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Roland Garve

Unter Mördern

Roland Garve

Unter Mördern

Ein Arzt erlebt den
Schwerverbrecherknast

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Zum Schutz der handelnden Personen wurden die Namen geändert und manche Handlungsabläufe geringfügig verfremdet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 3. Druck-Auflage von Dezember 1999)
© Christoph Links Verlag GmbH, 1999
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von Felix Schumann
Lektorat: Dr. Petra Kabus
Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-86284-247-6

Inhalt

Der Grotewohl-Expreß

Aufnahmerituale: Stoppelschnitt und Tetanusspritze

Jungnazis und Omamörder

Zelle 112

Erziehungsmaßnahmen in der Elmo-Hölle

Kirchgang, Selbstverwaltung und Drogen

Andi und die Stasi

Die Sportgruppe im Keller

Lessing – Maßregelung eines Frauenmörders

Freikäufe und Nachschub

Nierenkolik, Treppensturz und eine freie Zahnarztstelle

Das Lehrbuch neben dem Bohrer

Mörder als OP-Gehilfen

Künstlerische Arbeiten

Poker um einen Goldzahn

Im Gruselkabinett: Sexualstraftäter und Kriegsverbrecher

Weihnachten oder Cognac im Kondom

Hoffnung West

Epilog

Der Grotewohl-Expreß

Der Zug hielt. Die blockierten Räder kreischten auf den Schienen. Nach der stundenlangen Fahrt mit dem »Grotewohl-Expreß«, wie der Gefangenenzug im Fachjargon der Knaster hieß, kam wieder etwas Leben in die Abteilinsassen. Die stickige, verbrauchte Luft in der keine zwei Quadratmeter großen, verschlossenen Zelle hatte allen dicke Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Das Hemd unter meinem Jackett klebte förmlich auf der Haut. Aber war es wirklich nur diese verdammte erdrückende Hitze, die mich so schwitzen ließ, oder war es die Erwartung des Ungewissen – Angst?

Mir gegenüber saß ein rothaariger, gutgenährter Mitvierziger, der von Familie, Haus und Job in Greifswald und den zwei nun abzusitzenden Jahren gesprochen hatte. Erst als er sicher gewesen war, daß die beiden anderen Mitinsassen in ihrer unbequemen Sitzhaltung eingeschlafen waren, hatte er mir ängstlich flüsternd anvertraut, daß er schon mal ein paar Jahre im Knast gewesen war, angeblich wegen Spionage. Damals hatte man ihm drei Jahre gestrichen, von denen jetzt die Bewährung noch nicht abgelaufen war. Er baute seine ganze Hoffnung darauf, daß man ihm die jetzt nicht auch noch aufbrummen würde.

»Weißt du, ich hab’ mich damals recht gut geführt. War auch da oben in Rostock bei der Stasi. Hab’ da nach’m Urteil ’n paar Jahre als Handwerker gearbeitet. Kenn’ die Zellen, wo ihr drinnen wart, hab’ die mit ausgemalert. Die U-Haft da ist wirklich blöde. Aber als Strafer konnt’ man’s da schon aushalten. Am Tag irgendwas bauen, Essen ging auch, und abends dann fernsehen. Und mit’m Oberstleutnant ... kennste den eigentlich? ... mit dem kam ich auch ganz dufte aus.«

»Und weshalb sitzt du jetzt?« fragte ich ihn. Über diese Frage schien er nicht sehr erfreut zu sein. Jedenfalls wurde sein Gesicht noch röter, während er prustend nach Luft und Worten, die ihm nicht einfallen wollten, rang.

»Ja, weißt du«, sagte er schließlich leise und stockend, »ich hab’, als ich rausgekommen bin, immer nur gearbeitet für die Frau und den Jungen, das Haus, den Garten ... und ab und zu konnte ich das Saufen eben nicht lassen. Naja, und da ist es eben passiert, obwohl ich’s gar nicht wollte. Eben der Scheiß-Suff und so ...«

Ich fragte nicht weiter und suchte in meiner Phantasie ein für ihn passendes kriminelles Delikt zwischen Fahrerflucht, Diebstahl und einer sexuellen Sache. Letzteres schien mir am ehesten zu passen, und ich empfand für den schwitzenden Menschen, der seine offensichtliche Scham hinter gespieltem Selbstbewußtsein verstecken wollte, eine Mischung aus Mitleid und Abscheu.

Die beiden anderen Mitreisenden waren noch nicht älter als Zwanzig, kannten sich aus dem Jugendwerkhof und hatten ähnliche Tätowierungen an Händen und Hals. Sie hatten nie gelernt, etwas Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen, tranken zu viel und lebten von geklauten Sachen. Kriminelle, wie sie sich in dümmlich-provozierender und pöbliger Art und Weise in Kneipen, auf Bahnhöfen und Jahrmärkten bewegen.

Die beiden sprachen mecklenburgisch-breiten Dialekt, bemühten sich aber aus irgendwelchen Gründen um eine scheinbar berlinerische Mundart. Ständig mußte ein »eh!«, »weeßte!« oder »wa!« ertönen. Wer weiß, vielleicht machte das innerlich irgendwie stark oder half, Komplexe zu verstecken? Jedenfalls war ich zufrieden gewesen, als sie schon vor einiger Zeit ihr dummes Geschwätz mit stupider Schläfrigkeit vertauscht hatten. Das Quietschen der Räder hatte sie wieder munter gemacht. Sie wußten bereits, daß man sie nicht in einen absolut festen Bau stecken würde, und bedauerten den Rothaarigen, der nach Brandenburg sollte. »Mensch, Oller, da is mir dat Lager aber doch lieber. Ick kannt’ ma een von die, den hamse da laufend uffjeruppt. Nee, Dicker, du, da haste aber tief inne Scheiße gegriffen! Mittenmang de Arschfickers kommste«, sagte der eine. Ich schaute in seinen geöffneten Mund. Es sah aus wie in einem Steinbruch. Alle oberen Vorderzähne fehlten, und ich staunte nicht schlecht, wie flüssig dieser Mensch noch vom »Saufen, Ficken, Bullenschweineverdreschen, Knackmachen« und so weiter schwadronierte.

Ob ich auch nach Brandenburg kommen würde? Ich hatte gehört, daß die Republikflucht-Delikte und andere politische Vergehen in Cottbus oder Bautzen abgesessen wurden. Ach nein, Brandenburg ist nicht, da kommen andere hin, versuchte ich, mich zu beruhigen. Jetzt bloß nichts anmerken lassen und Ruhe bewahren! Ich dachte an die antifaschistischen Widerstandskämpfer aus den vielen Büchern über das Dritte Reich, die ich als Kind gelesen hatte. Damals war ich oft neidisch auf das Durchhaltevermögen und die edlen Verhaltensweisen unter extremen Bedingungen gewesen. So ein Held wäre ich auch gern gewesen. Na, nun hatte ich meine extremen Bedingungen.

