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Viele Trading-Anfänger fürchten sich davor, dass Alltäglichkeit und Langeweile an ihre Tür klopfen. Andere, erfahrene Trader hingegen ängstigen sich nicht davor, dass das Trading etwas Gewöhnliches an sich haben könnte.

Wer könnte diesen scheinbaren »Widerspruch« je verstehen?

Auszug aus Hofners Tagebuch:

Keiner genießt den wahren Geschmack des Tradings außer dem,der willens und bereit ist,es gedanklich hinter sich zu lassen.

*

Die Jacht »Mary« schaukelte lautlos in einem kleinen Hafen in der Nähe von Samut Prakan, einer Gegend, die sich im Laufe der Zeit zum Saint-Tropez Thailands gemausert hatte. Der Himmel ging nahtlos in das blaue Wasser des Golfs von Thailand über und hüllte die auf Hochglanz polierte 20-Meter-Jacht in einen seidenen Mantel glitzernden Wassers.

Philip lauschte Johns letzten Einweisungen und starrte gleichzeitig auf das GPS-Navigationssystem. Heute erhielt Philips Ausbildung zum Profisegler den ersten praktischen Schliff, und er musste zugeben, dass seine Nerven etwas verrücktspielten. Gut, er hatte zwar die Tage zuvor von John mehrere theoretische Trainingseinheiten am Flipchart erhalten, aber jetzt ging es ans Eingemachte: Heute sollte er seinen ersten Wellen gegenübertreten und dieses ihm riesig anmutende Boot allein aus dem Hafen manövrieren – natürlich ohne an die anderen Boote mit all den heißen Mädels darauf anzuecken. Und dass Nick ihn hierbei permanent aufzog, machte die Sache auch nicht unbedingt einfacher.

Über den Jungs zogen kleine weiße Schäfchenwolken am strahlend blauen Himmel vorüber, einige Vögel kreisten um die Masten der Jacht, und am Ufer tummelten sich träge vereinzelte Touristen – die Einheimischen hatten sich längst in den kühlen Schatten ihrer Häuser zurückgezogen. Die Hitze war für Europäer unmäßig und die Schreckensherrschaft der Sonne von einer Unerbittlichkeit, dass die wenigen Schritte von einem Bootsende zum anderen – selbst mit nichts anderem bekleidet als einer Badehose – zu einem schweißtreibenden Unterfangen wurden.

»Schade, dass Stan nicht seetauglich ist«, bemerkte John und suchte nach seinen Flipflops.

»Erst die Charts, dann das Vergnügen …«, sagte Nick grinsend, ließ sein Handy zuschnappen, pfefferte es aus dem Handgelenk geschickt auf die beigen Ledersitze, steckte sich eine Zigarette an und ließ seinen Blick über den neben dem Jachthafen flach ins Meer abfallenden weißen Sandstrand schweifen, der sich dort mit dem Wasser zu einem immer kräftigeren Türkis vermischte. Nick kannte eine solche Farbe eigentlich nur vom Malediven-Bildschirmhintergrund seines Laptops. Bestens gelaunt bedachte er einige leicht bekleidete junge Frauen auf einer anderen Jacht mit seinem sympathischsten Lächeln.

Während Pascal, ein langjähriger Freund Johns, Schweizer und Arzt in einem der städtischen Krankenhäuser Bangkoks, die Fender – jene Ballons, die das Boot vor Beschädigungen schützen sollten – bereits aufs Deck zog, programmierte John das Navigationsgerät und warf einen letzten Blick auf die Wetterkarten. Philip rutschte derweilen unbehaglich auf dem Steuersitz hin und her. »Äh, John, willst nicht doch lieber du den Kahn hier rausfahren …?«

»Nichts da, das bleibt dein Job!«

Philip kratzte sich am Kopf. Zu dumm, dass er bis jetzt nur einen einzigen Drink intus hatte! Ein kleiner Mutmacher könnte jetzt bei Gott nicht schaden.

Nachdem Nick alles verzurrt hatte, streifte er seine Segelhandschuhe ab und ächzte schweißüberströmt: »So, fertig!« Er nahm sein halbvolles Glas und brachte einen Toast aus: »Auf eine tolle Fahrt!«

»Auf eine tolle Fahrt!«, stimmten alle ein.

John schälte sich nun grinsend aus seinem Hemd, griff zum Schaltpaneel und betätigte die Anlasser. Er gab Philip das Zeichen, und langsam schob dieser den Gashebel nach vorne und ließ die beiden schweren Einbaudiesel etwas lauter brummen. Ein unterarmdicker Wasserstrahl schoss unter dem Heck heraus und platschte deutlich hörbar ins Hafenwasser.

Philip drehte das Ruder seewärts. Die Jacht nahm langsam Fahrt auf und glitt gemächlich an den anderen Booten vorbei.

Nach einigen Stunden und etlichen brenzligen Situationen hatte das Boot den Hafen weit hinter sich gelassen. Alle Segel waren gehisst, und während der Fahrtwind in die aufgefiederten Segel blies und den Schweiß der vier Männer – dabei kleine Salzkrusten auf deren Haut hinterlassend – allmählich trocknete, lag das Boot ausgewogen auf dem Ruder.

Die Körper der Männer verwuchsen immer mehr mit den Bewegungen des Bootes und passten sich dessen Rollen und Stampfen an, bis sie es kaum noch spürten; sie wurden ein Teil des Windes und der See, für den die Zeit, der Raum oder gar ein Mensch keine Bedeutung hatten.

Und während die vier im Paradies schaumgekrönter Wellen dahinsegelten, nahm John das bis zum Überdruss bekannte Terrain in Augenschein: den Verlauf seiner heute Morgen noch ausgedruckten Charts …

Bei John folgte dieses wohlüberlegte Betrachten von rund 5.000 Charts aus den verschiedensten Märkten und Marktsegmenten einer bestimmten Regelmäßigkeit. Man könnte fast sagen, es handelte sich um eine Art Gesetzmäßigkeit, bei der jeder Handgriff dieser Arbeit seit Jahren fest eingefahren war. Johns Arbeit bestand also nicht in einem unbekümmerten Hineinfassen, Herausziehen oder unstrukturierten Durchwühlen dieser Papierhaufen. Keineswegs. Im Gegenteil, John warnte sogar stets davor, dass »objektive Beobachtungen« und die Suche nach dem richtigen Setup nicht von einem »subjektiven Erleben«, mithin Interpretieren, beeinträchtigt werden dürften. Johns verantwortungsvolle Arbeit endete folglich nicht mit dem eingehenden Studium jedes Charts, auch wenn diese aufgrund ihrer Darstellung zu einer Erwartung künftiger Entwicklung verleiten mochten. John ließ dies aber nicht mehr an sich heran. Im Interesse seines Ziels ließ er Erwartungshaltungen und Gefühle wie »Dieser Markt könnte v-i-e-l-l-e-i-c-h-t steigen … dieser Markt könnte e-v-e-n-t-u-e-l-l fallen…« nicht nur unbeachtet, sondern war stattdessen in der glücklichen Lage, diese vollständig ausblenden zu können. Ein Zustand, den er nach jahrelanger Übung erreicht hatte und welcher, nach seiner Meinung, zum Handwerkszeug jedes professionellen Traders gehörte. John wollte um der idealen Reinheit willen mithin nicht nach Sünden der Verführung fahnden, sondern ausschließlich nach den besten Setups, deren Spuren er zu entdecken und verfolgen wusste wie ein erfahrener Fährtensucher. Man täte Unrecht, erklärte John fortgeschrittenen Händlern stets, wenn man sich, nur um Neugier und Spannung zu erzeugen, einem Trading-Anfänger gleich von minderwertigen Setups leiten ließe, damit gröblich gegen das zeitgleich anderweitige Vorhandensein idealer Phasen eines Trends verstieße und sich demnach nicht der Suche nach »dem besten Chartverlauf« unterwürfe, sondern der Neigung nachgäbe, sich vom Chart das Erstbeste aufschwatzen zu lassen, um damit sein Pulver vorzeitig sinnlos zu verschießen.

