Folgen Sie der Geschichte und dem Schicksal der Familie Waringham, meisterhaft erzählt von der Bestsellerautorin Rebecca Gablé, der „Königin des historischen Romans“ (Welt am Sonntag). Eine großartige Familiensaga, Kultserie und Klassiker – und ein umfassendes Geschichtsbild des englischen Mittelalters.
Die ersten vier Romane der Waringham Saga nun in einer E-Book Gesamtausgabe!
Das Lächeln der Fortuna
England 1360: Nach dem Tod seines Vaters, des wegen Hochverrats angeklagten Earl of Waringham, zählt der zwölfjährige Robin zu den Besitzlosen und ist der Willkür der Obrigkeit ausgesetzt. Besonders Mortimer, der Sohn des neuen Earls, schikaniert Robin, wo er kann. Zwischen den Jungen erwächst eine tödliche Feindschaft. Aber Robin geht seinen Weg, der ihn schließlich zurück in die Welt von Hof, Adel und Ritterschaft führt. An der Seite des charismatischen Duke of Lancaster erlebt er Feldzüge, Aufstände und politische Triumphe – und begegnet Frauen, die ebenso schön wie gefährlich sind. Doch das Rad der Fortuna dreht sich unaufhörlich, und während ein junger, unfähiger König England ins Verderben zu reißen droht, steht Robin plötzlich wieder seinem alten Todfeind gegenüber …
Die Hüter der Rose
„Etwas Furchtbares war in Gang gekommen, das nicht nur seine Familie betraf, sondern ebenso den König, das Haus Lancaster und ganz England. Ihnen allen schien der Blutmond.“
England 1413: Als der dreizehnjährige John of Waringham fürchten muss, von seinem Vater in eine kirchliche Laufbahn gedrängt zu werden, reißt er aus und macht sich auf den Weg nach Westminster. Dort begegnet er König Harry und wird an dessen Seite schon jung zum Ritter und Kriegshelden. Doch Harrys plötzlicher Tod stürzt England in eine tiefe Krise, denn sein Sohn und Thronfolger ist gerade acht Monate alt …
Das Spiel der Könige
England 1455: Der Bruderkrieg zwischen Lancaster und York um den englischen Thron macht den achtzehnjährigen Julian unverhofft zum Earl of Waringham. Als mit Edward IV. der erste König des Hauses York die Krone erringt, brechen für Julian schwere Zeiten an. Obwohl er ahnt, dass Edward seinem Land ein guter König sein könnte, schließt er sich dem lancastrianischen Widerstand unter der entthronten Königin Marguerite an, denn sie hat ihre ganz eigenen Methoden, sich seiner Vasallentreue zu versichern. Und die Tatsache, dass seine Zwillingsschwester eine gesuchte Verbrecherin ist, macht Julian verwundbar …
Der dunkle Thron
London 1529: Nach dem Tod seines Vaters erbt der vierzehnjährige Nick of Waringham eine heruntergewirtschaftete Baronie – und den unversöhnlichen Groll des Königs Henry VIII. Dieser will sich von der katholischen Kirche lossagen, um sich von der Königin scheiden zu lassen. Bald sind die „Papisten“, unter ihnen auch Henrys Tochter Mary, ihres Lebens nicht mehr sicher. Doch in den Wirren der Reformation setzen die Engländer ihre Hoffnungen auf Mary, und Nick schmiedet einen waghalsigen Plan, um die Prinzessin vor ihrem größten Feind zu beschützen: ihrem eigenen Vater …
Rebecca Gablé, Jahrgang 1964, in einer Kleinstadt am Niederrhein geboren, studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit Anglistik und Germanistik mit Schwerpunkt Mediävistik in Düsseldorf. Sie wirkte an einem Projekt zur Erforschung anglonormannischer Manuskripte mit. Diese Forschungsergebnisse flossen in ihre weitere literarische Arbeit mit ein. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Literaturübersetzerin. Ihr erster Roman „Jagdfieber“ wurde 1996 für den Glauser-Krimipreis nominiert. Wenn sie nicht gerade an einem Roman schreibt, reist sie gern und viel, vor allem in die USA und nach England, oft auch zu Recherchezwecken. Außerdem gehört sie dem Autorenkreis historischer Romane „Quo Vadis“ an. Neben der Literatur gilt ihr Interesse der (mittelalterlichen) Geschichte, dem Theater und vor allem der Musik, in fast jeder Erscheinungsform. Rebecca Gablé spielt Klavier, Gitarre, Cello und singt seit vielen Jahren in einer Rockband. Mit ihrem Mann lebt sie unweit von Mönchengladbach auf dem Land.
Die Waringham Saga
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Vollständige E-Book Ausgaben der in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werke.
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 1997 („Das Lächeln der Fortuna“), Copyright © 2005 („Die Hüter der Rose“), Copyright © 2007 („Das Spiel der Könige“) und Copyright © 2011 („Der dunkle Thron“) by Rebecca Gablé
Copyright © 1997 („Das Lächeln der Fortuna“), Copyright © 2005 („Die Hüter der Rose“), Copyright © 2007 („Das Spiel der Könige“) und Copyright © 2011 („Der dunkle Thron“) by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Esther Madaler
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-1585-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
DAS LÄCHELN
DER
FORTUNA
Historischer Roman
Erweiterte Ausgabe
Für
MJM
I am derely to yow biholde
Bicause of your sembelaunt
And euer in hot and colde
To be your trwe seruaunt.
