Über das Buch:
Wyoming 1886:

Charlotte Hardings Leben hat dramatische Wendungen genommen: Zuerst wurde ihr Mann ermordet, dann stellte sich heraus, dass ihr neugeborener Sohn blind ist. Doch Charlotte ist fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Tatsächlich schafft sie es, sich ihren Traum von einem eigenen Schneideratelier zu erfüllen. Und sogar ein zarter Hoffnungsschimmer des Glücks fällt in ihr Leben, als sie dem charmanten Barrett Landry begegnet. Wäre er nur nicht so fest entschlossen, ihrer besten Kundin den Hof zu machen. Und müsste Charlotte nur nicht befürchten, dass die Schatten der Vergangenheit sie doch noch einholen …

Über die Autorin:
Amanda Cabot lebt mit ihrem Mann in Wyoming, USA, und machte zunächst als Informatikerin Karriere, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft fürs Schreiben widmete. Ihre Romane waren bereits für zahlreiche Preise nominiert.

Kapitel 9

„Wie weiß man, ob man verliebt ist?“

Charlotte machte eine unwillkürliche Handbewegung und hätte Miriam dabei beinahe mit einer Nadel gestochen. Vor einer Minute hatte Miriam noch von dem Feuer gesprochen, das das Depot-Hotel vernichtet hatte, und davon, dass ihr Vater den von Präsident Cleveland neu ernannten Territorialgouverneur nicht guthieß. Man unterstellte ihm, sich am illegalen Einzäunen von Weideland beteiligt zu haben. Und jetzt wollte sie über Liebe sprechen. Damit war Barrett gemeint, der Mann, den Miriam als „ehrenwert“ bezeichnet und auf diese Weise von Gouverneur Baxter abgegrenzt hatte.

Charlotte hatte ihr zugestimmt. Barrett war ehrenwert. Er war außerdem überraschend bescheiden für einen Mann seines Reichtums und sozialen Standes. Nur ein bescheidener, demütiger Mann hätte sich so entschuldigt, wie er es getan hatte, und nur ein mitfühlender Mensch hätte sich die Zeit genommen und versucht, David beizubringen, wie man einen Ball rollt. Charlotte wurde jedes Mal warm ums Herz, wenn sie daran dachte, wie der große, gut aussehende Viehzüchter, der vielleicht Senator werden würde, auf dem Boden gesessen hatte, um mit ihrem Sohn zu spielen. Er war mehr als aufmerksam gewesen. Sie könnte beinahe glauben, dass er liebevoll gewesen war. Natürlich gab es viele verschiedene Arten von Liebe. Die, über die Miriam sprechen wollte, war eine andere.

„Ich bin da wohl kaum eine Expertin.“

Miriam bewunderte ihr Spiegelbild und lächelte. „Du bist eine Expertin und zwar nicht nur, was die Herstellung der schönsten Kleider in ganz Cheyenne betrifft. Gerade jetzt sind deine Augen sanft und deine Wangen rot geworden, daher weiß ich, dass du an einen besonderen Moment erinnert worden bist, den du mit deinem Ehemann erlebt hast.“

Es war feige, aber Charlotte senkte den Kopf und tat so, als müsste Miriams Schleppe gerichtet werden. Sie musste um jeden Preis vermeiden, dass ihre allzu scharfsinnige Freundin erriet, dass es sich bei dem Mann, der für das Erröten verantwortlich war, um denselben handelte, den Miriam zu heiraten gedachte. „Du solltest das wirklich mit deiner Mutter besprechen.“

„Es gibt keine Unterhaltungen mit Mama.“ Miriam gab einen Ton von sich, den jemand, der weniger gut erzogen war, als Schnauben bezeichnen würde. „Sie hält mir Vorträge. In diesem Fall gibt es keinen Grund, sie zu fragen, weil ich weiß, was sie sagen wird.“ Miriam imitierte ihre Mutter und kräuselte dabei die Lippen: „Liebe ist etwas für Bücher. Worauf es ankommt, ist der soziale Status eines Mannes.“

Traurigerweise konnte Charlotte sich vorstellen, wie Mrs Taggert genau das sagte. „Ich möchte deiner Mutter nicht widersprechen, also werde ich deine Frage mit einer eigenen beantworten. Wie fühlst du dich, wenn du bei ihm bist?“

Während sie auf Miriams Antwort wartete, drapierte Charlotte ein Stück Spitze um den Ausschnitt des Kleides. Dann schüttelte sie den Kopf. Wie sie sich schon gedacht hatte, war das Kleid ohne die Spitze eindrucksvoller.

„Lebendig.“ Miriams Lippen verzogen sich zu einem süßen Lächeln. „Das klingt seltsam, nicht wahr? Aber wenn ich mit ihm zusammen bin, sehe ich Dinge, die ich nie zuvor gesehen habe. Ich habe das Gefühl, Vögel singen zu hören, obwohl ich weiß, dass sie alle nach Süden geflogen sind. Selbst gewöhnliches Essen schmeckt besser, wenn er am Tisch sitzt. Wenn ich Mama das erzählen würde, würde sie entweder lachen oder Dr. Worland rufen, aber es ist nicht nur meine Einbildung. So fühle ich mich. Lebendig.“

Charlotte nickte langsam. „Du hast deine eigene Frage beantwortet. Du bist verliebt.“

Ohne auf die Nadeln zu achten, die ihr Kleid zusammenhielten, wirbelte Miriam herum. „Ist das nicht wundervoll?“

Das war es. Für Miriam.

* * *

„Wir werden an Thanksgiving wieder zurück sein.“ Barrett sah, wie Harrison zitterte. Da Wolken die Sonne verdeckten, drang der Wind selbst durch die dicksten Stoffgewebe, fand seinen Weg durch die Fasern und machte die darunterliegende Haut erst rot und dann gefährlich weiß. Das war, wie Barrett vermutete, der Grund, weshalb die Indianer Lederkleidung trugen. Auf jeden Fall war das der Grund, weshalb er zwei Büffelfelle mitgebracht hatte. Tierhäute waren praktisch undurchdringlich für das Wetter, was sie zu einem unentbehrlichen Bestandteil des Winters in Wyoming machte.

Wenn er nicht eine weitere Ladung Heu hätte transportieren müssen, dann hätte Barrett seinen Bruder nicht einer Fahrt in dem Wagen ausgesetzt. Selbst auf dem Rücken eines Pferdes war es wärmer, als praktisch bewegungslos in einem Pferdewagen oder einer Kutsche zu sitzen. Ein offener Wagen war schlimmer, aber da das Heu der Hauptgrund für seine Fahrt war, führte kein Weg daran vorbei.