John suchte folglich nicht nach irgendwelchen Chartkonstellationen – nein, er suchte nach den besten Setups, nach den besten Phasen innerhalb bestehender Trends. Weil sich aber natürlich nicht nur 5-Sterne-Setups unter den Charts befinden konnten, sondern auch manche erst noch bevorstehende, sich aber bereits entwickelnde Setups, welche aufzufinden an sich nicht in Johns Absicht lag, die aber dennoch immer wieder in seine Hände gerieten, legte er diese in dafür vorgesehene Unterkategorien ab – drei an der Zahl. Alles andere wurde mit schonungsloser und mitleidsloser Strenge beiseitegelegt. Der inneren Natur des Tradings entsprechend, konnte John trotz detaillierter Auswahl natürlich nicht bei jedem Trade mit einem berauschenden Ergebnis rechnen, aber darum ging es ja auch nicht; der wahre Reiz lag darin, dass man, von der kaum vorstellbaren Vielfalt von Werten geleitet, so viele kraftvolle und dennoch aufs Genaueste einander zugeordnete Marktphasen finden konnte, dass es – eine durchdachte Diversifikation des Trading-Kontos vorausgesetzt – ganz unnötig wurde, diese nach Positionseröffnung unter Anstrengung aller Kräfte einzeln zu beaufsichtigen.

Philip hatte diese Verfahrensweise bei Hofner bereits beobachtet. Dementsprechend hatten diese beiden Händler für sich einen ähnlichen und effektiven Arbeitsstil entwickelt, welcher sie noch dazu von den seltsamen Fachdiskussionsduellen abhielt, die sich so manche Trading-Genossen mangels Anzahl der beobachteten Märkte tagtäglich lieferten: »Also, in diesem einen der drei von uns beobachteten Charts haben wir: Dojis, eine Trendlinie … Wie, die siehst du nicht? – Na hier, die da! – Wie würdet ihr vorschlagen, sollen wir diesen Chart traden? Jetzt kommt schon, wir brauchen einen Trade! Wer ist für short? – He, wieso bist du für long? – Okay, der Trend, sagst du, ist besser so zu sehen. – Mhm, knifflig … was sagen die anderen dazu? Ha, ätsch, siehst du? Die anderen sehen was, was du nicht siehst … Und nun? – Ah, wir sollten besser mal einen Indikator als Entscheidungshilfe reinbasteln. – Franz, mach mal. – So, und nun? Wer kennt sich mit diesem Indikator-Dingsda aus? Ah … der sagt short. So, so – tolle Show, dann hätten wir uns das ja sparen können. Also gut: dann short. Hey, hey, hey … bitte alle noch mal kurz herhören: Wir müssen uns noch entscheiden, wohin wir den Stopp setzen …«

John widmete sich zunächst dem Klemmordner mit der Aufschrift »4-Sterne-Setups«, um hier herauszufinden, ob seit der vorhergehenden Prüfung nun eine als wesentlich zu erachtende Veränderung eingetreten war. Im Durchschnitt verging eine Woche, manchmal vergingen auch zwei, bis ein Chart dieser Kategorie jeweils wieder an der Reihe war – Zeit genug, dass sich der Inhalt mancher dieser Charts gründlich veränderte: Einige angehende 5-Sterne-Setups verschwanden vorübergehend oder sogar endgültig, die innere Anordnung der Charts veränderte sich, neue Formationen traten an die Stelle der verschwundenen, oder aber – und das war Sinn der Übung – Charts waren nun bereit und ausgereift genug, um in den Klemmordner »5-Sterne-Setups« aufzusteigen; kurz: eine so große Anzahl von Bedingungen war erfüllt, dass der Trade in den Markt gestellt werden musste.

Um die Richtung und den Verlauf des jeweiligen Charts schnell in Augenschein nehmen und mit dem vor dem geistigen Auge gespeicherten Wunsch-Setup unkompliziert abgleichen zu können, bevorzugte John seine Charts seit Jahren in ausgedruckter Form, denn: Die im Ordner abgehefteten Papiere ermöglichten einen raschen Vergleich, und zwar ohne lästiges Softwaregenerve. John lehnte hier nach wie vor jegliche Vorabsortierung durch etwaige Filter als »viel zu zeitaufwendige Spielerei« ab. John kannte genügend Trader, die alle Menüpunkte ihrer Charting-Software auswendig kannten, die fummelten, probierten, testeten, tüftelten, sortierten, programmierten, sich in neuen Programmiersprachen schulten und erneut tüftelten, sortierten und laborierten. Gab man denen jedoch einen nackten Chart verbunden mit der Bitte »Trade doch einfach mal einen Tag!« in die Hand, kam nicht viel dabei herum. Wenngleich John auch Trader kannte, die beides konnten. Der Idealfall sozusagen.

John bezeichnete Chartprogramme und etwaige Programmierungen keineswegs als nutzlos und/oder unberechenbar, indes hielt er diese beiden Fragen nach dem »großen Radarbild« und »Was sagt die Phase des Trends?« für viel weniger pedantisch und genauer als sein Auge selbst, wodurch er – geprägt durch die vielen Jahre der Übung – zu einem hervorragenden Fachmann im manuellen Durchsuchen von Charts geworden war.

Während John also still einen Chart nach dem anderen durchsah – und es gab keine Feinheit, die ihm nicht wichtig genug und binnen eines Augenblicks aufgefallen wäre – , erkannte Philip, der ihn bei diesem Tun beobachtete, dass Aufmerksamkeit und Rhythmus jedes Mal genau der gleichen Zeit bedurften: nämlich knapp drei Sekunden. Philip schmunzelte anerkennend. Freizeit und Arbeit auf angenehme Art und Weise zu verbinden, so lautete schon immer das erklärte Ziel eines jeden technisch orientierten Traders. Das Ruder fest in der Hand, erkannte er erneut: John redete nicht nur davon, sondern lebte dies auch.