Der jammervollen Welten Wandlungen
Zum Guten wie zum Üblen, bald Elend, bald Ehre
Ohne alle Ordnung oder weisen Ratschluß
Sind sie bestimmt von Fortunas Wankelmut.
Und dennoch, ihr Mangel an Gnade
Wird mich nicht hindern zu singen, müßt ich auch sterben
All meine Zeit und mein Schaffen sind verloren
Doch letztlich, Fortuna, werde ich Dir trotzen
Noch ist mir das Licht meines Geistes geblieben
Freund und Feind zu erkennen in Deinem Spiegel
Das hat Dein Drehen und Winden,
Dein Auf und Ab mich gelehrt.
Doch wahrlich, keine Macht hat Deine Arglist
Über den, der sich selbst beherrscht
Meine Duldsamkeit soll mein Trost sein
Denn letztlich, Fortuna, werde ich Dir trotzen
Geoffrey Chaucer
Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren in möglichst sinnvoller Anordnung, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind. Stammbäume der Häuser Plantagenet und Lancaster sowie eine Übersicht über die historischen Ereignisse finden sich im Anhang.
Waringham und Kent
Robin of Waringham
Agnes, seine Schwester
Isaac, sein Freund, möglicherweise sein Bruder
Conrad, Stallmeister von Waringham
Maria, seine Frau
Elinor, ihre Tochter
Stephen, Vormann auf dem Gestüt von Waringham
Geoffrey Dermond, Earl of Waringham
Matilda, seine Frau
Mortimer, ihr Sohn
Blanche Greenley, Mortimers Frau
Mortimer, ihr Sohn
Alice Perrers*, Matildas Nichte
Leofric, der Findling
William Hillock, Kaufmann aus Canterbury
Isabella, seine Frau
Plantagenet
Edward III.*, König von England
Edward of Woodstock, der Schwarze Prinz*, sein ältester Sohn
John of Gaunt*, Duke of Lancaster, sein mächtigster Sohn
Edmund of Langley*, später Duke of York, sein dümmster Sohn
Thomas of Woodstock*, später Duke of Gloucester, sein gefährlichster Sohn
Joan of Kent*, Gemahlin des Schwarzen Prinzen
Richard of Bordeaux*, ihr Sohn, später Richard II.
Blanche of Lancaster*, Lancasters 1. Gemahlin
Henry Bolingbroke*, ihr Sohn
Constancia von Kastilien*, Lancasters 2. Gemahlin
Katherine Swynford*, Lancasters Geliebte und 3. Gemahlin
John Beaufort*, ihr Sohn
Henry Beaufort*, später Bischof von Lincoln, ihr Sohn
Henry of Monmouth*, genannt „Harry“ of Lancaster, Sohn Bolingbrokes und seiner Gemahlin Mary Bohun*
Fernbrook und Burton
Oswin, der Taugenichts
Gisbert Finley, Robins Cousin
Thomas, Joseph und Albert, seine Brüder
Giles, Earl of Burton
Giles, sein Sohn
Joanna, seine Tochter, Robins Gemahlin
Anne, Edward und Raymond, ihre Kinder
Christine und Isabella, Joannas Schwestern
Luke, der Schmied
Hal, der Stallknecht
Francis Aimhurst, Robins Knappe
Tristan Fitzalan, jüngster Sohn des Earls of Arundel*, ebenfalls Robins Knappe
London, Ritterschaft und Adel
Henry Fitzroy, ein walisischer Ritter
Peter de Gray, ein verrückter Ritter
Guillaume de Beaufort, ein französischer Unglücksritter
Geoffrey Chaucer*, Dichter, Diplomat und Hofbeamter
Roger Mortimer*, Earl of March
Peter de la Mare*, seine rechte Hand
Henry Percy*, Marschall von England und Earl of Northumberland
Henry „Hotspur“ Percy*, sein Sohn
Thomas Beauchamp*, Earl of Warwick, Appellant
William Montagu*, Earl of Salisbury
Thomas Holland*, Earl of Kent, König Richards Halbbruder
John Holland*, sein Bruder
Robert de Vere*, Earl of Oxford, später Marquess of Dublin und Duke of Ireland
Sir William Walworth*, Bürgermeister von London
Sir Robert Knolles*, Glücksritter
Sir Patrick Austin, sein unehelicher Sohn, Befehlshaber der königlichen Leibwache
Wat Tyler*, Bauernführer
Richard Fitzalan*, Earl of Arundel, Appellant
Thomas Mowbray*, Earl of Northampton, später Duke of Norfolk, Appellant
Thomas Hoccleve*, Dichter, Hofbeamter und zumindest in jungen Jahren ein Taugenichts
Kirchenmänner
Jerome of Berkley, Abt von St. Thomas
Bruder Anthony, der Zorn Gottes
Vater Gernot, Dorfpfarrer von Waringham
Vater Horace, Dorfpfarrer von Fernbrook
Jehan de Cros*, der treulose Bischof von Limoges
William Wykeham*, Bischof von Winchester
Dr. John Wycliffe*, Kirchenreformer, Professor in Oxford, vielleicht ein Ketzer
Lionel, sein Schüler, Robins Schulfreund
Simon Sudbury*, Erzbischof von Canterbury und Kanzler von England
William Courtenay*, Bischof von London, später Erzbischof von Canterbury
William Appleton*, Franziskaner, Lancasters Leibarzt und Ratgeber
John Ball*, vox populi
Thomas Fitzalan*, Bischof von Ely, später Erzbischof von York
© MJM
„Wenn sie uns erwischen, wird es sein, als sei das Jüngste Gericht über uns hereingebrochen“, prophezeite Lionel düster.