„Ich würde nicht wollen, dass du Mrs Melnors Thanksgiving-Mahlzeit verpasst“, fuhr Barrett fort. Vielleicht würden Gedanken an warmes Essen sie dazu bringen, ein Gefühl von Wärme zu empfinden. „Sie plant ein Festessen.“

Sie würden an Thanksgiving zu viert am Tisch sitzen. Barrett hatte sich daran erinnert, dass weder Richard noch Warren Familie in Cheyenne hatten, und die beiden eingeladen, ihm und Harrison Gesellschaft zu leisten. Vielleicht hätte er Miriam und ihre Familie mit einbeziehen sollen, aber Harrison hatte erwähnt, dass er noch vor Weihnachten nach Pennsylvania zurückkehren wollte. Da dies vielleicht für längere Zeit der einzige Feiertag mit seinem Bruder sein würde, wollte Barrett, dass es ein ruhiger, entspannter Tag wäre. Er wollte weder über Politik reden noch Mrs Taggert dabei zuhören, wie sie mit ihren Kleidern aus Paris prahlte. Es sprach für Miriams Entschlusskraft, dass sie in der Lage gewesen war, ihre Mutter bei zumindest einem Thema zu überstimmen und weiter bei Charlotte ihre Kleider zu bestellen.

Während seine Gedanken zu Cheyennes schönster Schneiderin und dem Kind wanderten, das ihr so gar nicht ähnlich sah, suchten seine Augen den Horizont ab auf der Suche nach Hinweisen auf verloren gegangenes oder sterbendes Vieh. Obwohl es noch früh in der Saison war, bestand immer die Gefahr, Rinder an Raubtiere oder das Wetter zu verlieren. Die Frühlingskälber waren noch nicht alt genug, um allein auf sich gestellt zu überleben, aber unerfahrene Kühe wussten das manchmal nicht und liefen davon. Barretts Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. An Mütter und ihre Kinder zu denken, auch wenn es sich um Rinder handelte, ließ seine Gedanken zu Charlotte und ihrem Sohn zurückwandern. Zugegebenermaßen war nicht viel nötig, um ihn dazu zu bringen, an sie zu denken. Die Gedanken drängten sich nur allzu oft auf. Aber wenn er so darüber nachdachte, war aufdrängen das falsche Wort. Etwas, das aufdringlich war, war unwillkommen. Gedanken an Charlotte waren es nicht. Barrett lehnte sich auf dem Sitz des Wagens zurück und dachte darüber nach, wie er den Feiertag begehen wollte.

„Schade, dass du Richard und Warren zum Essen eingeladen hast. Ich hätte nichts dagegen, Thanksgiving auf dem Weideland zu verbringen.“ Harrison streckte seine Beine nach vorne aus und bewegte seine Füße in seinen Stiefeln. „Der Unterstand, den du eine Ranch nennst, gibt zwar nicht viel her und Dustin könnte eine oder zwei Lektionen im Kochen gebrauchen, aber es hat etwas Faszinierendes, wenn ich mir meinen kleinen Bruder mit Kühen vorstelle. Entschuldigung“, sagte er grinsend, „Vieh.“ Harrison rieb sich seine Hände. „Soll ich mal den Wagen fahren?“

„Sicher. Du hattest schon immer ein Händchen für Pferde.“ Obwohl es nicht sehr schwer war, die Pferde zu lenken, würde die Beschäftigung seinen Bruder ablenken und aufwärmen. Tage wie dieser, in denen keine Sonne die dünne Luft wärmte, waren brutal. Barrett händigte Harrison die Zügel aus und rutschte auf die andere Seite des Wagens.

Harrison legte die Zügel durch seine Finger und grinste. „Als ich ein Junge war, dachte ich, ich würde einmal Pferdezüchter werden.“

Überrascht starrte Barrett den Bruder an, von dem er gedacht hatte, dass er ihn kennen würde. Nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben hatte er Harrison irgendetwas darüber sagen hören, dass er Pferde züchten wollte. „Warum hast du es nicht getan?“

Harrison zuckte mit den Achseln, nahm seinen Blick jedoch nicht von der Straße. „Das ist doch offensichtlich. Pa erwartete von mir, dass ich den Laden übernehme. Und ich konnte ihn nicht enttäuschen.“

Dasselbe galt für Barrett. Als sein Vater noch gelebt hatte, hatte Barrett – egal wie groß seine innere Unruhe auch gewesen war – sich nie frei gefühlt, seine Heimatstadt zu verlassen. Alle drei Brüder hatten ihr Bestes getan, um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen.

„Das ist der Grund, weshalb ich so lange in Northwick geblieben bin“, gestand Barrett. Er war noch ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern geblieben, unter anderem, weil er sicher sein wollte, dass seine Brüder ihn nicht brauchten. Aber als er sich davon überzeugt hatte, dass er für das Geschäft entbehrlich war, hatte er sich auf den Weg in Richtung Westen gemacht. „Die Bibel sagt, dass man seine Eltern ehren soll. Das habe ich versucht.“

Wieder ertappte sich Barrett dabei, dass er über Charlotte nachdachte. Er fragte sich, wie ihre Eltern wohl gewesen waren. Es musste sich um ungewöhnlich starke Menschen gehandelt haben, denn sie hatten zumindest zwei unabhängige Frauen großgezogen. Die meisten Witwen wären in das Haus eines Bruders oder einer Schwester gezogen, aber Charlotte hatte das nicht getan. Stattdessen hatte sie ein erfolgreiches Geschäft in einer neuen Stadt aufgemacht. Er wusste nicht allzu viel über die mittlere Schwester, aber die jüngste studierte Medizin, auch wenn sie wissen musste, dass es ein weiblicher Arzt nicht leicht haben würde. Sie waren ganz bestimmt keine gewöhnliche Familie.

„Du hattest Erfolg.“ Einen Moment lang fragte sich Barrett, was Harrison meinte. Dann wurde ihm klar, dass sein Bruder auf das antwortete, was Barrett über Eltern und die Achtung ihnen gegenüber gesagt hatte. „Ma und Pa waren stolz auf uns alle. Auch wenn es nicht das ist, was Pa für dich vorgesehen hatte, glaube ich, dass ihm gefallen würde, was du hier tust.“ Harrison grinste und deutete auf die sanfte Hügellandschaft. „Der Schnee ist auf jeden Fall hübsch.“