Johns Anblick erinnerte Philip an jenen Hinweis Hofners, den er zusammen mit der ersten größeren Handelsvollmacht nach seinen Lehrjahren erhalten hatte: »Kein Händler ist frei, sondern nur der, der frei sein will«; und in dessen Folge stieg Philip noch ein weiterer Standardsatz Hofners ins Gedächtnis: »Die Sehnsucht nach der eigenen Freiheit hat im Trading einen höheren Wert als die Freiheit ›alles tun zu können‹, mit der ein Trader ohnehin meist nicht viel anfangen kann und Unfug treibt, oder anders: Tu beim Trading, was in deiner Macht steht, akzeptiere, was nicht in deiner Macht steht, und lerne, Himmelherrgott, endlich einmal den Unterschied zwischen beiden kennen!« Philip hatte, vielen Trading-Anfängern gleich, lange unterlassen, sich während des Tradings seines Verstandes zu bedienen, und daher, anders als beim Handelsstil, keinerlei Gedanken an einen notwendigen Arbeitsstil verschwendet. Zwischen diesen beiden Begriffen existierte ein Unterschied der gedanklichen Entwicklung, der fast so groß war wie die Ausmaße zwischen Sonne und Mond. Es bedeutete also für Philip kein auch noch so kleines Glück, als er darauf kam – wie dies nach Beendigung seiner Trading-Flegeljahre geschah –, dass er in allem, was das Thema Trading umfasste, sich immer mehr des Begriffs des Arbeitsstils annehmen musste. Jetzt, als erfahrener Trader, wusste Philip, dass man seinen Arbeitsstil erarbeiten und mitunter umstellen musste, und das geschah aus keinem anderen Grund, als dass damit das gewünschte Handelssetup, sprich der eigene Handelsstil, und die Nerven, sprich die Ausgeglichenheit eines Traders, untereinander die letzte wohlwollende Verabredung treffen konnten.

John verschlang derweilen – eine unglaubliche Ruhe ausstrahlend – im Sekundentakt die zum großen Teil uninteressanten, langweiligen und oftmals unverständlichen Chartinformationen, und hin und wieder – nur wenn sich zeigte, dass der ein oder andere Chart die gewünschten Setups aufwies – unterbrach er ohne erklärende Worte seine Suche und zeigte Philip den Chart, wodurch dieser jedes Mal erneut mitlernte. Es war schön, John dabei zuzusehen, ja, so dachte Philip, es bedeutete eigentlich den Sieg seiner inneren Ausgeglichenheit, wenn John die Welt des Tradings für das Erzeugnis der Konzentration auf das Wesentliche und eines durchdachten langen Atems hielt, es daher aus vielen kleinen Tagewerken aus Abertausenden Einzelinspirationen von Charts zur Größe emporgeschichtet und nur darum so durchaus und an jedem Punkte vortrefflich war, weil ein erfahrener Trader jahrelang unter der Spannung ein und desselben Setups ausgehalten und mit Willensdauer und Zähigkeit seine stärksten und damit würdigsten Trading-Stunden ausschließlich der Suche nach 5-Sterne-Setups geweiht hatte.

Nicht ahnend, dass Arbeitsstil und Handelsstil heute einmal mehr zum Thema werden sollten, durchsuchte John weiter still seine Charts, während Philip mit vom Wind flatternden Haaren die »Mary« hart in den Wind drehte …

*

Zur gleichen Zeit ließ sich Stan auf Johns elegantem Bürostuhl nieder, nippte an seinem Kaffee und betrachtete Johns Arbeitsplatz. An der einen Wand hingen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von John und seiner bildhübschen Frau. Sie zeigten das glückliche Paar in inniger Umarmung, sich küssend am Strand, beim Wandern oder bei einer sonstigen Freizeitaktivität. Selbstverständlich sahen die beiden auf jedem Bild absolut atemberaubend aus und lächelten fast wie professionelle Models mit strahlenden Gesichtern und wehenden Haaren in die Kamera. Die anderen Wände zierten zwei schöne Gemälde und etliche Fotos von Johns restlicher Familie. Auf Johns Schreibtisch erspähte Stan neben einem eleganten Schreibetui einige ausgedruckte Charts und eine alte Haftnotiz mit der Bemerkung: »Disziplin sticht Überzeugung«. Mit diesem Denkansatz huldigte John nichts anderem als der Geduld, der edelsten Stütze des Tradings.

Stan beugte sich gelangweilt vor, um die aktuellen Charts zu entziffern, die ihm auf den sechs großen Bildschirmen jetzt zur Nachmittagszeit entgegengezappelt kamen, und da …

Holla.

H-O-L-L-A!

OH W-O-W! Doppel WOW!

Ein Punkt 2, wie er schöner nicht hätte sein können. Dieser Punkt 2, das sah Stan sofort, war fachlich das Beste, was es gab. Eine echte Schönheit. Eine Bellezza der Trading-Welt. Alles an diesem Chartverlauf war perfekt: Nach einer weiten Abwärtsbewegung von fast 100 Punkten, gefolgt von einer zügigen Korrektur von 50 Punkten, stand der DAX-Future nun wieder kurz vor dem vorangegangenen lokalen Tiefpunkt des intakten Abwärtstrends, dem Punkt 2. Aus diesem Grund wäre die Frage »Was überwiegt: Angebot oder Nachfrage?« vorerst geklärt. Das Sensationellste aber war, dass knapp 30 Punkte darunter ein weiterer, ein größerer Punkt 2 rangierte und damit die Frage »Wer kauft nach mir?« auch eine eindeutige Antwort fand. Insofern schien alles zu Stans Regel zu passen. Nur noch fünf Punkte fehlten bis zum Durchbruch durch den ersten Punkt 2.

Noch vier …

Stan dachte an Johns Anruf heute Morgen zurück: Dieser hatte doch, neben einigen Hinweisen zur Stopp-Setzung für die offenen Positionen, auch grünes Licht für Trades auf diesem Konto gegeben, sofern diese in ausgesprochen guten Marktphasen angesiedelt wären und den fachlichen Regeln entsprächen und Stan ihn kurz vorher informierte. Die ersten beiden Punkte sind doch wohl erfüllt, dachte Stan und drückte die Kurzwahltaste auf seinem Handy.

Na toll! Großartig. Ausgerechnet beim schönsten Punkt 2 meines Lebens ist John in einem Funkloch! Fuck!

Ich könnt ihn einfach später anrufen …?

John bekäme garantiert einen Heulkrampf vor Neid!

Stan betrachtete Johns offene Future-Positionen, deren Stopps er während dessen Segeltörns nachziehen sollte. In diesem Konto – die anderen Konten mit den Aktienpositionen wurden von Kim überwacht – waren eine größere Long-Position im Bund-Future sowie eine im Dollar-Yen und je eine Short-Position im Dow Jones und Russel-2000-Future. Erfreut nahm Stan zur Kenntnis, dass John im DAX-Future aktuell keine Position offen hatte, daher würde also einem Short-Trade nichts entgegenstehen, so jedenfalls dachte Stan, betrachtete den Chart und überlegte. Aus seiner Sicht müssten, wenn der DAX da drunterschnippte, 30, vielleicht sogar 50 Punkte drin sein. Minimum!