„Du kannst immer noch zurück“, erwiderte Robin betont kühl.
„Wofür hältst du mich, he?“
„Das kommt darauf an …“
Sie grinsten sich zu. Robin konnte das Gesicht seines Freundes schwach erkennen, und er sah die Zähne aufblitzen. Die Nacht war nicht dunkel. Der fast volle Mond schien von einem wolkenlosen Himmel. Sie glitten in den schwarzen Schatten der Klostermauer, die sich zu beiden Seiten erstreckte und nach ein paar Ellen mit den Schatten verschmolz.
Lionel ging drei Schritte nach rechts und blieb dann stehen. „Hier ist es am besten“, wisperte er. „Auf der anderen Seite steht ein Baum, an dem wir runterklettern können. Es besteht kein Grund, dass wir uns auf diesem albernen Ausflug den Hals brechen.“
Robin sah an der Mauer hinauf und nickte. „Also, los. Du zuerst.“
Er machte eine Räuberleiter. Lionel legte eine Hand auf seine Schulter, stellte den rechten Fuß in Robins ineinander verschränkte Hände und stieg hoch. Er richtete sich auf, ließ die Schulter los, stützte sich an der Mauer ab und reckte sich. Es ging. Er bekam die Kante zu fassen und zog sich mit seinen kräftigen Armen hinauf. Er brachte sich in eine sitzende Haltung, ließ die Beine baumeln und spähte hinunter in die Dunkelheit. „Und jetzt?“
„Leg dich auf den Bauch, lass die Beine zur anderen Seite herunterhängen und zieh mich hoch. Ganz einfach.“
„Oh ja. Wirklich ganz einfach. Warum lasse ich mich nur immer auf deine Torheiten ein, Waringham, kannst du mir das sagen?“
Robin streckte ihm die Hand entgegen. „Wer ist der größere Tor? Der Tor oder der Tor, der ihm folgt?“
Lionel wusste wie so oft keine Antwort. Er tat, wie ihm geheißen, und schließlich saßen sie beide keuchend oben auf der Mauer. Sie spürten nicht mehr, dass die Septembernacht kühl war. Sie waren sogar ein bisschen ins Schwitzen gekommen. Sie verschnauften einen Augenblick, bevor sie sich an den Abstieg begaben. Der Baum war eine alte Weide und für ihren Zweck denkbar gut geeignet. Seine Äste reichten fast bis zum Boden. Ohne Schwierigkeiten gelangten die Ausreißer hinunter.
„Ich hoffe nur, Oswin hat unsere Verabredung nicht verschlafen“, raunte Robin. „Dann war die ganze Mühe umsonst.“
„Wehe“, schnaubte Lionel. „Ich schlag ihm seine Pferdezähne ein, wenn er uns versetzt!“
„Ho, Mönchlein, große Worte für eine halbe Portion wie dich“, lachte eine leise Stimme hinter ihnen. „Hier bin ich schon.“ Aus dem Schatten löste sich eine dunkle Gestalt und kam auf sie zu.
„Ich wünschte, du würdest mich nicht immer so nennen“, sagte Lionel unglücklich.
„Wie? Mönchlein? Aber das bist du doch, oder etwa nicht?“ Er beachtete Lionel nicht weiter und boxte Robin freundschaftlich auf die Schulter. „Waringham, alter Galgenvogel. Lass uns zuerst das Geschäft erledigen, wenn’s dir recht ist.“
Sein Ton hatte sich leicht verändert. Seit Oswin in den Stimmbruch gekommen war und seine Schultern so breit wie die seines Vaters geworden waren, war er für die Klosterschüler ein gottähnliches Idol, das sie mit unerschütterlicher Hingabe verehrten. Oswin behandelte sie dementsprechend mit gebotener Herablassung. Sein Vater war Stallknecht und kümmerte sich um die kleine Schar Pferde und Maultiere, die die Abtei von St. Thomas besaß. Oswin war seines Vaters Gehilfe. Er arbeitete hart von früh bis spät, bereitete seit dem Tod seiner Mutter für sie beide die Mahlzeiten, wurde nicht selten spät am Abend zum Wirtshaus gerufen, um seinen betrunkenen Vater abzuholen, und erntete gelegentlich zum Dank ein blaues Auge. Niemand dachte im Traum daran, ihn zur Schule zu schicken, ihm Lesen beizubringen und all die anderen Dinge, die die Schüler des klösterlichen Internats lernten. Oswin würde immer bleiben, was er war. Und trotzdem beneideten sie ihn, die Söhne von Landadligen und reichen Kaufleuten. Um seine Freiheit und seine prahlerische Männlichkeit.