„Das Vieh ist da anderer Meinung. Der Schnee liegt zwischen ihnen und der Nahrung.“ Barrett fragte sich, wie viel sein Bruder hören wollte. Es war nicht so, als wollte Harrison Vieherzeuger werden, und doch war er vielleicht daran interessiert, einen weiteren Teil von Barretts Leben zu verstehen. „Das trockene Klima ist einer der Gründe, warum die Viehzucht hier so profitabel ist. Das Gras sieht vielleicht so aus, als wäre es tot.“ Er deutete auf eine Stelle mit goldbraunem Gras, das die Herde freigelegt hatte. „Das ist es nicht. Es wird von der trockenen Luft ausgehärtet, so wie Fleisch in einer Räucherkammer. Getrocknetes Präriegras verliert die Nährstoffe nicht wie Gras daheim im Osten. Darum kann es eine Herde den ganzen Winter über versorgen. Das Problem ist, dass der vergangene Sommer ungewöhnlich trocken war, deshalb ist das Gras nicht so stark gewachsen wie sonst.“

„Vielleicht ist es kein so großes Problem, wie du denkst.“

Barrett lächelte über Harrisons Optimismus, aber als sie die Ranch erreichten, lächelte er nicht mehr. Er wusste bereits, dass irgendetwas nicht stimmte, weil Dustin, sein Angestellter, bei ihrer Ankunft ein Wagenrad reparierte, anstatt draußen auf der Weide zu sein. Die gebrochene Speiche war allerdings erst der Anfang einer Reihe schlechter Nachrichten. Dustin fuhr mit der Hand durch sein blondes, lockiges Haar, wobei er einen Streifen Schmiere auf seiner Stirn hinterließ. Dann berichtete er, dass er beim Ritt über das Weideland zehn Stück Vieh auf dem Boden liegend vorgefunden hatte. Zum Teil war es bereits tot gewesen, zum Teil so nah dran, dass es keine andere Möglichkeit mehr gegeben hatte, als es aus seinem Elend zu erlösen.

„Die Viecher waren am Verhungern.“ Dustin schaufelte Bohnen und Maisbrot in seinen Mund, als würde er befürchten, der nächste zu sein.

Barrett für seinen Teil hatte den Appetit verloren. „Das ist zu früh“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Harrison und Dustin. „Wir haben immer ein paar Verluste über den Winter, aber wir sehen sie normalerweise erst Ende Januar oder im Februar. Sie jetzt zu finden, wo wir noch nicht mal Ende November haben …“ Er ließ seine Worte verklingen.

„Was tust du, wenn das Sterben weitergeht?“, fragte Harrison, als sie das Abendessen beendet hatten. Sie saßen am Herd, hatten die Stiefel ausgezogen und ließen sie trocknen. Gleichzeitig hielten sie ihre Füße so nahe an die Wärmequelle, wie es möglich war, ohne sie zu verbrennen.

„Du meinst, wenn ich die ganze Herde verliere?“ Der Gedanke wirbelte schneller durch Barretts Kopf als Schnee in einem Januarsturm. Obwohl es übertrieben wäre zu behaupten, dass seine Zukunftspläne von einer erfolgreichen Viehsaison abhingen, würde der Verlust allzu vieler Kühe einen schlechten Zuchterfolg bedeuten ... Das war ein weiterer Satz, den Barrett nicht beenden wollte.

Harrison machte den Eindruck, als würde ihn die Möglichkeit überraschen. „So weit hatte ich nicht gedacht. Könnte das passieren?“

Barrett wandte sich an Dustin, der schlicht mit den Achseln zuckte. Beide Männer wussten, dass es unmöglich war, das Wetter vorherzusagen, besonders hier.

„Ich nehme an, es könnte passieren.“ Barrett wollte nicht lügen, Harrison aber auch nicht mehr als nötig beunruhigen. „Wir haben noch keinen wirklich schlechten Winter gehabt, seit ich in Wyoming bin, aber die alten Einwohner erzählen von ein paar ziemlich harten Jahren. Deshalb haben wir das Heu mitgebracht. Ich möchte, dass mein Vieh so gesund wie möglich in diesen Winter geht.“

Der Gesichtsausdruck seines Bruders wurde ernst. „Was, wenn das nicht genug ist?“ Harrison war schon immer ein Pessimist gewesen.

„Willst du wissen, ob ich mittellos und verzweifelt genug wäre, um nach Northwick zurückzukehren?“ Obwohl Harrison nicht antwortete, ließ irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck Barrett begreifen, dass er diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. „Ich bezweifle das. Ich habe nicht alles Geld in die Herde gesteckt“, erklärte er. „Ich habe Pas Rat befolgt und eine Notreserve angelegt. Die würde mich eine Zeit lang über Wasser halten.“ Barrett rechnete kurz nach. „Es wäre genug, um einen neuen Viehbestand aufzubauen, aber es wäre nicht viel für eine politische Kampagne übrig.“

„Dann sollten wir besser dafür beten, dass wir keinen schlechten Winter kriegen.“

„Amen dazu.“

* * *

Die Wärme von Mrs Kendalls Küche bot einen willkommenen Ort zum Aufwärmen nach Charlottes Marsch durch den Wind. Selbst der schwere, schwarze Umhang mit der Kapuze hatte die Kälte nicht aufhalten können.

„Möchten Sie keinen Kaffee, Ma’am?“

Charlotte schüttelte den Kopf. Sie hatte das Haus heute Morgen später als sonst verlassen, weil sie die ganze Nacht gebraucht hatte, um das letzte Kleid fertigzustellen. Wenn sie vernünftig gewesen wäre, hätte sie geschlafen und das Kleid erst später vollendet, aber Charlotte hatte nun einmal den Entschluss gefasst, dass Mrs Kendall und einige ihrer Pensionsgäste am nächsten Tag zumindest einen Grund zum Danken haben sollten.

„Ich kann nicht bleiben“, sagte sie, als sie das erste Paket auspackte und das rostfarbene Baumwollkleid hochhielt, das sie für die Eigentümerin der Pension gemacht hatte. Während es sich bei den anderen Kleidern um überarbeitete Versionen von Miriams abgelegten Kleidungsstücken handelte, war dieses Kleid brandneu. Charlotte hatte den Baumwollstoff speziell für Mrs Kendall ausgesucht, weil sie wusste, dass die Farbe Mrs Kendall schmeicheln würde und gleichzeitig praktisch genug war, um Flecken zu verbergen.

„Es ist wunderschön.“ Die andere Frau lächelte. „Es ist perfekt für Madeline, sobald das Baby geboren ist.“

„Es ist nicht für Madeline.“ Charlottes Stimme klang entschlossen. „Dieses hier ist für Sie.“

Mrs Kendall errötete vor Freude. „Für mich?“ Sie berührte die Reihen von Biesen, die senkrecht am Oberteil hoch- und herunterliefen. Obwohl es trotz der Nähmaschine Stunden gedauert hatte, die Biesen anzunähen, hatte Charlotte nicht darauf verzichten wollen, denn sie würden Mrs Kendalls übermäßig dünnem Körper ein wenig mehr Fülle verleihen.

