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Ich bin überzeugt,
dass diese Buchreihe besonders anziehend für jene Händler ist,
die Antworten suchen,
aber keine finden können,
die den Erfordernissen der Vernunft und der Erfahrung entsprechen;
für Menschen, die aus demselben Grund nicht an Geister und Engel glauben,
aus dem sie nicht an den Weihnachtsmann glauben,
und für Trader, die nicht glauben,
es gebe auf die schwierigen Probleme des Lebens als Trader einfache Antworten.

Diese Buchreihe bietet eine Antwort,
indem sie in Abrede stellt,
dass nur eine Antwort nötig oder möglich sei.
Stattdessen vertritt sie die These,
keinerlei Regelwerk oder Strategie sei in der Lage,
die Wirklichkeit des Börsenhandels angemessen zu beschreiben.
Sie geht so weit, dies auch auf sich selbst anzuwenden:
Man müht sich und plagt sich, das Rätsel zu lösen,
bis man nicht nur sieht, sondern auch spürt,
dass es keine Lösung gibt –
dass das Problem in der eigenen Denk- und Handlungsweise
und nicht im Regelwerk als solchem liegt.

Michael Voigt

Auszug aus Hofners Tagebuch:
»… das Leben als Trader ist eine missliche Sache;
ich habe mir vorgenommen,
es damit hinzubringen,über dasselbe nachzudenken.«

*

Würdest du dich als gestresst bezeichnen?

Nein. Ganz sicher nicht. Ich habe nur … einfach viel zu tun. So ist das nun mal, wenn man einen anspruchsvollen Job hat. Ich bin ehrgeizig und habe Spaß an meiner Arbeit.

Na gut, manchmal fühle ich mich schon etwas unter Druck. Ich bin schließlich Berufshändler, genau genommen Trader, habe also immer den Finger direkt am Puls des ganzen Finanzmekkas. Hat eigentlich irgendjemand da draußen einen Schimmer, was das heißt? Nein?

Philip unterbrach seinen inneren Monolog, schaute kurz auf die Fragen, die vor ihm lagen, und fixierte den äußeren rechten Bildschirm. Der DAX-Future stieg um weitere 13 Punkte. Kurz darauf erblickte ein neuer Bar des 10-Minuten-Charts das Licht der Welt. Durch diesen Anstieg rückte der letzte lokale Tiefpunkt von 6.808 noch weiter in die Trading-Ferne. Gut. Egal, jetzt weiter zur nächsten Frage.

Wie viele Stunden verbringst du tagtäglich am Arbeitsplatz?

12

8

Na ja. Wie man es nimmt, überlegte Philip. Rein körperlich nicht so viele. Aber geistig …

Treibst du regelmäßig Sport?

Ich jogge regelmäßig.

Ich jogge, so oft ich kann.

Ich habe vor, demnächst mal wieder joggen zu gehen. Sobald ich Zeit habe.

Im Moment ist aber an den Märkten viel los.

Philip setzte den Stift kurz ab, räusperte sich und warf einen Blick auf den Chart. – Heiliger Bimbam, wie lange dauert das denn noch, bis der Markt mal fällt?

Hofner, vier Meter hinter ihm, klickte gerade eine Stopp-Sell-Order in den Markt und schaute kampfbereit von seinem Arbeitsplatz auf. »Komm schon, komm schon …«, feuerte der erfahrene Händler den Euro-FX-Future zum Spaß an und griff sich in sein kurzes, dunkles Haar. »Fall unter die zwölf!«

Der Euro-FX-Future pendelte seit beinahe sieben Minuten zwischen 1,5813 und 1,5820. Die Stopp-Sell-Order zur Eröffnung der Short-Position lag auf dem Kurs von 1,5795. Dieser geplante Trade resultierte aus der 20-Pips-Korrektur innerhalb des sauberen Abwärtstrends auf Tickbasis. Hofner hielt die Korrektur offenbar für beendet, denn der Markt drehte bereits wieder in Richtung des letzten Tiefpunkts, legte jedoch auf diesem Weg eine kurze Zwischenpause ein.

Hofner war Philips Arbeitskollege und langjähriger Freund. Hofners Ruf? Ein Notarzt für Trader, ohne Wenn und Aber. Ein Retter in letzter Minute, ein gerissener Meister seines Fachs, der willens war, alles zu tun, um sich, seine Ideen und Emotionen in den Griff zu bekommen. Philip empfand es immer als einen großen Glücksfall, mit einem solchen Trader zusammen durch das Universum von Märkten und Zeiteinheiten zu surfen. Händler vom Schlag eines Hofner hatten von klein auf gelernt, jedem Trader mit Rat und Weitsicht beizustehen. Er kannte alle Facetten und sämtliche Betrachtungen des Tradings. Er kannte die riesigen Gewinne und großen Verluste so gut wie sonst kaum jemand. Er stimmte mit den anderen alten Hasen des Börsenhandels überein, die da sagten: »Sobald wir anfangen zu traden, fangen wir an, uns zu verändern …« Als erfahrener Händler hatte er jene Veränderung unzählige Male bei anderen, unter anderem auch bei Philip, miterlebt.

Obwohl Philip das Motto »Wir verändern uns beim Trading …« im Falle des Börsenhandels für richtig hielt, hätte er nie geglaubt, dass dies hier und jetzt etwas mit ihm und seiner Arbeit zu tun haben könnte. Das heißt – bis zum heutigen Tag, an dem sich seine Persönlichkeit wieder ein Stück weiterentwickeln sollte.

»Na, Philip, kommst du voran?«, fragte Hofner grinsend und warf zeitgleich einen Blick in Richtung des Euro-FX-Future-Charts.

»Äh, ich bin ein wenig im Stress«, erwiderte Philip leicht irritiert. »Außerdem hab ich meine Sachen noch nicht alle gepackt. Muss ich da wirklich alle Fragen beantworten?«

»Ich fürchte, ja …«, antwortete Hofner mit einem Hauch von gekünstelter Strenge. Schließlich war das Beantworten dieser »Wie steht es um Ihr Leben?«-Fragen, wie man sie aus den üblichen Frauenzeitschriften kennt, ein heiß geliebtes Ritual der Trader. Da Ehrlichkeit vorausgesetzt war, hatten diese Fragen Philip das ein oder andere Mal in tiefste Grübeleien gestürzt, aber gelegentlich zeigten die anschließenden Gespräche mit Hofner und Sander ihm auch Mittel und Wege, mit der Arbeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten besser umgehen zu können, und schenkten ihm hin und wieder einen wertvollen Blick in die Abgründe, auf die Berggipfel und Geheimnisse des Berufsalltags eines Traders. Natürlich gab es auch einen Haken an der Sache: Wer die schlechtesten Antworten hatte, musste jedes Mal das Mittagessen bezahlen.

Philip warf einen Blick auf seine Uhr. Schon halb zehn. Er hatte heute eigentlich wirklich keine Zeit für dieses Spiel. – Echt!