Wow! Damit würde ich sicher Eindruck schinden.

»Gut gesehen, Stan!«, wird John mich loben.

Es war, als wüsste der Markt um Stans momentanen gedanklichen Ringkampf, denn prompt stiegen die Kurse erst mal um acht Punkte. Stan erhielt auf diese Weise Zeit, um alles erneut zu überdenken, doch er wusste, er musste sich schnell entscheiden. Einen Trade auf dem großen Konto: Ja oder nein? Stan versuchte erneut, John zu erreichen: »The person you have called is temporary not available …«

Fuck …!

Stan beugte sich vor, um den Chart nochmals von Nahem zu betrachten.

OH NEIN! DIE TASSE!

… RUMS!

Ein Kaffeefleck. Auf seiner Jeans. Na toll! Großartig! Ausgerechnet vor dem wichtigsten Trade seines Lebens musste er sich natürlich bekleckern. Er schnappte sich ein Taschentuch und tupfte auf dem Fleck herum, mit dem Ergebnis, dass dieser nur noch größer wurde. Der DAX-Future fiel indessen erneut um 4 Punkte. Stan hatte damit nur noch wenige Punkte Zeit für eine Entscheidung. Wenn es gut ginge, würde John sagen: »Toll gemacht, Bambino! Echt! Mit diesem Trade hast du bewiesen, dass deine Ausbildung Früchte trägt. Glückwunsch. Weiter so!«

John würde mich bestimmt eher zur Sau machen, wenn ich mir nur wegen eines blöden Funklochs diesen Trade durch die Lappen gehen lassen würde.

Irgendetwas passierte in diesem Augenblick mit Stan. Irgendetwas, auf das er reagieren musste. Ich muss was machen, da gibt es kein Vertun, am besten sofort. Die Frage war nur: Was? Was zum Teufel machte man, wenn man an einem ganz normalen Handelstag plötzlich das Gefühl hatte, dass endlich der richtige MEGA-Monstertrade vor einem stand?

Der erfahrene Trader würde sagen: »Ganz einfach: Man kratzt seinen ganzen Mut zusammen und schaut zu, dass man sofort Land gewinnt! Denn wieso sollte ein Trade plötzlich besser sein als ein anderer? Oder anders ausgedrückt: Wenn dieser Trade megatoll ist, was waren dann die anderen? Und wenn es von Trade zu Trade Unterschiede in deren Wertigkeit gibt: Was um alles in der Welt sucht man dann vor einem Trading-Bildschirm?«

Aber Stan sah das nicht so …

Also, was tun?

Mann, ist das aufregend hier!

Vielleicht sollte ich es einfach auszählen?

Geheimer Trick vom Schulhof!

Stan wusste, das klang albern bis verrückt, aber es funktionierte. Ehrlich! Trade – Ja. Trade – Nein. Trade – Ja. Trade – Nein … Trade J-A!

Stan blickte sich verstohlen um. Kein Mensch weit und breit, also beugte er sich nach vorn, zog die Maus vorsichtig heran und begann, das Ordermenü aufzurufen. Ah, jetzt kommt mein großer Auftritt!! Stan blickte auf die Accountsumme: 21.233.120,00 Dollar. Unglaublich! Während Stan in der Regel seinen Handel mit ein, zwei DAX-Futures oder einigen CFD-Kontrakten bestritt, ruderte John locker mit 50 und mehr Kontrakten durch die Märkte. Je nach Zeiteinheit und Ziel konnte die Anzahl variieren. Beim Ausbruchshandel konnten es durchaus auch mal je nach Markt und Setup bis 200 Kontrakte sein. Stans Puls stieg, und seine Hände wurden feucht …

Ruuuhig.

Klein anfangen.

G-a-n-z ruhig. Ruuuhig.

Wenn du der Mittelpunkt der Party sein willst, musst du irgendwann auch mal beweisen, dass du ein Mann bist, redete Stan sich ein und versuchte, seine schneller werdende Atmung zu normalisieren. Stan grübelte über die Kontraktanzahl. Heute Morgen hatte John hierzu keinerlei Hinweise gegeben.

… mhm, na dann einfach die Anzahl, die John immer handelt!

Müssen es wirklich gleich 50 Kontrakte sein? – Klar, das Konto gibt’s doch locker her.

Klar!

Wenn John das kann, dann kann ich das doch auch! Chart ist Chart!

Du machst einfach dasselbe wie mit deinem einen Kontrakt.

Da John auf diesem Account – er hatte mehrere Accounts in dieser Größenordnung bei verschiedenen Brokern – dieselbe Handelsplattform wie Stan hatte, klickte Stan mit routinierter Mausführung die Stopp-Sell-Order an den mittlerweile wieder 10 Punkte entfernten Punkt 2.

Stopp SELL 50@5263

Pah! Na bitte, es funktioniert.

Stan hatte schon immer einmal mit sooo vielen Kontrakten handeln wollen. Jetzt würde er es den anderen beweisen. Da war er sich ganz sicher. Er wusste es – es würde brillant werden! Dieser Chartmoment gehörte ihm. Jetzt kann ich zeigen, dass ich in der Lage bin, Geld zu verdienen.

Da hörte Stan, wie sich jemand räusperte!

Oh-oh …

Stan hob den Kopf und erblickte …

Kim. Groß. Supersexy. Aus der Nähe betrachtet wirkte sie in ihrem Pulli mit V-Ausschnitt und den hochgesteckten schwarzen Haaren noch attraktiver.

Stan stockte der Atem, bis er bemerkte, dass sie ihm einen, gelinde gesagt, ziemlich verdutzten Blick zuwarf. »Ähm … Hi«, stotterte Stan peinlich berührt, und sofort schoss ihm das Blut ins Gesicht. Die denkt bestimmt, ich bin total gaga. »Kaffeefleck«, erklärte er und zeigte auf seine Jeans.

»So, so.« Kim nickte sichtlich belustigt. »Du weißt, dass die Jungs es nicht mögen, wenn man an ihre Rechner geht?«

»Du … ähm … ist … nur … kurz …« Oh Gott! Peinlicher geht es wirklich nicht. Aber sollte er stattdessen sagen: »Oh, hallo. Ja, ich trade gerade mal mit 50 Kontrakten einen untergeordneten Punkt 2 in Richtung eines übergeordneten Punktes 2 im DAX-Future, aber sonst geht es mir gut, danke.«

Kim blickte noch immer verdutzt.

»Ich soll doch für John die Stopps der offenen Position kontrollieren, solange er auf dem Segeltörn ist«, klärte Stan sie auf und zeigte ihr Johns Zettel.

»Alles klar«, nickte sie und wandte sich um, dann hielt sie inne. »Nur Stopps nachziehen! Ohne Erlaubnis von John wird da nicht gehandelt!«

»Klar. Ist doch logisch«, erwiderte Stan mit einem Lächeln, so breit, dass es fast wehtat, nickte und versuchte zugleich verzweifelt, möglichst unschuldig auszusehen.