„Ja, für Sie. Sie verdienen ebenfalls ein neues Kleid.“ Als sie spürte, dass Mrs Kendall kurz davor war, in Tränen auszubrechen, öffnete Charlotte die anderen Pakete und verteilte die Kleider so auf dem Tisch, wie sie es beim letzten Mal auch getan hatte. „Dies sind die Größen, um die Sie gebeten hatten.“

Mrs Kendall, in deren Augen immer noch Tränen schimmerten, nickte. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Die Mädchen, die hier leben, haben noch nie so schöne Sachen gehabt, und die, die zu den Mahlzeiten kommen …“ Sie verstummte, als sei sie peinlich berührt. „Es tut mir leid, Ma’am. Es gehört sich nicht, mit einer Lady wie Ihnen über sie zu sprechen.“

Charlotte konnte ihre Neugier nicht bezähmen. Gwen hatte nichts über Frauen gesagt, die Mahlzeiten in der Pension einnahmen, aber nicht dort lebten.

„Wo leben diese anderen Frauen?“

Mrs Kendalls Gesicht war jetzt beinahe so rot wie das Samtkleid, das Charlotte zu Weihnachten für Miriam gemacht hatte, und sie biss sich auf die Lippen. „Nebenan. Bei Sylvia.“

Das Bordell. Charlotte zuckte zusammen und erinnerte sich an ihre eigene Verachtung gegenüber den Frauen, die ihre Körper an die Soldaten von Fort Laramie verkauft hatten. Wenn Abigail nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht nicht bemerkt, wie unrecht sie damit gehabt hatte, diese Frauen zu verurteilen, ohne zu wissen, was sie zu einem derart bedauernswerten Broterwerb getrieben hatte. Diesen Fehler würde Charlotte nicht noch einmal machen.

„Können sie auch neue Kleider gebrauchen?“

* * *

Rose war schlecht gelaunt. Schon früh am Morgen hatte sie damit begonnen, das ganze Haus in Aufruhr zu versetzen. Und als das Thanksgiving-Essen vorbei war, schien es, als würde sich ein ausgewachsener Wutanfall zusammenbrauen. Charlotte war sicher, dass das der Grund war, weshalb Mr Yates, den sie für den ganzen Tag eingeladen hatten, Müdigkeit vorgeschoben hatte und direkt nach dem Nachtisch in seine Wohnung zurückgekehrt war.

„Sie braucht ein Schläfchen.“ Gwen formte die Worte mit den Lippen, anstatt ihre Tochter weiter in Rage zu versetzen. Schläfchen waren nicht gerade Roses Lieblingsbeschäftigung. Schon kurz nach Davids Geburtstag hatte sie verkündet, dass sie jetzt ein großes Mädchen sei und dass große Mädchen keine Schläfchen mehr machten. Nur Babys täten das.

Charlotte nickte. Wenn das Kind eine Erkältung oder die Grippe ausbrütete, würde Schlaf helfen. Aber dazu würde es nur kommen, wenn es leise im Haus war.

„David und ich werden einen Spaziergang machen“, schlug sie vor. „Die frische Luft wird uns beiden guttun.“

Der Spaziergang würde ihr außerdem dabei helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Obwohl es viele Gründe gab, um dankbar zu sein, lasteten immer noch Sorgen auf Charlotte. An manchen Tagen fühlte es sich so an, als hätte man ihr eine ganze Ladung Wollwaren auf den Rücken gebunden, und nichts, was sie tat, schien die Last leichter zu machen. Selbst Mrs Kendalls Freude über ihr neues Kleid und Mr Yates’ offensichtliche Begeisterung für das Essen hatte ihren Sorgen nur eine kurze Atempause verschafft. Obwohl sie nicht erklären konnte warum, war es einfacher, die Probleme anderer zu lösen als ihre eigenen.

„Komm, David. Wir müssen dich anziehen, damit wir nach draußen gehen können.“ Trotz der enormen Proteste, die es hagelte, als sie ihm den hölzernen Ball wegnahm, schien sich seine Stimmung zu heben, als er die kratzige, karierte Wolle seines Mantels spürte, und er grinste sie an. Wenn nur alles so einfach wäre! Aber nur wenige Dinge waren einfach, wenn es um David ging, und das sorgte dafür, dass Charlottes Sorgen kein Ende fanden. Ihr Sohn machte nicht die erwarteten Fortschritte. Nichts, was sie versuchte, änderte etwas daran.

David hatte vor zwei Wochen allein gestanden. Seine Beine hatten noch gezittert und sein Gesichtsausdruck sowohl Angst als auch Aufregung gezeigt. Er hatte sogar einen Schritt auf Charlotte zugemacht, bevor er auf sein Gesicht gefallen war und sich die Nase am Fußboden gestoßen hatte. Charlotte wusste nicht, ob es der Schmerz beim Hinfallen gewesen war oder die Tatsache, dass seine Nase geblutet hatte. Doch alles, was sie wusste, war, dass er sich seitdem trotz all ihrer Ermutigungen weigerte, erneut aufzustehen.

Vielleicht hatten Barrett und Gwen recht. Vielleicht brauchte David einen besonderen Lehrer. Charlotte gab ein bitteres Lachen von sich. In manchen Dingen war sie genauso wie ihr Sohn. Aus Angst vor Schmerzen wollte David nicht versuchen zu laufen und sie weigerte sich, darüber nachzudenken, ihn gehen zu lassen.

David blickte auf, weil ihr Lachen ihn erschreckt hatte.

„Es tut mir leid, David. Ich wollte dir keine Angst machen. Komm, wir machen einen Spaziergang.“ Sie hob ihn hoch und trug ihn die Stufen hinab in den Hinterhof. „Jetzt geht’s in deinen Wagen.“ Als er saß, legte sie seine Arme auf die seitliche Querverstrebung. „Halt dich gut fest.“

Als sie die Vorderseite des Gebäudes erreichte, zögerte Charlotte. Normalerweise bog sie rechts ab und ging nach Süden, aber heute zog sie irgendetwas in die entgegengesetzte Richtung. Die Straßen waren beinahe menschenleer, vielleicht weil es ein Feiertag war, vielleicht weil der Nachmittag kälter war als gewöhnlich, selbst für Ende November. Als David ausatmete, sah Charlotte weiße Dampfschwaden aus seinem Mund kommen. Ein ganz gewöhnlicher Anblick – und doch etwas, das er niemals erleben würde. Sie schloss die Augen und versuchte, ihren ungleichmäßigen Puls zu beruhigen. Dabei fragte sie sich, ob es immer so sein würde, ob sie immer das Gefühl haben würde, als schneide jemand ihr Herz in kleine Stücke. Sie konnte David nicht wegschicken. Sie konnte es nicht. Das konnte unmöglich die richtige Entscheidung für ihn sein.

