen und (viel) Alkohol. Mutige Burschen sprangen früher durch die lodernden Flammen – auch den Teil der Tradition lässt man heute meistens weg.

Ledige Mädchen können an Mittsommernacht praktischerweise auch gleich herausbekommen, ob einer der feschen Burschen auf dem Fest als zukünftiger Ehemann in Frage kommt. Um zu erfahren, wen sie später einmal heiraten werden, müssen sie über sieben Zäune steigen, sieben verschiedene Blumen pflücken und das Sträußchen dann unter ihr Kopfkissen legen. Am nächsten Morgen, wenn sie nach dem langen Fest erschöpft einschlafen, erscheint ihnen der Zukünftige im Schlaf.

In unseren modernen Zeiten erscheint vielen Norwegerinnen an St. Hans der Traumprinz allerdings schon in der Realität. An diesem Tag werden, vermutlich mit alkoholischer Unterstützung, auffällig viele Kinder gezeugt. Der nordische Sommer ist eben in vielerlei Hinsicht eine besonders schöne Jahreszeit.

Zu perfekt, um wahr zu sein

In keinem Land Europas vielleicht wird eine solche Gastfreundschaft geübt wie in Norwegen. Auch auf den entlegensten Bauernhöfen wird der Fremde freundlich aufgenommen, und besonders ist man für sein leibliches Wohl besorgt.

Die Völker der Erde, Leipzig um 1890

Norwegen wirkt manchmal wie der Klassenstreber, der Liebling der Schwiegermutter oder der gut erzogene Nachbarssohn, der immer alten Damen über die Straße hilft. Alles läuft hier perfekt ab. Alle Fahrradfahrer tragen Sturzhelme, in Überlandbussen schnallt man sich brav an, und geraucht wird grundsätzlich nur draußen. Und alles ohne große Diskussion, denn schließlich ist das ja vernünftig. Und vernünftig, das sind die Norweger – obwohl sie das gar nicht so gerne hören.

An einem Basketballfreiplatz mitten in Oslo steht ein Schild: »Wir bitten die Benutzer uns zu helfen, die Anlage sauber zu halten«, heißt es da. Klar, dass, wer so freundlich gebeten wird, gerne »hilft«. Der Sportplatz ist blitzsauber, graffitifrei, nirgendwo liegen leere Flaschen herum, nirgendwo Abfälle. So etwas kenne ich von meiner Heimatstadt Berlin nicht.

»Geholfen« wird auch im Stadtbus. Aus Berlin bin ich es gewohnt, dass die Busfahrer gern mal ohne anzuhalten an einer Haltestelle vorbeifahren, wenn der Bus zu voll ist. Die wartenden Fahrgäste bleiben dann eben draußen. Als ich kürzlich in einem überfüllten Stadtbus in Oslo unterwegs war und draußen noch ein halbes Dutzend Fahrgäste stand, hielt der Busfahrer an und machte, bevor er die Tür öffnete, folgende Durchsage: »Wir müssen jetzt alle mithelfen und etwas zusammenrücken.« Anders als zu Hause murrte niemand, alle »halfen« und rückten zusammen – die wartenden Fahrgäste fanden problemlos Platz. Das wiederum ist dem norwegischen Snillismus geschuldet – snill bedeutet »nett«, und auch das sind sie, die Norweger. Unfreundlichkeit gehört nicht zu ihrem Alltagsmodus. Offenbar haben die Norweger ihre Streitlust zu Wikingerzeiten bereits völlig ausgelebt, denn man könnte sie fast als harmoniesüchtig bezeichnen.

Nun gut, ich habe noch in keinem norwegischen Wohnzimmer als geheimer Beobachter gesessen – ich nehme an, dass es dort auch nicht anders zugeht als überall auf der Welt und dass dort die ganz normalen Konflikte zwischen Mann und Frau, Kind und Eltern und Herr und Hund stattfinden.