Sicherlich lag das daran, dass er in Gedanken bereits in der Luft war – und in Bangkok. Momentan interessierten ihn Fragen zur Luftfeuchtigkeit im asiatischen Raum und nach thailändischem Leben mehr als die zu seinem gewohnten Leben. Ab morgen würde nichts mehr sein wie gewohnt. Morgen würde er für mehrere Wochen nach Bangkok fliegen. Und zwar dienstlich.

Ein Blick auf den DAX-Future musste dennoch sein. 6.829 Punkte. Das Ding blieb momentan einfach stehen. Keinen Punkt rauf, keinen runter. Also gut. Nächste Frage.

Rauchst du heimlich?

Nein!

Trinkst du viel Alkohol?

Hin und wieder. Logisch. Aber bin ich deswegen gleich Alkoholiker?

Isst du regelmäßig gesundes Essen?

Was soll denn das schon wieder heißen?

Philip blickte erneut auf. Der DAX zeigte immer noch null Reaktion. Dagegen hüpfte der Schweizer SMI-Future seinem Tagestief entgegen.

… 7310 … 7311 … 7309 …

»Ich ernähre mich gesund und ausgewogen…«, kritzelte Philip schließlich hin.

Hast du das Gefühl, ein ausgeglichenes Leben zu führen?

Klar.

N…

Ja.

Manchmal.

Scheiße, ich bin Trader … Was soll die Frage? Hat hier überhaupt jemand eine Ahnung, wie das ist?!

»Fertig!«, verkündete Philip, wedelte mit dem ausgefüllten Fragebogen und schaute entspannt auf seine Bildschirme. Der DAX-Future stand sieben Punkte vor Philips Stopp-Order, welche er kurz unter das aktuelle Tagestief, das zeitgleich einen Punkt 21 darstellte, in den Markt legte.

»Na dann, mal sehen, wer das Mittagessen zahlt«, erwiderte Sander dröhnend und blickte gelangweilt nacheinander auf die Monitore seiner zwei Rechner, von denen allerdings einer viel langsamer agierte als der andere. Ein Netzwerkfehler, der Sander jedoch kaum aus der Ruhe bringen konnte, denn der Techniker war bereits gerufen und musste jeden Moment hier eintreffen.

Auch Sander, ebenso wie Hofner, konnte nichts mehr ängstigen, nichts mehr bewegen. Alle tausend Fäden des Wollens, welche einen Trader an die Welt der Kurse und Charts gebunden halten und ihn in Form von Begierde, Furcht, Neid und Zorn hin und her reißen, hatte er unter beständigem Schmerz bereits vor vielen Jahren durchtrennt.

Er blickte nun ruhig und lächelnd zurück auf die unzähligen Gaukelbilder dieser Trading-Welt, die jetzt so gleichgültig vor ihm standen wie Schachfiguren. Philip war nach all diesen Jahren immer noch verblüfft über die Besessenheit Sanders, sämtliche Risiken ständig vor seinem geistigen Auge durchzuspielen – er dachte buchstäblich an alles, was möglicherweise jedem Chartbild und jeder Marktsituation zustoßen könnte. Sander hatte Philip seit Beginn seines Praktikums gezwungen, immer einen Alternativplan aufzustellen – für den Fall, dass ein Chart sich anders verhielt als angenommen –, und tobte jedes Mal, wenn Philip ihm antwortete, bei dieser aktuellen Chartkonstellation sei gar nicht daran zu denken, dass der Markt sich möglicherweise anders verhalten könnte, und ihn daher ein »Plan B« wenig interessiere.

Sander war ein begnadeter Trader, der nie aus einer Laune heraus einen Trade in den Chart feuerte – und dennoch hörte er jedem Anfänger geduldig zu, verstand jedes Wort von dem, was dieser sagte, und ermutigte auch Philip, im Studium seines Egos noch einen Schritt weiterzugehen. Er lehrte Philip, bei jedem Trade die unsichtbaren Selbstzerstörungsrisiken zu suchen.

Sander war groß gewachsen und voller Selbstbewusstsein, was die Frauenwelt anging. Gelegentlich kam er morgens in den Klamotten vom vorigen Tag ins Büro, etwas zerknautscht und übernächtigt aussehend, aber nichtsdestotrotz hochkonzentriert, wenn es um die Arbeit ging.

»Auf Tagesbasis im Bund-Future und Dow Innenstäbe2«, bemerkte Sander und kippte in einem Zug seinen Kaffee runter. »Das wird ein witziger Tag.« Witzig war auch die Tasse, aus der er seinen Kaffee trank. Zumindest hatten Philip und Hofner lauthals gelacht, als sie diese das erste Mal sahen. Da stand »Männlich, ledig, jung sucht ...«. Die Tasse war ein Geschenk seiner Mutter, ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er an seine Zukunft und an die seiner Mutter als Großmutter denken sollte. Sander hielt jedoch nicht viel von Familie. Aber er trank trotzdem aus der Tasse seiner Mutter, schon allein um die Stimmung im Büro hochzuhalten.

»Der SMI-Future hat auch Innenstäbe«, meinte Philip nachdenklich.

»Na ja!«

Aber der Handelstag ging ja erst los. Der DAX-Future hatte heute Morgen um acht Uhr 31 Punkte tiefer eröffnet, zog dann sofort um 37 Punkte an und stand nun wieder kurz vor seinem Eröffnungskurs. Der Bund-Future eröffnete auf Höhe des gestrigen Schlusskurses um 22 Uhr, bei 113,91. Wie jeden Mittwoch standen einige Wirtschaftsnachrichten an.

Philip überprüfte die offenen Overnight-Positionen seiner Konten. Vier Konten bei drei verschiedenen Brokern, das brachte zwar den kleinen Nachteil, dass drei verschiedene Handelsplattformen gleichzeitig bedient werden mussten, hatte aber den Vorteil, dass neben dem zeitgleichen Handel unterschiedlicher Zeiteinheiten in ein und demselben Markt auch ein möglicher Ausfall eines Brokers keine generelle Handlungsunfähigkeit nach sich zog.

Piep, Piep, Piep.

– Hoppla, das ging jetzt aber zügig.

Order Filled

Sell FDAX 20@6808 ID=7261168.

Ein gelb hinterlegtes Fenster tauchte am oberen Rand des linken Bildschirms auf. Diese Info bestätigte Philip die Ausführung der Order »Sell« des DAX-Futures »FDAX« mit der entsprechenden Laufzeit. Philip verkaufte 20 Kontrakte »20@...« zu 6.808 »…@6.808«. Die letzte Information des Fensters dokumentierte die Ordernummer »ID=7261168«.

Da er keine offene Position in dem Markt besaß, war er somit 20 Kontrakte zu 6.808 im DAX-Future short. Er kontrollierte mit gewohnt peniblem Blick, ob sein Rechner den Stopp an die richtige Stelle setzte.