„Wir gehen jetzt an der Schule vorbei“, sagte Charlotte zu ihm, als sie nach links abbogen. Vielleicht war es dumm. Er würde hier nie den Unterricht besuchen. Sie quälte sich nur selbst, wenn sie sich vorstellte, wie er mit Büchern unter seinem Arm durch die Tür ging. Und doch konnte sie nicht aufhören, für ein Wunder zu beten. Denn genau das war nötig, damit sich David unter die Kinder würde mischen können, die jeden Tag diese Stufen hinaufstiegen. Ein Wunder. Obwohl Papa ihr gesagt hatte, dass Wunder jeden Tag geschehen, hatte es bis jetzt noch keines gegeben.

Als sie ihn an der Schule vorbeizog, lächelte David. Bald darauf erreichten sie wieder die Ecke der Ferguson Street und David drehte den Kopf, damit die Sonne sein Gesicht wärmen konnte.

Wie dumm sie gewesen war! Charlotte schluckte schwer. „Du hast recht, David. Die Sonne scheint.“

Papa hatte ebenfalls recht gehabt. Es gab jeden Tag Wunder, wenn man sich die Zeit nahm, um nach ihnen zu suchen. Anderen kamen sie vielleicht unbedeutend vor. Sie wirkten vielleicht nicht wie die Antwort auf ihre Gebete. Aber sie waren real. Es war Ende November. Die Sonne schien nur schwach. Und doch saß Charlottes Wunder in einem kleinen Wagen aus Holz und lächelte über die Wärme eines Himmelskörpers, den er niemals sehen würde.

Oh, Papa. Ich wünschte, du wärst hier und könntest deinen Enkel sehen. Du würdest ihn genauso lieben wie ich. Aber Papa würde David niemals im Arm halten, und wenn Abigail und Elizabeth die Wahrheit erfuhren, würden sie vielleicht so verärgert sein über all das, was Charlotte vor ihnen verborgen hatte, dass sie sie nicht mehr wiedersehen wollten. Diese Sorge machte ihr fast so sehr zu schaffen wie der Gedanke, David in eine besondere Schule zu bringen und diese ohne ihn wieder zu verlassen.

„Charlotte!“

Aufgeschreckt von der vertrauten Stimme, die ihren Namen rief, wandte sie sich um. Wenn es jemanden gab, der ihre gedrückte Stimmung vertreiben konnte, dann war das Barrett.

„Ich dachte, ich wäre der Einzige, der heute Nachmittag draußen ist“, sagte er, als er sie erreichte.

Charlotte kicherte beinahe vor Freude. Das war es, was sie brauchte, eine gewöhnliche Unterhaltung mit diesem Mann. Mit einem Freund.

„David und ich brauchten ein bisschen frische Luft. Wir sind einmal um den Block gegangen und haben gerade versucht zu entscheiden, wohin wir jetzt gehen. Nicht wahr, David?“ Ihr Sohn nickte, als würde er alles verstehen, was sie gesagt hatte.

„Darf ich mich zu euch gesellen?“

Charlotte konnte sich nichts vorstellen, worüber sie sich mehr freuen würde. „Sicher.“

Sie wollte gerade die Straße überqueren, doch Barrett schüttelte den Kopf. Er ging neben David in die Hocke und sagte: „Erinnerst du dich an mich? Ich bin Mr Landry.“

David grinste von einem Ohr zum anderen. „Bau.“

Als Barrett aufstand, hatte er ein ähnliches Grinsen im Gesicht. „Das ist richtig. Ball.“

Die Sonne schlich sich hinter eine Wolke, doch das war Charlotte egal. Der Tag erschien ihr wärmer, einfach nur, weil Barrett da war.

„Der Ball ist Davids Lieblingsspielzeug geworden“, erklärte sie. „Er besteht darauf, ihn überallhin mitzunehmen, sogar ins Bett.“ Als sie sich an die Proteste von eben erinnerte, warf sie ihrem Sohn ein liebevolles Lächeln zu. „Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, als ich ihm nicht erlaubt habe, ihn mit nach draußen zu nehmen.“

Charlotte nickte in Richtung des Wagens und hoffte, Barrett würde verstehen, dass David sich an den Seiten festhalten musste, während sie ihn zog. „Gwen behauptet, Wutanfälle würden erst anfangen, wenn die Kinder zwei Jahre alt sind, aber ich dachte, ich würde heute einen erleben.“

„Du bist ein braver Junge, nicht wahr, David?“ Barrett legte seine Hand auf Davids Schulter und drückte sie sanft. Zu Charlottes Erleichterung kicherte ihr Sohn. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie er reagieren würde, wenn jemand ihn berührte, der beinahe ein Fremder war.

„Denken Sie, er würde sich über ein bisschen K-a-k-a-o freuen?“ Barretts blaue Augen funkelten mehr als die Schneehaufen, die immer noch die Straße säumten.

Sie erinnerte sich daran, wie sehr David das Getränk in Mr Ellis’ Laden genossen hatte, und nickte. „David lehnt nie Schokolade in irgendeiner Form ab. Wir haben uns beide über die Süßigkeiten gefreut, die Sie mir geschenkt haben, aber K-a-k-a-o ist eine besondere Leckerei.“

„Dann hoffe ich, dass ich Sie davon überzeugen kann, mit mir nach Hause zu kommen.“

Charlotte hob eine Augenbraue. Als Witwe hatte sie mehr Freiheiten als viele andere Frauen, aber Barrett konnte es sich nicht leisten, in einen Skandal verwickelt zu werden.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, warf Barrett ihr ein kurzes Lächeln zu. „Wir haben jede Menge Anstandsdamen. Alle meine Bediensteten sind da und Harrison auch.“

Charlotte nickte. Das war Wyoming. Das Leben hier war weniger förmlich. Dennoch würde sie zusätzliche Arbeit für Barretts Angestellte verursachen. Bestimmt verdienten sie eine Erholungspause, besonders an einem Feiertag.

Sie wollte gerade ablehnen, als Barrett sagte: „Sie wollen meine Köchin doch nicht enttäuschen, oder? Sie hat sich vor Kurzem noch beklagt, dass das Haus Kinder braucht, um es zum Leben zu erwecken. David bei sich zu haben wird sie glücklich machen und ihre heiße Schokolade wird ihn jeden Wutanfall vergessen lassen.“

Barretts Argumentation vertrieb ihre letzten Bedenken. „Ihre Köchin ist ganz anders als meine erste Köchin. Sie hat gedroht, mich zu verlassen, weil sie meinen Welpen nicht mochte.“ In dem Moment, in dem sie die Worte ausgesprochen hatte, bemerkte Charlotte ihren Fehler. Sie hatte Barrett einen weiteren Einblick in das Leben gewährt, das sie versuchte geheim zu halten.