Aber in der Öffentlichkeit sind alle snill. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal einen schreienden Norweger erlebt zu haben. Wenn man sich doch einmal beschweren muss, geschieht das ruhig und freundlich. Freundlichkeit im Umgang miteinander macht das Leben einfacher – das haben die Norweger kapiert, etwas, das sich in Deutschland noch nicht überall rumgesprochen hat.

Auf du und du mit dem Chef

Stolz und Biederkeit zeichnen die ländliche Bevölkerung aus. Jedermann wird mit »Du« angeredet.

Meyers Konversationslexikon von 1890

Was Meyers Konversationslexikon schon 1890 schrieb, gilt auch heute noch. Jeder im Land wird geduzt – mit Ausnahme von Mitgliedern des Königshauses. Norweger sprechen sich entspannt mit dem Vornamen an oder aber in Ausnahmefällen, wenn es eine Spur förmlicher sein soll, mit dem Nachnamen. Je nachdem, für welche Variante man sich entscheidet, würde man den gegenwärtigen Ministerpräsidenten also mit einem lockern »Du, Jens« oder mit »Du, Stoltenberg« anreden. Das »Herr« jedenfalls bliebe auf jeden Fall weg. Auch wenn es sich für deutsche Ohren etwas sonderbar anhört, das »Du« samt Nachnamen gilt in Norwegen keineswegs als unhöflich.

In den 1990er Jahren habe ich als Auslandskorrespondent in Oslo gearbeitet. Einmal im Jahr wurde ich zusammen mit meinen Kollegen von der damaligen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland zu einem Abendessen eingeladen. Dabei wurden die Themen des aktuellen politischen Geschehens besprochen. Insofern nichts Besonderes. Treffen wie dieses finden vermutlich in jeder Hauptstadt der Welt statt – mit Ausnahme von Pjöngjang und Teheran vielleicht.

Einmal nach einem solchen Abend war ich am Morgen danach in der Innenstadt von Oslo einkaufen. Über Nacht war es kalt geworden, und ich war auf der Suche nach Handschuhen. Im Kaufhaus hörte ich, wie mich jemand ansprach. »Hej, Rasso«, begrüßte mich eine Frau. Ich drehte mich um und sah, dass die Ministerpräsidentin hinter mir stand. Sie bedankte sich, dass ich an dem Essen teilgenommen hätte, und sagte, sie sei auf »dem Weg zur Arbeit«. Ich bedankte mich umgekehrt für die Einladung und wünschte Gro noch einen »schönen Tag«. Dann machte sie sich davon, vermutlich in Richtung Parlamentsgebäude. In der Hand hielt sie eine kleine Einkaufstüte. Sie hatte offensichtlich ihre Shoppingtour schon beendet.

Dass die Ministerpräsidentin auf dem Weg zur Arbeit noch kurz etwas einkauft, ist für einen Deutschen ein fast absurder Gedanke. Kaum vorstellbar, dass man beim Einkaufen in Berlin Helmut Kohl hätte begegnen können oder zusammen mit Angela Merkel am Wühltisch steht. Noch unwahrscheinlicher, dass einer der beiden ohne Leibwächter unterwegs sein würde, und ganz ausgeschlossen, dass sich der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin an den Namen eines völlig unbekannten Auslandsjournalisten erinnern würden.

Wie dem auch sei – Norwegen ist ein Land mit extrem flachen Hierarchien. Hans-Joachim Schilde, der als Rundfunkkorrespondent in Norwegen arbeitete, beschrieb in seinem Buch Norwegen, wie der Ministerpräsident und der Hausmeister gemeinsam in der Sauna des norwegischen Parlaments saßen, der Außenminister und sein Fahrer daneben und wie sie sich dort von Mann zu Mann über die kleinen Probleme des Lebens unterhielten. Sie duzten einander, und dem Ministerpräsidenten wurde aufgrund seiner Position kein besonderer Respekt gezollt. Hausmeister und Fahrer waren nicht besser und nicht schlechter als das hochrangige Politpersonal.