Nur auf Robin hatte er weder mit Großspurigkeit noch mit seinen meist gutmütigen Einschüchterungen Eindruck machen können. Er verstand nicht, warum das so war. Möglicherweise lag es daran, dass er kaum mehr einen halben Kopf größer war, trotz der zwei Jahre Altersunterschied. Tatsache war jedenfalls, dass er Robin von all diesen kleinen Bücherwürmern am liebsten mochte, und ihm allein gestattete er Zugang zum Pferdestall.
Robin legte einen Farthing in seine ausgestreckte Hand. Oswin ließ die kleine Münze mit einem zufriedenen Grinsen verschwinden. „Ziemlich knauserig für einen reichen Mann.“
Robin schüttelte kurz den Kopf. „Bringst du uns dafür hin oder nicht?“
Oswin tat, als zögere er. Als er feststellte, dass Robin nicht noch einmal in die kleine Tasche am Ärmel seiner Kutte greifen würde, brummte er mit gespielter Verstimmtheit: „Meinetwegen. Dann kommt.“
Er wandte ihnen den breiten Rücken zu, und die beiden Jungen folgten ihm eilig. Sie liefen etwa eine Meile über die feuchten Wiesen, die das Kloster umgaben. Dann gelangten sie an ein kleines Flüsschen, das sie auf einem Holzsteg überquerten. Dahinter erhoben sich die ersten Häuser von Curn, einem kleinen Dorf, kaum mehr als ein Weiler, wo die Bauern lebten, die die klösterlichen Felder bewirtschafteten. Oswin führte sie auf einem staubigen Weg an der armseligen Holzkirche vorbei, am Haus des Dorfpfarrers und dem Wirtshaus. Damit ließen sie den Dorfplatz hinter sich, und die Häuser wurden wieder spärlicher.
Sie sprachen nicht. Es gab auch nichts zu bereden. Das Geschäft mit Oswin war über mehrere Wochen verhandelt worden und vor zwei Tagen zum Abschluss gekommen. Er hatte seinen Lohn, und er wusste, was sie dafür wollten. Weder Robin noch Lionel verspürten Neigung, dem anderen einzugestehen, dass sie weiche Knie hatten und kaum genug Spucke im Mund, um zu schlucken. Sie liefen stumm nebeneinander her und waren dankbar für die relative Dunkelheit.
Plötzlich hielt Oswin an. Beinahe wären sie gegen ihn geprallt. „Hier ist es“, raunte er. „Wartet. Und seid um Himmels willen leise!“
Sie nickten.
Oswin hatte sie zu einem kleinen Holzhaus gebracht, das noch armseliger schien als die anderen. Das Dach neigte sich in einem verwegenen Winkel, als wolle es jeden Moment abstürzen. Es gab keinen Kamin. Nur ein einziges Fenster neben der Tür gähnte sie schief an wie das Maul eines Ungeheuers. Ein wenig Rauch und zuckendes Licht drangen heraus.
Oswin näherte sich weder Fenster noch Tür. Er trat stattdessen an die Rückwand des Häuschens, beugte sich ein wenig vor und stand dann still. In dieser Haltung verharrte er so lange, bis die beiden Jungen ungeduldig wurden. Magisch angezogen traten sie näher.
„Was ist?“, flüsterte Robin, heiser vor Aufregung.
Oswin wandte sich zu ihm um und legte einen Finger an die Lippen. „Jungs, ihr kriegt wirklich was geboten für euer Geld“, versprach er tonlos. Dann winkte er sie näher, machte ihnen mit den Händen Zeichen, nur ja kein Geräusch zu verursachen, und wies mit den Zeigefingern auf zwei Astlöcher in der Wand, nahe nebeneinander, eins höher, eines niedriger. Dann klopfte er Robin grinsend die Schulter und schlenderte Richtung Wirtshaus davon, zweifellos um festzustellen, wie betrunken sein Vater inzwischen war.
Robin überließ Lionel das niedrigere Loch, lehnte behutsam die Stirn an die rohe Holzwand und spähte hinein. Zuerst konnte er nicht viel erkennen. Drinnen schien es dunkler zu sein als hier draußen. Er war enttäuscht und erleichtert zugleich. Gerade, als er sich abwenden und von Oswin sein Geld zurückfordern wollte, erhaschte er eine Bewegung. Und dann erkannte er mit einem Mal Formen. Er hielt den Atem an.
Das Häuschen bestand nur aus einem einzigen Raum. Nahe der Tür befand sich eine kleine Kochstelle. Das Holz war fast heruntergebrannt, nur hier und da züngelten noch Flammen aus der Glut; der unruhige Lichtschein, den sie durch das Fenster gesehen hatten. An der Wand zur Linken befand sich ein Bett, ein üppiges Strohlager mit einer Wolldecke darauf. Und auf dem Bett saß Emma, die Witwe des Kuhhirten, der diese jämmerliche Hütte gehörte. Es hieß, sie sei siebzehn gewesen, als ihr Mann vor zwei Jahren von einem wilden Stier aufgespießt worden war, und es hieß weiter, dass Emma sich ihre Witwenschaft nicht sonderlich zu Herzen nahm. Sie war eine von Natur aus fröhliche, lebenslustige junge Frau, und sie war wunderschön. Die Schüler von St. Thomas ließen sich keine Gelegenheit entgehen, einen Blick auf sie zu werfen, wenn sie gelegentlich sonntags das Hochamt in der Klosterkirche besuchte, und tagelang schwärmten sie heimlich oder offen von dem, was sie gesehen hatten. Was betet ihr sie aus der Ferne an, hatte Oswin halb verächtlich, halb belustigt gefragt. Für einen halben Penny könnt ihr sie haben.