Blödsinn! Aber ich hatte mir ein Ziel gestellt und durfte nicht zum Waschlappen werden. Also, wenn nötig, dann Zähne zusammenbeißen und vor allem gesund bleiben! Fünf Monate waren schon fast vorbei, und die restlichen fünfzehn kriegte ich, wenn ich nicht schon vorher abgeschoben wurde, ebenfalls rum. Vielleicht sollte ich das Ganze ja als eine Art zusätzliches Studium auffassen, damit ich später besser mit den verschiedensten Menschentypen auskommen könnte ...

Ich schloß die Augen und ließ die vergangenen Monate noch einmal Revue passieren. Wie konnte ein frischgebackener Universitätsabsolvent und dressierter Staatsbürger wie ich nur hierher geraten?

Noch vor einem guten Jahr war ich ein braver, jung verheirateter Zahnmedizinstudent, der zwar etwas faul war, aber doch achtzig Mark Leistungsstipendium zusätzlich im Monat erhielt und sich auf sein Abschlußexamen vorbereitete. Freilich hatte ich Träume, die weit über die staatlich geförderte Schrebergartenmentalität hinausgingen. Ich wußte zwar nicht, wie sie jemals zu realisieren sein könnten, aber ich wollte unbedingt irgendwann einmal fremde, exotische Länder und ihre Einwohner kennenlernen. Nicht durchs Fernsehen, sondern live. Mir schwebten Expeditionen durch Neuguinea zu unbekannten Papuastämmen und am Amazonas zu wilden Indianern vor. Wie oft hatte ich die alten Schmöker des Dresdner Weltreisenden Erich Wustmann gelesen und war in Gedanken mit ihm auf Reisen gegangen. Der Regenwald mit seiner unglaublichen Artenvielfalt, besonders den riesigen Käfern und Schmetterlingen, hatte es mir schon seit frühester Kindheit angetan. Einmal dorthin zu gelangen, war für mich zehnmal wichtiger, als Westeuropa oder die USA kennenzulernen. Die Aussicht, mich möglicherweise zeit meines Arbeitslebens, das heißt bis hin zum Rentenalter, nur zwischen Ostsee und Erzgebirge und im Urlaub vielleicht noch im sozialistischen Bruderland Bulgarien als ungeliebter Nichtdevisenbringer bewegen zu können, gefiel mir gar nicht. Man mußte nicht erst Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« gelesen haben, um zu begreifen, daß man wirklich nur ein einziges Mal auf diesem Planeten lebt. Und der war weit größer als die kleine DDR. Außerdem hatte ich den hochgepriesenen »real existierenden Sozialismus« der DDR mit all seinen Phrasen, »antiimperialistischen Schutzwällen« und anderen üblen Erscheinungen reichlich satt. Die Diskrepanz zwischen den hohlen Parteitagssprüchen und der Mangelwirtschaft, den gähnend leeren Geschäften war zu deutlich, und ein System, das seine Macht ausschließlich mit Mauern, Selbstschußanlagen, Minen, Todesschüssen und einem gefürchteten Geheimdienst durchsetzen konnte, war nicht demokratisch.

Es mußte etwas passieren.

Freunden war per Schlauchboot die Flucht über die Ostsee gelungen. Sie hatten es clever angestellt, waren nicht Richtung Westen gefahren, sondern nach Bornholm. Inzwischen arbeiteten sie in westdeutschen Kliniken in ihren Berufen als Ärzte. Ich fand ihren Schritt sehr mutig. Immerhin hatten sie ein paar Jahre Knast oder gar ihr Leben riskiert und Freunde und Verwandte zurückgelassen. Aber sie hatten auch endlich diese stets fühlbare staatliche Bevormundung und Gängelei überwunden und einen Grad von Freiheit erreicht, um den ich sie nur beneiden konnte.

Meinen Freund Alexander, einen angehenden Kinderarzt, beschäftigten ähnliche Gedanken. Eines Tages sprach er mich direkt auf eine mögliche gemeinsame Republikflucht hin an. Zuerst war ich verunsichert. Es hätte schließlich eine Stasi-Falle sein können. Aber diesen Gedanke ließ ich schnell fallen. Ohne lange weiter zu überlegen, sagte ich zu. Ich vertraute ihm und er mir offenbar auch. Aber absolut niemand anders durfte von unseren aufkeimenden Plänen wissen. Das war oberstes Gebot. Auch meine Frau durfte nichts davon erfahren. Wenn die Stasi ihr später hätte nachweisen können, von unseren Plänen Kenntnis gehabt zu haben, hätte man sie als Mitwisserin eingesperrt. Das durfte ich nicht riskieren. Irgendeine Möglichkeit, sie und unsere gemeinsame kleine Tochter später per Familienzusammenführung legal nachzuholen, würde sich schon finden.

Zunächst diskutierten wir eventuelle Fluchtmöglichkeiten über die Ostsee per Faltboot oder über Ungarns »grüne Grenze« hinüber nach Österreich. Doch das Schlupfloch Richtung Bornholm war sicherlich längst dichtgemacht worden, und die ungarische Grenze hätte man zunächst inspizieren beziehungsweise von jemandem aus dem Westen erforschen lassen müssen. Aber wer sollte das tun?

Ich war in einem Grenzort an der Elbe aufgewachsen, und so kam ich auf eine schwierige, aber nicht unmögliche Fluchtvariante: Im Herbst hing der Morgennebel über den Elbwiesen und Zuflüssen zuweilen so dicht und tief, daß man selbst mit Scheinwerfern kaum zehn Meter weit schauen konnte. Wenn man sich dann unter Wasser strikt an die Richtung per Kompaß hielt, standen die Chancen gar nicht so schlecht, in der Elbe wieder aufzutauchen und gen Westen abzutreiben. Aber dazu brauchte man Tauchgeräte, eine gute Kondition und viel Übung und Erfahrung unter Wasser. Und woher Tauchgeräte bekommen? Wie funktionierten die überhaupt? Noch war Winter, also verschoben wir die Tauchvorbereitungen, das Abhärtetraining und die gesamte Logistik auf die wärmere Jahreszeit. Ich mußte auch noch mein Studium beenden. So beschränkten wir uns zunächst auf Lauftraining im Wald und Kraft- und Kampfsport im Fitneßraum meines Studentenheimes. Auch Nahkampf konnte wichtig sein. Es ging schließlich um unser Leben. Dessen wurden wir uns zunehmend bewußt.