In der Sauna des Reichstags war ich zwar nie dabei – die folgende Geschichte habe ich dagegen selbst belauscht. Irgendwann zu Beginn der 1990er Jahre war der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel in Oslo zu Gast. Als sein Amtskollege und Gastgeber Thorvald Stoltenberg, übrigens der Vater des heutigen Ministerpräsidenten, im Wagen vorgefahren wurde, verabschiedete sich sein Fahrer mit der Frage: »Du, Thorvald, wann glaubst du denn, dass du fertig bist mit dem Treffen?«

Aus deutscher Sicht klingt eine solche Frage anmaßend. Der Fahrer wagt es, den Minister nach seinem Zeitplan zu fragen. Aus norwegischer Sicht ist sie aber nur logisch. Denn der Fahrer muss seine Termine ebenso koordinieren wie der Außenminister, und niemand sagt, dass die Termine des einen wichtiger sind als die des anderen.

Ich vermute, dass man bis zum Sommer 2011 auch den aktuellen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg bei einem Stadtspaziergang hatte treffen können. Mit Stoltenbergs Vater Thorvald konnte man sich jedenfalls jederzeit zum Mittagessen im Restaurant verabreden – und der Außenminister erschien dann immer mit guter Laune, aber nie mit Bodyguards.

Was für die Politik gilt, trifft auf andere Arbeitsbereiche gleichermaßen zu. Überall sind die Hierarchien wesentlich flacher als bei uns – und jeder duzt jeden, beispielsweise die Putzfrau den Vorstandsvorsitzenden.

Natürlich gibt es auch in Norwegen ein Oben und ein Unten. Auch dort nimmt der Hausmeister nicht an Vorstandssitzungen teil, und auch dort bestimmt der Pförtner nicht über die Ausgaben eines Unternehmens. Trotzdem ist die Diskussionskultur eine völlig andere. Konsens ist wichtig. Alle sollen letztendlich mit einer Entscheidung leben können. Und oft wird dann so lange diskutiert, bis das tatsächlich der Fall ist. Das ist eine schöne Sache – aber auch eine zeitaufwendige. Entscheidungen fallen selten von heute auf morgen, auch nicht von heute auf übermorgen. Wenn es um Großprojekte geht, kann diese Konsenssuche gut und gern mal ein Jahrzehnt dauern … Oder länger. Warum das so ist, versteht man vielleicht etwas besser, wenn man das nächste Kapitel gelesen hat.

Das Gesetz des Jante – oder: Wenn alle gleich sind

Bei uns ist »Jante« zu einem Begriff einer norwegischen Eigenheit geworden: kleinlich, gehässig und engstirnig. Die bornierte Mittelmäßigkeit, die sich über Unternehmungslustige mokiert.

Andreas Hompland (geb. 1946), norwegischer Journalist

Wer mein Länderporträt Finnland aus dieser Reihe gelesen hat, dem wird das folgende Kapitel bekannt vorkommen. Das hat einen ganz bestimmten Grund: Das Jantegesetz gilt nämlich im ganzen Norden, also in Finnland und Norwegen gleichermaßen.

Das Jantegesetz ist kein Gesetz im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Verhaltenskodex. Es besagt in groben Zügen, dass keiner glauben soll, er sei aufgrund seiner sozialen Position etwas Besseres als der andere. Es trägt sicher auch dazu bei, dass – wie im vorigen Kapitel beschrieben – in den skandinavischen Gesellschaften Hierarchien extrem flach sind.

»Erfunden« hat das Jantegesetz der dänische Schriftsteller Axel Sandemose in seinem Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur, der 1933 erschien. Benannt ist das Gesetz nach der fiktiven dänischen Stadt Jante. Es gilt aber nicht nur dort, sondern in allen Städten und Dörfern des Nordens.