Trade-Guarde-Modus: ON

Stopp Buy FDAX @6.819.

– Passt. Auf den Rechner war halt Verlass. Klare Regel, klare Ausführung. Wie ein treuer Freund, still und ohne zu murren. Ein Computer machte alles: Er führte Trading-Befehle aus, bestellte Blumen für Geliebte und Familien, wenn man Geburtstage vergessen hatte, orderte Pizza, wenn es abends spät wurde, war das Tor zur Welt, wenn man kaum noch Kontakt zu anderen hatte. Ein Computer schlief nicht. Ein Computer eierte nicht rum.

»Gott, bitte fall!«, stöhnte Philip und starrte auf das Positionsfenster. Ihn interessierte die wunderbare Mauer aus Abkürzungen, FDAX, FSMI, FESX, FGBL etc., hinter der eine große Zahl, der Punktestand, zu sehen war, dann eine weitere Zahl und davor das entscheidende Plus- oder Minuszeichen.

Name

Position

Traded

P/L Points

P/L

Time

Last Quote

Bid

Ask

FDAX

–20K

6.808

+02

+1000 Euro

09:40:12

6.806

6.806,0

6.806,5

Und – schwupp! – schon tauchte eine riesige fallende Periode auf Philips 10-Minuten-Chart auf. »Wow … Ich kann`s nicht fassen, das ging fix!« Mit einem zufriedenen Grinsen begrüßte Philip jeden neuen weiter fallenden Kurs.

… 6.805 …6.804 … 6.802 … 6.798

Wenn ihn nicht alles täuschte, stand der DAX-Future wenige Punkte vor dem Durchbruch der fetten Aufwärts-Trendlinie! – Ja, ganz eindeutig. Kein Wunder. Sie war die reinste Augenweide und erstreckte sich über zwei Tage auf den 10-Minuten-Charts. Durch die Time & Sales-Liste3 ging ein kräftiger, wenn auch kurzer Ruck, und innerhalb von zwei Sekunden katapultierte es den Markt unter die Trendlinie. Stopp-Orders wurden ausgelöst und Market ausgeführt. – Das klappte ja hervorragend! Philip reckte zufrieden den Daumen in die Höhe. Sachte schob er die Maus auf das Ordermenü, bis der Zeiger direkt auf »Buy« stand. Jetzt musste er nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten. Sein Freund, der Computer, lauerte mit ihm.

Zack!

Eine schnelle Handbewegung und die Order segelte durch den Datenhighway zum Broker. Im Handumdrehen halbierte er die Position und nahm 20 Punkte Gewinn mit, während der Computer für die verbleibende Restposition von zehn Kontrakten den Stopp automatisch der neuen Positionsgröße anpasste und zielsicher nachzog. Philip handelte die Bewegung4 und daher wurde für jede weitere Periode unter Beachtung möglicher Innenstäbe der Stopp auf die vorhergehende Periode gesetzt. Alles wird ganz wunderprächtig an meinem letzten Tag, dachte Philip und vergaß dabei, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll.

Philip war nun seit mehr als drei Jahren fest angestellter Händler. Hofner und Sander waren von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass ein guter Trader aus ihm werden würde, und so waren die zurückliegenden vier Lehrjahre nach ihrem Wunsch verlaufen. Vor nunmehr fast sieben Jahren, als Philip seinen ersten Praktikumstag hinter sich hatte, hatte Hofner Sander zugeraunt: »… Philip ist aufgeweckt. Denkt gern mit. Dürfte nicht schwerfallen, den Jungen zum Trading zu verführen.« Denn um nichts anderes als Verführung handelt es sich, wenn man einem Neuling das Trading beibringt. Es ist Verführung, ihn zu einer bestimmten Wahrnehmungsweise zu locken, die er zunächst nicht gesucht hat, das ist es! Und schließlich … ihm aus einem bestimmten Blickwinkel, aus einer Richtung, aus der er es gar nicht erwartet hätte, Hilfestellung zu leisten.

»Zunächst einmal«, erklärte Hofner immer, »gilt es, die Grenzen im Trading genau zu bestimmen. Dann muss man lernen, sich selbst aus der Ferne zu betrachten – obgleich Gier und Angst jedem Trader leider gelegentlich die Perspektive verstellen.« Damit empfahl Hofner nichts anderes, als die hastige Jagd nach dem ultimativen, gewinnbringenden Monster-Trade aufzugeben und sich stattdessen zu Beginn aus der riesigen Anzahl von Märkten und Handelsmöglichkeiten auf eine kleine Anzahl von Set-ups zu konzentrieren und dort nun vom Jäger zum Sammler zu werden. Niemand konnte es einem Trading-Anfänger abnehmen, sich in der Vielzahl von Märkten, Zeiteinheiten, dem gigantischen Universum von Handelsregeln, den Positionsgrößen, Arbeitszeiten, der Anzahl der Positionen, Gewinnabsichten pro Trade, pro Woche, pro Monat und pro Jahr festzulegen.

Hofner brachte es schnell auf den Punkt, worin der prägende, der essenzielle Unterschied zwischen einem Trading-Anfänger und einem Profi bestand: in der Wahrhaftigkeit. Hofner nannte es »meine Suche nach der Wahrheit, der ich mich unterordnen muss«, und damit formulierte er das, was jeden Händler beim Traden berührte, weil es plötzlich Wörter und damit Bilder gab für Situationen, weil Lebenszusammenhänge und -gefüge auftauchten, die bisher namenlos und trotzdem bekannt, vertraut waren – ein einzigartiger, berührender, verdichteter Punkt. Wie im richtigen Leben, wo wir ja auch den Unterschied zwischen einer durchaus gut geführten Unterhaltung mit Menschen und dem vertrauten, intensiven Gespräch mit Freunden spüren. »Es geht doch um die Wahrhaftigkeit, um nichts anderes!«

Die Monate und Jahre von Philips Praktikum vergingen, und mit ihnen auch die Vorstellung von immensen Gewinnen mit nur einem einzigen Trade.

Diese Vorstellung hatte anfangs einen Sog auf ihn ausgeübt, einen machtvollen Sog. Doch dann rissen ihn jedes Mal Hofners Worte aus seinen Fantastereien: »Nun …, mein Junge«, blieb er immer geduldig, »haben wir jetzt genügend Zeit darauf verschwendet, einen Anflug von Gier zu bekommen?« Philips Räuspern bei diesen Worten, sein verlegenes Hin- und Herrutschen auf dem Schreibtischstuhl brachte Hofner nur allzu oft zum Schmunzeln. – Dem entging ja wohl gar nichts! Was für einen hervorragenden Diagnostiker dieser Mann abgäbe! Ob er jemals an eine psychologische Laufbahn gedacht hatte? Könnte das eigentlich nicht jeder fortgeschrittene Trader in Betracht ziehen?