An dem für die mögliche Flucht vorgesehenen Hafenkanal an der Elbe befand sich eine Schiffswerft, die riesige Binnenfahrgastschiffe für die Sowjetunion baute. Als Schüler auf der Erweiterten Oberschule war ich während der sogenannten Wissenschaftlich-praktischen Arbeit dort gewesen. Die Schiffe befanden sich noch im Rohbau, wenn sie von einem Team staatstreuer Genossen in die Elbe manövriert, dort gedreht, anschließend nach Geesthacht und Hamburg Richtung Nordsee gefahren und schließlich über den Nord-Ostsee-Kanal zur endgültigen Fertigstellung nach Wismar überführt wurden. Die Hafenausfahrt war durch mehrere Reihen von Signalzäunen und Sperrgittern gesichert und durch eine Kette von Straßenlaternen nachts gut ausgeleuchtet. Auf beiden Seiten standen hohe Wachtürme der DDR-Grenztruppen mit MG-Nestern und bester Sicht auf den Kanal und den unmittelbaren Zugang zur Elbe. Täglich patrouillierten sowohl Grenzer als auch Wasserschutzpolizisten mit Schnellbooten. Die Werft selbst wurde durch grünuniformierte Betriebsschutzangehörige, die der Volkspolizei unterstanden, abgesichert. Auch sie waren bewaffnet, tagsüber mit Pistolen und nachts zusätzlich mit Kalaschnikows und scharfen Spürhunden. Hinter der Werft war die Grenze zusätzlich mit riesigen Hundelaufgräben abgesichert. Wenn die Hunde, an langen Leinen hin- und herlaufend, fremde Geräusche vernahmen oder jemanden witterten, schlugen sie sofort an. Wo und ob sich in diesem Grenzabschnitt Selbstschußanlagen oder sogar noch wie früher Minen befanden, wußte niemand genau. Trotzdem schien uns die Werft die einzige Stelle zu sein, von der aus man überhaupt eine Chance haben konnte, unbemerkt in die Elbe zu gelangen.

Acht Jahre zuvor, die ersten Minenfelder waren gerade geräumt worden, hatte eine achte Klasse aus Hagenow die Werft besichtigt. Die Schüler sollten sich im Rahmen der Vorbereitung auf ihre Jugendweihe über spätere Berufsmöglichkeiten informieren. Zwei der knapp vierzehnjährigen Kinder waren plötzlich spurlos verschwunden. Sie waren über den Betriebszaun geklettert und am Kanalufer entlang Richtung Elbe marschiert. Am hellichten Tag. Da sie niemand bemerkte, erreichten sie schließlich Lauenburg und waren im Westen. Auch das war einmal möglich gewesen. Aber jetzt war das gesamte Elbufer derart mit Sicherheitsvorkehrungen versehen, daß eine Flucht auf dem Landwege einem sicheren Selbstmord gleichkam. Wenn überhaupt in diesem Grenzbereich, dann konnte sie nur unter Wasser gelingen.

Unsere Idee war, nachts oder während der Dämmerung über den Betriebszaun zu klettern und so weit wie möglich am Schiffskai Richtung Westen bis hin zum betriebseigenen Holzlager zu gehen, um dort unbemerkt ins Wasser zu kommen. Dann waren es noch einige hundert Meter bis hinein in die Elbe, die man entweder unter Wasser in Ufernähe krabbelnd oder in der Fahrtrinne schwimmend zurücklegen mußte. Ein guter Freund, der auf der Werft arbeitete, diente mir als Informant. Er stellte keine Fragen.

Unsere abendlichen Treffen wurden immer häufiger und konspirativer. Die Kommilitonen sollten möglichst nicht mitbekommen, daß Alexander und ich inzwischen dicke Freunde geworden waren.

Aber die Ereignisse überstürzten sich plötzlich. Meine Ehe ging in die Brüche. Innerhalb von drei Wochen war ich geschieden. Ein Gefühl, als ob man den Boden unter den Füßen verliert. Doch andererseits stand nun unserem Fluchtvorhaben nichts mehr im Wege. Jetzt erst recht, war von nun an meine Devise. Ich mußte nur noch meine bevorstehenden Abschlußprüfungen über die Bühne bringen und die Approbation erhalten.

Die Vorbereitungen wurden ernsthafter. Das einzige Sportgeschäft der DDR, in dem Tauchgeräte erhältlich waren, befand sich in Berlin-Köpenick. Wir fuhren also von Greifswald in die Hauptstadt. Allerdings brauchte man für den Erwerb einer Taucherausrüstung nicht nur eine plausible Erklärung, sondern auch eine Art Waffenschein. Ich ahnte so etwas, wußte es aber nicht genau. Jedenfalls blieb Alexander draußen gleich um die Ecke im Auto, während ich den Laden betrat und beim Verkäufer nach den Geräten fragte.

Wozu ich die denn bräuchte, war seine erste Frage. Ich stammelte irgend etwas von einer GST-Tauchsportgruppe, die mich hergeschickt hätte, damit ich mich nach neuen Geräten erkundigte.

Der Mann zog ungläubig die Brille herunter und bat mich um meinen Taucherpaß oder GST-Ausweis. Sonst könnte er gar nichts für mich tun.

Das sei überhaupt kein Problem. Moment mal! Ich fingerte in meinen Hosentaschen, klapste mit der flachen Hand auf die Stirn: »Genau! Hab’ ich im Auto vergessen.« Der Verkäufer schielte mir hinterher. Ich war mir sicher, er hatte mich durchschaut. Ich lief um die Ecke und vergewisserte mich, daß mir niemand folgte, um die Autonummer zu notieren. Dann verschwanden wir schleunigst.

An konventionelle Tauchgeräte heranzukommen war also nicht möglich. Wir mußten selbst welche bauen. Druckbehälter aus Metall, ein Kompressor, Atemventile und sogenannte Lungenautomaten waren vonnöten.

Zuerst hatte ich die Idee, Feuerlöscher umzubauen. Wir fanden ein paar ausgediente Exemplare auf einem Schrottplatz. Allerdings ließen sie sich kaum öffnen, geschweige denn reinigen. Den Gedanken mußten wir verwerfen.

Vielleicht funktionierte es mit Propangasflaschen? Aber woher sollten wir die nehmen? Im HO-Geschäft für Freizeit- und Campingbedarf zuckte die Verkäuferin nur mit den Schultern. Die Läden in der Provinz wurden schon seit langem nicht mehr mit Propangasflaschen beliefert. Bei der ständigen Mangelwirtschaft war es gar nicht so einfach, eine »standesgemäße« Fluchtausrüstung zu beschaffen.

Ich mußte also erneut dem »Schaufenster der Republik« einen Besuch abstatten. In Berlin konnte ich drei Druckbehälter ergattern. Obwohl die Verkäuferin sich nicht danach erkundigte, was ich mit den Dingern vorhatte, schlich ich wie ein Agent in geheimer Mission mit unauffälligem Bodenhaftungsblick, Herzklopfen und großer Einkaufstasche aus dem Centrum-Warenhaus. Ich fühlte mich ständig beobachtet und verfolgt. Natürlich war das Quatsch. Aber wenn mich jetzt die Stasi geschnappt hätte, mir wäre wahrscheinlich nicht einmal eingefallen, daß ich die Propanflaschen zum Camping brauchte.

Bei Alexander wurde ich meine »heiße Ware« los. Er konnte über meine Verfolgungsängste nur lachen.