»O-okay.« Ihre dunklen mandelförmigen Augen blitzten kurz auf. »Ich gehe dann mal wieder.« Kim drehte sich um und trabte über den Korridor von dannen.

»Danke«, flüsterte Stan, sah ihr nach und bekam plötzlich eine Gänsehaut.

Hach, P-o-s-i-t-i-o-n!?

Noch 3 Punkte bis zum Erreichen der Order. Stan probierte ein drittes Mal vergeblich John zu erreichen, und während er noch ein wenig über den Fleck auf seiner Jeans rieb, stieg der Markt mit einem Schlag um 7 Punkte, um dann auf der Stelle zu drehen und sich langsam und erneut Stans Stopp-Sell-Order zu nähern. Stans Schultern hoben und senkten sich in den gewaltigsten Atemzügen – fast hätte man seinen Pulsschlag über Google Earth sehen können. Stan gab damit jene gewaltsame, krampfhaft angespannte Ruhe von sich, die so mancher Trader, einem Raubtier vor dem Sprung gleich, demonstrierte. Er hielt die Hände vor dem Munde gefaltet, als der Markt endlich, aber mit ganz langsamen Tick-Veränderungen über seine Order hinwegkrabbelte. Auf der 5.263 wurde seine Position eingestoppt, und Stan fühlte sich plötzlich ähnlich wie Pandora, nachdem diese ein gewisses Gefäß geöffnet hatte – Pandora konnte zwar nichts sehen, aber sie spürte zweifellos, dass dieses Nichts möglicherweise weitreichende Folgen haben würde …

Der Markt hielt sich einige Sekunden – für Stan gefühlte zwei Jahre – bei dem Kurs von 5.264, um dann plötzlich mit einem riesigen Bums in Richtung Süden durchzustarten. Was für ein Anblick! Mit einem gewaltigen roten Candle katapultierte der Markt Stan und seine Position in den Trading-Olymp: 13.750 Euro Kursgewinn binnen Sekunden.

Strrrike!

Strrrike! S-t-r-r-r-i-k-e!

Stan war sooo stolz auf sich, dass er es auf seinem Stuhl nicht mehr aushielt. Er schnellte in die Höhe, reckte seine Glieder, tanzte zweimal um den Schreibtisch herum, presste schließlich seine Nase gegen die riesige Fensterfront und sah hinunter auf den leicht abfallenden Garten: Es war ein herrlicher Tag, flauschige weiße Wolken zogen über den blitzblauen Himmel. Sein Blick fiel auf das kleine Geisterhaus, dessen Installation in Thailand fast schon Pflicht ist, weil beim Bau eines Hauses die an diesem Platz lebenden Geister verjagt werden und ihnen daher das Geisterhaus als Ersatz-Zuhause angeboten wird. Dies ergab nur Sinn, wenn man wusste, dass die Thais vor Geistern – den phi – wirklich große Angst haben. Deswegen versorgte Kim die im Geisterhaus lebenden Geister tagtäglich mit den geklauten Speisen der Jungs, um ihnen so ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Stan atmete tief ein. Er liebte Bangkok. Er liebte Thailand. Er liebte die Hausgeister. Er liebte das Leben. Er liebte einfach alles. Heute war sein Tag, das spürte er: Ab heute gehört er zu den Großen! Den gaaanz Großen!

Drei Minuten vergingen. Fünf. Stan bekam langsam Krämpfe in den Fingern vom SMS-Schreiben, schließlich sollten seine Mitbewohnerin Lilly und alle seine Freundinnen – und das waren derzeit drei – an seinem momentanen Trading-Glück teilhaben. Und es war nur recht und billig, erste SMS-Anfragen ausführlich zu beantworten, während der Markt fiel und fiel …

Name

Position

Traded

P/L Points

P/L

Time (MEZ)

Last Quote

Bid

Ask

FDAX

-50 K

5.263

+16

20.000 €

08:52:21

5.247

5.247,0

5.247,5

Stan ging mit seinem Handy in die Küche. Es erfüllte sein Ego mit großer Genugtuung, dass er sich auf dem Designersofa den Bauch mit dem von Kim mitgebrachten Kuchen vollstopfen konnte, während das gewöhnliche »Trader-Fußvolk«, zu dem er bis vor wenigen Minuten ja auch noch gehört hatte, sich wegen lächerlichen 200 oder 300 Euro den ganzen Tag die Nase vor den Schirmen plattdrückte. Als Stan sich ein weiteres Stück von dem seltsam aussehenden, aber sensationell lecker schmeckenden Kuchen in Form eines Krapfens nehmen wollte und sich vornahm, dem Hausgeist im Garten heute ebenfalls persönlich eine Belohnung vorbeizubringen, kam Kim in die Küche und wollte sich eine Tasse ihres chinesischen Tees holen, der für Stan irgendwie nach Fischsuppe schmeckte.

»Und«, fragte Stan schmatzend, »was macht die Arbeit?« Dabei nahm er einen weiteren Bissen von seinem Kuchenstück und richtete seinen Blick mit einem solch überfreundlichen Ausdruck auf Kim, dass diese kopfschüttelnd die Küche verließ, ohne die ohnehin nur rhetorisch gemeinte Frage zu beantworten.

Der Markt fiel indes langsam weiter und weiter, und als Stan im siegeshaften Sturmschritt zurück ins Büro rauschte, blieb er zwei Meter vor Johns Rechner plötzlich gebannt stehen. Selbst aus dieser Entfernung wurde ein vollkommen göttliches Chartbild sichtbar: eine weitere rote Kerze in so ausgemachter traumhafter Art begann, dass Stan eine Grimasse schnitt. Seine Position lag nun mit sage und schreibe über 27.500 Euro vorn. In Gedanken versunken sah sich Stan schon mit einem Stapel druckfrischer 100-Dollar-Noten wedeln. Es war sooo cool. So dermaßen cool. Stan drehte sich einmal mit Schwung auf Johns Bürostuhl um sich selbst. Dabei überfielen ihn kitschige Visionen: Er sah sich vom Dach des Baiyoke Tower II, dem höchsten Gebäude Thailands, springen; die Menschen, die ihn von oben kommen sahen, hoben ihre Hände, um ihn aufzufangen und über ihren Köpfen weiterzureichen. Skyscraper-Diving, wie geil!

Stan drehte sich ein weiteres Mal mit Schwung auf seinem Bürostuhl herum und sah sich am Ende des Tages am Pool liegen, in jedem Arm eine fantastische Frau und einen, ach was, zwei 911er-Porsche in der Einfahrt. Er würde durch die Straßen flanieren und dabei von der Bangkoker Klatschpresse fotografiert werden. »Stan, der Supertrader. Stan, der Junior-Warren-Buffett.« Vielleicht sogar: »Stan, der beste Trader der Welt!«

Alles lief 100-prozentig nach Plan. Stan verliebte sich erneut in das Trading und vergaß all die grässlichen Tage, in denen der Chart zwischen Nähe und holder Ferne den Bogen um ihn spannte und abwechselnd rot oder grün schimmernde Feuersäulen von Gier und Angst zu Stan hinaus sandte, nur um diese Gefühle meist schon wenige Minuten oder Stunden später als negative Trades in Form säuberlich zerriebener emotionaler Tonasche zu Boden niederrieseln zu lassen – ohne ihn auch nur den kleinsten Schritt in Richtung eines beständigen Handels- und Arbeitsstils weiterzuführen, wo doch dort der Zielpfosten stand, der zur inneren Ruhe führte.