Interpretiert man es positiv, steht es für Bescheidenheit und Gerechtigkeit, die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstreflexion. Alle sind gleich, jeder bekommt dasselbe, jeder hat die gleichen Rechte. Eigentlich eine schöne Vorstellung, auf der auch die skandinavische Idee des Wohlfahrtstaats beruht.

Negativ hingegen ist eines: Das Jantegesetz beschreibt auch eine Diktatur des Durchschnitts. Wo es keine »Schlechteren« gibt, darf es auch keine »Besseren« geben. Deswegen soll niemand klüger oder schöner sein als der andere. Zumindest darf er es nicht zeigen. Ganz vorbildlich handelte in diesem Sinne die Miss Universum von 1992. Als sie in ihren kleinen Heimatort in Mittelnorwegen zurückkehrte, erzählte sie in sämtlichen Interviews, dass sie sich überhaupt nicht verändert habe und nun ihren norwegischen Jugendfreund heiraten wolle. So etwas mögen die Norweger. Erfolgreich im Ausland, das darf man sein – schließlich soll jeder wissen, wie toll die Norweger sind – zu Hause wird dann aber Bescheidenheit erwartet.

Millionäre gibt es auch in Norwegen, und arme Menschen auch. Trotzdem: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich hier nicht so weit wie in anderen Ländern. Wer reich ist, der zeigt es zumindest nicht. Ein russischer Millionär würde vermutlich die Champagnerkorken nur so knallen lassen und mit Geld um sich schmeißen, und ein deutscher sich zumindest einen Porsche oder ein anderes Luxusauto vor die Tür der Villa stellen. Ein norwegischer Millionär fährt stattdessen brav mit der Straßenbahn zur Arbeit, denn der Nachbar soll bloß nicht denken, er wäre wegen seines Reichtums arrogant geworden.

Damit jeder trotzdem erfahren kann, was der andere verdient, sind alle Steuerdaten für jedermann im Internet einsehbar. Einfach die Seiten des Finanzamts aufrufen – und schon sieht man, wie es um den Nachbarn finanziell steht. Früher konnte man derlei Recherchen jederzeit anstellen. Seit einigen Jahren muss man sich dafür allerdings ein wenig beeilen. Die Steuerdaten können jetzt nur noch drei Wochen nach Zustellung der Bescheide mit minimalem Aufwand abgerufen werden. Danach muss sich der Interessent mit seiner Personennummer einloggen, um Einblick in einen Steuerbescheid zu erhalten. Datenschutz auf Norwegisch.

Was die Reichen und Berühmten des Landes verdienen, ist in der Regel sogar in der Boulevardpresse nachzulesen. Die Einkommen der Spitzenverdiener und Promis werden jedes Jahr groß und breit auf den Seiten der Zeitungen veröffentlicht. Für deutsche Politiker, die sich schon seit Jahren darum herumwinden, ihre Nebeneinkünfte offenzulegen, sieht so vermutlich die Hölle aus.

Norwegische Politiker sind aber noch anderen ungeschriebenen Regeln des Jantegesetzes unterworfen. Wer in Fernsehdiskussionen besserwisserisch auftritt, wie es die beiden deutschen Exbundeskanzler Schröder und Kohl so gerne taten, hätte in Norwegen keine Chance. Demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit wird nicht als Führungsstärke angesehen, sondern schlicht als Arroganz.