Auf dem Klinikdachboden fanden wir gebrauchte Beatmungsmasken, die wahrscheinlich noch aus der Nachkriegsproduktion stammten, aber noch funktionierten. Es war für mich kein großer Aufwand, daraus mit Zahnprothesenkunststoff passende, wasserdichte Mundstücke anzufertigen. Jetzt fehlten nur noch Kompressor, Druckregler und Schläuche. Berechnungen über Atemminutenvolumen, benötigten Mindestdruck in der Flasche und die unter Wasser zu verbleibende Zeit hatten wir schon angestellt.

Ein Kompressor, der über eine Leistung von zehn Atü hinausging, war absolut nicht zu bekommen. Zunächst behalfen wir uns damit, die Propangasflaschen an einer Tankstelle mit Preßluft zu füllen. Während einer die Gegend ableuchtete, tat der andere so, als würde er den Reservereifen im Kofferraum aufpumpen. Dank meiner ebenfalls aus Prothesenmaterial gebauten Ventilvorrichtung erreichten wir den Maximaldruck von zehn Atü. Anschließend machten wir den ersten Unterwassertest. Nein, nicht im Fluß, sondern nur in der Badewanne.

Es gelang tatsächlich, den Kopf reichlich sechs Minuten lang unter Wasser zu behalten. Wir waren glücklich darüber, berauschten uns mit euphorischen Zukunftsvisionen, Pink Floyds »The Wall« und selbstgemachtem Rhabarberwein.

Jean-Michel Jarres »Oxygen« wurde zu unserer zweiten Aufbau- und Seelenmusik. Wir hörten die Platte quasi jedesmal, wenn wir uns trafen. Immer etwas lauter, um dabei ungestört quatschen zu können. Die Wände der eintönigen Neubauklötze waren nicht nur mit Stethoskop gut zu durchhorchen. Es genügte, ein Ohr an die Wand zu legen, um mitzubekommen, was der Nachbar so trieb. Manchmal gab es Ärger mit den Nachbarn wegen zu lauter Musik. Einmal stand sogar ein Polizist, der wegen nächtlicher Ruhestörung gerufen worden war, vor der Tür. In diesem Moment fühlte ich mich ertappt wie Kjeld von der Olsenbande. Alexander blieb cool und wimmelte den besorgten Genossen mit freundlichen Worten ab.

Im April mußte ich mein vierwöchiges Militärmedizinpraktikum im Lazarett von Peenemünde ableisten, wurde dafür noch einmal richtig zur Armee eingezogen und trug die Matrosenuniform der Volksmarine. Obwohl wir Studenten noch keine Approbation besaßen, setzte man uns bereits als Ärzte ein. In der Zahnarztpraxis ließ man uns frei walten, bohren und Zähne ziehen. Ein gutes Praktikum für die Zukunft.

Peenemünde war militärisches Sperrgebiet. Hier wurden auch Marinetaucher ausgebildet. Wir wohnten sogar im selben Mannschaftsraum. Natürlich gab es genügend Gesprächsstoff. Ich hatte keine Ahnung vom Tauchen und ließ mir alles erklären. Im Lazarett-Schreibtisch fand ich Blanco-NVA-Tauchscheine. Einer verschwand, nachdem ich ihn mit einigen Stempeln versehen hatte, in meiner Hosentasche. Vielleicht brauchte ich ihn noch einmal. Außerdem kam ich in der Werkstatt der Taucher an diverses kleines Zubehör heran, das wir dringend für den Bau unserer Apparate benötigten. In den Regalen lagen ausrangierte Druckregler, Schläuche und Ventile, die keiner vermißte.

Später trieben wir eine halbvolle Sauerstoffflasche auf und füllten damit unsere Flaschen zusätzlich zur Druckluft. Jetzt konnten wir die ersten richtigen Tauchversuche starten. Wir fuhren zu einem Waldsee. Das Wasser war zu dieser Jahreszeit noch bitter kalt. Ich legte meine Schwimmflossen an und stieg hinein. Es war ein Gefühl, als würde ich im Gefrierschrank liegen. Um unterzugehen, mußte der Körper beschwert werden. Wir hatten uns zu diesem Zweck Gürtel aus schweren Kettenteilen vom Schrottplatz gebaut.

Die Sicht war unter Wasser relativ schlecht, aber es gelang mir mühelos, eine Strecke von über hundert Metern direkt unter der Wasseroberfläche zu durchtauchen. Allerdings wich ich sehr von der angepeilten Richtung ab und wäre beinahe einem Angler in die Quere gekommen. Aber es funktionierte!

Um weiterhin keinem Menschen zu begegnen, verlegten wir unsere Tauchversuche in die frühen Morgenstunden und den Abend. Wir tauchten schließlich in Flüssen und im Bodden. Die zurückgelegten Strecken wurden immer größer. Alexander war Brillenträger und nachtblind. Also mußten wir uns mit einer Strippe aneinander festmachen, und er schwamm mir hinterher. Schließlich bastelten wir sogar noch eine beleuchtete Uhr mit Kompaß.

Überschattet wurden unsere Fluchtvorbereitungen eines Tages durch eine Radiomeldung im NDR. Am Vortag war ein junger Republikflüchtiger von DDR-Grenzern erschossen worden. In diesem Moment ging unsere Stimmung Richtung Nullpunkt. Die Gefährlichkeit der Grenze und seiner Bewacher war uns noch immer nicht richtig klar gewesen.

Tagsüber büffelte ich für die Examina. Jede bestandene Prüfung wurde abgehakt. Schließlich blieben nur noch zwei übrig.

Nach der vorletzten Prüfung bat mich der Professor in sein Büro und verschloß die Tür hinter sich. Geheimniskrämerisch teilte er mir mit, daß ich mich sofort bei der Abteilung für Erziehung und Ausbildung bei einem gewissen Dr. Meyer zu melden hätte. Er wisse nicht, worum es gehe. Mir rutschte das Herz in die Hose. Mein Instinkt sagte mir, daß es nur eine Firma geben konnte, die sich so merkwürdig ankündigte.

Ich entschied mich, nicht zum Termin zu erscheinen, sondern erst einmal eine Stunde abzuwarten und dann aus einer Telefonzelle anzurufen.

Der vermeintliche Dr. Meyer am anderen Ende der Leitung war zunächst außer sich vor Wut, benahm sich dann aber so, als ob er mich bereits gut kennen würde, und meinte, ich möge dann bitte jetzt sofort kommen, die Angelegenheit verdiene keinen Aufschub.

Ich tat so, als ob die Leitung unterbrochen sei, und verschwand bis zur letzten Prüfung eine Woche später von der Bildfläche. Alexander, inzwischen glücklich verheiratet, erwartete mich bereits an der Müritz zum »Training«. Seine Familie ahnte nicht das Geringste. Ich teilte ihm meinen Verdacht mit, daß die Stasi hinter mir her sei. Er nahm mich nicht ernst, war mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Aber von meiner Exfrau erfuhr ich, daß in der Zwischenzeit ein Stasi-Mann bei ihr erschienen war, sich nach meinem Verbleib erkundigt und in unserem Zimmer herumgeschnüffelt hatte.