Stan warf erneut einen Blick auf die Monitore: Tja, als Chartexperte merkt man eben, was ein guter Trade ist, sagte er zu sich selbst und prostete sich dabei fiktiv zu. Der Chart, der Zeitpunkt, alles stand auf »Go!«.

Ich bin eben kein »Hey-willste-mal-ein-paar-Mark-machen-Penner«!

Stan drückte die Wahlwiederholung seines Handys, um John endlich von seinen Erfolgen berichten zu können, aber immer noch erklang: »The person you have called is temporary not available …« Stan zuckte mit den Schultern. Dann halt eben nicht. Genieße ich die Party eben alleine …

»Gib Gas, alter Junge«, feuerte Stan den Markt an und nahm sich vor, noch ein paar Pünktchen abzuwarten, dann den Gewinn einzustreichen, am Bildschirm auf einem Post-it einen Smiley mit dem Zusatztext »Stan, der Tradetitan!« zu hinterlassen und sich anschließend mit einem Luftkuss Richtung Kim für den heutigen Tag zu verabschieden.

Das war der Plan.

War aber nicht so.

Und es kam, wie es kommen musste, nämlich … ganz anders!

Knapp 20 Minuten später strebte der Markt immer weiter nach oben, einem lokalen Hoch entgegen – zumindest kam es Stan beim Anblick seines Positionsfensters so vor. Stan erwischte sich dabei, dass er mit einem schockgefrosteten Lächeln anfing, nach dem Exit-Button Ausschau zu halten, fasste jedoch immer wieder den festen Vorsatz, irgendwie männlicher zu werden. Du bist ein Mann, du bist ein Mann, du bist ein Mann, du hältst das aus, du hältst das aus, du hältst das aus, du bist ein Mann …

Einige Sekunden später, die ihm wie Stunden vorkamen, fragte sich Stan, warum er nicht bei seinem ursprünglichen Restaurant-Beruf geblieben war. Das brachte zwar weniger Geld, aber dafür inneren Frieden, dachte er und wartete aufs Bestimmte, dass der Markt gleich wieder drehen würde. Drehen musste! Aber der tat nichts dergleichen, und Stan entschlüpfte ein zischend hervorgestoßener Ausruf des heftigsten Erstaunens, als er bemerkte: Er ruhte nicht mehr in seinem Stuhl, er kauerte auf der Stuhlkante wie zum Versuch der Abwehr oder Flucht. Nach weiteren 30 Sekunden läutete in seinem Kopf eine erneute imaginäre Warnglocke: »Raus, RAUS, R-A-U-S …«, was Stan aber, wenn auch mit zusammengepressten Lippen und mittlerweile schweißnassen Händen, zu ignorieren versuchte. Nun begann auch noch sein linker Fuß rhythmisch hin und her zu zucken. Aber diesem logischen Verlangen, dem ausgewiesenen Geldbetrag der Position, nachzugeben, kam selbstredend nicht in die Tüte! Der Wille ist stärker als das Fleisch, ermahnte sich Stan und wischte sich die mittlerweile übergroßen Schweißtropfen von der Stirn. Am ganzen Körper leicht bebend und mit einem Lächeln, das eher einem Weinen glich, betrachtete Stan fassungslos seinen Positionsbetrag, der – scheinbar die rechte Überholspur des Tradings benutzend und die Minus 20.000 Euro hinter sich lassend – nun beharrlich immer weiter Richtung Minus 30.000 Euro donnerte. Stans hochroter Kopf drohte, vor lauter Druck zu platzen.

Wenige Sekunden später ging erst durch die Times-&-Sales-Liste und dann durch Stans Körper ein riesiger Ruck. Stan hätte, wie auch immer, hier und jetzt einfach nur ein paar oder besser alle Kontrakte schließen können, aber seine Hände hatten sich mittlerweile derart in seinem Schoß verkrampft, als wolle er einen thailändischen Tiger würgen; sein ganzer Körper hatte sich so zusammengekrümmt, dass ein zufälliger Betrachter den Eindruck hätte gewinnen können, Stan lenke die Maus, indem er seine Zähne in sie geschlagen hatte und nur kleine ruckartige Bewegungen mit dem Kopf machte. Stans Beine zuckten so unkontrolliert, dass das Wasser im Glas auf dem Schreibtisch anfing, Wellen zu schlagen und überzuschwappen.

»Bitte, dreh! B-I-T-T-E …«, kam keuchend aus Stans Mund, und er blickte sich suchend im Handelsbüro um. Aber keine Hilfe weit und breit; er war allein auf weiter Flur. Niemand war da, kein Actionheld, kein Börsenfernsehschlaumeier, nicht mal ein Talkshowmoderator, der mit betroffenem Blick und einem »Und das ist mir jetzt persönlich wichtig …« hätte beruhigend auf Stan einwirken können. Stattdessen musste Stan mit verrenkten Gliedern und einem grausamen Krampf in den Pobacken dabei zusehen, wie seine Position immer weiter und tiefer in die Verlustzone raste.

»Bitte, dreh! B-I-T-T-E …«

Unkontrolliert traktierte Stans Hinterkopf die Lehne des Stuhls, wie ein tibetanischer Trommelmönch, der zum Gebet ruft. Stan spürte überdeutlich, wie sich nackte Panik in ihm breitmachte, und war sich fast sicher, dass der ausgewiesene Positionsbetrag dabei eine diabolische Freude empfand. Stan konnte es körperlich spüren. Stoßartig verließ die Luft seine Lunge. Na prima, jetzt lag er auch noch in den Wehen. Aber wahrscheinlich würde so mancher Trader beim Anblick dieser Position nach Luft schnappen:

Minus 37.500 Euro!

Etwas Abscheuliches, Widerwärtiges kroch mit kalten Klauen an ihm empor, ergriff inwendig seinen Hals und rüttelte ihn wach. Stan setzte, ohne nachzudenken, einen Stopp, um diesen in den kommenden Minuten vier Mal hintereinander um einige Punkte zu versetzen. Jedes Mal, wenn der Markt seiner Stopp-Order nahekam und diese auszulösen drohte, gab er dem Markt einfach weitere Punkte »Luft«, was sein sowieso kaum noch vorhandenes Selbstbewusstsein jeweils ein weiteres Stück dahinschwinden ließ. Zu guter Letzt und am Rande seines dahinschwindenden Bewusstseins löschte Stan die Stopp-Order einfach aus dem Markt und stellte damit den Urzustand wieder her, was der Markt dankend mit weiter steigenden Kursen quittierte.