Sie hatten nicht so recht verstanden, was er meinte, und Bruder Anthony hatte ihre Unterhaltung unterbrochen und Oswin vom Schulgelände gejagt, ehe sie ihn um eine Erklärung bitten konnten. Doch Oswin hatte offenbar recht gehabt. Denn Emma war nicht allein. Und sie war nackt.
Fassungslos starrte Robin auf ihre großen Brüste – riesig erschienen sie ihm, wie Euter. Er dachte an den verstorbenen Kuhhirten und unterdrückte ein nervöses Kichern. Ihre Haut erschien im schwachen Feuerschein kupferfarben, die Höfe und Warzen ihrer großzügigen Brüste schwarz. Nicht zum ersten Mal spürte Robin dieses unerklärliche, herrliche und gleichzeitig schreckliche Gefühl irgendwo tief unten in seinem Körper. Aber es war noch nie so heftig gewesen. Er glaubte, das Gefühl wolle ihn in die Knie zwingen, es war, als müsse er sich zusammenkrümmen.
Der Mann, der neben dem Bett stand, ebenfalls so nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, war Cuthbert der Schmied. In der schwachen Glut zeichneten sich die mächtigen Muskeln seiner Arme und Schultern deutlich ab, und Robin glaubte zu erkennen, dass Emmas Blick bewundernd darüberstreifte. Cuthbert sah auf sie hinunter, offenbar ebenso in Faszination gebannt wie Robin. Dann erwachte er zum Leben. Er legte die Hände auf ihre Brüste, und Emma ließ sich zurückfallen, bis sie ausgestreckt auf dem Rücken lag, ihre kastanienfarbenen Locken umgaben ihr Gesicht wie ein dunkler Schleier. Sie schloss die Augen, und ihr wunderbarer, kirschroter Mund lächelte zufrieden, während die rauen Hände des Schmieds sanft über ihre Haut glitten. Dann ließ er sie plötzlich los, legte die Hände auf ihre angewinkelten Knie und schob sie auseinander. Robin stockte beinah der Atem. Dann verdeckte der breite Körper des Mannes den Anblick. Er legte sich zwischen Emmas Beine, und unmittelbar darauf begannen die beiden Körper, sich in einem langsamen, wunderbar harmonischen Rhythmus zu bewegen. Robin wusste, was sie taten. Der Unterschied zu Kühen oder Schafen oder Pferden war nicht so groß, dass er es nicht verstanden hätte. Aber trotzdem war es völlig anders. Ihm wurde ungeheuer heiß. Er spürte Schweiß auf Gesicht und Rücken. Der Rhythmus der beiden Körper wurde schneller und schneller, bis sie zuckten und sich wanden und ein bisschen grotesk wirkten. Und dann hörte er einen seltsamen Laut. Er verstand nicht gleich, was es war. Aber dann erklang der Laut wieder, dieses Mal lauter. Sie stöhnte. Und dann stöhnte er auch. Aber es war nicht, als hätten sie Schmerzen. Es war, als ob … als ob … er fand kein Wort dafür.
Seine Handflächen, die er links und rechts neben dem Kopf an die Wand gelegt hatte, waren feucht. Seine Augen brannten. Er wusste nicht, wie lange er schon starrte, ohne zu blinzeln. Und dann lag plötzlich eine energische Hand auf seiner Schulter und riss ihn von dem Astloch weg.
Robin fuhr entsetzt zusammen und unterdrückte im letzten Moment einen Laut. Erwischt, dachte er wütend. Sie haben uns erwischt!
Aber es war nur Lionel. Er starrte ihn mit riesigen Augen an, und sein Gesicht schien im fahlen Mondlicht kalkweiß. Wortlos zerrte er Robin von der Hauswand weg, bis sie außer Hörweite waren.
„Oh mein Gott, ist mir schlecht“, keuchte Lionel gepresst.
„Was? Warum?“, fragte Robin verständnislos. Er war immer noch benommen, halb dankbar, dass er dem beunruhigenden Schauspiel nicht länger folgen musste, halb enttäuscht.
Lionel schüttelte sich unwillkürlich. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts so Widerliches gesehen!“
Robin schwieg betroffen. Er hatte es nicht widerlich gefunden. Keineswegs.