Aber jetzt war Philip als Trader im letzten Stadium angelangt. Er wusste, welche handwerklichen Fertigkeiten im Trading gefordert waren. Er konnte sie einordnen, zielführend anwenden, hatte alle mentalen Höhen und vor allem die Tiefen als Trader miterlebt. Er hatte Erfahrungen gesammelt, sowohl mit sich als auch mit den verschiedenen Techniken, und er hatte gelernt, auf sich selbst zu reagieren. Jetzt war er an dem Punkt angelangt, an dem nicht mehr das Handwerk, sondern einzig und allein sein Kopf und infolgedessen seine innere Ruhe für Gewinne und Verluste sorgten.

Dennoch – hin und wieder genügte das Eingehen eines Trades, ja oftmals nur ein Blick auf einen Chart, und es setzte, trotz der vielen Lehrjahre, bei Philip eine scheinbar nie enden wollende Flut von Fragen ein:

Was greift nach mir?

Wer hat mich im Griff?

Beherrscht mich der Chart, der Börsenverlauf im Allgemeinen?

Oder ist es einfach nur schlichte Gier, der Lotteriegedanke, das Lauern auf die Millionen, den Riesen-hyper-mega-mehr-geht-nicht-Trade, den Monster-Trade?

Klopfte mit jeder Marktbewegung, mit jedem Trade der Wunsch nach einem Luxusleben an und bat um Einlass?

Warum war das Gängelband der Emotionen so eng, fest und vor allem kurz?

Inzwischen kamen solche Fragen nicht mehr mit der Intensität von einst, aber von Zeit zu Zeit krabbelten sie dennoch in Philips Bewusstsein. Dann warf er gerne den Kopf hin und her, um die Gedanken abzuschütteln. Wo kamen sie bloß her? Es musste ein Reservoir komplexer Vorstellungen im Gehirn eines Traders geben, außerhalb des Bewusstseins, doch immer in der Nähe, jederzeit bereit zur Musterung und zum Aufmarsch auf der Bühne bewussten Denkens, aktiviert beim Anblick eines Charts.

Im Großen wie im einmal erfassten ganz dezidierten Kleinen hatte Philip seit Langem erkannt, dass nicht die fehlenden Antworten auf diese Fragen für Unruhe sorgten, sondern die Fragen selbst. Wer, wenn nicht der eigene Wille, musste Interesse daran haben, Disziplin zu erreichen, indem Aktionismus vereitelt wurde, Minustrades unterbrochen und irreführende Gedanken richtig herum dargestellt wurden? Doch wer verteilte eigentlich diese für Trader lebensnotwendigen Gedankenbrocken? – Mhm?!

So vergingen die Wochen, Monate, Jahre, und das jämmerliche Bild eines Mannes – ein unters Joch gezwungener Riese unter der Knute eines winzigen Chartverlaufs mit winziger Peitsche – beunruhigte Philip von Trade zu Trade mehr. Diese Vorstellung fraß sich wie Säure in sein Bewusstsein, und daher studierte Philip seine Gedanken seit Jahren immer aufmerksamer.

Philip war so versunken, dass er Claudias Anwesenheit gar nicht gleich bemerkte. Die gute Seele des Teams war mittlerweile im Büro eingetroffen, und er spürte dies nur am Duft ihres Parfums, der ihr bereits vorausgeweht war. Claudia war eine bemerkenswerte Frau. Sie trug eng anliegende Designerjeans, die ihren Hüften kecke Rundungen verliehen. Ihre frischen, weißen Blusen raschelten stets leise bei jeder ihrer Bewegungen, und die Absätze ihrer Schuhe waren so hoch, dass Philip sich regelmäßig fragte, wie sie darin gehen konnte, ohne sich die Füße zu brechen. Um ihren langen, schlanken Hals hatte sie oft ein buntes Seidentuch geschlungen. Als sie sich zu Philip beugte, um ihm ein Küsschen auf die Wange zu geben, streifte eine Strähne ihrer blonden, glänzenden Haare sanft seine Nase.

»Entschuldigt, dass ich zu spät komme«, zwitscherte sie und sah abwesend auf ihre Armbanduhr. »Es war irre hektisch heute Früh – ich musste so viele Leute anrufen, um sie über die große Neuigkeit zu informieren!« Sie seufzte. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie stressig so eine Geburtstagsparty für eine Freundin sein kann. Riesen Organisation.« Dann ging sie hinüber zu Hofner, Sander und den anderen beiden Jungs, um sie ebenfalls mit einem Küsschen von ihren rot schimmernden Lippen zu begrüßen.

Claudia hatte die Männer fest im Griff. Sie hatte Kommunikation studiert und als Beraterin bei namhaften Firmen gearbeitet. Sie war extrem schnell in allen Büroangelegenheiten und brachte von ihren Touren immer wieder irgendwelche netten Geschenke und Bücher mit. Vielleicht war ihre Arbeitsweise hin und wieder etwas unkonventionell, aber sie war sehr effektiv. Nicht nur die Männer im Büro, auch die Geschäftskollegen liebten Claudia. Sicherlich hatte schon der eine oder andere mindestens einmal darüber nachgedacht, wie sie ohne ihre Designerjeans und die weiße Bluse aussah, und was passierte, wenn sie mit ihrem Halstuch Traderhände an Bettpfosten fesselte, aber sie war tabu für die Männer. Ihr Freund errang eine Medaille nach der anderen in einer dieser unaussprechlichen asiatischen Kampfsportarten, was sogar Sander gewaltig beeindruckte. Sie war definitiv off limits.

Fünf Minuten vergingen, zehn. Philip blickte auf den offenen Trade. Och, nee! Die Periode seines 10-Minuten-Charts schloss innerhalb der Hoch-/Tiefspanne der vorherigen Periode. Also: Innenstab.

Philip bekam trotz seiner Erfahrung immer noch, wenn auch mittlerweile tief im Inneren, ein leichtes Zucken bei dem Gedanken, dass sein Rechner nach diesem imposanten Kursrutsch den Stopp aufgrund des Innenstabs nun auf die vorletzte Periode zurücksetzte, statt auf die letzte Periode nachzuziehen. Früher, vor Jahren, hätte er, rein aus dem Bauch heraus, den Trade abgebrochen, die Kohle erst einmal mitgenommen und wäre zunächst flat geblieben. Aber wie es oft ist im Leben: Kneifen galt nicht, und das insbesondere deshalb nicht, weil er es ja war, der einen duplizierbaren und somit beständigen Börsenhandel anstrebte. Denn um nichts anderes ging es in diesem Geschäft.