Meine letzte Prüfung verlief bestens, und hinterher ließen wir mit dem Professor die Gläser klingen. Endlich geschafft! Als ich aus der Tür trat, standen dort zwei unauffällige Herren, zückten ihre Ausweise und nahmen mich »zwecks Klärung eines Sachverhaltes« mit. Mit ihrem Diensttrabbi ging’s zur MfS-Kreisdienststelle. Ich saß hinten und hatte Angst.

Die Genossen führten mit mir ein sogenanntes Vorbeugungsgespräch. Es gebe Anhaltspunkte, daß ich im Sinne einer zu begehenden strafbaren Handlung gefährdet sei. Man wolle mir nur helfen. Während des Militärmedizinpraktikums in Peenemünde hätte ich die Kampftaucher gezielt befragt, ob man unter Wasser mit Radar oder ähnlichem geortet werden könnte. Diese Ausfragerei sei höchst verdächtig gewesen. Ein junger Mensch, so wurde mir gesagt, hätte sich vertrauensvoll an das MfS gewandt, weil er sein Gewissen nicht länger damit belasten wollte. Und nicht nur der Junge mit dem schwer beladenen Gewissen, sondern auch andere verantwortungsbewußte Mitbürger hätten seit einiger Zeit den Eindruck, daß ich irgend etwas Verbotenes im Schilde führte. Das sollte ich den beiden nun einmal näher erklären.

Angeheitert, wie ich von der Feier war, mußte ich mich zusammenreißen, die Situation wirklich ernstzunehmen. Wie konnten die sich diese Geschichte nur aus den Fingern saugen? Für meine drei Kommilitonen, die im Lazarett mit mir gearbeitet hatten, hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. Unvorstellbar, daß darunter ein Denunziant war. Einer von ihnen, Paddel mit Spitznamen, war sogar mit einer Polin, einem Mitglied der Solidarność, verheiratet. Der kam am wenigsten in Frage, meinte ich. – Elf Jahre später sollte ich erfahren, daß es tatsächlich Paddel gewesen war, der als IM unter dem Decknamen Harald für das MfS gearbeitet hatte und schon sehr frühzeitig auf mich angesetzt worden war, um »Ansatzpunkte für eine vorzeitige Exmatrikulation des Garve zu erarbeiten«.

Die Herren machten mir klar, daß man mich auf der Stelle verhaften könnte, wenn sich noch weitere Anhaltspunkte für eine staatsfeindliche Handlung ergäben. Mit erhobenem Zeigefinger ließen sie mich nach anderthalb Stunden Kreuzverhör wieder laufen.

Doch Alexander und ich setzten bei Nacht und Nebel unser Training fort. Wir trauten uns nicht mehr, mit unseren Flaschen zur Tankstelle zu fahren, und kamen auf die unglückliche Idee, nachts eine in einem Nebengebäude der Uni stehende Sauerstoffflasche anzuzapfen. Um diese Zeit hielt sich niemand dort auf, und wir fühlten uns relativ sicher, machten aber trotzdem kein Licht.

Zwei von unseren Flaschen waren bereits gefüllt. Die dritte und kleinste sollte nur als Ersatzflasche dienen. Draußen vernahm ich ein Geräusch. Vielleicht von einer Katze. Wir schauten auf die Straße. Plötzlich gab es hinter uns ein Zischen und dann einen Knall. Die kleine Propangasflasche war an einer dünnen Schweißnaht geplatzt.

Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir gerieten in Panik. Obwohl Alexander sofort die Sauerstoffflasche verschloß, blieb mir ein eigenartiger Piepton im Ohr. Ich konnte für einige Augenblicke kaum noch hören. Meine Hand blutete.

Der Tisch, auf dem die Gasflasche gelegen hatte, war durch den Druck zerborsten, ein größeres Stück Putz hatte sich von der Wand gelöst. Auch eine Fensterscheibe war zu Bruch gegangen, und das Honeckerbild hing nicht mehr an der Wand. Klar, daß man am nächsten Morgen den Schaden entdecken würde. Wir hatten ein furchtbar schlechtes Gewissen und waren unfähig, einfach abzuhauen.

Offenbar hatte aber niemand den Lärm vernommen. Alles blieb ruhig. Alexander begann mit Aufräumungsarbeiten, während ich die Gasflaschen in meiner Tasche verstaute. Wir nahmen uns vor, später für die Renovierungskosten aufzukommen und uns zu entschuldigen. Aber dazu mußten wir so schnell wie möglich die Seiten wechseln. Am anderen Tag wollten wir uns noch einmal treffen, um letzte Einzelheiten zu besprechen.

Draußen auf der Straße bekam ich plötzlich einen Schwächeanfall. Ich spürte eine klebrige Flüssigkeit auf dem Bauch. Blut! Unter dem hochgezogenen Pullover entdeckte ich in Höhe der Leber ein fingerdickes Loch. Es sah aus wie ein Einschuß. Offenbar hatte mich ein Splitter getroffen. Mir wurde schlecht. Eine innere Blutung konnte ich weder selbst behandeln noch überleben.

Ich riß mich, so gut es ging, zusammen und schleppte mich in die Universitätsklinik. Der diensthabende Arzt kaufte mir die Geschichte eines angeblichen Fahrradsturzes nicht ab und rief noch in meinem Beisein die Kriminalpolizei an, weil er der Meinung war, es könnte sich um einen Messerstich handeln. Die ärztliche Schweigepflicht gelte in diesem Falle nicht, klärte er mich auf.

Dem Kriminalpolizisten, einem freundlichen älteren Herren, erzählte ich dieselbe Geschichte. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er mir die Notlüge halbwegs abkaufte. Danach erhielt ich eine Narkose und wurde operiert.

Als ich tags darauf aufwachte, kämmte mir jemand die Haare. Staub fiel auf Papier. Junge Männer mit strengen Gesichtern und schicken Exquisit-Anzügen saßen um mich herum. Das waren keine Polizisten.

Obwohl frisch operiert, wurde ich mit einem Stasi-Krankenwagen zunächst nach Rostock ins MfS-Untersuchungsgefängnis verbracht. Dort wurde mir der Haftbefehl vorgelesen. Mein Bauch war geschwollen, und die Wunde tat weh. Trotzdem fuhr man mich nach Berlin ins Haftkrankenhaus. Kurz bevor der Krankenwagen dort ankam, zog mir ein Bewacher die Bettdecke über den Kopf, damit ich nicht mitbekam, wo genau in Berlin wir uns befanden.

Drei Wochen verbrachte ich in einer Einzelzelle, dann ging’s zurück nach Rostock ins dortige Stasi-Gefängnis.

Es war ein schreckliches Gefühl, so urplötzlich in einem Gefängnis zu stecken. Alle zehn Minuten ging nachts das Licht an, jemand schaute durch den Spion, und niemand sprach mit mir mehr als nötig. Ich fiel in ein ganz tiefes depressives Loch.