Aber Barrett schien nicht beunruhigt darüber zu sein, dass Charlotte einst eine Köchin gehabt hatte. Er wirkte nicht einmal neugierig. „Ich weiß nicht, wie sie auf einen Hund reagieren würde, aber Mrs Melnor mag Kinder. Bitte kommen Sie mit.“

Sie konnte nicht ablehnen. Ein Besuch bei Barrett würde bedeuten, dass sie und David länger von zu Hause wegblieben, und das verschaffte Gwen die Möglichkeit, Rose zum Schlafen zu bringen. Sie wären aus der Kälte raus und David bekäme eine besondere Süßigkeit. Und doch …

„Wird Mrs Melnor …?“ Charlotte brach ab, denn sie wollte ihren Gedanken nicht in Worte fassen. Sie wusste, dass sie allmählich daran gewöhnt sein sollte. Sie sollte perfekt formulierte Fragen stellen, aber das konnte sie nicht.

Zwischen Barretts Augen bildeten sich Falten. „Wenn Sie fragen wollen, wie meine Köchin mit Davids Blindheit umgehen wird, das weiß ich nicht. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.“

„Ich vermute, Sie haben recht. Ich kann ihn nicht für immer verstecken.“ Abgesehen davon hatte Charlotte beschlossen, dass sie anfangen würde, das Geflecht der Lügen und Täuschungen zu entwirren. „Ich hab nie geglaubt, dass ich ein Feigling bin, aber das letzte Jahr hat mir das Gegenteil bewiesen.“

„Sie ein Feigling?“ Barretts Augen weiteten sich. „Unsinn.“

Er streckte seine Hand nach dem Griff des Wagens aus und begann, das Gefährt zu ziehen. Dabei ging er so langsam, dass David auf der unebenen Fahrbahn nicht ins Hüpfen geriet.

„Sie würden nicht glauben, dass das Unsinn ist, wenn Sie wüssten, dass ich meinen Schwestern nichts von David erzählt habe.“

Barretts Kopf fuhr herum. Dabei ließ sein Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran, dass er überrascht war. Vielleicht sogar schockiert. „Ihre Schwestern wissen nicht, dass Sie einen Sohn haben?“

Charlotte spürte, wie ihre Hände in ihren Handschuhen feucht wurden. Gwen hatte hartnäckig daran festgehalten, dass Charlotte Abigail und Elizabeth die ganze Geschichte hätte erzählen sollen. Barrett mit seinem Glauben an vollkommene Aufrichtigkeit würde sie vielleicht dafür verurteilen, dass sie es nicht getan hatte.

„Das wissen sie schon“, sagte sie langsam. „Was sie nicht wissen, ist, dass er blind ist. Ich wollte nicht, dass meine Schwestern ihr Leben meinetwegen umstellen, deshalb habe ich es ihnen nicht erzählt.“ Charlotte seufzte. „Diese Entscheidung verfolgt mich inzwischen, weil sie beide darüber nachdenken, nach Cheyenne zu ziehen.“ Ihre Sorgen waren größer als die Rocky Mountains geworden, als sie vor zwei Tagen Briefe von beiden Schwestern erhalten hatte. Abigail hatte verkündet, dass ihr Ehemann darüber nachdenke, seinen Dienst zu quittieren, um möglicherweise ganz in der Nähe von Cheyenne Schafe zu züchten. Und Elizabeth hatte geschrieben, dass sie ihre medizinische Praxis in Wyoming aufmachen wolle und vorhabe, nach Cheyenne zu kommen, sobald ihr Studium beendet sei.

„Was wollen Sie tun?“

Diese Frage plagte sie schon, seit sie die Umschläge geöffnet hatte. „Ich bin nicht sicher. Haben Sie irgendeinen Rat?“

Sie hatten Barretts Haus erreicht. Er hielt an und sah Charlotte in die Augen. Dann nickte er und sagte: „Ehrlichkeit. Sie können Davids Zustand nicht für immer verheimlichen. Ich denke, Sie sollten es Ihren Schwestern jetzt sagen. Das ermöglicht es ihnen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, bevor sie ihn sehen.“

„Was, wenn sie mich hassen, weil ich es ihnen nicht früher gesagt habe?“

Barrett blickte auf David hinab. Sein Gesichtsausdruck war so ernst, dass sich Charlotte fragte, ob er gerade versuchte, sich Abigails und Elizabeths Reaktion vorzustellen. Als er sprach, war seine Stimme fest. „Es sind Ihre Schwestern. Sie werden Sie nicht hassen.“

„Ich wünschte, ich wäre mir da so sicher.“

Kapitel 10

Mama würde es gar nicht gefallen, wenn sie wüsste, wohin Miriam unterwegs war. Das war der Grund, weshalb sie es unterlassen hatte zu erwähnen, dass sie heute Morgen zwei Ziele ansteuerte. Soweit ihre Mutter informiert war, fuhr Miriam heute zu Élan. Das tat sie auch. Sie plante, ihr neues Weihnachtskleid anzuprobieren und Charlotte ein halbes Dutzend Kleider auszuhändigen, die Mama für fürchterlich unmodisch erklärt hatte. Aber zuerst wollte Miriam die Bibliothek besuchen.

Mama wäre damit nicht einverstanden. Es stimmte zwar, dass es in Papas Arbeitszimmer eine Wand gab, an der sich Bücher aneinanderreihten. Diese Bücher waren jedoch sorgfältig danach ausgewählt worden, dass ihre Einbände zur Ausstattung des Raumes passten. Auch hatte, soweit Miriam wusste, keiner ihrer Eltern jemals aus reinem Vergnügen gelesen. Sie dagegen konnte sich eine Welt ohne Bücher nicht vorstellen.

Miriam lächelte, als sie die beiden Treppen zur Bücherei hinaufstieg. Die Räumlichkeiten selbst waren schlicht. Es handelte sich um den dritten Stock eines gewöhnlichen Gebäudes in der Ferguson Street. Der Inhalt hingegen war grandios – all diese wundervollen Bücher, die nur darauf warteten, gelesen zu werden.

Ihr Lächeln verbreiterte sich, als sie die Tür öffnete. Charlotte erwartete sie erst in einer guten halben Stunde. Dadurch hatte sie jede Menge Zeit, um sich den Lesestoff für diese Woche auszusuchen.

„Miriam! Ich wusste nicht, dass Sie kommen würden.“

Miriams Herz begann zu klopfen – sicherlich nur deshalb, weil sie über Richards Anblick hier in der Bibliothek erstaunt war. Sicherlich hatte es nichts damit zu tun, dass diese braunen Augen den Panzer zu durchdringen schienen, den sie um sich errichtet hatte. Diese Augen sahen anscheinend in sie hinein, in die wirkliche Miriam, die Bücher und Musik liebte und keine politischen Ambitionen hatte. Sicherlich raste ihr Herz nicht deshalb, weil sie begonnen hatte, unmögliche Träume zu träumen, Träume eines Lebens als Richards Ehefrau.