Wer auf seinen Visitenkarten mit dem Doktortitel prahlt oder gar seinen Magistertitel in gedruckter Form vor sich herträgt, erntet keine Bewunderung, sondern stillen Spott. Niemand lässt sich von einem Doktortitel auf dem Papier beeindrucken. Eher denkt man: »Der muss es ja nötig haben, seinen Titel so vor sich herzutragen.« Österreicher, die sogar den Magister stolz auf ihrer Visitenkarte vermerken, sollten sich vor einer Geschäftsreise in den Norden lieber einen neuen Satz Karten drucken lassen. Natürlich wissen die Norweger um den Kulturunterschied und werden es deswegen bei einem innerlichen Schmunzeln belassen, wenn ihnen der Herr Magister seine Karte überreicht. Aber eigentlich wirkt das auf die Norweger so, als würde uns jemand eine Visitenkarte in die Hand drücken, auf der er stolz hat drucken lassen, dass er einmal Klassensprecher in der Unterstufe war.

Wenn man in Norwegen einen neuen Job annimmt, wird man in der Regel herzlich aufgenommen und schnell ins Team integriert. Das »Du« hilft dabei mit. Allerdings sollte sich der Neue erst einmal davor hüten, gleich irgendwelche Verbesserungsvorschläge vorzubringen. In Deutschland mag das als engagiert gelten, vielleicht sogar als besonderer Einsatz für die Firma. In Norwegen denkt man eher: Für wen hält sich der Kerl eigentlich? Da ist er gerade erst ein paar Monate in der Firma, und schon glaubt er, alles besser zu wissen.

Eine Bestimmung des Jantegesetzes lautet nämlich: »Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.« Wer trotzdem einen Vorschlag einbringen will, macht das besser nicht im Hauruckverfahren, sondern zum Beispiel mit der folgenden Frage: »Weißt du, ich habe da eine ganz doofe Idee, die wirklich nichts Besonderes ist, aber könnten wir darüber nicht eventuell mal in der nächsten Teamsitzung reden?«

Konsens ist überall in Nordeuropa das Zauberwort, und deswegen fallen Entscheidungen manchmal sehr langsam. »Wir sind hier eine Demokratie«, hatte die Fremdenführerin in der Osloer Oper ihre Führung begonnen, um zu erklären, warum die Planungen für das Gebäude ein paar Jahrzehnte in Anspruch genommen haben. Wenn zu viele »Gleiche« mitreden, dauert gut Ding eben manchmal eine lange Weile.

Während man in den meisten anderen Ländern danach strebt, der Beste zu sein, bemüht man sich in den nordischen Ländern, so wenig wie möglich aus der Menge herauszustechen. Gleichheit steht für die Norweger ganz oben auf der Liste der guten Eigenschaften. So gilt als großes Kompliment, wenn man jemandem sagt, dass er ein ganz normaler Typ sei. Damit macht man ihm garantiert eine Freude, egal ob er Handwerker, Professor oder König ist.

Entsprechend genau wird das Einhalten auch kontrolliert: »Neid und Missgunst sind die schielenden Geschwister einer Auffassung, wonach keiner mehr ist oder mehr haben darf als ein anderer. Da Gleichheit geradezu eine Leidenschaft der Norweger ist, ist es nur folgerichtig, dass sie auch ein neidfreudiger Haufen sind«, so beschreibt die deutsch-norwegische Journalistin Ebba D. Drolshagen die negativen Seiten des Jantegesetzes.

Norge er best

Es ist typisch norwegisch, gut zu sein.

Die damalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland in ihrer Neujahrsansprache 1992

Norwegen ist nur ein kleines Land, doch nach Überzeugung all seiner Einwohner das weltweit beste. »Norge er best« – Norwegen ist am besten. Den Spruch hört man in Norwegen oft. Allerdings kommt der norwegische Nationalstolz nicht in der schreienden Fratze des Nationalismus daher – aufzwingen will der Norweger seine Werte niemandem. Er ist einfach nur glücklich und zufrieden, dass er im »besten aller Länder« leben darf. Dass dem so ist, wird ihm von den verschiedensten Institutionen auch immer wieder bestätigt. Im Index der menschlichen Entwicklung, dem Human Development Index der UNO, liegt Norwegen Jahr für Jahr ganz vorn. In dem Report werden 187 Länder in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Einkommen verglichen.