Auch Alexander war inzwischen verhaftet worden. Kurz vorher hatte er noch unsere Fluchtpläne und die bei der Marine gestohlenen Gerätschaften, die uns eine zusätzliche Verurteilung wegen Diebstahl eingebracht hätten, beiseiteschaffen können und auch unsere Approbationsurkunden, die man uns sicher gerne abgenommen hätte, versteckt. Der Stasi-Vernehmer, ein baumlanger junger Kerl, hatte es leicht mit uns, da sich unsere Aussagen im wesentlichen deckten und wir die Fluchtvorbereitung, derer wir beschuldigt wurden, nicht bestritten.

Der Zug stand. Am oberen Rand der vergitterten Milchglasscheibe war eine kleine Klappe, die man ein paar Zentimeter nach innen ziehen konnte. Mit einigen Verrenkungen gelang es mir, einen Hauch der kühlenden Nachtluft einzusaugen. Ich konnte ein paar Lichter draußen erkennen, Wagentüren klappten, und ich hatte das Gefühl, daß unser Wagen soeben abgekoppelt wurde. Eine Stimme im Berliner Dialekt, vermutlich die eines Eisenbahners, war zu hören und eine Art Hammerpochen an den Rädern. Dann ertönten Hundegebell und gedämpfte Befehle. Die Nachbarzellen wurden nach und nach geöffnet, Namen vorgelesen und Leute herausgeholt. Bei leichtem Druck auf die federnde Tür konnte ich durch einen ganz schmalen Spalt am Türschloß einzelne Leute vorbeigehen sehen. Es waren junge, hübsche Frauen darunter, auch solche, denen man die Prostituierte deutlich ansah.

Als unsere Zellentür, an die ich mich angelehnt hatte, plötzlich aufging, krampfte ich die Hände um meinen kleinen Klappsitz, um nicht zu fallen. Mein Herz pochte. Das Licht floß stechend in die Augen. Ich hielt die Hände reflexartig vors Gesicht und hatte auf einmal Angst, mein Name werde vorgelesen. Ich kam mir vor wie eine störrische Maus, die man an einen kleinen Käfig gewöhnt hat und nun in einen größeren sperren will.

Ein gutgenährter junger Polizist in blauer Uniform und mit lustigen Augen stand vor uns. In der Hand hielt er ein paar Karten mit aufgeklebten Paßbildern, die aussahen wie Steckbriefe aus klassischen Western. Er nannte einen Namen und fragte nach dem Geburtsdatum. Der dicke Rothaarige stand stramm und betete seine paar Daten zitternd herunter. Dann hörte ich meinen Namen und antwortete, ohne auf die Frage zu warten, mit meinem Geburtsdatum. Der Bulle lächelte. Er war alles andere als ein böser, brutaler Mensch, sicher einer, der hier bei den Ganoventransporten nur seinen Job machte, seine Ruhe haben wollte und vielleicht bei bestimmten »Straftaten«, die auf den Karten vermerkt waren, dem Delinquenten mit einem mutmachenden Lächeln oder einem Augenzwinkern ein kleines bißchen Sympathie zeigte.

Kurz vor dem Ausstieg erwartete mich ein anderer Blauer, der mir eine Handschelle um die linke Hand legte. Dann wurde ich an einen kleinen, dicken Gefangenen geschlossen. Zusammen führte man uns vorbei an schwerbewaffneten Polizisten und kläffenden Hunden zu einem LKW Typ W 50. Ich konnte feststellen, daß wir uns in Berlin in der Nähe vom Bahnhof Rummelsburg befanden. Mein unförmiger siamesischer Zwilling kletterte voraus in das Kastengestell des LKW. Ich folgte. Durch die Bewegung drückte die Handschelle ins Gelenk. Als ich mit der anderen Hand nach dem fesselnden Ding griff, rastete der Zackenring noch mehr ein. Der Schmerz wurde stärker. Der Bulle, dem ich das begreiflich machen wollte, winkte nur unbeeindruckt ab. Also Zähne zusammenbeißen und nicht daran denken!

Im Innern des Wagens befanden sich auf der einen Seite zwei lange, braun gepolsterte Sitzreihen. Ansonsten war hier alles einfarbig grau.

Der Rothaarige saß bereits da, schaute zu mir und freute sich über das bekannte Gesicht. Er war an einen Jungen, der noch halb wie ein Kind aussah, gekettet worden. Dessen verstörter Blick in dieser düsteren Umgebung von Polizisten und Ganoven machte mich betroffen. Wer weiß, welche Untat der Kleine verbockt hatte und wie sein weiterer Weg zum Erwachsenwerden aussehen würde?

Die graue Minna hielt noch mindestens zweimal auf der Strecke nach Brandenburg. Gefangene wurden hinausgeführt, andere hineingebracht. Draußen war es stockdunkel und eiskalt, als sich das erste große Tor der berüchtigten Strafvollzugseinrichtung Brandenburg wie ein Schlund öffnete und unsere Gefangenenkiste auf Rädern mit metallischem Knall verschluckte. Unter Türknallen, Gittergerassel, Schlüsselklimpern und kurzen markanten Befehlstönen passierte der Transporter die Schleuse durch die äußere Sicherheitszone. Die Kiste wurde geöffnet. Wir stiegen aus.

Es war Mitternacht, doch der Raum, den wir betraten, war mit Leuchtstoffröhren taghell ausgeleuchtet. Ein forscher, aber freundlicher Bulle nahm uns die Handschellen ab und führte uns zu einem Haufen von Postsäcken, die mit abgeladen worden waren und in denen sich unsere Habseligkeiten befanden. Jeder griff sich den seinen heraus und folgte dem Bullen zur Effektenkammer. Dort erwarteten uns bereits zwei ältere Strafgefangene. Beide hatten dunkelblaue Uniformen an. Wenn auf den Hosenaußenseiten und auf dem Rücken nicht leuchtend gelbe, fast handbreite Streifen aufgenäht gewesen wären, hätte ich die beiden Grauhaarigen für Reichsbahner oder Feuerwehrmänner gehalten. Allerdings hatten beide schon das Pensionsalter erreicht. Um sie herum stapelten sich Berge von Arbeitsschuhen, Uniformen und grauer Unterwäsche.

»Na, Jungs, wieviel habt ihr denn mitgebracht?« fragte der eine in die Runde der Neuankömmlinge. Seine Stimme hatte einen väterlichen, freundlichen Klang. Die Antwort eines jungen, etwa neunzehnjährigen Typs neben mir klang etwas bedrückt: »Ich habe LL.« Sein Gesicht wurde rot dabei. Er zog es vor, nicht weiter darüber zu sprechen und auf die Wäscheberge auf dem Boden zu starren. LL war das Kürzel für lebenslänglich. Noch in der Zugangsabteilung sollte ich erfahren, daß der Junge seine eigene Oma umgebracht hatte. Sexualmord. Die Leiche hatte er tagelang unter ihrem Klappsofa versteckt.