„Jetzt versteh ich, was die Brüder meinen, wenn sie von der Sünde des Fleisches reden. Wer das tut, muss einfach in die Hölle kommen.“
„Blödsinn. Was glaubst du, haben deine Eltern gemacht, bevor du geboren wurdest, he?“
Lionel war schockiert. „Bestimmt nicht das!“
Robin grinste vor sich hin. „Also ehrlich, manchmal bist du doch wirklich zu dämlich.“
„Was soll das heißen? Was willst du über meine Eltern sagen?“
Robin hörte den deutlich drohenden Unterton. „Gar nichts.“ Er hob begütigend die Hände. „Nur, dass es natürlich ist. Alles Leben entsteht so. Es ist nicht schmutzig. Das reden sie uns nur ein. Und der Teu… ich meine, ich wüsste zu gerne, warum.“
„Es ist nicht natürlich“, widersprach Lionel heftig. „Es ist falsch und sündig. Die Frauen sind daran schuld. Sie tragen immer noch die Sünde Evas in sich. Das sagt Bruder Philippus. Und jetzt glaube ich das auch. Wie sie ihn angesehen hat! So voller … Gier! Und wie kalt sie gelächelt hat. Was für eine Hexe sie doch ist. Ich weiß nicht, wie sie mir je gefallen konnte. Nein, ich glaube, jede Frau ist mit Satan im Bunde.“
Was Lionel sagte, hörte Robin nicht zum ersten Mal. Bruder Philippus hatte ihnen aus vielen Büchern gelehrter Männer vorgelesen, die alle das Gleiche sagten. Aber er konnte das einfach nicht glauben. Er dachte immer an seine Mutter, wenn er hörte, dass alle Frauen sündig seien, dass sie von Natur aus größere Sünder seien als Männer, dass sie überhaupt die Sünde in die Welt gebracht hatten, und dass eigentlich nur Jungfrauen in den Himmel kommen könnten. Dazu zählte seine Mutter eindeutig nicht, denn sie war verheiratet gewesen und hatte fünf Kinder geboren. Aber sie war ihm trotzdem immer als das vollkommenste aller Wesen erschienen, klug und schön und liebevoll. So hatte er sie jedenfalls in Erinnerung. Und als Bruder Philippus ihnen zum ersten Mal von der Sünde aller Frauen vorgelesen hatte, hatte Robin die ganze Nacht wachgelegen und gebetet, Gott möge bei seiner Mutter eine Ausnahme machen. Die Vorstellung, dass sie im ewigen Feuer der Hölle brennen könnte, jetzt und bis in alle Ewigkeit, hatte ihn ganz krank gemacht.
Das war schon über vier Jahre her. Damals war er noch ein kleiner, leichtgläubiger Bengel gewesen und seine Mutter kurz zuvor gestorben. Heute glaubte er längst nicht mehr alles, was die Brüder ihnen auftischten. Trotzdem verspürte er ein leises Unbehagen. Er hatte den Anblick von Emma und Cuthbert nicht abstoßend gefunden. Im Gegenteil. Er hatte sich ein bisschen geschämt, weil er spionierte, weil er etwas ansah, das ganz gewiss nicht für fremde Augen bestimmt war. Aber was sie taten, erschien ihm nicht sündig. Lag es am Ende daran, dass er selbst sündig war? Sollte Bruder Anthony etwa doch recht haben, der jeden Tag wenigstens einmal behauptete, dass ihm, Robin, ein warmer Platz in der Hölle sicher sei?
Er zog unbehaglich die Schultern hoch. „Und ich denke, Bruder Philippus und seine Gelehrten haben nicht recht. Es kann nicht Sünde sein. Warum sollte Gott es so eingerichtet haben, dass die Menschen in Sünde gezeugt werden? Heißt es nicht, er hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen?“
Lionel schüttelte entschieden den Kopf. „Du solltest die Bibelauslegung lieber denen überlassen, die sie verstehen und die das Wort Gottes nicht für ihre Zwecke verdrehen.“
Sie waren wieder an der Mauer des Klosters angelangt. Robin kletterte auf den untersten Ast der Weide. „Schön, denk, was du willst. Aber wenn man dich hört, könnte man meinen, Oswin hat recht. Aus dir wird tatsächlich noch ein echter Klosterbruder.“
Lionel sah ihn ärgerlich an. „Man muss kein Mönch sein, um gottesfürchtig zu sein und sich von der Sünde fernzuhalten.“
Robin seufzte. „Vielleicht nicht. Aber wenn du glaubst, diese Geschichte hier beichten zu müssen, dann lass mich dabei aus dem Spiel, hörst du. Bring mich nicht in Schwierigkeiten mit deiner unbefleckten Heiligkeit.“
Lionel presste die Lippen zusammen. „Manchmal fürchte ich um deine Seele, Robin.“
Robin schwang sich über die Mauer. „Dann bete für mich, Mönchlein.“
Als Bruder Bernhard am nächsten Morgen das Dormitorium betrat, seine misstönende Handglocke schwang und mit seiner rauen Bassstimme donnerte: „Gelobt sei Jesus Christus!“, sprangen dreißig Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn von ihren Lagern auf und erwiderten im Chor: „In Ewigkeit, Amen!“
Nur Robin rührte sich nicht. Bruder Bernhard sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber, aber ehe er herbeihinken konnte, um ihn mit einem gezielten Tritt auf die Beine zu bringen, hatte Lionel ihn am Ellbogen gepackt und halb hochgezerrt. „Aufstehen“, zischte er.
Robin fuhr aus dem Schlaf auf, strampelte seine leichte Wolldecke zurück und kam stolpernd hoch. „In … Ewigkeit, Amen.“
Bruder Bernhard brummte übellaunig und ging ohne Eile davon.
Robin rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. „Ich wünschte, ich könnte nur ein einziges Mal so lange schlafen, bis ich von selbst aufwache.“
„Müßiggang …“, begann Lionel mechanisch, und Robin winkte eilig ab.