Damit wir hierzulande mal so richtig neidisch werden können: Deutschland liegt in der Regel im guten europäischen Mittelfeld, zwischen Rang 10 und 20.

Beim Pro-Kopf-Einkommen führt Norwegen selbstverständlich die Statistik ebenso an wie bei den niedrigsten Arbeitslosenquoten. Dass die OECD lobt, kaum jemand käme besser durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise als Norwegen, verwundert da nicht. Dass man so gut dasteht, ist vor allem dem Öl geschuldet – aber nicht nur. Andere Ölkrösusse wie beispielsweise Saudi-Arabien müssen sich im Human Development Index viel weiter hinten einordnen – die Saudis rangieren trotz ihres Ölreichtums nur auf Rang 56.

Ein König für alle

Ich bin auch der König der Kommunisten.

(König Haakon VII., als er 1929 ohne Zögern die bei den Reichstagswahlen siegreiche Arbeiterpartei mit der Regierungsbildung beauftragte)

1991 bestieg der heutige König Harald V. den Thron. Und wie jeder Chef, der einen neuen Job antritt, stellte er sich seiner Belegschaft – dem norwegischen Volk – erst einmal vor.

Samt seiner Gemahlin Königin Sonja machte er sich 1992 und 1993 zu zwei langen Reisen durch sein Reich auf. Bei der zweiten Reise war ich als junger Journalist mit dabei. Gut, nicht ich allein, sondern alle in Oslo stationierten Auslandsjournalisten gingen mit auf die Fahrt in den Norden des Landes. Da das damals aber höchstens zehn bis zwölf Kollegen waren, war es doch eine fast familiäre Reise, auf der wir dem Königspaar erstaunlich nahekamen. Die königliche Gesellschaft war im Zug unterwegs, und für die Journalisten wurde einfach ein Wagen hinten angehängt.

Aus Deutschland kommend – einem Land, in dem der Abstand zwischen Oben und Unten deutlich größer ist als im Norden –, war ich überrascht angesichts der geringen Distanz zwischen König und Volk. Ohne von einer Armada an Leibwächtern flankiert zu werden, spazierte das Königspaar durch die Dörfer und Städte. Immer wieder kam es zu Gesprächen am Wegesrand, die allein schon von ihrer Dauer her weit über ein unverbindliches »Hallo« hinausgingen. Hin und wieder machten Königs auch zum Kaffeetrinken Station bei irgendwelchen Bauern- oder Fischerfamilien. Natürlich waren diese Termine arrangiert, der Besuch des Königspaars vorher abgesprochen. Was am Kaffeetisch gesprochen wurde, kann ich nicht sagen. Denn wie es sich gehört bei solchen Einladungen, musste die Presse vor der Tür warten. Doch ein schneller Smalltalk scheint auch das nicht gewesen zu sein. Nicht selten verschwand das Königspaar für eine Stunde und mehr hinter der Tür eines Bauernhauses oder einer Fischerkate.

Mit symbolischen Aktionen wie der, als er während der Olympischen Winterspiele in Lillehammer bei allen Wettkampfbesuchen die Uniform der freiwilligen Olympiahelfer trug, erobert König Harald V. immer wieder aufs Neue die Herzen seiner Landsleute.