»Na, mach dir mal nichts draus. Hier bist du gut aufgehoben. Und wenn du ’nen guten Job kriegst, macht das Leben auch wieder Spaß. Kannste mir glauben. Ich bin schon fast zwanzig Jahre hier«, versuchte ihn der Alte aufzumuntern.

Nachdem wir uns splitternackt ausgezogen hatten, erhielten auch wir unsere Knastuniformen. Sie waren graugrün eingefärbt, hatten aber die gleichen gelben Streifen. Vermutlich neueste DDR-Zuchthausmode. Kein Wunder, daß mich sowohl die langärmeligen häßlichen Unterhemden als auch die Filzuniformen an meine Armeezeit erinnerten: Es handelte sich um ausrangierte, eingefärbte NVA-Uniformen. Die Auswahl schien nicht sehr groß zu sein. Es gab für mich keine passende Hose, und ich erhielt einfach Hosenträger, um sie festzuhalten. Mit den hohen Arbeitsschuhen sollte ich noch wochenlang meine Probleme haben, bis sie sich endlich an meine Füße angepaßt hatten. Ein Umtausch war leider nicht möglich. Größe 45 war zur Zeit ausverkauft. Monate später löste ich selber das Problem, indem ich mit einem scharfen Messer daraus Halbschuhe maßschneiderte.

Der schwere Filzmantel saß besser. Die Klamotten rochen nach Desinfektionsmitteln. Wer weiß, wie viele Mörder schon in ihnen gesteckt hatten.

Während uns der eine grauhaarige Lebenslängliche die Privatsachen abknöpfte und sich pedantisch jeden Socken quittieren ließ, zeigte uns der andere, wie wir die Knastklamotten und die karierte Bettwäsche in einer Filzdecke zu einem tragbaren Sack zusammenwickeln konnten. Jeder von uns erhielt zum krönenden Abschluß noch eine große braune Plastetasse mit der Bodenprägung »Made in DDR«, einen weißen Plaste-Suppenteller und ein Aluminiumbesteck. Das Messer war abgerundet und die Schneide etwa einen Millimeter dick. Immerhin schon mal ein Vorteil zum Stasi-Gefängnis. Dort waren auch die Messer komplett aus Plaste gewesen. Jemand mit Suizidabsichten hatte es hier im Zuchthaus jedenfalls viel leichter, sein Ziel zu verwirklichen, als bei der Stasi.

»Und du, mein Junge, hast du auch bis zur Jahrtausendwende?« blinzelte mich der eine Effektenausgeber freundlich an. Bis zur Jahrtausendwende! Das waren noch achtzehn Jahre! Vielleicht war das ja auch gleichbedeutend mit lebenslänglich.

»Nein, ich habe nur zwanzig Monate.« Mir war die Antwort fast peinlich angesichts der lebenslänglichen Kollegen.

Das Gesicht meines neugierigen Gegenübers verfinsterte sich: »Wieso, bist du etwa Ausweiser?«

Ich verstand ihn nicht so recht. Was, in aller Welt, war denn nun schon wieder ein Ausweiser? Vielleicht meinte er, ob ich einen Ausweis geklaut oder gefälscht hätte?

Mein Hintermann mischte sich ein: »Ob du ausgewiesen werden willst?! Ab in den Westen, verstehste?«

»Ja, ja, na klar.«

Dem Grauhaarigen war die gute Laune vergangen: »Da lohnt sich ja die ganze Klamottenausgabe gar nicht. Die paar Tage bis zur Abschiebung könntet ihr auch im Zugang absitzen. Scheiß Ausweiser!«

»Von wegen paar Tage, ich hab’ zehn Jahre abgefaßt«, meldete sich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Ein breitschultriger baumlanger Kerl stand da im gebügelten Knastlook und reichte mir die Hand.

»Hast du auch Anwalt Vogel?« fragte er mich.

»Nicht persönlich, aber einen seiner Vertreter aus Rostock. Aber sag mal, wofür hast du denn zehn Jahre bekommen?« wollte ich wissen, und er erzählte:

Er war mit seinen Ende Zwanzig einer der jüngsten Entwicklungsingenieure im Carl-Zeiss-Jena-Werk und an optischen Neuentwicklungen für die russische Raumfahrt beteiligt gewesen. Dann wurde er in Ungarn im Kofferraum eines österreichischen Transitreisenden erwischt. Während sein mitgefangener Kollege mit dreieinhalb Jahren in Cottbus davonkam, erhielt er zehn Jahre, weil er ein kleines Aktenköfferchen mit seinen eigenen Forschungsunterlagen aus dem Carl-Zeiss-Jena-Werk bei sich geführt hatte. Republikflucht und Industriespionage! Trotzdem war er optimistisch und sicher, schon in Kürze in den Westen abgeschoben zu werden. Sein Fall sei in bestimmten Wirtschaftskreisen, die Geschäfte mit dem Osten machten, bekannt, und die würden ihn nicht hängenlassen. – Er sollte recht behalten. Schon ein Jahr später hatte ihn die DDR an den Westen verhökert und sich die restlichen acht Jahre als Kaution auszahlen lassen.

Ein übermüdeter Bulle kontrollierte unsere verbliebenen persönlichen Sachen. Drei Privatfotos durften wir mit in die Zellen nehmen. Alle anderen mußten abgegeben werden. Etliche Gittertüren schlossen sich hinter uns, bis wir endlich in die Zugangszelle kamen, in der wir die nächsten Tage verbringen sollten. Die verbrauchte Luft roch nach Urin. Der Bulle schaltete das Licht ein. Sechs Doppelstockbetten standen an den Wänden. Einige verschlafene Gesichter lugten aus der karierten Bettwäsche. Klo und Waschbecken standen wie eingeklemmt zwischen den Bettenburgen. Jeder konnte einem hier beim Klogang zusehen. Eklig allein schon die Vorstellung. Aber ich sollte noch lernen, daß Menschen leidensfähig sind und sich schnell an solche Zustände gewöhnen.

Jemand schnarchte. Erschöpft fiel ich in eines der freien Betten und schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Aufnahmerituale: Stoppelschnitt und Tetanusspritze

Eine Art Hupen und helles Licht rissen mich aus der kurzen Nachtruhe. Auf dem Gang brüllte jemand: »Zählung! Aufstehen!« Schlüssel rasselten. Die Türschlösser krachten. »Los, los, aufstehen! Sonst mach’ ich Ihnen Beine!« herrschte uns ein kleiner o-beiniger Bulle mit langschäftigen Stiefeln und Reithose an. Als alle Zellengenossen schließlich murrend strammstanden, wurde durchgezählt. Gleich dreimal, zur Übung gewissermaßen. Der Bulle vermerkte die Zahl auf einem Zettel und ließ die Schlösser der Tür wieder zukrachen. Dann aus der Nachbarzelle die gleichen Töne. Auch da wurde dreimal durchgezählt. Hatte man tatsächlich Angst, daß hier jemand verschwinden könnte?