„Ich weiß, ich weiß. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Wer schläft, sündigt nicht, oder?“
Lionel fiel keine überzeugende Erwiderung ein, und kurze Zeit später gingen sie nebeneinander in einem schweigenden, ordentlichen Zug mit den anderen Schülern zur Frühmesse. Lionel weckte Robin rechtzeitig für die Kommunion.
Nach dem Frühstück, das wie jeden Morgen aus einem Stück hartem, dunklem Brot und einem Becher verdünntem Bier bestand, begaben sie sich zum Schulhaus. In der ersten Stunde hatten sie Rechenunterricht bei Bruder Bernhard. Robin vergaß für eine Weile, wie unausgeschlafen er war, obwohl er gerade diese Stunde auch im Halbschlaf mühelos hätte bewältigen können. Der Umgang mit dem Abakus barg für ihn schon lange keine Tücken mehr. Manchmal, wenn Bruder Bernhard guter Laune war, erzählte er Robin ein wenig über die Grundbegriffe der Geometrie, und dann hatte er einen ungewöhnlich aufmerksamen Zuhörer. An diesem Morgen allerdings ließ er sie nur Kopfrechnen üben. Robin war ein bisschen gelangweilt, aber es hielt ihn zumindest wach. In der anschließenden Lateinstunde dagegen kämpfte er fortwährend mit dem Schlaf. Auf der Suche nach Ablenkung sah er wieder und wieder aus dem Fenster in den Obstgarten. Der Spätsommermorgen war heiß und dunstig geworden. Der Tau auf dem Gras und den Blättern der Apfelbäume war längst getrocknet. Still standen sie im warmen, fast messingfarbenen Sonnenlicht, und ihre Äste bogen sich unter ihrer rotgoldenen Last. Der süße Duft der Früchte lockte Wespen in Scharen an. Schon ein bisschen träge tummelten sie sich um das Fallobst im hohen Gras.
Robin war dankbar für den wenig spektakulären Ausblick. Wenn der Herbstregen einsetzte, würden die Fenster mit Holzläden verschlossen, damit die Feuchtigkeit nicht ungehemmt in den Schulraum eindringen konnte, und sie würden wieder im trüben Halbdunkel bei eisiger Kälte sitzen. Aber noch war es nicht so weit, noch konnte er hinaussehen in den blauen Himmel und über die Felder hinter dem Obstgarten, die größtenteils schon abgeerntet waren. Erntezeit. Zuhause brachten sie jetzt auch das Korn ein. Von früh bis spät würden die Bauern und ihre Familien auf den Feldern sein. Dann kam die Dreschzeit, und wenn das Stroh gebündelt war, kamen die Erntefeste, mit großen Feuern und Tanz und Ausgelassenheit, und das frisch gebraute Bier würde in die Krüge schäumen, und niemand schickte die Kinder ins Bett …
„Waringham, du gottloser Schwachkopf, was gibt es da draußen so Interessantes zu sehen?“
Robin fuhr leicht zusammen. „Nichts, Bruder Anthony.“
„Nichts?“ Der kleine Mönch schritt entschlossen auf ihn zu, sein Habit flatterte ein wenig um seinen hageren Körper. Er warf einen kurzen Blick durch das Fenster. „Warum starrst du dann immerzu hinaus?“
„Es tut mir leid“, murmelte Robin ohne die geringsten Anzeichen echter Reue und unterdrückte ein Gähnen.
Bruder Anthonys Lippen waren schmal und weiß, ein sicheres Anzeichen seines Missfallens. „Also, was haben wir denn da draußen? Ich sehe Apfel- und Birnbäume und vier Brüder bei der Obsternte. Ist es das, was dich so fasziniert?“
Die anderen Jungen lachten leise, ein bisschen nervös vielleicht.
Robin sagte nichts.
Bruder Anthony schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich versuche, dir ein paar elementare Regeln der Stillehre beizubringen, und du siehst aus dem Fenster. Du glaubst, ein Obstgarten sei interessanter als Vergilius. Du bist ein Taugenichts!“
Robin sah auf seine Hände. „Ja, Bruder Anthony.“
„Voll sündiger Gedanken!“
„Ja, Bruder Anthony.“ Lionel ist da ganz deiner Meinung, dachte er halb grimmig, halb belustigt. Er bemühte sich um eine ausdrucklose Miene.