Miriam legte ihren Zeigefinger auf ihre Lippen. „Sie dürfen es niemandem erzählen“, sagte sie mit gespielter Melodramatik. „Es ist ein tiefes, dunkles Geheimnis.“ Das war nur eine leichte Übertreibung.

„Was geben Sie mir, damit ich Ihr Geheimnis bewahre?“ Richards Frage wurde von einem überaus vielsagenden Blick begleitet und sorgte dafür, dass Miriam zu kichern begann. Seine verspielte Seite war etwas, das sie an ihm bewunderte. Obwohl er genauso hart arbeitete wie Barrett, schien er mehr Spaß zu haben und fürchtete sich ganz sicher nicht davor zu lachen. Miriam war nicht davon überzeugt, dass Barrett wusste, wie das ging.

Als die Bibliothekarin die Stirn runzelte, deutete Richard auf die Tür. Sekunden später standen sie auf dem Treppenabsatz und versuchten, ihren Übermut unter Kontrolle zu bringen.

„Ich liebe die Bibliothek“, gestand Miriam, „aber alle sind so ernst hier.“

„Und Lesen macht Spaß oder sollte es zumindest.“

Miriam nickte. „Ich wusste nicht, dass Sie gern lesen.“

Obwohl sie eine scherzhafte Antwort erwartete, wurden Richards Augen ernst, als er sagte: „Es gibt viele Dinge, die Sie nicht über mich wissen.“

„Erzählen Sie mir etwas davon. Dann sind wir Komplizen und kennen die Geheimnisse des jeweils anderen. Und“, fügte sie in verschwörerischem Tonfall hinzu, „ich muss Sie nicht mehr bezahlen, damit Sie mein Geheimnis bewahren.“ Irgendwie musste sie Richards Stimmung heben. Vielleicht war dies der richtige Weg dafür.

Der Trick schien zu funktionieren, denn er hob eine Augenbraue. „So einfach kommen Sie mir nicht davon. Ich verlange immer noch eine Belohnung.“ Sein Blick schwenkte langsam von ihrem Hut hinunter bis zu ihren Stiefelspitzen, als suche er nach einem angemessenen Pfand. Als sein Blick zu ihren Lippen zurückkehrte und dort verweilte, spürte Miriam, wie sie errötete. Sicher würde er keinen Kuss verlangen. Kein Gentleman würde das tun, und doch schlug ihr Herz schon bei dem bloßen Gedanken ein bisschen schneller. Einen Moment später grinste Richard sie an. „Eine Hutnadel. Ist Ihr Geheimnis eine Hutnadel wert?“

Erleichtert und doch seltsam enttäuscht, nickte Miriam. Sie zupfte eine Nadel aus dem Hut heraus und reichte sie ihm. „Vollständig bezahlt.“

„In der Tat.“ Richard steckte sie in seine Weste.

Miriam spürte, wie sie erneut errötete. Sie hatte zu viele Liebesromane gelesen. Das war die einzige Erklärung für ihre Vermutung, dass er die Stelle ausgesucht hatte, weil sie sich nah an seinem Herzen befand. Um ihre Verwirrung zu überspielen, fragte sie: „Wer ist Ihr Lieblingsautor?“

„Diese Woche?“

Sicherlich machte er Witze. Niemand war so wechselhaft. Obwohl sich die Jahreszeiten änderten, tat es Miriams Liebe zu den Werken von Mr Dickens nicht.

Richard nickte. „Bei mir ändert sich das jede Woche. Letzte Woche war es Dickens. Diese Woche Shelley.“

„Shelley? Percy Bysshe Shelley?“

Richard nickte erneut. „Sie sind überrascht, nicht wahr? Ich sagte Ihnen doch, dass es viele Dinge gibt, die Sie nicht über mich wissen, eingeschlossen die Tatsache, dass ich die Dichter der Romantik bewundere.“

Miriam kramte in ihrem Gedächtnis und versuchte, sich an eine Zeile aus einem von Shelleys Gedichten zu erinnern. „Ozymandias“ war eine zu offensichtliche Wahl. Beinahe jeder kannte das. „Kraft, wie eine verheerende Seuche,/Befleckt, was immer sie berührt“, rezitierte sie stattdessen.

Richard grinste und zögerte keine Sekunde. „Und Gehorsam,/Verderben allen Genies, aller Tugend, aller Freiheit, aller Wahrheit,/Macht Sklaven aus den Menschen und aus der menschlichen Gestalt/Einen mechanisierten Automaten.“

Miriam schüttelte lachend den Kopf. „Ich kann Ihnen kein Bein stellen, oder? Ich wusste nicht, dass irgendjemand ‚Queen Mab, die Feenkönigin‘ auswendig kann.“

„Es scheint, als gäbe es zumindest zwei Leute in Cheyenne, die das können. Also sagen Sie mir, Miss Miriam, die Shelley zitiert, welche anderen Dichter bewundern Sie?“

Und ehe sie sich versah, kam Miriam zu spät zu ihrer Anprobe.

* * *

Barrett pfiff vor sich hin, während er die Zügel schnalzen ließ. Er hatte noch fünfzehn Minuten Zeit, bis er bei Miriams Haus sein musste, und so fuhr er langsam und dachte lächelnd über Thanksgiving nach. Mrs Melnor hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als sie David gesehen hatte, doch sie hatte darauf bestanden, Zuckerkekse zusammen mit einer Tasse ihrer berühmten heißen Schokolade zu servieren. „Kinder mögen meine Kekse“, hatte sie verkündet.

Was der Mann dachte, der die Kunst perfektioniert hatte, ein ausdrucksloses Gesicht zu wahren, war immer schwierig herauszufinden. Mr Bradley hatte mit ernster Miene ein Tuch unter Davids Stuhl gelegt. „Nur für den Fall, dass etwas danebengeht“, hatte er erklärt.

Harrison, vom Klang ungewohnter Schritte aus der Bibliothek angelockt, hatte sich zu ihnen ins Esszimmer gesellt und behauptet, dass der Tisch im Ungleichgewicht sei, wenn nur drei Leute daran säßen. Und obwohl er den Teller mit den Keksen an sich vorübergehen ließ, verbrachte er eine halbe Stunde damit, abwechselnd Charlotte und David seine Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei fragte er sich laut, wie eine Dame mit braunen Haaren und makelloser Haut ein rothaariges Kind zustande gebracht hatte, das wahrscheinlich mit mehr Sommersprossen enden würde, als Barrett Kühe hatte. „Vieh“, korrigierte sich Harrison.