Diese Prozedur sollte sich von nun ab täglich morgens und abends vollziehen. Kam es vor, daß ein Bulle sich verzählte oder eine falsche Zahl weitermeldete, wurde sofort Alarm ausgelöst und das Zählen wiederholt, bis man sich sicher war, daß alles seine Ordnung hatte.

Kurz nach der Zählung wurde die Tür erneut aufgeschlossen. Zwei rundliche Strafgefangene reichten einen Kübel mit Malzkaffee herein, dazu Frühstücksbrötchen, etwas Butter und Marmelade. Am einzigen Waschbecken und am Klo hatten sich derweil Schlangen gebildet. Endlich war ich an der Reihe, um mich zu erleichtern. Hygiene wurde in dieser Herrenrunde nicht gerade großgeschrieben, und Händewaschen nach der Toilettenbenutzung war eher die Ausnahme.

Eine Schöpfgelegenheit für den Malzkaffee gab es nicht. Jeder tunkte seine braune Plastetasse, sauber oder nicht, ein, bis der Kübel geleert war.

Seltsame Gestalten waren das, die um mich herumstanden. Alle befanden sich erst seit kurzem in Brandenburg. Die gestern Eingelieferten konnte man gut daran erkennen, daß sie noch längere Haare hatten. Den anderen war schon der anstaltsübliche Pißpott-Radikalschnitt verpaßt worden. Einige, so schien es mir, waren mit dem Knastmilieu bestens vertraut. Besonders die Tätowierten, von denen es in dieser Zugangszelle sieben gab.

Die monatelange Isolierung während der U-Haft hatte sicherlich auch die anderen gesprächig gemacht. Ich war neugierig zu erfahren, weshalb sie hier einsaßen, und hoffte, Gleichgesinnte zu finden. Aber ich sollte mich irren. Mörder, besonders Sexual- und Kindermörder, kehren nicht gleich am ersten Tag ihr Innerstes nach außen. Eigentlich reichten auch schon die Mitteilung über die Haftlänge und einige Informationen von Mithäftlingen, um sich Einzelheiten über das jeweilige Verbrechen zusammenzureimen.

Von uns zwölf Neuzugängen hatten drei Leute lebenslänglich, zwei fünfzehn und einer neun Jahre. Sie alle waren wegen Tötungsdelikten verurteilt, was mich sehr erstaunte. Hatte ich doch in meiner Naivität immer geglaubt, Mörder gebe es in der DDR so gut wie keine. Über Mordfälle wurde in den Zeitungen äußerst selten berichtet, und auch in der DDR-Fernsehreihe »Polizeiruf 110« ging man erst seit kurzem buchstäblich über Leichen. Richtige Sittenstrolche und Serienmörder kannte ich nur aus dem Westfernsehen. Und jetzt war ich genau dort gelandet, wo die saßen, die es offiziell im Sozialismus nicht geben durfte: im DDR-Mördergefängnis Nummer eins, in Brandenburg-Görden mit über eintausend wegen Mord und Totschlag verurteilten Gefangenen. Als mir das so richtig bewußt wurde, bekam ich weiche Knie.

Nach dem Frühstück wurden die Neuzugänge in die Friseurzelle gebracht. Auf der Erde häuften sich Berge von Menschenhaaren. Meine Bitte um einen halbwegs akzeptablen Haarschnitt quittierte der lebenslängliche Mörderfriseur nur mit einem hämischen Grinsen. In wenigen Minuten hatte er mit der elektrischen Haarschneidemaschine Nacken und Schläfen entgrast. Nur auf dem Oberschädel blieb ein Rest an kämmbarer Haarmasse zurück. Ich fühlte mich entsetzlich, als ich im Spiegel den Kahlschlag und dahinter die schadenfrohe Ganovenvisage erblickte.

Anschließend führte uns ein Bulle durch etliche Gitter und Türen zur sogenannten Freistunde. Seit Monaten hatte ich nur das kleine zwölf Quadratmeter große Freistundenloch im StasiKnast mit Bewachern und vier Meter hohen Wänden gekannt. Schon allein der Gedanke, wieder eine Strecke von über zehn Metern vor mir zu haben, verschaffte mir das Gefühl von körperlicher Bewegungsfreiheit. So verrückt war ich schon geworden, Geradeausgehen als Glück zu empfinden.

Der kleine, düstere Gefängnishof des Zugangs füllte sich zunehmend mit graugrün bemäntelten Gestalten zwischen achtzehn und siebzig Jahren. Allein die Gesichter über den Knastuniformlumpen mit den aufgenähten gelben Streifen unterschieden sich.

Es war recht kalt an diesem ersten Brandenburger Zuchthausmorgen. Ich steckte die Hände in die Taschen meines muffig riechenden Mantels. Den Kragen hatte ich bereits hochgeschlagen und das Käppi bis an die Ohren herabgezogen. Trotzdem fror ich, denn ich hatte zwar hohe Arbeitsschuhe und eine lange, dicke Unterhose an, aber die Hose selbst war nicht nur oben zu weit, sondern auch unten fünf Zentimeter zu kurz. Ich schloß mich dem Rhythmus des Rundherumgehens an. Das Gehen in der Hofrunde war eine Befreiung, aber gar nicht so einfach, denn man mußte ständig darauf achten, daß man niemandem im Trott auf die Füße latschte – schließlich wußte man nicht, mit wem man es zu tun hatte und welcher Wind hier wehte.

In einem sympathischen Potsdamer Maskenbildner fand ich einen brauchbaren Gesprächspartner. Reinhard sprach in einem schon lange nicht mehr gehörten, seelenruhigen und doch ironischen Ton. Ich lachte über seine Arbeitserlebnisse bei der DEFA in Babelsberg, über die Arroganz und Eskapaden der Schauspieler. Diese Leute waren mir früher immer wie heilig und unerreichbar erschienen. Heute, o Gott, ich pfiff drauf – dieser ganze Haufen von versoffenen DDR-Künstlern, Schlageraffen und sonstigen Eierköppen, die wie ein Stern ihren Drachen steigen ließen, ohne dem Wind aus dem Weg gehen zu müssen ...

Auch Reinhard war wegen R-Flucht verurteilt und eingesperrt worden. Man hatte ihn in Bulgarien an der türkischen Grenze geschnappt und per Flugzeugsammeltransport wieder zurückgebracht. Mit seinen sechzehn Monaten war er nicht einverstanden, zumal er sein Vorhaben, weiterhin ausreisen zu wollen, aufgegeben hatte und andere Leute in solchen Fällen auf Bewährung entlassen worden waren. Er hoffte daher, daß sein Berufungsantrag nicht abgelehnt werden würde. Das stieß bei mir auf Unverständnis. Wie konnte ein intelligenter Mann so gutgläubig sein und noch an etwaige objektive, nicht willkürliche Entscheidungen glauben? Naja, seine Sache.