„… nach dem Unterricht hierbleiben und die nächsten dreißig Zeilen auswendig lernen. Ich werde dich heute Abend abhören. Besser, du lernst sie gut, Waringham.“
Robin hatte nur mit halbem Ohr hingehört. Bruder Anthonys wüste Beschimpfungen hatten sich schon lange abgenutzt. Er hörte sie viel zu oft, um ihnen noch besondere Beachtung zu schenken. Doch als die letzten Worte zu ihm vordrangen, sah er entsetzt in das kantige Gesicht mit den scharfen, hellblauen Augen auf. „Aber …“
„Ja? Was wolltest du sagen, Schwachkopf?“
Er biss sich auf die Unterlippe. Heute Nachmittag wäre er an der Reihe gewesen, mit Bruder Cornelius nach Posset zu fahren. Es lag etwa drei Meilen westlich des Klosters, und im Vergleich zu Curn war Posset eine Metropole. Dort gab es einen Markt, auf dem das wenige eingekauft wurde, das die Brüder nicht selber herstellten, wie Wolle, zum Beispiel. Jede Woche durfte einer der älteren Schüler Bruder Cornelius begleiten. Es gehörte zu den wenigen Abwechselungen in ihrem tristen, streng geregelten Internatsleben, und sie fieberten dem Ausflug schon Wochen im Voraus entgegen. Bruder Cornelius, der Cellarius, war ein gutmütiger, fettleibiger Mönch, dessen Tonsur mit den Jahren zu einer großen, glänzenden Glatze geworden war, umgeben von einem schmalen Kranz grauer Zotteln. Er war so ganz anders als Bruder Anthony und die übrigen Lehrer. Er ließ die Jungen den Wagen lenken, ließ sie unbeaufsichtigt und länger als nötig in dem bunten Treiben auf dem Markt herumstreunen, schwatzte einem Bäcker ein paar Honigkuchen für seine ewig ausgehungerten Begleiter ab, und er erzählte ihnen Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg. Als der König nicht viel älter gewesen war als die Schüler von St. Thomas jetzt, bevor der Schwarze Tod gekommen war, und man konnte glauben, England sei damals ein dicht bevölkertes Land voll unbeschwerter Fröhlichkeit gewesen. Sie liebten Bruder Cornelius. Die Ausflüge mit ihm waren wie ein Hauch von Freiheit.
Robin spürte seine Enttäuschung wie einen großen, grauen Ozean, der sich vor ihm auftun wollte. Es würden mehr als drei Monate vergehen, bevor er wieder an der Reihe war. Für einen Augenblick fürchtete er, er werde in Tränen ausbrechen. Stattdessen wurde er zornig. „Ihr seid ungerecht, Bruder Anthony.“
Betroffenes Schweigen breitete sich aus.
„Was sagtest du?“, erkundigte der Lehrer sich leise.
Robin rang um seinen Mut. „Ich … habe überhaupt nichts getan. Ich habe meine Aufgaben gelernt, alles, was Ihr uns aufgetragen habt. Aber Ihr fragt mich nicht einmal danach. Warum?“ Er hätte wirklich gerne den Grund gekannt, warum Bruder Anthony ihn so verabscheute.
Der kleine, drahtige Mönch betrachtete ihn ungläubig. „Du willst mit mir disputieren?“
Robin nickte kurz. „Warum nicht? Es kann nicht so verwerflich sein, denn das ist es doch, was wir in der Rhetorik lernen sollen, oder nicht? Bruder Jonathan sagt, sie sei der Schlüssel zu allen weiteren Freien Künsten. Und Latein“, fügte er in einer plötzlichen Anwandlung bitteren Hohns hinzu, „hat er nicht erwähnt.“
Noch während er sprach, dachte er, meine Güte, habe ich das wirklich gesagt? Ich muss wahnsinnig sein. Ich wünschte, ich würde nicht immer das Maul aufreißen. Ich wünschte, ich wäre nicht so furchtbar müde.
Die anderen Schüler starrten ihn an wie einen grotesken Krüppel auf dem Jahrmarkt. Bruder Anthony war noch ein bisschen blasser geworden. Steif ging er zu seinem Pult zurück und nahm seinen Stock auf. „Komm her, Waringham.“
Robin erhob sich langsam; seine Knochen erschienen ihm bleischwer. Er ließ den dürren Mönch nicht aus den Augen. Als er vor ihm anhielt, standen sie Auge in Auge.
„Beug dich vor, du Höllenbrut. Hochmut und Ungehorsam sind eine Eingebung Satans. Wir wollen doch sehen, ob wir ihn dir nicht austreiben können.“
Robin glaubte nicht, dass der Teufel irgendetwas mit dieser Sache zu tun hatte. Und er glaubte auch nicht, dass Bruder Anthony das glaubte. Er biss die Zähne zusammen.
Ein schüchternes Klopfen gewährte ihm Aufschub. Zögerlich öffnete sich die Tür, und ein Laienbruder steckte den Kopf hindurch. „Entschuldige, Bruder Anthony.“
„Was gibt es?“ fragte der Lehrer barsch.
Der Bruder ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. „Robert of Waringham?“
Robin wandte sich um. „Das bin ich.“
„Vater Jerome will dich sprechen. Jetzt gleich. Komm mit mir.“
Robin rührte sich nicht und starrte ihn verblüfft an. Was in aller Welt mochte das zu bedeuten haben? Dann ging ihm auf, dass vermutlich alles besser war, als jetzt hierzubleiben. Er sah fragend zu Bruder Anthony.
Der Mönch scheuchte ihn mit einer ungehaltenen Geste weg. „Geh schon. Ich werde es nicht vergessen.“
Robin lächelte dünn. „Nein. Da bin ich sicher, Bruder Anthony.“
Der Laienbruder führte ihn schweigend aus dem Schulhaus, durch den Kreuzgang, am Refektorium vorbei zu dem bescheidenen Häuschen, das der Abt von St. Thomas bewohnte. Mochte er auch der Vorstand eines der mächtigsten Klöster Südenglands sein, Jerome folgte dennoch der Benediktinerregel wortgetreu. In seinem Haus gab es nicht mehr Komfort als im Dormitorium seiner Mitbrüder. Er hielt jeglichen weltlichen Pomp für Teufelswerk. Er war ein Asket, und seine Contemptus Mundi