Als deutlich wurde, dass niemand etwas über Davids Blindheit sagen würde, begann Charlotte zu leuchten. Das war das einzig passende Wort, denn ihr Lächeln und die Art, wie es ihr Gesicht veränderte, erinnerte Barrett an die Feuer, die er und sein Bruder früher in ihrem Kamin gemacht hatten. Zuerst waren ein paar Flammen an den Seiten aufgeflackert; dann, als das Holz Feuer gefangen hatte, war aus den Flammen ein helles Feuer geworden. Und genauso war Charlottes Freude gewachsen und hatte ihr Gesicht zum Leuchten gebracht. Als sie ins Haus gekommen war, hatten ihre Wangen und ihre Nasenspitze die verräterische Röte gezeigt, die zu viel Zeit in einem beißenden Wind mit sich brachte, aber als das Kältegefühl nachgelassen hatte und ihre Bedenken verschwunden waren, war Charlottes Lächeln erstrahlt und hatte einen Glanz auf ihrem Gesicht hinterlassen, der nichts mit dem Wetter zu tun gehabt hatte.

Barrett lächelte, als er die Central Avenue überquerte. Es war ein schöner Nachmittag für alle gewesen, einschließlich David. Er hatte gedacht, dass es vielleicht schwierig für das Kind wäre, von einem Schwall neuer Geräusche und Gerüche überfallen zu werden, aber David hatte sich schnell darauf eingestellt. Anscheinend hatte der Duft von Schokolade ihn davon überzeugt, dass er an einen guten Ort gekommen war, und er hatte „Ka-ko“ gekräht, als Charlotte seine Hand zu dem Zinnbecher geführt hatte. Danach waren seine einzigen Geräusche ein lautes Schlürfen gewesen.

„Ho-ho.“ Als sich Barrett der Villa der Taggerts näherte, verlangsamte er die Pferde. Der Thanksgiving-Nachmittag war einer der angenehmsten gewesen, an die er sich erinnern konnte. Er konnte nur hoffen, dass der heutige Tag genauso erfreulich werden würde.

„Miss Taggert erwartet Sie im Salon“, sagte der formell gekleidete Butler, als er Barrett Hut und Mantel abnahm. Obwohl der Mann sonst nichts sagte, war Barrett sicher, dass Mrs Taggert dort ebenfalls auf ihn wartete. Es wäre unschicklich für ihn und Miriam, keine Anstandsdame zu haben.

Er versuchte nicht die Stirn zu runzeln, während er über Charlottes Bedenken nachdachte. Obwohl er ihre Sorgen an dem Nachmittag zerstreut hatte, hatte er sich hinterher Gedanken gemacht, dass er vielleicht unrecht gehabt und jemand sie und David dabei beobachtet hatte, wie sie in sein Haus gekommen waren. Dann könnte es unangenehme Spekulationen gegeben haben. Glücklicherweise hatte Richard heute Morgen, als er mit ihm gesprochen hatte, nichts gesagt. Das musste bedeuten, dass es kein Gerede gegeben hatte. Barrett hoffte, dass dem so war, denn er wollte auf keinen Fall Charlotte Unannehmlichkeiten bereiten. Ihr Leben war schon schwierig genug, ohne dass er es verkomplizierte.

„Guten Tag, Miriam.“ Da er wusste, dass sie Förmlichkeit mochte, verneigte sich Barrett ein wenig vor ihr und behielt dabei seine linke Hand hinter seinem Rücken. „Sie sehen heute besonders hübsch aus.“

Das blassblaue Kleid betonte ihr goldenes Haar und verlieh ihr die Erscheinung der Eisprinzessin aus dem Märchenbuch, das zu Weihnachten einer der Verkaufsschlager im Ladengeschäft der Landrys gewesen war. Miriam würde sich wahrscheinlich geschmeichelt fühlen, wenn er ihr das erzählte. Sie wäre jedoch nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass ihr kühles Lächeln ihn an Charlotte denken ließ und dass es im Vergleich zu der Wärme, die Charlottes Lächeln ausstrahlte, kalt und gezwungen wirkte. Dies war absurd. Barrett besuchte die Frau, die er zu heiraten gedachte. Er sollte dabei nicht an Charlotte denken.

„Es ist immer eine Freude, Sie zu sehen, Mrs Taggert.“ In der Hoffnung, dass sein Lächeln echt wirkte, trat Barrett einen Schritt in den Raum hinein. Dieser war mit Möbeln vollgestopft, die Miriams Mutter aus Frankreich importiert hatte.

Sein Gesichtsausdruck musste gelungen sein, denn sie tippte sich an die Wange und warf ihm im Gegenzug ein spielerisches Lächeln zu. „Sie sind ein Schmeichler, Barrett Landry, aber ich mag das. Ihre Redegewandtheit wird Ihnen in der Politik gute Dienste leisten.“ Sie griff nach ihrer Stickerei und erhob sich von der Couch. „Ich weiß, dass ihr beiden Dinge zu besprechen habt. Macht euch keine Gedanken. Ich werde nicht lauschen.“ Mrs Taggert ließ sich auf einem Stuhl in der äußersten Ecke des Raumes nieder und neigte ihren Kopf über ihre Handarbeit. Sie war die perfekte Anstandsdame: anwesend, aber nicht aufdringlich.

Als Miriam auf den Stuhl deutete, der ihrem gegenüberlag, streckte Barrett seine linke Hand aus und reichte ihr die Schachtel mit Süßigkeiten, die er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte. „Es ist nur eine Kleinigkeit, aber ich dachte, Sie hätten vielleicht Freude daran.“

Sicher war das keine Enttäuschung, was er in ihren Augen sah, oder? Ein Mann, der einer Frau den Hof machte, hatte nur wenig Auswahl an Geschenken. Blumen, Bücher und Süßigkeiten waren annehmbar, andere Dinge hingegen sehr viel riskanter. Zu dieser Jahreszeit bekam man keine Blumen in Cheyenne und seines Wissens hatte Miriam keine Freude am Lesen. Also blieben nur Süßigkeiten übrig.

Er musste sich getäuscht haben, denn Miriam lächelte, als sie die Schachtel öffnete und den Deckel entfernte. „Danke, Barrett.“ Sie wartete, bis er sich gesetzt hatte, und lehnte sich dann ein bisschen nach vorn. „Sie brauchen keine Geschenke mitzubringen. Ich weiß, dass Sie mir den Hof machen.“

Barrett blinzelte, unsicher, was er darauf antworten sollte. Es stimmte zwar, dass er ihr den Hof machte, doch erschien es ihm irgendwie unpassend, dass sie es so offen aussprach. Er entschied, das Thema zu umgehen.