Aber was soll’s, dachte Philip. Er handelte innerhalb eines markttechnisch definierten Trends die Bewegung zwischen dem ehemaligen Punkt 35 und dem neuen Punkt 2. Somit musste er auf Innenstäbe – also jene Perioden, die es nicht schafften, mit ihrem Schlusskurs über dem Hoch beziehungsweise Tief ihrer vorherigen Periode zu schließen – genau achten. Denn diese Konstellation von Bars selbst wiederum stellte auf der tieferen Zeiteinheit, beispielsweise Tickbasis, die Korrektur des dort intakten Trends dar. Wurde ein Bewegungsschub innerhalb eines Trends aufgeklappt, sprich in einer untergeordneten Zeiteinheit dargestellt, so wies diese Bewegung hier bereits eigene Trendeigenschaften auf. Daher galt es, den Stopp nicht heran-, sondern wegzuziehen. Sonst lief man Gefahr, dass die lebensnotwendige Korrektur innerhalb der Zeiteinheit, die unterhalb des Trades lag, also die dem Trade zugehörige Zeiteinheit, den Trade unbegründet ausstoppte.

Beruhigt meldete sich Philip auf seinem privaten Laptop an und bekam über Outlook sechs neue Nachrichten präsentiert.

 

Von Alran Guan

Betreff No doctor visits, Viagraaaa

Erhalten Gestern, Di, 23:21

 

Von Steve

Betreff Big Pick. CHVS. Stocks climbing as high 400 %.

Erhalten Heute, Mi, 07:12

 

Von Watch Guide

Betreff Absolutely 100 % Breitling and Rolex

Erhalten Heute, Mi, 08:45

 

Von Trading-Meister

Betreff Trend Mega 100 % Musterdepot

Erhalten Heute, Mi, vor 12 Minuten

 

Von Amazon.de

Betreff Amazon empfiehlt: DVD-Blockbuster unter 10 EUR

Erhalten Heute, Mi, vor 3 Minuten

 

Philip klickte auf die erste Mail: Viagraaaa.

Löschen.

Inzwischen wusste doch jedes Kind, dass die Schreibweise Viagraaaa oder so ähnlich ein ebenso dämlicher wie leider auch effektiver Versuch war, die Spamfilter dieser Welt zu umgehen. – Was soll’s. Philip klickte weiter.

Aktie CHVS? Kaufen? 400 % in wenigen Tagen.

Gott, oh Gott. Auch heute würden wieder genügend Leute auf solch eine Mail reinfallen und die Aktie kaufen, natürlich in dem Glauben, dass sie in einer Woche stinkend reich sein würden. Der uralte, wenngleich immer wiederkehrende schöne Effekt einer solchen Aktienempfehlung war, dass der versprochene exorbitante Kursanstieg sogar eintreten konnte, wenn nur genug Leute diesem »Spam-Scheiß« glaubten. Angebot und Nachfrage gleich Kurs. Warum auf einmal die Nachfrage nach der Aktie stieg – und sei es nur aufgrund einer beschissenen Spam-Mail –, interessierte keinen Kursmakler oder Börsenplatz der Welt. Viel Nachfrage gleich hoher Kurs. So viel zur einen Seite der Medaille. Hohes Angebot gleich Kursrutsch war die andere Seite, denn die Prozentreise ins Glück ging natürlich auch in die andere Richtung. Logisch! In einem illiquiden, hochgepuschten Wert reichten wenige Orders aus, und der Wert fiel in sich zusammen. Wurde dann halt doch nichts mit Pool und Ferrari.

Nächste Mail: Breitling Watch.

Klick. Papierkorb!

Moment – Philip schaute fix an sein linkes Handgelenk. Dort klapperte die echte. Schließlich muss man aufpassen, welche man nun in den Müll schmeißt. Warum falsch, wenn es auch echt ging? Philip schüttelte kurz das Handgelenk und ließ das gute Stück klappern. Seine schlichte Breitling zeigte sich unbeeindruckt von der billigen Konkurrenz und glitzerte sanft im Bürolicht. Philip hatte sie sich nach seinen ersten Super-Monster-Trades zu Beginn seines Praktikums geleistet, denn er dachte, das werde jetzt nur noch so laufen …

Na ja …

Schließlich öffnete er die Nachricht von Trading-Trend-Super-Signal. Die Firma wollte ihn schon vor einer Woche darauf hinweisen, dass sie ein Musterdepot führte, das bis jetzt stolze 1020 % erreicht hatte. Philip überflog gelangweilt die Mail-Vorschau:

Wie wir aus 1.250 Euro binnen 21 Wochen nachweislich 12.338 Euro gemacht haben. Lesen Sie mehr …

Wie viel Dummheit – oder Klugheit? – brauchte man eigentlich, um einen derartigen Stuss inklusive Schreibfehlern ins Netz zu stellen? Philip wollte dem »großen Trading-Guru« so einen Werbemüll nicht durchgehen lassen, sonst glaubten die am Ende, ihr Scheiß sei eine Sensation, und dann litt er jahrelang Tag für Tag, weil er solchen Schwachsinnskram wie »In weniger als drei Monaten auf die Überholspur des Lebens« und weitere Glücksbotschaften nicht schnell genug aus dem E-Mail-Postfach gelöscht kriegte. – Klick. Grinsend drückte Philip den Antwort-Button:

Sehr geehrter Herr Peters,

mit Bedauern nehme ich tagtäglich zur Kenntnis, dass ich über wenig Geld verfüge und sehe daher den Börsenhandel als ein tolles Sprungbrett.

Mit Begeisterung und großer Faszination habe ich Ihre Werbemail (deren Zusendung – nur so ganz nebenbei bemerkt – zwar in mein Recht der freien Berufsausübung eingreift und nicht zulässig ist, da wir in keinerlei Geschäftsbeziehung stehen, laut LG Berlin, Beschluss v. 30.4.1999 – 15 O 277/99 sowie LG Berlin, Beschluss v. 13.7.1999 – 16 O 367/99. Ich drücke aber ein Auge zu und sehe von einer Unterlassungserklärung ab) gelesen und bin mithilfe meines Taschenrechners zu dem Ergebnis gekommen, dass ich mit meinen 3.400 Euro Sparbuchguthaben bereits – nach Ihrer Rechnung – 346.800 Euro verdient haben müsste. Bei diesem Gedanken bekomme ich Schmetterlinge im Bauch. Gut, eigentlich bräuchte ich gar nicht so viel Geld, aber man soll ja einem geschenkten Gaul … Sie wissen schon.

Dennoch habe ich vor der Buchung Ihres Abonnements einige Fragen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diese ausführlich beantworten könnten:

1. Wie sähe die Performance aus, wenn ich nicht seit Start des Musterdepots, sondern erst vor – sagen wir – zwei Monaten eingestiegen wäre?

Ich meine damit, dass ich einen Graph vermisse, welcher die Performance jedes Trades seit Auflegung des Musterdepots darstellt. Sie wissen schon, mir geht es um den Drawdown. Wäre schon gut, bevor man für einen Newsletter stolze 500 Euro pro Monat auf den Tisch legt, nicht nur das Ziel zu sehen, sondern auch das »Wie« zum Ziel zu kennen. Womit es mich auch schon zur nächsten Frage drängt:

2. Welches Management wurde angewandt, um diese 1.020 % zu erreichen? Ich bräuchte bitte einfach ein paar Kennzahlen. Sie wissen schon, so einen Tradereport. Also die Frage nach der Stabilität Ihres Systems.