»Nein, NEIN! Bitte, dreh. Dreh doch! B-I-T-T-E …«

Es half alles nichts, Stan musste raus aus der Position. Ganz egal, wie. Vor Qualen keuchend, zwang Stan die Maus nach rechts und schmiss dabei fast das Glas Wasser von der Tischkante. Aber solche Nichtigkeiten tangierten ihn im Moment überhaupt nicht. Mit einem vor ohnmächtiger Enttäuschung krächzenden Aufschrei Stans kam der sich bis dahin ständig bewegende Positionsbetrag durch die immer mögliche Market-Order der Erlösung zum Stehen, und eine noch weitere Vermehrung des Verlusts war vorerst abgewehrt.

Die nun einsetzende Ruhe schien Stan einladend zuzuwinken, aber das konnte auch eine Halluzination sein. Er rieb sich die Augen und beugte sich so weit vor, dass er mit seiner Nase den Bildschirm berührte. Er las sein Minus laut vor – es klang irgendwie unwirklich. Doch all das half ihm keinen Zentimeter weiter. Die Zahl in ihrer Gesamtbedeutung zu verstehen, dafür war er noch irgendwie viel zu grundverwirrt.

3-2-5-0-0 E U R O MINUS ?!

Zitternd wie vertrocknetes Buschgras im heißen Steppenwind fiel Stan fast aus dem Stuhl und trottete mit hängenden Schultern auf die Küche zu. Trotz seiner kraftlosen Glieder gelang es Stan, die Tür zur Küche aufzustoßen und sich in die angenehme Kühle zurückzuziehen. Sein Gesicht war bleich, über seinen geröteten Augen klebte ihm ein Haar an der Stirn, und die Hand, in der er sein leeres Glas hielt, zitterte unaufhaltsam.

Wo vorher Stan gesessen hatte, hockte nun Kim auf dem Designersofa und aß genussvoll ein Stück Kuchen. Sie schaute Stan entsetzt an und murmelte: »神志失常«, was sinngemäß übersetzt so viel wie »Armer Kerl« bedeutete, während ihre Augen misstrauisch aufblitzten.

»Schwerer Job!«, argumentierte Stan auf Kims fragenden Blick, hob die Schultern und versuchte zu lächeln, aber es blieb bei dem Versuch. »Der Scheißmarkt fällt einfach nicht!« Ehrlich gesagt fand Stan gerade jegliche Unterhaltung zum Aus-der-Haut-Fahren, wahrscheinlich rief er deswegen ein wenig zu gekünstelt enthusiastisch: »Aber egal!«

»Warum sollte er denn fallen?«, forschte Kim, Stan fixierend.

»Weil …«, begann Stan, mit einem Ansatz verhaltener Freude, biss sich aber vor Schreck sofort auf die Lippen. Tausend Euro für jeden, der mir sagt, was ich hier mache. Wenn ich mich jetzt verplappere, fliegt die Kiste schneller auf, als ich zwinkern kann. Viel Zeit hatte Stan wirklich nicht, denn für gewöhnlich dachte man nicht minutenlang nach, wenn man nach dem Markt gefragt wurde, also riss er sich zusammen und fügte schnell, eine verlegene Pause vermeidend, hinzu: »John ist doch short.«

»Du weißt ja: Nur Stopps nachziehen!«, mahnte Kim und warf Stan einen »Wag-es-ja-nicht!«-Blick zu.

Stan gab ihr seinerseits mit einem lächelnden Blick zu verstehen: Halt dich mit deinen Scheißkommentaren zurück! Er stellte sein Glas ab, drehte sich um und schlurfte auf die Toilette. Er ließ Leitungswasser in seine hohle Hand laufen und kühlte sich damit das Gesicht, was das Übel aber keineswegs verbesserte. Das Hochgefühl des Nachmittags war im Laufe der Ereignisse der letzten Stunde gewichen und hatte sich in Wut verwandelt. Vor dem geräumigen Waschbecken stehend, dessen Wasserhahn im Lichte blitzte, starrte Stan aus dem Spiegel ein müde wirkender, junger Mann entgegen. Wer ist das? Stan erkannte sein Gegenüber überhaupt nicht, denn er hatte das Gesicht eines jungen Mannes erwartet. Nun aber sah er erschlaffte Gesichtszüge, eine traurige Ratlosigkeit ausdrückend. So konnte es gehen: In einem Moment war man jung, knackig, voller Energie und das Leben lag vor einem, und schon im nächsten Augenblick schlitterte man in ein Riesenloch. Wenn es nur helfen würde, würde Stan sofort nach Hause gehen und künftig zu allen ganz lieb sein, seine Freunde gut behandeln, an Weihnachten in die Kirche gehen, nie wieder schmatzen oder mit offenem Mund essen, seine Eltern jeden Tag anrufen und allen Aufrufen zu Spenden bereitwillig folgen. Amen.

Mit hervorquellenden, leicht blutunterlaufenen Augen überdachte Stan beim Anblick seiner zitternden Hände seine Situation und resümierte, während er sich wie ein Raubtier im Käfig fühlte:

 

1. Ich habe ohne Erlaubnis einen Trade gemacht.

2. Ich habe mit dieser Position ein Minus von 32.500 Euro eingefahren. – Schluck.

3. Die Stimmung ist jetzt dementsprechend im Arsch – und ich auch.

4. Demnach bleibt als logisches Resultat nur: Ausgangssituation wiederherstellen!

5. Aber wie? Ist dazu nicht ein neuer Trade lebensnotwendig?

 

Stans müde Augen flammten kurz auf, und in einem trockenen Ton murmelte er: »Ja. Ja. Verdammt noch mal, ja!« Da ich gar nicht hätte handeln dürfen, ist ein weiterer Trade sowieso egal! Der neue Trade muss das Minus umgehend ausgleichen!

 

6. Und wann? Am besten gleich!

 

Stan huschte eilig zurück vor Johns Rechner. Kims fragenden Blick auf dem Flur ignorierte er. Als er erneut sein Tagesergebnis in roten Zahlen sah, waren die letzten Zweifel über einen weiteren Trade komplett ausgeräumt. Jetzt wollte er nur noch das für ihn riesige Minus eliminieren und in Würde von diesem Planeten treten.

Der DAX-Future war gegenüber dem Kurs zu Stans Positionsschließung zwar um 10 Punkte gefallen, stand aber momentan relativ still. Stan war so angespannt, dass er, weil seine Hände so sehr zitterten – schließlich hing von diesem Trade sein weiteres Lebensglück ab –, den Mund zum nachgefüllten Wasserglas führte statt umgekehrt. Durch tiefes Einatmen versuchte er, eine entspanntere Haltung einzunehmen – was ihm jedoch nicht gelang, und er wünschte fast, er hätte sich vorher völlig betrunken, dann müsste er dies nicht alles bei vollem Bewusstsein erleben. Stan fühlte sich wie der Hund Struppi aus dem Comic »Tim und Struppi«. Wenn dieser sich zwischen einer guten und einer bösen Tat entscheiden musste, saßen ihm plötzlich zwei kleine Struppis auf den Schultern: ein böser schwarzer auf der einen und ein guter weißer auf der anderen, und beide flüsterten ihm in die Ohren. Der schwarze versuchte, Struppi zu allerlei Ungehörigkeiten zu überreden, der weiße dagegen wollte ihn auf den Pfad der Tugend lenken oder ihn dort halten … Auf Stans Schultern kauerten natürlich keine Struppis, sondern kleine Stans, und der schwarze Stan hatte heute eindeutig Oberwasser!