Während das englische Königshaus von einem Skandal zum anderen schlittert und der spanische Monarch und der schwedische Kollege ins Gerede kamen, weil sie es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahmen, absolviert das norwegischen Königspaar seine Pflichten weitgehend skandalfrei. Von konservativer Seite handelte sich Kronprinz Haakon zwar Kritik ein, weil er mit Mette-Marit nicht nur eine Bürgerliche heiratete, sondern auch eine Frau, die ein Kind von einem anderen Mann mit in die königliche Ehe brachte. Für die meisten Norweger war das aber nur ein weiteres Zeichen dafür, wie volksnah ihr Königshaus doch ist. Nicht anders als in einer ganz normalen norwegischen Patchwork-Familie hat Mette-Marit natürlich auch noch weiterhin zum Vater ihres Sohnes Kontakt, und nicht anders als jeder tolerante Norweger das tun würde, hat der Kronprinz seinen Vorgänger auch zur Hochzeit eingeladen. Und zur Einschulung des Kleinen waren dann alle drei dabei – Mette-Marit, der leibliche Vater und der Kronprinz. Mehr Volksnähe geht nicht. Oder doch: Die Einschulung fand nämlich nicht in irgendeiner Eliteschule statt, sondern in einer Grundschule um die Ecke. Das war übrigens nicht nur bei den »angeheirateten«, sondern auch bei richtigen Königskindern so. Prinzessin Ingrid Alexandra wurde im August 2010 in der Jansløkka-Schule im Osloer Stadtteil Asker eingeschult. Und auch deren Papa, Kronprinz Haakon, hatte in seiner Jugend eine ganz normale Schule besucht.

Spätestens seit dem legendären Fernsehinterview, das die deutsche Journalistin Sandra Maischberger 2002 mit dem Kronprinzenpaar führte, ist Mette-Marit sowieso everybodys darling. Damals zeigte sie nämlich, aus welchem Holz sie geschnitzt ist und dass bei ihr Pflichterfüllung vor Jammern geht. Während der Aufnahmen, die an einem warmen Maitag stattfanden, wurde die Wange der Prinzessin nämlich so heftig von der Sonne und einem fehlerhaften Scheinwerfer angestrahlt, dass sie sich Verbrennungen zweiten Grades zuzog. Doch anstatt sich während des Interviews über den Pfusch des deutschen Fernsehens zu beschweren, zog Mette-Marit das Gespräch mit königlicher Würde durch. Frau Maischberger war hinterher untröstlich. Der norwegische Hof ließ verlauten, dass so was schon mal passieren könne und man den Fernsehleuten keine Schuld gäbe. Mette-Marit musste eine geplante Deutschlandreise absagen, hinter vorgezogenen Vorhängen im Schloss bleiben und ihre Wange regelmäßig mit Kortisonsalbe einreiben.

Der Vorfall ereignete sich nur wenige Tage vor dem Nationalfeiertag am 17. Mai, dem für alle Norweger wichtigsten Tag des Jahres. Ich erinnere mich noch gut, wie das ganze Land angespannt die täglichen Gesundheitsbulletins aus dem Königshaus verfolgte. »Würde die Prinzessin bis zum 17. Mai wieder gesund sein?«, das war die große Frage. Am Nationalfeiertag steht nämlich die königliche Familie auf dem Balkon des Schlosses und winkt ihren Untertanen zu, die dann in einem schier endlosen Zug unter ihr vorbeiziehen. Und natürlich wünschte sich jeder Norweger, dass ihm auch die schöne Mette-Marit zuwinkt. Aber mit Verbrennungen im Gesicht in der Frühjahrssonne zu stehen, das wäre nicht gegangen. Doch auch diesmal war die Prinzessin heldenhaft – sie hat den Norwegern zugewinkt … und mir auch.

Im Winter 2012 trat die Kronprinzessin dann stark erkältet zu einem Interview mit der Zeitung Die Welt in Hamburg an. Dass man trotz Erkältung seine königlichen Pflichten erfüllt, mag normal sein – bemerkenswert fand ich aber, wie Mette-Marit anreiste. Wie immer, und in diesem Fall trotz Krankheit, im Linienflugzeug. Manch deutscher Minister könnte sich da ein Beispiel nehmen.

Norwegen ist ein altes Königreich. Lange Zeit gehörte das Land aber zu Dänemark und Schweden, und deswegen saßen fast 600 Jahre dänische und schwedische Monarchen auf dem norwegischen Thron. Nach langer Pause bekam Norwegen erst 1905 wieder einen eigenen König.