3. Wie können Sie als Herausgeber der Signale davon ausgehen, dass ich als Nutzer Ihres Services beständig handele? Die Sache ist doch die: Wenn Sie mich als Nutzer Ihres Börsenbriefs nicht mit unzähligen Zeilen, Hinweisen und Plakaten aufklären, dass das MoneyManagement irre wichtig ist, wie wollen Sie dann sicherstellen, dass ich nicht mal den einen Trade mache, dort verliere, den nächsten Trade auslasse, um meine Wunden zu lecken, dieser Trade wiederum den irren Profit bringt, ich daraufhin beim nächsten Signal wieder mitmache, dieses dann wieder in die Hose geht und so weiter …? Das ist doch wichtig, finden Sie nicht? Denn sonst wäre es ja durchaus möglich, dass ich, obwohl ich Ihren Brief abonniert habe, eine von Ihrer total abweichende Performancekurve habe.

4. Wie wollen Sie verhindern, dass ich, aufgrund meiner riesigen Depotschwankungen, völlig genervt Ihren Newsletter abbestelle, weil mir ja nie ausführlich erklärt wurde, dass ich auf keinen Fall mit unterschiedlichsten Beträgen handeln darf?

5. Können Sie einen Maximalverlust sicherstellen oder garantieren? Was mich gleich zur letzten Frage führt:

6. Wenn es stimmt, dass dieses Abo bereits von Zehntausenden zufriedener Kunden gelesen wird, wieso kaufen Sie dann die von Ihnen empfohlenen illiquiden Aktien nicht bereits vor Erscheinen Ihres Signals?

Ich bedanke mich für die Beantwortung meiner Fragen schon im Voraus.

Sonnige Grüße

Philip

Ha! Die Kritik hat gesessen. Obgleich die Mail nur aus sechs kleinen Fragen bestand, wusste er doch, dass es genau jene Fragen waren, welche die wenigsten Trading-Neulinge interessierten und welche die wenigsten in ihrer ganzen Tiefe nachvollziehen konnten oder wollten; und auch wenn es bloß ein Tropfen auf den heißen Stein war – aber wenn sich nur jeder zehnte genervte oder auch bereits geprellte Trader mal zu seinem Computer statt in die Arme des nächsten Gurus schleppen würde, um sich zu beschweren, dann sähe weltweit die Trading-Werbung schon ganz anders aus.

Na wie auch immer! So wie vielen anderen Tradern fiel es auch Philip schwer, sich von den unablässigen Angriffen abzuschotten, die gegen das tagtägliche schwere Geschäft des seriösen, des echten Börsenhandels gerichtet waren. Sie kamen aus vielen Richtungen: Von so mancher Broker-Industrie, die riesige Werbekampagnen startete, um die Effektivität des Handelns als möglichst einfach darzustellen; von den Medien, die nie der Behauptung überdrüssig wurden, jede Bewegung erahnt zu haben und nachträglich interpretieren zu können; von Behavioristen, von Börsengurus, von den Horden der New-Age-Trader und von Börsenbriefanbietern, die um Konten und Hirne der Mühseligen und mit viel Geld Beladenen wetteiferten.

– Oh! Amazon hatte sich auch gemeldet, sehr schön.

Klick!

Philip ließ den Kopf gegen die weißlederne Rückenlehne sinken und warf einen schnellen Blick auf seine halbierte Position im DAX-Future.

Name

Position

Traded

P/L Points

P/L

Time

Last Quote

Bid

Ask

FDAX

–10K

6808

+38

+9500 Euro

10:10:36

6770

6769,0

6770,0

Er betrachtete die Charts des Euro-FX-Futures, des SMI-Futures und des Bund-Futures. Trotz ihrer Ausschläge erkannte er aus kurzfristiger Sicht kein Signal, das er bevorzugte. Philip schloss die Augen, hörte, wie ein Lieferwagen über die etwas entfernt von den Büroräumen liegende Straße rumpelte und entsann sich, dass er zu Beginn seines Praktikums jene Trader immer verachtet hatte, die sich mit dem Spruch »Weniger ist mehr« der Freiheit unendlicher Marktbewegungen beraubten. Aber nun, seit Jahren des aktiven Handels waren die verschiedenen Märkte – ob DAX-, Dow-Jones- und Co.-Future, ob Aktie oder Zertifikat – für ihn nur noch Utensilien, die den in sich ruhenden und daher erfolgreichen Tradern Macht verliehen und auf der anderen Seite die Lust der Zocker-Gemeinde an emotionaler Unterwerfung befriedigten. Er bemerkte in letzter Zeit, dass seine Vehemenz gegenüber dem Ausgang jeder einzelnen Periode an Heftigkeit verloren hatte. Vielleicht war es früher lediglich das aufgezwungene Spiel, das ihm gefiel. Und vielleicht ehrte er mit dem erlernten Anti-Aktionismus über die Jahre auch sein eigenes Leben als Trader, dachte Philip. – Was hab ich denn sonst als Trader? Was hat ein Trader sonst, außer diesem wunderbaren, begnadeten Intervall der Charts und seinem eigenen Selbstbewusstsein? Wenn etwas geehrt und gesegnet werden kann, sollte es das sein – das kostbare Geschenk der bloßen Existenz der Börse. Zu verzweifeln, weil das Trading unendlich war oder weil es keinen höheren Zweck oder schon gleich gar nicht einen festen Entwurf hatte, empfand Philip mittlerweile als pure Undankbarkeit. Sich einen allwissenden Trader zu erträumen und jedem Trading-Guru endlose Kniefälle zu widmen, schien sinnlos. Und außerdem verschwenderisch: Warum all diese Energie an ein Phantasma, an ein imaginäres Trugbild vergeuden, wenn doch eigene Disziplin und Aktionismus jedem »Super-Super-Millionen-Handelssystem« dem grundsätzlich entgegenstünden? Besser war es, sich stattdessen Hofners Haltung zu eigen zu machen: »… sich einfach verneigen, den eleganten Gesetzen und Mysterien der Natur seine Reverenz erweisen und sich der Aufgabe des Nachdenkens über sich als Trader zu widmen.«

Dies waren keine neuen Gedanken für Philip – er hatte immer wieder von Hofner und Sander erklärt bekommen, dass alles im Börsenhandel endlich und dass selbst die eigene Selbstbewusstheit tagtäglich vergänglich war. Doch es gab Wissen und Wissen. Und die tagtägliche nahe Gegenwart eines einzigen unüberlegten, ruinösen Trades förderte sein Wissen. Nicht etwa, dass er weiser geworden wäre; es war nur so, dass mit den Jahren immer mehr das Wegfallen von Ablenkungen – Gedanken an immensen Reichtum, Prestige, Applaus, Popularität als Trader – ihm Stück für Stück ein unverfälschteres Bild des Börsenhandels bot. War ein derartiges Loslassen nicht die eigentliche Wahrheit im Trading, die nur niemals öffentlich gemacht wurde?