Du schaffst das!

Ist doch ganz einfach!

Einfach draufhalten! Man muss auch mal an sich glauben, und dann kommt der Rest von ganz allein. Stan bereitete, der lauteren dieser beiden inneren Stimmen – also der schwarzen – folgend, nun zwei Orders vor: fünfzig Kontrakte Market short und fünfzig Kontrakte Market long – nur ein Klick sollte nun genügen.

Die weiße Stimme ließ ihn sich zwar kurz noch die Frage stellen, ob es nicht sinnvoller wäre, anstatt fünfzig Kontrakten weniger zu nehmen, der kleine schwarze Stan hielt indes dagegen: He, klasse Idee! Wie wäre es mit hundert Kontrakten?! Doppelt oder nichts! Da sich beides komisch anfühlte, beschloss Stan kurzerhand, auf dem Altar dieser Frage keine weiteren grauen Zellen zu opfern und an der Positionsgröße nichts zu ändern.

Der DAX-Future stand weiter nahezu still. Beim kleinsten Zucken nach unten oder oben würde Stan abdrücken. BUM. Stan fühlte sich schlagartig in den Film »Spiel mir das Lied vom Tod« versetzt: Vor ihm lag wie ausgestorben ein kahler, baumfreier, staubiger Platz. Die Mittagssonne brannte erbarmungslos herab. Das Herzstück dieses Ortes war umrahmt von grauen Häusern, aber weit und breit ließ sich keine Menschenseele sehen. Alle Einwohner versteckten sich hinter den verstaubten Fenstern, nur gelegentlich verriet die leichte Bewegung einer Gardine die aufmerksame und bis zum Zerreißen gespannte Anwesenheit menschlichen Lebens. Lediglich ein einsamer Vogel kreiste über der trostlosen Szenerie in der Luft. Stans Finger spannte sich um den Abzug. Seine Augen blitzten entschlossen, während er mit völliger Konzentration sein Ziel fixierte: Dort stand er, der DAX: eine große, fette Scheißzahl. Selbst die kleinste Bewegung würde Stan nicht entgehen, und dann …

Ah …

Da!

Ein Zucken verrät den Gegner. Er will … nach UNTEN!

Im Bruchteil einer Sekunde entlud sich die gesamte über der kleinen Stadt liegende Spannung in einem Krachen – ein Schuss fiel. Eine Menge emotionaler Staub wirbelte auf … und durch diesen erklang dumpf das Geräusch weglaufender Füße. Ein Pferd wieherte, sich entfernendes Hufgetrappel wurde untermalt von peitschenden Zügeln und heiseren Anfeuerungsrufen.

Mit derselben Geschwindigkeit, mit der sich der Staub langsam verzog, verblasste die Szene, veränderte sich. Revolver wurde Maus, die staubige Hauptstraße zu Johns im grellen Nachmittagslicht Südasiens liegenden Büro, der riesenhafte Gegner der Schießerei zur Wand aus Bildschirmen auf Johns Schreibtisch. Im gleichen Tempo klärte sich Stans Blick auf den Chart …

Jeder Trader weiß: Wenn Panik aufkommt, dann langsam. Sie kriecht förmlich. Eigentlich müsste Panik, als mentale Vorstufe wilden Ausrastens, wie der Blitz bei einem Trader einschlagen und, da Panik gewöhnlich mit einem Minustrade zusammenhängt, fieberhafte Reaktionen bei ihm auslösen. Stattdessen stößt sie jedoch meistens an eine fast undurchdringliche Wand, nämlich die Abneigung des Traders, die Gewalt über sich und den Trade zu verlieren. Daher beschleicht sie den Trader zunächst nur über den Chart, sozusagen auf Zehenspitzen. Allmählich nimmt sie zu und … eine andere Metapher ist vonnöten: Sie wird zu einem plätschernden Bach, dann zu einem anschwellenden Flüsschen, das mehr und mehr Regionen des Unterbewusstseins füllt und gleich einem unterirdischen Grundwasserstrom immer neue Kammern und Gänge auswäscht, sodass nicht nur das feste Fundament, sondern auch das Verhalten eines Traders bedenklich instabil wird. Folglich ist es wichtig, dass ein Trader sich dagegen sträubt, Panik aufkommen zu lassen, was sich, je nach Höhe der Schieflage, allerdings meist als unmöglich erweist.

»Bitte, dreh! B-I-T-T-E-!«, jammerte Stan, als er entsetzt auf den jetzt wieder steigenden Kurs und seine Short-Position starrte. Die Vermutung regte sich bereits in ihm, dass er erneut auf dem falschen Dampfer war; welcher gleichwohl schlussendlich der richtige gewesen wäre, blieb im Nebel der durch den Chart verursachten Verwirrung undeutlich. Die einsetzende Panik wirkte auf Stans Gehirn wie flüssiger Stickstoff: Sie fror es ein, machte es starr und bewegungsunfähig. Botschaften des Charts sprangen zwar noch von einer Nervenzelle zur anderen, wurden aber überdeckt oder erreichten ihr Ziel nicht mehr, weshalb bei Stan jene Denkprozesse blockiert wurden, die generell einen vernünftigen Handel, eine vernünftige Stopp-Setzung oder gar eine Positionsschließung hätten einleiten können.

Mit zitternden Händen führte Stan sein Glas an die Lippen und erkannte, dass es besser war, sich endlich zusammenzureißen. Schließlich musste er, falls – was buchstäblich jederzeit der Fall sein konnte – Kim aufkreuzen sollte, entspannt und souverän wirken, so als wäre die Kontrolle von Johns Positionen hier keine große Sache. Zitternd lief Stan zwei Runden um den Schreibtisch. Beruhige dich! Zurück auf Johns Stuhl, rutschte er darauf hin und her und versuchte, das Gedankenkarussell in seinem Kopf zum Stehen zu bringen:

Was, wenn dieser Trade noch weiter ins Minus rutscht?

Was, wenn der Kurs durch meinen Stopp durchknallt? … Moment, ich habe ja K-E-I-N-E-N!

Was, wenn ich das ganze Konto plattmache? Oh Gott!

Was, wenn …

Aus!

Sofort Schluss mit dem Grübeln und der Schwarzmalerei!

Aber irgendwie lief einfach nichts nach Plan. Stan konnte sich partout nicht entscheiden, wo der Stopp nun schlussendlich hingehörte, denn da, wo er laut Trend- oder BewegungshandelGroßesPfadfinderehrenwort!seiner