Philip warf einen Blick auf den kleinen Buddha, der neben seinen Bildschirmen saß und ihn anlachte, und freute sich auf den morgigen Flug. Er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, Buddha habe in seiner Erleuchtung erfahren, dass es für alles einen Ausweg gibt, nämlich das Loslassen von allem, was Leiden schafft. Der Mensch kann sich nur durch eigene Anstrengungen aus dem Kreislauf von Werden und Vergehen befreien, so in etwa lautete die Erkenntnis. – Passt ja gut auf den Handel. Oder mit den Worten der Griechen: alles in Maßen. Morgenland oder Griechenland – Philip musste kurz seine Positionen checken. Er schaute auf seine Bildschirme.

Name

Position

Traded

P/L Points

P/L

Time

Last Quote

Bid

Ask

FDAX

–10K

6808

+30

+7500 Euro

10:16:02

6778

6778,0

6779,0

– Hmpf …

Das sah nicht nach dem Trade aus, den er sich vorgestellt hatte. – Bah. Der Markt schoss nach oben, stieg über die Hochs der letzten beiden Perioden.

Ring. Ring. Ring.

Die Position im DAX-Future war ausgestoppt. – Scheiße Herrgott, aber okay. Das war zwar nicht gerade ein Volltreffer, aber er kam noch mit fünf Punkten Gewinn raus. Philip konnte nichts dafür, dass er ausgestoppt wurde – der Trade war okay, dennoch ausgestoppt. Schulterzucken. Wie hätte er das auch ahnen sollen? Solche Trades konnten und würden echt jedem unterlaufen. Ob ein Trade ins Plus oder Minus lief, konnte kein Trader beeinflussen. Alles, was er konnte, war, einen Trade zu schließen. Dies konnte jeder Trader zu jedem Zeitpunkt. Klar. Die interessante Frage, die gut von schlecht unterschied, lautete: Ab wann lag man falsch? Denn ihre Beantwortung konnte man nicht durch reines Beobachten von Profit oder Loss erkennen.

Philip prüfte die Taskleiste seines Rechners: 10:17 Uhr. – Das tat er wirklich nicht jede Sekunde, obwohl er zugegebenermaßen ohne sie ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre. Aber das wären alle Menschen, wenn man ihre Zeit in Sekunden- und Minutensegmenten messen würde, denn genau das war das Los eines jeden Traders: Sein Alltag war in Zeitspannen und Perioden unterteilt. Je nach der getradeten Zeiteinheit mal im 10-Minuten-Takt, 60-Minuten-Takt oder im Umlauf eines kompletten Tages. Nach beendeter Periode klingelte die Kasse. Oder sie sollte zumindest hin und wieder klingeln.

10:00–10:09 E-Mail lesen

10:10 Chart lesen

10:10–10:19 Telefonat mit Ron, einem Kollegen

10:20 Chart lesen

10:20–10:29 Verbesserungen an einer Excel-Tabelle

10:30 Chart lesen

Als Philip mit dem Börsenhandel anfing, fand er den Gedanken, dass er über den Kursverlauf zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs einer Periode keine Rechenschaft ablegen könnte, gelinde gesagt erschreckend. Er dachte: Wenn ich nicht den Verlauf zwischen Beginn und Ende einer Periode beobachte, bin ich dann als Händler die Kohle überhaupt wert, die aus diesem Trade resultiert? So oder ähnlich dachte er immer wieder. Mittlerweile hatte sich diese Ansicht geändert. Je nach gehandelter Zeiteinheit – denn es gab da Ausnahmen – weigerte sich Philip inzwischen sogar, diese ständig mitzuverfolgen, beispielsweise gerade auf der 10-Minuten-Zeiteinheit. Vorteil dieses Verhaltens war, dass der Drang, den Ausgang der Periode vorwegzunehmen, unterbunden wurde.

10:30–10:39 dumm aus dem Fenster schauen, den Vögeln beim Fliegen zuschauen

10:40 Chart lesen

10:40–10:49 davon träumen, Trader des Jahres zu werden

10:50 Chart lesen

10:50–10:59 versuchen, Nasenspitze mit der Zunge zu berühren

11:00 Chart lesen

Nun, die Wahrheit war, man gewöhnte sich als Trader daran. Man gewöhnte sich daran, den Tag in kleine Zeitabschnitte zu zerhacken. Und man gewöhnte sich daran, auch mal nichts getan zu haben, manchmal sogar den ganzen Tag lang. In Philips Handelsbüro wurden tatsächlich oft Däumchen gedreht. Da wurde aus dem Fenster geschaut und sich Tagträumen hingegeben. Da war die Zeit zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs der jeweils betrachteten Zeiteinheit richtig viel wert. Es war die eigene Zeit. Man musste das so sehen: Wenn man in diesen Minuten oder Stunden bis zum Schlusskurs statt abzuwarten aktiv die Marktverläufe verfolgte und sich daraufhin zu sinnlosen Trades hinreißen ließ, würde dies die Firma oft richtig Geld kosten. Ach, wie viele Trades landeten durch die Ungeduld der Trader zu früh auf dem Börsenfriedhof. Und wie viele Trades erblickten zu früh das Licht der Trading-Welt, nur weil man dachte, der Markt läge in den Wehen, die Periode werde drehen oder höher oder tiefer schließen. Wie gesagt, bei Philip im Büro war Däumchen drehen der Dauertagesbefehl, da man die Wirklichkeit wirklich real bewertete, statt sie zu antizipieren.

Philip sah gedankenverloren auf und verschluckte sich um ein Haar an seinem Wasser … Huch! Der gerufene Telekom-Techniker stand plötzlich vor ihm im unscheinbaren grauen Anzug und sah ihn so durchdringend an, als wüsste er ganz genau, dass sein Trade gerade ausgestoppt worden war.

»Du kennst doch noch Herrn Farei, oder?« Claudia trat hinzu und deutete auf den Mann neben sich, der mit einem Werkzeugkasten bewaffnet auf seinen Kampfeinsatz am Büronetzwerk wartete.

Philip kannte ihn flüchtig, hatte ihn erst einmal gesehen. Aber das war egal, Hauptsache, der Typ war zuverlässig in seinem Job. Aber bereits beim ersten Treffen erschien er absolut humorlos, erinnerte sich Philip.

»Sehr schön, dass Sie kommen konnten«, sagte Philip. »Ich weiß ja, wie viel ihr Jungs immer zu tun habt.«

»Ach, kein Problem«, tönte Farei, während er ehrfürchtig auf die gerade frisch erschienene bunte Börsenzeitung – eine allwöchentliche, aber dennoch regelmäßig ungelesene Gratissendung – auf Philips Schreibtisch starrte.

Ein oft beobachtetes Phänomen war, dass, wenn man mit einer Börsenzeitung oder einer Financial Times einen Raum betrat, die Leute einen ernst nahmen. Echt! Wenn man eine Fachzeitung unter dem Arm hatte, konnte man über die dämlichsten Themen reden, ohne dass die Leute einen für beschränkt hielten. Sie glaubten dann vielmehr, man sei unglaublich informiert und vielseitig interessiert.

Ohnehin lesen viele Trading-Anfänger mit Begeisterung die Tops und Flops der letzten Tage oder Wochen, starren fasziniert auf im Nachgang eindeutig zu analysierende bewegungsreiche Chartverläufe, lesen begeistert über nicht alltägliche Kursanstiege oder Crashs. Aber die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung oder das Internet zu erfahren, ist im Börsenhandel weit größer als die, es live innerhalb der eigenen Position zu erleben; mit anderen Worten: Im Trading ereignet sich das Erstaunliche, oftmals Aufregende im Abstrakten und das Eigentümliche – auch Langweilige genannt – im Wirklichen.

»Sagen Sie, was halten Sie eigentlich von der Wahnsinnsneuigkeit von heute?« Farei deutete auf die Börsenzeitung. »Das war ja eine ganz schöne Überraschung, finden Sie nicht?«

– He?

»Eh … eine interessante Entwicklung«, sagte Philip lächelnd, um kurz Zeit zu gewinnen. Er sah sich auf der Suche nach irgendeinem Hinweis im Büro um – vergeblich. Niemand hörte zu. Sander am rechten Arbeitsplatz legte zwar sein Buch kurz beiseite und griff nach seiner seitlich am Tisch stehenden Wasserflasche. Er wischte sich kurz die Lippen ab, nahm das Buch wieder zur Hand, warf einen Blick auf seine Bildschirme, sah in Bruchteilen von Sekunden, dass keiner der von ihm beobachteten Charts sein Eingreifen erforderte, und las in aller Seelenruhe weiter. Das Ganze dauerte keine zehn Sekunden, die Handgriffe waren, ebenso wie die tägliche Taktik, die er Tag für Tag im Trading anschlug, Teil eines mechanischen Ablaufs geworden. Vom Gespräch zwischen Philip und Farei bekam er nichts mit.

Worum geht es? Sind die Zinsen erhöht oder ist ein Krieg erklärt worden?

»Also, ich muss schon sagen, ich fürchte, dass das für die Wirtschaft nicht gut sein wird«, fuhr der Techniker todernst fort. »Aber dazu haben Sie sicher Ihre eigenen Ansichten.« Er sah Philip begierig an und wartete auf eine Antwort.

– Meine Güte, wovon redet der bloß? Philip schaute sich schon seit Jahren keine Marktberichte und Analysen mehr an, denn es hatte einen gewaltigen Nachteil, den Trading-Tag mit so etwas zu beginnen. Zu viele Autoritäten, zu viele gewichtige Ansichten und Diagnosen verschatteten möglicherweise die eigene Findigkeit und Kombinationsgabe. Er und der Chart. Das war alles. Kein Dritter, der ihm noch windige Analysen ins Ohr säuselte. Trotzdem schwor sich Philip in diesem Moment, von morgen an die Zeitung wenigstens mal durchzublättern. »Ich bin da ganz Ihrer Meinung«, würgte Philip schließlich hervor. »Ich fürchte auch, dass das für die Wirtschaft gar nicht gut sein wird.« Dabei sah er ganz wichtig auf seine Charts, nippte an seinem Wasser, klickte geschäftig in irgendwelchen Menüs rum und betete um ein Erdbeben.

»Haben Sie als Profi denn damit gerechnet?«, fragte Farei. »Ich weiß ja, dass ihr Trader uns Privaten immer um eine Nasenlänge voraus seid.«

»Ich … ja, doch, ich habe es kommen sehen«, erwiderte Philip, lehnte sich gewichtig in seinem Stuhl zurück und fand, dass er ziemlich überzeugend klang.

Farei nickte ernst, als sei jedes Wort, das Philip sagte, unglaublich wichtig. »Und jetzt auch dieses Gerücht darüber, dass die alle an einem Strang ziehen wollen!« Durchdringend sah er Philip an. »Glauben Sie, da ist was dran?«

»Das ist … das ist schwer zu sagen«, entgegnete Philip und trank einen ordentlichen Schluck Wasser. – Was für ein Gerücht? Herrgott, kann der nicht einfach anfangen, das Netzwerk zu reparieren? Herrgott noch mal, ich handle gerade kurzfristige Minutencharts und T-I-C-K-C-H-A-R-T-S. Ticks! Ich hole hier gerade einige Punkte aus dem Markt. Rein, raus … fertig. Was interessieren mich irgendwelche Gerüchte und fundamentalen Nachrichten? Philip sah zu Farei auf und merkte, dass dieser ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck anstarrte, als wolle er seine Gedanken lesen. Philip schluckte kurz. – Mist. Der weiß wohl, dass ich keine Ahnung habe, oder?

»Claudia, Telefon!«, rief Hofner quer durch den Raum und hielt den Hörer in die Luft, »würdest du bitte …«

»Komme!«, erwiderte Claudia, machte auf der Stelle kehrt und ließ die beiden allein. Ein Hauch ihres Parfums wehte an Philips Nase vorbei, als sie an ihm vorbeiging. Jetzt war er allein mit Farei. – Philip fluchte innerlich.

»Ach, sagen Sie, sehen Sie auch so ein hohes Kurspotenzial bis Ende des Jahres bei VW?« Der Kerl ließ einfach nicht locker.

»Ähm, ja.« Philip schluckte und verkroch sich in seine Menüs. Mann, war das gruselig. Wovon redet der nur? Ich muss jetzt echt was machen. »Ja, dann …«, sagte Philip förmlich. »Ich muss hier was tun, da kommt grade Bewegung rein …«

Aber Farei war schneller und beugte sich seitlich an den Bildschirmen vorbei zu ihm. »FBD hat heute bekannt gegeben, dass sie die SDF übernommen haben«, flüsterte er ganz leise hinter vorgehaltener Hand und deutete mit einem geheimnisvollen Blick die enorme Brisanz seiner Information an.

Natürlich, jetzt, wo er es sagt … FB – waaas hat SD – weeen übernommen?

»Oh, wow«, log Philip. Und bevor er noch etwas sagen konnte, ließ Farei seinen Blick wie eine Radarantenne im Büro umherschweifen und auf Philips Bildschirmen landen. Philip konnte sehen, wie der Servicemann den großen Chart auf dem mittleren Bildschirm fixierte, und hörte ihn förmlich im Geiste »tzzz, tzzz« sagen.

»Wie viel Prozent macht ihr Jungs denn so?«, fragte Farei herausfordernd.

»30 bis 35.«

Der Techniker schaute mitleidig. »Is’ aber nich so viel!«

»Is’ aber nich so viel!«, äffte Philip ihn in Gedanken nach. – Bla bla bla. Da schaute er sich doch lieber seine eben eingegangene SMI-Position an.